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Die physiologische Psychologie des Hungