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Zur Müllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien

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{"created":"2022-01-31T16:49:46.744796+00:00","id":"lit33583","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Minkowski, Eugen","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 45: 129-152","fulltext":[{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"129\nZur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen\nSinnesenergien.\nVon\nDr. med. Eugen Minkowski.\n\u201eWas und wie viel dann zu r\u00fcgen seyn werde, ich habe mir genug ge-than, wenn ich so viel leistete, dafs man \u00fcber diese Versuche zu dem Besseren fortschreitet.\u201c\nJohannes M\u00fcller. \u201eZur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes.\u201c\nSeitdem die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien entstanden ist, ist sie, namentlich ihr philosophischer Inhalt im Anschlufs an verwandte philosophische Lehren einer eingehenden Kritik unterzogen worden. Aber auch gegen ihre Anwendbarkeit in der Sinnesphysiologie sind, besonders von Wundt, schwerwiegende Gr\u00fcnde angef\u00fchrt worden. Trotzdem finden wir die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien (in vielen F\u00e4llen w\u00e4re es eigentlich richtiger zu sagen \u2014 den Ausdruck \u201espezifische Sinnesenergien\u201c, denn von der urspr\u00fcnglichen M\u00fcuLEKschen Lehre ist aufser dem Namen und den Tatsachen, die zu ihrer Aufstellung gef\u00fchrt haben, so gut wie gar nichts geblieben) in den meisten physiologischen Lehrb\u00fcchern, und, wie ich das an mir selbst erfahren habe, ist man als Anf\u00e4nger h\u00e4ufig geneigt allerlei durch die spezifischen Sinnesenergien f\u00fcr erkl\u00e4rt zu halten, was eigentlich einer physiologischen Erkl\u00e4rung erst harrt ; dabei ist man aber meistens \u00fcber den Inhalt und die Konsequenzen dieser Lehre nicht im Klaren. Ich bin mir wohl be-wufst, dafs ich in den folgenden Seiten wenig Neues bringe; ich war bei dieser Arbeit vor allem von dem Bed\u00fcrfnis geleitet, mir","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nEugen Minkowski.\ngelbst \u00fcber den Inhalt nnd die Anwendbarkeit der Leine in dei Physiologie Rechenschaft zu verschaffen, hoffe aber, dafs meine Auseinandersetzungen f\u00fcr manchen nicht ohne Interesse sein werden.\nI. Das Wesen der M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen\nSinnesenergien.\nIm Jahre 1826 erschien das Werk von Johannes M\u00fcllek: \u201eZur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes\u201c, in welchem die Prinzipien der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien niedergelegt sind, vorzugsweise entsprechend dem Thema des Buches auf den Gesichtssinn angewandt. Im Vorworte finden wir auch einen Hinweis auf die Wege, die J. M\u00fcller zur Aufstellung dieser Lehre gef\u00fchrt haben und die f\u00fcr unsere sp\u00e4teren Betrachtungen nicht ohne Interesse sind: indem sich J. M\u00fcller mit der einfachen Feststellung der physikalischen Bedingungen des Sehens nicht befriedigen kann, sieht er vielmehr die Hauptaufgabe der Physiologie des Auges in der Beantwortung der Frage, warum die Gegenst\u00e4nde auch \u201eleuchtend empfunden werden\u201c. Er findet einen Weg zur L\u00f6sung dieses Problems in der Betrachtung \u201eder subjektiven Gesichtsph\u00e4nomene, die man seit Darwin, Scherfeer und B\u00fcffon Gesichtst\u00e4uschungen und zuf\u00e4llige Farben zu nennen gewohnt war, und die zum endlichen Heil der Physiologie als Gesichtswahrheiten erkannt wurden, und zu den wesentlichen dem Sinne selbst einwohnenden Energien f\u00fchrten\u201c. In seinem Handbuche der Physiologie wendet dann M\u00fcller seine Lehre auch auf die \u00fcbrigen Sinnesgebiete an. Dafs: \u201e1. dieselbe innere Ursache (z. B. die Anh\u00e4ufung des Blutes in den Kapillargef\u00e4fsen der Sinnesnerven bei der Entz\u00fcndung oder ein ins Blut gebrachtes Narkotikum) in verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen nach der Natur jedes Sinnes hervorruft; 2. dieselbe \u00e4ufsere Ursache (z. B. Stofs, Druck, Elektrizit\u00e4t) in den verschiedenen Sinnen verschiedene Empfindungen, nach der Natur jedes Sinnes, erregt; 3. die eigent\u00fcmlichen Empfindungen jedes Sinnesorgans durch mehrere innere und \u00e4ufsere Einfl\u00fcsse zugleich hervorgerufen werden k\u00f6nnen; 4. wir durch \u00e4ufsere Ursachen keine Arten des Empfindens haben k\u00f6nnen, die wir nicht auch ohne \u00e4ufsere Ursachen durch Empfindung der Zust\u00e4nde unserer Nerven haben\u201c \u2014 das sind","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcller sehen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n131\ndie Tatsachen, an die M\u00fcller ankn\u00fcpft und die er durch seine Lehre zu erkl\u00e4ren sucht.\nDiese Lehre behauptet im wesentlichen folgendes :\n1.\tDie Sinnessubstanzen besitzen spezifische Energien, oder sagen wir besser spezifische Funktionen, die darin bestehen, dafs sie sich selb st j e n ach der Natur des Sinnes in gewissen Qualit\u00e4ten und Zust\u00e4nden empfinden (bzw. sie zum Sensorium leiten), indem \u201edas Nervenmark hier nur sich selbst leuchtet, dort sich selbst t\u00f6nt, hier sich selbst f\u00fchlt, dort sich selbst riecht und schmeckt.\u201c \u201eDie Energien des Gesichtssinnes sind die Empfindung des Lichten, des Dunkeln und des Farbigen.\u201c\n2.\tDie verschiedenen Nervensubstanzen reagieren in ihren spezifischen Energien ganz unabh\u00e4ngig von den Eigenschaften der Reize, die sie treffen; es gen\u00fcgt, dafs sie blofs affiziert werden, um in der ihnen eigent\u00fcmlichen Art zu reagieren; es besteht demnach keinerlei Zusammenhang zwischen dem Reiz und der \u201eEnergie\u201c des affizierten Sinnesorgans. \u201eDie Sehsinn Substanz von jedwedem Reiz, welcherlei Art er immer sei, aus ihrer Ruhe zur Affektion bewegt, bringt diese ihre Affektion in den Energien des Lichten, Dunkeln, Farbigen sich selbst zur Empfindung\u201c. Es existieren dementsprechend keine ad\u00e4quaten Reize. \u201eDasjenige, was, wenn es nach den Gesetzen seiner Bewegung durch durchsichtige K\u00f6rper auf der Netzhaut Unterschiede der Affektion in den Energien des Sehsinns setzt, Licht genannt wird, ist also nicht der erste und vornehmste Impuls zur Erzeugung der Empfindung des Lichten und der Farbe, sondern unter vielen anderen, welche das Gemeinsame haben, dafs sie in dem Auge ein von ihm selbst Unterschiedenes, dem Sinn selbst Angeh\u00f6riges, Lichtempfindung wecken, der gew\u00f6hnlichste\u201c.\n3.\tDie qualitativen Eigenschaften, die wir irrt\u00fcmlicherweise den \u00e4ufseren Dingen zuschreiben, sind die spezifischen Energien unserer Sinne und geh\u00f6ren den \u00e4ufseren Dingen nicht an. \u201eDie Energien des Lichten, des Dunkeln, des Farbigen sind nicht den \u00e4ufseren Dingen, den Ursachen der Erregung, sondern der Sehsubstanz immanent.\u201c Die Verlegung der spezifischen Energien der Sinne nach aufsen geschieht allm\u00e4hlich mit der","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nEugen Minkowski.\n\u201eAusbildung intellektueller Verm\u00f6gen\u201c. Auf der ersten Stufe der Entwicklung, \u201eim blofsen Zustand des Selbst-bewufstwerdens und ohne Ausbildung des Urteils\u201c kennen wir blofs die an unserem \u201eIch\u201c sich vollziehenden und in den spezifischen Sinnesenergien uns gegebenen Ver\u00e4nderungen, \u201edie irgend eine, gleichviel welche, unserer Sinnlichkeit gleichg\u00fcltige Ursache haben\u201c. \u201eWir k\u00f6nnen also urspr\u00fcnglich durch den Sinn von nichts als von uns selbst wissen; unsere Affektionen sind uns unsere Sinnenwelt, unsere \u00e4ufsere Natur, und alle Gesichtserscheinungen sind dem Sinne immanent.\u201c \u201eWenn der Raum die Form der Anschauung f\u00fcr die wiederkehrende Notwendigkeit des Objektes im Selbstbewufstsein ist, wenn die tierische Einzelheit sich \u00fcberhaupt r\u00e4umlich empfindet, so ist auf dieser ersten Stufe nicht etwa ein Unterschied gegeben in der Empfindung der den Raum erf\u00fcllenden tierischen Leiblichkeit, und der den Raum erf\u00fcllenden von dieser verschiedenen anderen Objekte. Sondern bei dem Ausschlufs alles \u00c4ufseren, von dem Selbst Verschiedenen, empfindet das Individuum in den Anf\u00e4ngen der Sensibilit\u00e4t, nur sich selbst r\u00e4umlich ausgedehnt, nur sich selbst den Raum erf\u00fcllend. Die eigene R\u00e4umlichkeit, die eigenen Affektionen, als Objekte der Empfindung, sind hier auch die alleinige Natur.\u201c Erst durch \u201edie Erziehung der Sinne, durch das Urteil\u201c wird \u201eeine Trennung der Affektion\nin der Sinnesenergie von unserem Selbst, als ein demselben\n\u2022 \u2022\nschlechthin Aufseres\u201c notwendig und \u201edie tierische Einzelheit kommt dazu ihre Sinnesenergien als eine von ihr selbst verschiedene Sinneswelt anzuschauen.\u201c \u201eSo entsteht im Gegensatz des theoretischen Verhaltens das praktische Verhalten des Individuums gegen die Natur.\u201c Indem die Sinnesenergien aus-schliefslich mit dem gew\u00f6hnlichsten Reiz in Zusammenhang gebracht werden, wird erst durch dieses \u201epraktische Verhalten gegen die Natur\u201c der Boden geschaffen, auf dem die von uns als T\u00e4uschungen betrachteten Tatsachen entstehen, die M\u00fcllek zu seiner Lehre Anlafs gegeben haben.\nDie oben angef\u00fchrten drei Punkte sind in der M\u00dcLLEKschen Lehre so innig miteinander verbunden, und die zwei letzteren bilden derart eine notwendige Folge des ersten, dafs es unm\u00f6glich ist sie voneinander zu trennen und von der spezifischen Sinnesenergie zu sprechen, ohne gleichzeitig die Existenz von","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n133\nad\u00e4quaten Reizen zu negieren und die qualitativen Eigenschaften den \u00e4ufseren Dingen abzusprechen.1\nIf. Spezifische Sinnesenergie und spezifische Energie anderer\nOrgane.\nNachdem die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien als Resultat eines Erkl\u00e4rungsversuches einer Reihe von Tatsachen entstanden ist, mufste begreiflicherweise das Bestreben zutage treten diese Lehre mit uns aus anderen Gebieten der Physiologie gel\u00e4ufigen Begriffen in Zusammenhang zu bringen und ihren Anwendungskreis im Bereiche der Sinnesphysiologie selbst m\u00f6glichst zu erweitern. Ich gehe auf alle diesbez\u00fcglichen Versuche im einzelnen 2 nicht ein und m\u00f6chte blofs an der Hand einiger Beispiele zeigen, wohin uns diese Versuche f\u00fchren. M\u00fcller selbst war bereits bestrebt, darauf aufmerksam zu machen, dafs die \u201espezifische Energie\u201c der Sinne nicht eine ihnen allein zukommende Eigenschaft ist, sondern, dafs wir es hier vielmehr mit Tatsachen zu tun haben, denen wir auch auf anderen Gebieten der Physiologie begegnen; \u201eorganische Teile von gewissen reizbaren Eigenschaften \u00e4ufsern diese (\u00fcberhaupt) auf sehr verschiedene Reize auf gleiche Art\u201c ; so reagiert z. B. ein Muskel ganz unabh\u00e4ngig von der Art des Reizes, der ihn trifft, mit der ihm eigenen Energie \u2014 mit einer Kontraktion. Besonders lehrreich ist aber in dieser Hinsicht ein Vortrag Herings 3, in dem er zeigen will, dafs die M\u00dcLLERsche Lehre \u201enur eine auf die Sinnesnerven gemachte Anwendung eines Gedankens ist, der auf anderen Gebieten der Biologie teils schon unbestrittene Geltung hat, teils solche zu finden bestimmt scheint.\u201c Zur Erl\u00e4uterung dieses Grundgedankens werden dann Beispiele\n1\tIch lehne mich bei dieser Darstellung in erster Linie an das M\u00fcllek-sche Werk \u201eZur vergleichenden Physiologie des Gesichtssinnes\u201c an, wo die Prinzipien der Lehre zum erstenmal niedergelegt sind; in seinem \u201eHandbuch der Physiologie\u201c nimmt dann M\u00fcller den Begriff des \u201ehomogenen\u201c Reizes und der spezifischen Reizbarkeit der Sinnessubstanz selbst auf; von welcher Tragweite das f\u00fcr die ganze Lehre ist, werde ick sp\u00e4ter zu zeigen versuchen.\n2\tIch verweise in dieser Plinsicht auf die ausgezeichnete Arbeit Weinmanns \u201eDie Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\u201c 1895.\n3\t\u201e\u00dcber die spezifischen Energien des Nervensystems\u201c. Lotos. 1884.","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\nEugen Minkowski.\nangef\u00fchrt. Die Keimzellen verschiedener Tierarten sehen \u00e4ufser-lich einander ganz gleich aus und dennoch wohnt bereits einer jeden die Notwendigkeit inne, sich in ganz bestimmter Richtung weiter zu entwickeln, um schliefslich ein Individuum derselben Art zu liefern; es m\u00fcssen also unbedingt Unterschiede in ihrem Bau bestehen, die wir aber vorl\u00e4ufig wegen der Mangelhaftigkeit unserer Untersuchungsmethoden nicht kennen. \u201eK\u00f6nnten wir aber mit unserem leiblichen oder geistigen Auge bis in die feinste innere Gestaltung der Keimsubstanz eindringen, die Anordnung und Bewegung ihrer Molek\u00fcle und Atome erfassen, so w\u00fcrden wir staunend sehen, wie die lebendige Substanz der Keime jeder einzelnen Tierart ihre spezifischen, und die Substanz jedes einzelnen Keimes wieder ihre individuellen Eigent\u00fcmlichkeiten besitzt, aus welchen sich mit mechanischer Notwendigkeit auch eine Eigenartigkeit der weiteren Entwicklung ergeben mufs.\u201c \u201eUnd da wir also das R\u00e4tsel der inneren Verschiedenheit \u00e4ufserlich gleicher Keimsubstanzen nicht l\u00f6sen k\u00f6nnen, so begn\u00fcgen wir uns anzuerkennen, dafs den Keimen jeder Tierart ein ureigenes, eingeborenes Verm\u00f6gen, eine spezifische Energie innewohnt, welche ihre Entwicklung gerade in die f\u00fcr diese Tierart charakteristischen Formen lenkt.\u201c Wenn verschiedene \u00e4ufserlich gleiche Zellen desselben Organismus verschiedene Funktionen haben, so mufs auch dies auf den spezifischen Eigent\u00fcmlichkeiten ihres molekularen Baues beruhen und auch hier sprechen wir in demselben Sinne, wie oben \u201evon der spezifischen Energie der lebendigen Substanz der Leber Galle zu bereiten und von der spezifischen Energie der Substanz des Haarkeimes den hornigen Stoff des Haares zu bilden.\u201c Die spezifische Energie einer Zelle ist also danach nichts anderes als die uns noch unbekannten spezifischen Eigent\u00fcmlichkeiten ihres molekularen Aufbaus, aus denen sich ihre spezifische Funktion mit mechanischer Notwendigkeit ergibt. Nun geht Hering zu den spezifischen Sinnesenergien \u00fcber. \u201eWenn sich in anderen Organen die spezifischen Energien der lebendigen Substanz durch die chemischen und physikalischen Leistungen derselben kennzeichnen, so sind uns die Energien der Nerven-substanz zun\u00e4chst nur durch die verschiedenartigen Empfindungen erkennbar, welche sie uns zum Bewufstsein bringt. Denn unsere Empfindungen wie \u00fcberhaupt alle Ph\u00e4nomene unseres Bewufstseins sind gleichsam der seelische Ausdruck der physi","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"135\nZur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\nsehen Prozesse oder Erregungen unserer Nerven und insbesondere des Gehirns, und diese Erregungen sind wiederum der materielle Ausdruck dessen, was in unserer Seele vorgeht.\u201c Wenn wir nun, der M\u00fcLLERsehen Lehre getreu, die verschiedenartigen Empfindungen der \u201eNervensubstanz\u201c als ihre spezifischen Funktionen betrachten, so f\u00fchrt uns die HERiNGsche Analogie, deren Andeutung wir \u00fcbrigens schon bei M\u00fcleer im Vergleiche der spezifischen Sinnesenergien mit der spezifischen Energie des Muskels finden, nach dem oben Auseinandergesetzten zur Behauptung, dafs diese Empfindungen sich direkt mit mechanischer Notwendigkeit aus den spezifischen Eigent\u00fcmlichkeiten des Baues der Nervensubstanz ableiten lassen. Wir gelangen somit zu dem \u00e4rgsten Materialismus, dem Karl Vogt seinerzeit in dem ber\u00fchmt gewordenen Satze Ausdruck gegeben hat, dafs die Gedanken im selben Verh\u00e4ltnis zum Gehirn stehen, wie die Galle zur Leber oder der Urin zu den Nieren. Wenn wir aber, um diese Schlufsfolgerungen zu vermeiden, blofs die spezifischen physischen Prozesse in der Nervensubstanz, deren \u201eseelischer Ausdruck\u201c unsere Empfindungen sind, als ein Analogon der spezifischen Funktionen anderer Zellen auffassen (wie es auch Hering meint), so werden wir nie durch diese Analogie die M\u00fcLLERsche Lehre ersch\u00f6pfen k\u00f6nnen, denn daraus, dafs verschiedene Reize in einer Sinneszelle die gleichen physischen Prozesse hervorrufen, werden wir nie einen R\u00fcckschlufs auf die Reize selbst ziehen und ihnen ihre qualitativen Eigenschaften absprechen k\u00f6nnen, ebensowenig wie wir das etwa aus dem Grunde tun, dafs der Muskel auf verschiedene Reize immer mit einer spezifischen Funktion, mit einer Kontraktion reagiert, oder im allgemeinen aus dem Umstande, dafs dieselben Wirkungen durch Anwendung verschiedener Energieformen erreicht werden k\u00f6nnen. Bei M\u00fcller finden wir eben keine Trennung der Empfindung von ihrem \u201emateriellen Ausdruck\u201c \u2014 dem physischen Prozefs in der Nervensubstanz; \u201edie Empfindung ist ihm nicht als begleitendes Bewufstseinph\u00e4nomen an den nerv\u00f6sen Prozefs gekn\u00fcpft, sondern er identifiziert beides. Physiologisches und psychologisches ist ihm eins\u201c (Weinmann), und an der Hand der HERiNGschen Analogie tritt seine \u201enaiv materialistische Psychologie\u201c deutlich zutage.\nZeitsckr. f. Sinnesphysiol. 45.\n9","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nEugen Minkowski.\nIII. Der Anwendungskreis der Lehre yon den spezifischen\nSinnesenergien.\nBevor ich zu den Versuchen \u00fcbergehe die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien auch auf einzelne Qualit\u00e4ten innerhalb derselben Modalit\u00e4t1 * * auszudehnen, m\u00f6chte ich vorher einige Bemerkungen vorausschicken. Will man den im ersten Kapitel dargelegten Grundgedanken der Lehre treu bleiben, so kann einem biologischen Element \u2014 einer Zelle nur eine einzige spezifische Sinnesenergie zugeschrieben werden, denn sobald wir mehrere Energien in ihr lokalisieren, entsteht notwendigerweise die Frage, unter welchen Bedingungen sie in der einen, unter welchen in einer anderen Weise reagiert; diese Bedingungen m\u00fcssen aber jeweils durch den Reiz erf\u00fcllt werden, der eine der spezifischen Reaktionen der Zelle zur Folge hat. Es kann also nicht mehr jeder beliebige Reiz, \u201ewelcher Art er auch immer sei\u201c diese spezifische Sinnesreaktion zur Folge haben, sondern vor allem diejenigen, die ihrer physikalisch-chemischen Natur nach die zur Entstehung der bestimmten Reaktion notwendigen Bedingungen in \u201evornehmster\u201c Weise zu erf\u00fcllen imstande sind. Diese Reize werden aber dann im Gegensatz zu den \u00fcbrigen f\u00fcr die in Frage kommende Empfindung ad\u00e4quat sein. Ganz gleich liegen die Verh\u00e4ltnisse auch in dem Falle, wenn wir zwar nur eine einzige spezifische Sinnesenergie einer Zelle oder einem Organ zuschreiben, dabei aber feststellen, dafs damit sie in Erscheinung tritt, die Zelle, bzw. das Organ, nicht blofs in einer beliebigen, sondern in einer ganz bestimmten Weise affiziert werden mufs; auch hier werden wir den Begriff des \u201evornehmsten\u201c Reizes nicht vermeiden k\u00f6nnen.\nEs ist von gr\u00f6fstem Interesse vor allem zu er\u00f6rtern, wie M\u00fcller selbst die Frage nach der Entstehung der verschiedenen Qualit\u00e4ten innerhalb einer Modalit\u00e4t behandelt und inwiefern er dabei dem Prinzip der spezifischen Sinnesenergie treu bleibt. Ich f\u00fchre daher einige seiner S\u00e4tze \u00fcber die Empfindungen der\n1 Ich gebrauche hier die Ausdr\u00fccke \u201eModalit\u00e4t'4 und \u201eQualit\u00e4t im\nHELMHOLTzschen Sinne, da ich sie aber blofs auf den Gebieten der zwei\nh\u00f6heren Sinne anwende, glaube ich dadurch keinen Anlafs zu Mifsvei-\nst\u00e4ndnissen zu geben.","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n137\nverschiedenen Farben und Tonh\u00f6hen an, S\u00e4tze, die meines Erachtens zu wenig beachtet werden und eigentlich ein viel h\u00f6heres physiologisches Interesse beanspruchen, als die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien selbst.\n\u201eDie Farbe entsteht in dem Sehorgane auf gar leichte Weise durch Ver\u00e4nderung des Reizes, wie des Druckes, der Friktion, und insbesondere immer, wenn sich das Auge aus starker Affektion, welche es leuchtend empfunden hat, bis zur Anschauung seiner eigenen Ruhe in dem sinnlich Dunkeln erholt,\nDie karbe entsteht auch durch Ver\u00e4nderung desjenigen Element arischen, welches, wenn es das Auge nach den Gesetzen seiner Bewegung affiziert, Licht genannt wird. So wenig aber das sinnliche Licht diesem Elementarischen selbst zukommt, ebensowenig kommt ihm die Farbe als Sinnlichkeit zu. So viel nur k\u00f6nnen wir sagen: wenn wir durch jenes Elementarische die Empfindung der Farbe haben, so ist auch das Elementarische auf irgend eine Weise ver\u00e4ndert. Und so sind wir denn vor allen physikalischen Exkursionen \u00fcber die Natur des Lichtes und der Farben auf unserem physiologischen Standpunkte bewahrt, und k\u00f6nnen der physikalischen Untersuchung nur die Grenzbestim-mung geben, dafs sie sich der Er\u00f6rterungen und Kontroversen \u00fcber die Natur des sinnlichen Lichtes und der Farben, welche Energien der Sinne sind, enthalte, und nur die Bewegungsgesetze des Elementarischen untersuche, welches die Lichtempfindung erweckt, sofort auch die Ver\u00e4nderungen desselben bestimme, unter welchen es in dem Auge nicht die Lichtempfindung, sondern die Empfindung der Farbe als Energie des Sinnes erregt.\u201c\n\u201eDas Elementarische, was wir Licht nennen, erweckt die Empfindung der Farbe als Energie des Auges dann, wenn das Licht die Sehsinnsubstanz nicht gleichm\u00e4fsig in allen Teilen affiziert, sondern \u00fcber die in ihrer Ruhe sich sinnlich dunkel anschauenden Teile des Markgebildes zerstreut wird.\u201c\n\u201eDie Entstehung der hellsten Farbe, des Gelben, als Energie des Auges, scheint bedingt: durch geringe Zerstreuung des intensiv wirkenden Elementarischen auf der in der Ruhe sonst sich dunkel sehenden Netzhaut.\nDie Entstehung des Roten als Energie des Auges scheint","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nEugen Minkowski.\nbedingt: durch geringe Zerstreuung des schwach wirkenden Elementarischen.\nDie Entstehung der dunkelsten Farbe, des Blauen, als Energie des Auges, scheint bedingt: durch grofse Zerstreuung des schwach wirkenden Element arischen.\nDas Gr\u00fcne, als Energie des Auges, scheint zu entstehen, wo die Bedingungen der hellsten und der dunkelsten Farbe Zusammenkommen, geringe Zerstreuung des intensiven und grofse Zerstreuung des schwach wirkenden Elementarischen, also bei einer mittleren Zerstreuung und mittleren Intensit\u00e4t des Lichtes\u201c.\n,.Was nun den gew\u00f6hnlichsten unter den verschiedenen Impulsen der Geh\u00f6rempfindung betrifft, n\u00e4mlich die Ersch\u00fctterung des H\u00f6rnerven, so kann diese, bei der Ausbreitung der Faserungen des H\u00f6rnerven auf der Spiralplatte inmitten der schallleitenden Fl\u00fcssigkeit, unter verschiedener H\u00f6he des Tones auch auf verschiedene aliquote Teile des H\u00f6rnerven wirken; und wie die Verschiedenheit des Tones in Hinsicht der \u00e4ufseren Erregung von dem Verh\u00e4ltnis der ruhenden und bewegten Teile des schwingenden, t\u00f6nenden K\u00f6rpers abh\u00e4ngt, so h\u00e4ngt die H\u00f6he des Tones als Energie des Sinnes von dem Verh\u00e4ltnis der ruhenden und affizierten Teile des H\u00f6rnerven ab\u201c.\nEs folgt dann eine Beschreibung der Klangfiguren und ferner heifst es:\n,.Diese ruhenden und bewegten Teile, oder diese scharfbegrenzten und zitternden Schallwellen sind durch die Schallleitung auch in dem Wasser des Labyrinths gesetzt. Der H\u00f6rnerv, auf der Spiralplatte diesen Schallwellen ausgesetzt, ist also auch in aliquoten Teilen ruhend, in aliquoten bewegt, erzitternd. Auch er teilt die Teilungslinien der Schallwellen, deren Grofse mit der H\u00f6he des Tones abnimmt. Und so ist also die Empfindung des bestimmten Tones nicht durch eine dem H\u00f6rsinne durchaus fremdartige Vergleichung von Schwingungszeiten und Zahlen, sondern durch das Verh\u00e4ltnis der aliquoten ruhenden und der auf irgend eine Art, wohin auch die Bewegung geh\u00f6rt, affizierten Teile des H\u00f6rnerven bedingt.\u201c\n\u201eNicht also etwa nur die Bewegung aliquoter Teile des H\u00f6rnerven bedingt den bestimmten Ton, sondern die Affektion ali-","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n139\nquoter Teile desselben \u00fcberhaupt, sei diese durch was immer f\u00fcr einen Reiz bedingt.\u201c\nEs ist nicht schwer einzusehen, was f\u00fcr Unterschied bei der Behandlung der Frage nach der Entstehung der verschiedenen Sinnesmodalit\u00e4ten und Qualit\u00e4ten bei M\u00fcller besteht. Es werden zwar die Qualit\u00e4ten der Empfindungen genau so wie die Modalit\u00e4ten als spezifische den Sinnen selbst innewohnende Energien betrachtet, allein w\u00e4hrend die Modalit\u00e4t einzig und allein durch das Organ, bzw. Zelle, welches affiziert wird, bestimmt wird, werden die Qualit\u00e4ten nicht blofs durch das Organ, sondern auch durch die Art, wie es der Reiz trifft, bedingt; diese Art h\u00e4ngt aber ihrerseits gesetzm\u00e4fsig von den physikalischen Eigenschaften desjenigen Reizes ab, dem die in Frage kommende Qualit\u00e4t der Empfindung als ihm in Wirklichkeit angeh\u00f6rende Eigenschaft von der \u201etierischen Einzelheit\u201c zugeschrieben wird ; dadurch wird aber gerade dieser Reiz nicht blofs zum \u201egew\u00f6hnlichsten\u201c, sondern, wie wir oben auseinandergesetzt haben, tats\u00e4chlich zum \u201evornehmsten\u201c f\u00fcr die gegebene Empfindung.\nDamit der H\u00f6rnerv sich t\u00f6nend empfindet, mufs er blofs affiziert und nicht unbedingt durch Schallwellen \u201ebewegt\u201c werden, damit er aber eine Tonh\u00f6he empfindet, mufs er in ganz bestimmter Weise \u2014 \u201ein aliquoten Teilen ruhend, in aliquoten Teilen bewegt, erzittern\u201c. Die L\u00e4nge der ruhenden und bewegten Teile h\u00e4ngt aber dabei \u2014 was besonders wichtig ist \u2014 von gewissen Eigenschaften des Elementarischen ab; wie bei den Klangfiguren die Wellen \u201enach der H\u00f6he oder Tiefe des Tones kleiner oder gr\u00f6fser sind\u201c, so \u201eteilt auch der H\u00f6rnerv die Teilungslinien der Schallwellen, deren Gr\u00f6fse mit der H\u00f6he des Tones abnimmt.\u201c\n\u00c4hnliche Gedanken finden wir auch in den Auseinandersetzungen M\u00fcllers \u00fcber die Entstehung der verschiedenen Farben, obgleich sie hier nicht so deutlich und nicht so pr\u00e4zis, wie beim Geh\u00f6rsinn zutage treten. Es fehlte hier n\u00e4mlich M\u00fcller an einer den Klangfiguren gleichzustellenden Analogie aus der Wirkungsweise des Lichtes in der unbelebten Natur, \u201edie wesentliche Wirksamkeit des \u00e4ufseren elementarischen Lichtes aufser den Gesetzen seiner Bewegung kennen wir nicht, indem uns fast nur die Reaktionen organischer K\u00f6rper gegen","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nEugen Minkowski.\ndasselbe in organischen Energien als Leuchten, Farben, W\u00e4rmeempfindung, Wachstum usw. bekannt sind.\u201c Heute w\u00fcrde sich M\u00fcller auch in diesem Gebiete pr\u00e4ziser ausgedr\u00fcckt haben. Es ist aber klar, dafs auch die Farbe nicht blofs durch das Organ, das der Reiz trifft, bestimmt wird, sondern dafs es ganz bestimmte Ver\u00e4nderungen des Elementarischen sind (Zerstreuung), denen die Empfindung ihre Qualit\u00e4t verdankt. Es gibt kein Organ, keine Zelle, welche, wenn sie blofs affiziert werden \u201evon jedwedem Reiz, welcher Art er auch immer sei\u201c, diese ihre Affektion in einer bestimmten Farbe empfinden; nein, es sind ganz bestimmte Bedingungen notwendig, damit das Auge die Empfindung einer Farbe, z. B. des Blauen habe; dadurch wird aber die Zahl der Reize, die diese Empfindung zur Folge haben k\u00f6nnen, ganz wesentlich eingeschr\u00e4nkt, denn nach den obigen Auseinandersetzungen erscheint es z. B. als ausgeschlossen, dafs grofse Zerstreuung des schwach wirkenden elementarischen Lichtes die Empfindung etwa des Roten, und nicht des Blauen hervorruft. Eine weitere Folge davon ist es, dafs wir durch unsere farbigen Empfindungen tats\u00e4chlich \u00fcber gewisse physikalische Ver\u00e4nderungen des Elementarischen in Kenntnis gesetzt werden, w\u00e4hrend wir im Gegensatz dazu durch die Empfindung des Lichten nur davon unterrichtet werden k\u00f6nnen, dafs unser lichtempfindliches Organ in irgendwelcher Weise affiziert wurde.\nDas Prinzip der spezifischen Sinnesenergie bleibt demnach bei M\u00fcller eigentlich blofs auf die Modalit\u00e4ten beschr\u00e4nkt, die Qualit\u00e4ten erfahren eine wesentlich andere physiologische Behandlung. M\u00fcller postuliert nicht f\u00fcr jede Qualit\u00e4t der Empfindung ein spezielles Organ, dessen Funktion darin best\u00fcnde, sich selbst in der entsprechenden Qualit\u00e4t zu empfinden, sondern ist vielmehr bestrebt die Bedingungen festzustellen, unter denen jede Empfindung zustande kommt, die er aber von der physikalischen Wirkungsweise des ad\u00e4quaten Reizes ableitet. Dieser Mangel an Einheit tritt deutlich zutage, wenn wir uns jetzt zu den Tatsachen wenden, die M\u00fcller zur Aufstellung seiner Lehre gef\u00fchrt haben. Nehmen wir als Beispiel, dafs ein fremdartiger Reiz (z. B. der galvanische Strom) bei der Wirkung auf das Ohr die Empfindung eines Tones von bestimmter H\u00f6he hervorruft (wie M\u00fcller angibt, des eingestrichenen g). Worin findet diese Tatsache ihre Erkl\u00e4rung? Der galvanische Strom wird nach M\u00fcller als Schall empfunden, weil er das Ohr \u2014","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n141\ndas schallempfindende Organ getroffen hat, welches, um in seiner Energie t\u00e4tig zu sein, nicht unbedingt \u201ebewegt\u201c, aber blofs \u201eaffiziert\u201c zu werden braucht. Dieser Teil der T\u00e4uschung ist blofs die Folge davon, dafs \u201edie tierische Einzelheit dazu kommt ihre Sinnesenergien als eine von ihr selbst verschiedene Sinneswelt anzuschauen\u201c und die Energie des T\u00f6nenden irrt\u00fcmlicherweise dem gew\u00f6hnlichsten Beize des Ohrs, dem elementarischen Schall, zuschreibt, worauf er aber nach seinem Verh\u00e4ltnis zur Sinnessubstanz blofs in gleichem Mafse Anspruch erheben kann, wie der galvanische Strom. Dafs es aber gerade ein eingestrichenes g ist, ist nicht blofs eine Folge davon, dafs die spezifischen Sinnesenergien des Geh\u00f6rorgans nach aufsen verlegt werden, denn dann k\u00f6nnte es ebensogut jede andere Tonh\u00f6he sein. Nein, dieser Teil der T\u00e4uschung w\u00fcrde vielmehr seine physiologische Erkl\u00e4rung darin finden, dafs der fremdartige Reiz unter den gegebenen Umst\u00e4nden auch die der Empfindung des eingestrichenen g entsprechenden Bedingungen, d. h. nach M\u00fcller das \u201eVerh\u00e4ltnis der ruhenden und affizierten Teile des Fl\u00f6rnerven, von dem die H\u00f6he des Tones, als Energie des Sinnes abh\u00e4ngt\u201c, erf\u00fcllen konnte. Diese Bedingungen wurden aber, wie wir oben gesehen haben, von der physikalischen Wirkungsweise des elementarischen eingestrichenen g auf den H\u00f6rnerv abgeleitet und werden auch selbstverst\u00e4ndlich deswegen von ihm in der \u201evornehmsten\u201c Weise erf\u00fcllt werden k\u00f6nnen.\nF\u00fchren wir aber noch den Begriff des ad\u00e4quaten Reizes und der spezifischen Reizbarkeit im Bereiche der Modalit\u00e4ten ein, so wie es M\u00fcller in seinem Handbuche tut, so tritt dadurch auch auf diesem Gebiete das Moment der Bedingungen, die notwendig sind, damit sich der Nerv in seiner Energie empfindet, in den Mittelpunkt des physiologischen Interesses. Denn der ad\u00e4quate Reiz ist nichts anderes, als derjenige Reiz, der f\u00fcr die Erf\u00fcllung dieser Bedingungen am besten, unter gew\u00f6hnlichen Verh\u00e4ltnissen ausschliefslich, pafst. Er hat auch daher, als \u201evornehmster\u201c Reiz, in erster Linie das Recht darauf, dafs ihm die Energie des sich selbst empfindenden Nervenmarks zugeschrieben wird, wrenn tats\u00e4chlich, wie es M\u00fcller will, eine Verlegung der Sinnlichkeit der tierischen Einzelheit nach aufsen durch \u201edie Erziehung der Sinne\u201c stattfindet. Die T\u00e4uschungen aber, die M\u00fcller zu seiner Lehre gef\u00fchrt haben, sind jetzt keine \u201eWahrheiten\u201c mehr, die wir blofs deswegen verkennen, weil wir","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nEugen Minkowski.\ndie Energien unserer Sinne dem \u201egew\u00f6hnlichsten\u201c Reiz zugeschrieben haben, sondern tats\u00e4chlich T\u00e4uschungen insofern, als der inad\u00e4quate Reiz unter gewissen abnormen Verh\u00e4ltnissen die Wirkungsweise des ad\u00e4quaten auf den empfindenden Nerv Vort\u00e4uschen kann. Die physiologische Aufgabe besteht jetzt vor allem darin die Bedingungen festzustellen, die erf\u00fcllt werden m\u00fcssen, damit der Nerv in der ihm innewohnenden Energie reagiert, und die von den Eigenschaften und der Wirkungsweise des ad\u00e4quaten Reizes abzuleiten sein werden, wie es auch M\u00fcller bei seiner Theorie der Tonempfindungen tut ; ferner aber zu zeigen, dafs auch der inad\u00e4quate Reiz unter gewissen Ausnahmeumst\u00e4nden diesen Bedingungen gerecht werden kann.\nWenn wir uns aber noch von dem Begriff des sich selbst in seiner Energie empfindenden Nervenmarkes, auf dem die M\u00dcLLERsche Lehre auf gebaut ist, emanzipieren und statt dessen den Begriff des empfindenden Subjekts einf\u00fchren; nicht mehr die Empfindung als vitale Funktion einer Nerven- oder Sinneszelle betrachten und somit auch die M\u00f6glichkeit erlangen, die Bedingungen, die zur Entstehung einer Empfindung, als Bewulst-seinsinhalts, notwendig sind, eventuell auf ein ganzes System von Zellen auszudehnen (ohne selbstverst\u00e4ndlich sie mit \u201emechanischer Notwendigkeit\u201c aus ihnen ableiten zu wollen), so werden wir, wie mir scheint, uns immer mehr und mehr einer Fragestellung n\u00e4hern, wie wir sie im psychophysischen Parallelismus finden. Wenn man aber behaupten wollte, dafs von der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien auch unter diesen Umst\u00e4nden noch das bleibt, was man als Lehre von den prim\u00e4ren und sekund\u00e4ren Qualit\u00e4ten bezeichnet, so ist darauf zu bemerken, dafs diese Lehre \u00fcberhaupt keine physiologische Angelegenheit mehr ist. Wie sie nicht von den Tatsachen, die M\u00fcller durch seine Lehre zu erkl\u00e4ren suchte, abgeleitet oder gar durch sie bewiesen wirdx, ebensowenig kann sie, wie wir oben gesehen haben, zu ihrer physiologischen Erkl\u00e4rung dienen. Was aber die Fragestellung anbelangt, zu der wir hingeleitet wurden, so l\u00e4fst sich von ihr in diesem Zusammenh\u00e4nge jedenfalls soviel sagen, dafs sie im Gegensatz zur Lehre von den spezifischen Sinnesenergien das gesamte Gebiet der T\u00e4uschungen nach einem\n1 Ebensowenig k\u00f6nnte eventuell ein entgegengesetztes Verhalten unserer Sinnesorgane als Argument gegen diese Lehre angef\u00fchrt werden.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n143\neinheitlichen Gesichtspunkte zu behandeln erm\u00f6glicht \u2014 nicht nur im Bereiche der Modalit\u00e4ten und Qualit\u00e4ten unserer Empfindungen, sondern auch ihrer Intensit\u00e4ten, welche von der M\u00dcLLEEschen Lehre \u00fcberhaupt nicht ber\u00fchrt werden.\nWas die Versuche anderer Forscher die M\u00dcLLERsehe Lehre in ganz konsequenter Weise auch im Bereiche der Qualit\u00e4ten einer Modalit\u00e4t anzuwenden betrifft, so kann von einer einheitlichen Durchf\u00fchrung des Prinzips nicht mehr die Rede sein. Im einzelnen verweise ich wieder auf die Arbeit Weinmanns ; speziell auf die HELMHOLTzschen Lehren hoffe ich in einem anderen Zusammenhang noch zur\u00fcckkommen zu k\u00f6nnen.\nIV. Spezifische Sinnesenergie und die Phylogenese der\nSinnesorgane.\nIch m\u00f6chte jetzt die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien im Zusammenh\u00e4nge mit der Frage der phylogenetischen Entwicklung der Sinnesorgane betrachten. Es ist wohl der nat\u00fcrlichste Gedanke, dafs, wnnn wir uns auf den Standpunkt der M\u00dcLLEEschen Lehre stellen, wir als erste Anlage eines Sinnesapparates eine Substanz (bzw. ein System solcher) betrachten, die mit der entsprechenden spezifischen Sinnesenergie, d. h. mit der F\u00e4higkeit sich selbst in ihrer eigenen Energie zu empfinden ausgestattet ist. Wir haben aber dadurch an die Spitze unserer Betrachtungen eine Substanz mit einer ganz bestimmten Eigenschaft gesetzt, die wir nie als solche zu erkennen imstande sein werden, denn es wird uns immer an einem objektiven Kriterium fehlen, um die Frage zu entscheiden, welcher Substanz eine spezifische Sinnesenergie zukommt und welcher nicht. Sobald n\u00e4mlich die Sinnessubstanz zum Objekt unserer Untersuchung wird, ist sie zum \u201e\u00e4ufseren Ding\u201c geworden, dem die \u201eEnergien des Lichten, Dunkeln usw. nicht immanent sind\u201c. Wir werden an ihr nichts weiter wahrnehmen k\u00f6nnen, als das, was uns in unseren eigenen Sinnesenergien gegeben werden kann, mit anderen Worten nichts wesentlich verschiedenes von dem, was auch an allen \u00fcbrigen Substanzen wahrgenommen wird. Es ist klar, dafs jedes Operieren mit einer derartigen Substanz ein ganz willk\u00fcrliches sein mufs. Nehmen wir z. B. an, dafs eine mit einer bestimmten spezifischen Sinnesenergie ausgestattete Sub-","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nEugen Minkowski.\nstanz im Laufe der phylogenetischen (bzw. ontogenetischen) Entwicklung durch physikalisch-chemische Ver\u00e4nderungen und Kombinationen von Biomolek\u00fclen, von denen diese Eigenschaft fr\u00fcher keinem zukam, entstanden ist, so wird die Entstehung dieser Substanz mit gleichem Rechte in jeden Moment der Phylogenese verlegt werden k\u00f6nnen. Wollen wir aber diese Schwierigkeit durch die Annahme umgehen, dafs die spezifische Sinnessubstanz bereits in den ersten einfachsten Lebewesen vorhanden war, so werden wir diesen Gedanken bei der Frage nach der Entstehung dieser ersten Lebewesen wohl auch in der unbelebten Natur verfolgen m\u00fcssen, um schliefslich zu der Vorstellung von den sich selbst empfindenden Atomen zu gelangen.\nKehren wir trotzdem zu unserer Annahme zur\u00fcck. Wir betrachten in diesem Falle als erste Anlage eines Sinnes eine mit der entsprechenden Energie ausgestattete Sinnessubstanz. Ein Sinnesorgan im engeren Sinne des Wortes ist noch nicht vorhanden. Unter diesen Bedingungen ist die Sinnessubstanz allen Reizen ganz unabh\u00e4ngig von ihren physikalischen Eigenschaften in gleichem Mafse zug\u00e4nglich. Eine Unterscheidung derselben nach ihrer Wirkungsweise ist \u00fcberhaupt unm\u00f6glich, denn die Sinnessubstanz reagiert \u201evon jedwedem Reiz, welcher Art er auch immer sei, aus ihrer Ruhe zur Affektion bewegt\u201d immer blofs in der ihr eigenen Energie. Nun entstehen die peripheren Sinnesapparate, die aber nach ihrem Baue und physikalischen Eigenschaften bereits in engste Beziehungen zu einer bestimmten physikalischen Energieform treten, diese wdrd dann auch zum \u201egew\u00f6hnlichsten\u201c Reiz der Sinnessubstanz, indem jetzt die \u00fcbrigen Reize wenigstens unter normalen Verh\u00e4ltnissen keinen Zutritt zur Sinnessubstanz mehr haben. Durch die Entwicklung des Auges, wrelches an die Bewegungsgesetze des elementarischen Lichtes streng angepafst ist, wird jetzt dieses Elementarische zum gew\u00f6hnlichsten Reiz der Sehsinnsubstanz und nur \u201edeshalb scheint (!) uns das Licht zu den Empfindungen der Netzhaut in einem besonders bevorzugten Verh\u00e4ltnisse zu stehen\u201c (Helmholtz; zitiert nach Weinmann). Es besteht zwischen der Sinnessubstanz, die keinerlei elektiven Beziehungen zu irgend einer Reizart aufwies, und dem Sinnesapparat, dessen Beziehungen zu dem gew\u00f6hnlichsten Reiz deutlich zutage treten, kein bindendes Glied. Es ist ein reiner Zufall, dafs durch die Entwicklung des Auges das elementarische Licht zum gew\u00f6hn-","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n145\nlichsten Reiz der mit der Energie des Leuchtenden und des Farbigen ausgestatteten Substanz geworden ist; es h\u00e4tte ebensogut der elementarische Schall zum gew\u00f6hnlichsten Reiz dieser Substanz geworden sein k\u00f6nnen, wenn anstatt des Auges das Ohr zwischen dieser Substanz und der Aufsenwelt sich entwickelt h\u00e4tte. Dieses Moment des Zufalles k\u00f6nnen wir auch nicht durch die Annahme vermeiden, dafs die in ihren Energien sich selbst empfindende Sinnessubstanz erst nachtr\u00e4glich entstanden ist. Auch in diesem Falle w\u00e4re es ein reiner Zufall gewesen, dafs die mit der Energie des T\u00f6nenden ausgestattete Substanz in Verbindung mit dem Ohr und nicht etwa mit dem Auge getreten sei.\nDieser Mangel eines bindenden Gliedes zwischen Sinnessubstanz und demjenigen Elementarischen, welchem wir ihre Energien zuschreiben, mufs uns auch an manchen Stellen der M\u00fcLLEEschen Betrachtungen befremden, w-enn wir auch die damals herrschende Ansicht von der Konstanz der Arten ber\u00fccksichtigen. In wirklich meisterhafter Weise behandelt M\u00fcller bei seinen vergleichend physiologischen Studien den Fortschritt des einfachen und zusammengesetzten Auges in der Tierreihe als begr\u00fcndet in den Bewegungsgesetzen des elementarischen Lichtes. Er hielt diese Abh\u00e4ngigkeit des Baues der Augen von den Eigenschaften des Lichtes f\u00fcr so zwingend, dafs er sogar die Formen der Augen Voraussagen konnte, bevor er sie in der Natur verwirklicht fand. \u201eDiese Art des Sehorgans ist so einfach und in den Bewegungsgesetzen des Lichtes so gegr\u00fcndet, dafs man auf ihre Verwirklichung in der Natur schliefsen mufs\u201c ; ..ich kannte die zwreite m\u00f6gliche Art des Sehorgans aus dem Verfolge der gegenw\u00e4rtigen Betrachtung, ehe ich dieselbe auch als in der Natur gefunden.\u201c Diese Betrachtungen beziehen sich aber ausschliefslich auf die Bewegungsgesetze des elementarischen Lichtes und haben mit dem Auge als licht- und farbenempfindendem Organ eigentlich nichts zu tun. Und das ist auch begreiflich , denn der Lehre gem\u00e4fs m\u00fcssen sich alle Betrachtungen \u00fcber die Energien des Lichten und des Farbigen ausschliefslich auf die Sehsinnsubstanz beziehen und k\u00f6nnen ihrerseits mit dem nach den Gesetzen des gew\u00f6hnlichsten Reizes gebauten Sehorgan in keinerlei Zusammenhang stehen. Es mufs auch die M\u00f6glichkeit \u201evon Farbenempfindungen ohne Sehorgan\u201c zugegeben werden, denn der \u201eApparat des Sehorgans hat nichts","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nEugen Minkowski.\nzu tun zur Farbenempfindung als Energie\u201c. Und es l\u00e4fst sich nicht die befremdende Behauptung von der Hand weisen, dafs das Auge sich ebensogut mit der Sinnessubstanz des Geh\u00f6rsinnes h\u00e4tte verbinden k\u00f6nnen, wie es in Wirklichkeit (wenigstens beim Menschen) mit der Sehsinnsubstanz tut. Denn der innige Zusammenhang zwischen dem elementarischen Licht und der Energie des Lichten ist, wie wir schon fr\u00fcher gesehen haben, nach M\u00fcller (Kap. I, 3), blofs ein scheinbarer, blofs das Resultat unseres \u201epraktischen Verhaltens gegen die Natur im Gegensatz zum theoretischen\u201c. Erst \u201edurch die Erziehung der Sinne, durch das Urteil\u201c sind wir dazu gekommen unsere \u201eAffektionen in den Sinnesenergien von unserem Selbst zu trennen\u201c und sie dem gew\u00f6hnlichsten Reiz \u2014 beim Gesichtssinn dem elementarischen Licht \u2014 zuzuschreiben. Es st\u00fcnde uns aber nichts im Wege durch dieselbe Erziehung der Sinne das elementarische Licht, von \u201edem wir nichts als die Gesetze seiner Bewegung in durchsichtigen und zugleich brechenden Medien kennen\u201c f\u00fcr objektiv t\u00f6nend zu halten, wenn das gerade das gegenseitige Verh\u00e4ltnis des Auges und der Sinnessubstanz des Geh\u00f6rsinnes erfordert h\u00e4tte.\nAlle diese Schwierigkeiten lassen sich vermeiden, sobald wir als erste Anlage eines Sinnesapparats eine Substanz betrachten, die eine ganz bestimmte physikalische Reizart mit besonderer Leichtigkeit in einen physiologischen Reiz \u00fcberzuf\u00fchren imstande ist, d. h. eine spezifische Disposition im NAUELschen Sinne besitzt. Wie sich diese \u00dcberf\u00fchrung gestaltet und worin sie besteht, l\u00e4fst sich bei den heutigen Kenntnissen diesbez\u00fcglicher Vorg\u00e4nge nicht n\u00e4her pr\u00e4zisieren. Man ist wohl geneigt in erster Linie an die \u00dcberf\u00fchrung in chemische Energie zu denken. Es ist aber jedenfalls klar, dafs wir in der spezifischen Disposition eine Eigenschaft haben, die sich mit der Zeit physikalischchemisch zergliedern und bestimmen lassen wird, und deren Tr\u00e4gerin wir dann nach den entsprechenden objektiven Merkmalen immer als solche erkennen k\u00f6nnen werden. Denn dafs verschiedene Substanzen gegen dieselbe Energieform sich ganz verschieden verhalten k\u00f6nnen, ist uns aus der unbelebten Natur wohl gel\u00e4ufig genug; es sei hier nur auf die lichtempfindlichen Substanzen hingewiesen. Ich m\u00f6chte hier noch bemerken, dafs wir in der Tr\u00e4gerin der spezifischen Disposition irgend welche weiteren, mit dem entsprechenden Reiz selbst verwandten Eigen-","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n147\nsch\u00e4ften, wie z. B. in der lichtempfindlichen Substanz aufser ihrer spezifischen Empfindlichkeit noch irgend welche wahrnehmbaren optischen Eigenschaften nicht vorauszusetzen brauchen; deshalb sollten wir auch nicht in dem Pigmentfleck mancher Protisten, blofs durch seine \u201eFarbe\u201c verleitet, ohne weiteres die erste Anlage des Auges erblicken (gegen diese Annahme sprechen \u00fcbrigens jetzt auch die experimentellen Befunde); die erste Anlage eines lichtempfindenden Organs kann ebensogut, und das erscheint mir sogar wahrscheinlicher, farblos sein.\nBei der angef\u00fchrten Annahme besteht ein inniger Zusammenhang bereits zwischen der ersten Anlage eines Sinnesorgans, die wir Sinnessubstanz nennen wollen, und einer bestimmten Reizart, so dafs von vornherein von einem ad\u00e4quaten Reize im strengsten Sinne des Wortes die Rede sein kann. Es besteht auch jetzt keine Kluft mehr zwischen der Sinnessubstanz und dem peripherw\u00e4rts von ihr entstehenden Apparat, indem die Entwicklung des letzteren durch die physikalischen Eigenschaften des f\u00fcr die erstere ad\u00e4quaten \u00e4ufseren Reizes bestimmt wird. Diese Entwicklung hat zum Ziele alle Eigenschaften des Reizes, und zwar nicht nur diejenigen, die den Intensit\u00e4ten, sondern auch den Qualit\u00e4ten innerhalb der gegebenen Modalit\u00e4t unserer Empfindungen entsprechen, durch Verschiedenartigkeiten des Vorganges in der Sinnessubstanz zum Ausdruck zu bringen; dabei wird aber keine andere Eigenschaft dieser Substanz in Anspruch genommen als blofs ihre spezifische Disposition. Ich glaube, an einem Beispiele aus der unbelebten Natur deutlich machen zu k\u00f6nnen, worum es sich dabei handelt. Die photographische Platte ist lichtempfindlich; sie besitzt die F\u00e4higkeit, die Lichtenergie in eine andere Energieform \u00fcberzuf\u00fchren. Wenn wir die Platte dem Lichte aussetzen, so tritt eine diffuse Schw\u00e4rzung ein, es ist nichts weiter als die Lichtwirkung markiert worden. Wenn wir aber jetzt einen Apparat anbringen, dessen optische Eigenschaften passend gew\u00e4hlt worden sind, eine camera obscura, so werden die Intensit\u00e4tsunterschiede der Beleuchtung, die an verschiedenen Punkten des Raumes herrschen, sich auch durch entsprechende Verschiedenheiten der Intensit\u00e4t des Prozesses an verschiedenen Orten der Platte manifestieren und wir erhalten eine Schwarzweifsphotographie. Die Anbringung weiterer Vorrichtungen f\u00fchrt dann zur Farbenphotographie (Lipp-manns Farbenphotographie und als Analogon hierzu die Zenker-","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nEugen Minkowski.\nsehe und in der neuesten Zeit die RaehlmannscIic Farbenlehren). In allen drei F\u00e4llen ist der Prozefs in der lichtempfindlichen Schicht der Platte im Wesen derselbe, n\u00e4mlich eine Zersetzung durch Lichtenergie. Die drei wesentlich verschiedenen Resultate, die erhalten werden, sind einzig auf die Rechnung der Apparate, die zwischen der lichtempfindlichen Schicht und dem Lichte eingeschaltet werden, zu setzen.\nAber auch die nerv\u00f6sen Teile, die mit dem Sinnesapparat in Verbindung stehen, werden sich jetzt unter dem Einfl\u00fcsse der spezifischen Disposition der Sinnessubstanz entwickeln. \u201eJedes verschiedene Sinnesorgan bevorzugt gewisse Energieformen und es ist sehr wahrscheinlich, dafs w\u00e4hrend der Stammesentwicklung^ der Tiere sich diese Sinnesorgane allm\u00e4hlich f\u00fcr die ad\u00e4quate Reizart abgepafst haben, wobei unter der Einwirkung der also bevorzugten Reizform die zugeh\u00f6rigen Nervenzentren sich ebenfalls allm\u00e4hlich differenziert haben\u201c (Tigerstedt). Peripherw\u00e4rts von der Sinnessubstanz entsteht, wie wir eben besprochen haben, der Sinnesapparat, dessen Entwicklung durch die physikalischen Eigenschaften des ad\u00e4quaten Reizes bestimmt wird.1 Zentrai-w\u00e4rts dagegen entwickeln sich der Sinnesnerv und die Sinneszentren, deren Entstehung durch die mit dem Fortschritt der tierischen Organisation notwendig gewordene Zentralisierung und mannigfaltige Verkn\u00fcpfung der an verschiedenen Stellen des Organismus durch Reize gesetzten Ver\u00e4nderungen hervorgerufen wird. Die allen Nerven und Zentren zukommenden Funktionen der Leitung und Verkn\u00fcpfung bedingen auch die weitgehende \u00c4hnlichkeit in ihrem Aufbau ; \u00e4hnlich etwa, wie die Dr\u00fcsen entsprechend der gemeinsamen Funktion der Sekretion nach den gleichen Prinzipien aufgebaut sind. Indessen bestehen bekanntlich im mikroskopischen Bilde der verschiedenen Abschnitte der Grofshirnrinde auch Unterschiede (Betz, Ramon y Cajal, Brodmann) und, wie die neueren Untersuchungen speziell \u00fcber die Sehsph\u00e4re zeigen, decken sich die zytoarchitektonischen Zonen, wenigstens soweit die Genauigkeit der angewandten Methoden reicht, mit den physiologischen. (M. Minkowski \u201eZur Physiologie der kortikalen Sehsph\u00e4re\u201c. 4. Jahresversammlung\n1 Ich glaube den Sitz der Sinnessubstanz in den peripheren Endigungen der Sinnesnerven annehmen zu d\u00fcrfen, wo ja die \u00dcberf\u00fchrung des physikalischen Reizes in einen physiologischen Vorgang stattfindet.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.\n149\nder Gesellschaft deutscher Nerven\u00e4rzte, Berlin, 6.\u20147. Oktober 1910). Jeder Sinnesnerv und seine zentralen Stationen werden sich n\u00e4mlich von vornherein unter dem Einfl\u00fcsse des spezifischen Vorgangs befinden, der in der entsprechenden Sinnessubstanz durch den ad\u00e4quaten Reiz eingeleitet wird. So werden z. B. der Sehnerv und das Sehzentrum unter dem Einfl\u00fcsse des spezifischen Vorgangs der in der Sehsinnsubstanz durch das Licht hervorgerufen wird, stehen. Dieser Vorgang wird dann den Leitungsvorgang im Sehnerven in einer ganz bestimmten Richtung beeinflussen und auch im Sehzentrum durch das Auftreten gewisser charakteristischer Molekularprozesse sich manifestieren. Jeder Sinnesnerv und jedes Sinneszentrum werden demnach eine spezifische Leistung zu vollf\u00fchren haben, und es wird sich auch hier, wie in anderen Organen, eine funktionelle Anpassung vollziehen m\u00fcssen. \u201eWo einmal in einer gewissen Nervenfaser Vorg\u00e4nge bestimmter Art sich ausbilden, da werden auch die komplexen Molek\u00fcle der Nervensubstanz eine Beschaffenheit annehmen, welche sie zu dieser bestimmten Form der Molekularbewegung vorzugsweise bef\u00e4higt, so dafs eine eintretende Ersch\u00fctterung des Molekulargleichgewichts die entsprechende Form der Bewegung hervorruft\u201c (Wundt). Es wird sich also allm\u00e4hlich eine spezifische molekulare Beschaffenheit der Sinnesnerven und der Sinneszentren ausbilden, die ihren Ausdruck auch darin finden wird, dafs sich in ihnen die charakteristischen molekularen Vorg\u00e4nge und die sich daran anschliefsenden weiteren Verkn\u00fcpfungen auch bei der Wirkung eines inad\u00e4quaten Reizes einstellen werden ; eine Tatsache, die an und f\u00fcr sich nicht befremdet und die auf anderen Gebieten der Physiologie Analoga genug hat. Es ist aber wohl zu beachten, dafs diese spezifische Beschaffenheit der zentralen Teile nicht etwas Selbst\u00e4ndiges, sondern die Folge der spezifischen Disposition der Sinnessubstanz, der ersten Anlage des Sinnesorgans, ist, also in letzter Linie in enger Beziehung zum ad\u00e4quaten Reiz steht. \u201eDurch das Prinzip der Verbindung der Elemente in seiner anatomischen und physiologischen Bedeutung wird unmittelbar die Annahme nahe gelegt, dafs, wo immer die physiologischen Funktionen der zentralen Elemente eine spezifische Bedeutung gewinnen, die sich etwa psychologisch in der eigenartigen Qualit\u00e4t einer Sinnesempfindung oder physiologisch in der Ausl\u00f6sung einer Muskelkontraktion, in der Erzeugung eines sekretorischen oder sonstigen chemischen","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nEugen Minkoivski.\nVorgangs zu erkennen gibt, der spezifische Charakter einer solchen Leistung nicht in den Elementen selbst, sondern in ihren Verbindungen begr\u00fcndet sei. Als die f\u00fcr die Entwicklung der spezifischen Leistungen mafsgebenden Verbindungen werden aber hierbei nicht sowohl die der nerv\u00f6sen Elemente untereinander, als vielmehr diejenigen mit den unmittelbar der spezifischen Funktion dienenden Organen und Ge-webselementen und mit den f\u00fcr diese bestimmenden \u00e4ufseren Einwirkungen anzusehen sein\u201c (Wundt).\nAuch bei diesen Betrachtungen sind wir zum Begriff des ad\u00e4quaten Reizes und der spezifischen Reizbarkeit der Sinnessubstanz hingeleitet worden und somit zu einer Fragestellung gelangt, die wir bereits am Schl\u00fcsse des vorigen Kapitels besprochen haben. Ich glaube, dafs aus den obigen Betrachtungen deutlich wird, dafs wo wir auch jetzt eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Tatsachen, die M\u00fcllee zu seiner Lehre gef\u00fchrt haben, suchen werden, ob im Sinnesorgan oder weiter zentralw\u00e4rts, wir uns immer an die durch den ad\u00e4quaten Reiz geschaffenen Verh\u00e4ltnisse anlehnen m\u00fcssen werden. Diese Tatsachen sind eben dann keine uns durch die \u201eErziehung der Sinne\u201c verdeckten Wahrheiten im M\u00dcLLEEschen Sinne, die wir blofs durch unser \u201eUrteil\u201c get\u00e4uscht f\u00fcr T\u00e4uschungen halten, und die uns dazu berechtigen sollten der Sinnessubstanz eine Eigenschaft zuzuschreiben, in bezug auf die alle Reize von vornherein ganz gleichartig w\u00e4ren. Nein, diese Tatsachen sind erst \u201eunter der Voraussetzung unserer gewordenen psychophysischen Organisation\u201c (Weinmann), die sich in jedem Gebiete unter dem Einfl\u00fcsse des ad\u00e4quaten Reizes vollzogen hat, m\u00f6glich geworden. Die Wahrheit besteht darin, dafs sie T\u00e4uschungen sind und von uns auch als solche erkannt werden.\nIch habe am Schl\u00fcsse des vorigen Kapitels zu zeigen versucht, dafs von dem physiologischen Inhalt der M\u00dcLLEEschen Lehre unter diesen Umst\u00e4nden nichts mehr \u00fcbrig bleibt. Sollen wir aber dennoch den Ausdruck \u201espezifische Sinnesenergie\u201c als blofse Verallgemeinerung der Tatsachen, die M\u00fcllee durch seine Lehre zu erkl\u00e4ren suchte, benutzen, wie es tats\u00e4chlich h\u00e4ufig geschieht? Ich m\u00f6chte hier die Worte Lotzes anf\u00fchren: \u201eAllgemeines aus einzelnen Erscheinungen gewonnen, hat nur dann Wert f\u00fcr uns, wenn es der Schl\u00fcssel wird zur Erkenntnis dessen,","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Zur M\u00fcller sehen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien,\n151\nwas von der Beobachtung abgewandt liegt; aber es wird zur leeren Wiederholung, wenn es uns nur die allgemeinen Umrisse desjenigen zeigt, was wir in seiner vollen Mannigfaltigkeit ohnehin vor Augen sehen.\u201c K\u00f6nnen wir nicht das beibehalten, was die M\u00dcLLERsche Lehre von den spezifischen Sinnesenergien \u201evon der Beobachtung Abgewandtes\u201c enth\u00e4lt, so sollten wir auch diesen Ausdruck fallen lassen, da er immer den Schein einer Erkl\u00e4rung in sich bergen wird.\nY. Die Lehre von den spezifischen Sinnesenergien\nals Arbeitshypothese.\nBereits im Jahre 1884 sagte Hering, ein treuer Anh\u00e4nger der Lehre von den spezifischen Sinnesenergien: \u201eMehr als ein halbes Jahrhundert ist verflossen, seit er (Joh. M\u00fcller) in grofsen leuchtenden Z\u00fcgen seine Lehre entwickelt hat, indem er Gedanken ein scharfes wissenschaftliches Gepr\u00e4ge gab, deren Keime bis auf Aristoteles zur\u00fcckreichen. Seine Worte fanden Wiederhall in zahllosen Schriften, aber man kann nicht sagen, dafs die von ihm gestreute Saat auf fruchtbaren Boden gefallen sei und sich wesentlich weiter entwickelt habe. Sehen wir ab von einigen, vielleicht nicht durchaus gl\u00fccklichen Versuchen, die Lehre von den Farben- und Tonempfindungen durch weitere Ausf\u00fchrung des M\u00dcLLERschen Grundgedanken zu f\u00f6rdern, so finden wir nicht, dafs seine Lehre besondere Frucht getragen.\u201c Wenn wir uns heute, wo noch ein Vierteljahrhundert vergangen ist, die Frage vorlegen, was uns die M\u00dcLLERsche Lehre als Arbeitshypothese in der Sinnesphysiologie geleistet hat, so k\u00f6nnen wir, glaube ich, die Worte Herings wiederholen. Sie hat uns auf eine Reihe von Tatsachen aufmerksam gemacht und dadurch selbstverst\u00e4ndlich dazu beigetragen, weitere Tatsachen aus demselben Gebiete an den Tag zu f\u00f6rdern, sie vermochte aber nicht zur physiologischen Erforschung der Vorg\u00e4nge in denjenigen Organen, auf die sie sich im wesentlichen bezog, beizutragen und ist nicht zum \u201eSchl\u00fcssel zur Erkenntnis dessen, was von der Beobachtung abgewandt liegt\u201c geworden. Dieser Umstand mufs wohl an und f\u00fcr sich Bedenken gegen die Lehre und die Frage enveeken, ob denn doch der Boden alle diese langen Jahre hindurch unfruchtbar gewesen ist, oder vielmehr die Saat","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nEugen Minkowski.\nan und f\u00fcr sich keine Frucht zu tragen imstande war. Ich neige nach den obigen Betrachtungen zur letzten Annahme und glaube auch, dafs Wundt recht hat, wenn er sagt, dafs ,,Johannes M\u00fcller, der keinem Autorit\u00e4tsglauben huldigte und der \u00fcberall die menschliche durch die vergleichende Physiologie zu erl\u00e4utern bem\u00fcht war, wenn er heute lebte, schwerlich ein Anh\u00e4nger der Lehre von der spezifischen Energie\u201c gewesen w\u00e4re.\nBerichtigung.\nIn meiner im 45. Bande dieser Zeitschrift erschienenen Arbeit S. 66 Zeile 9 von unten hat sich ein Druckfehler eingeschlichen. Statt \u201emit jedem Nystagmus\u201c mufs es heifsen \u201emit jedem Labyrinth\u201c, Damit ist wohl auch die genaue Angabe der Literaturstelle \u00fcberfl\u00fcssig.\tPrivatdozent Dr. Bau any.","page":152}],"identifier":"lit33583","issued":"1911","language":"de","pages":"129-152","startpages":"129","title":"Zur M\u00fcllerschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien","type":"Journal Article","volume":"45"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:49:46.744802+00:00"}

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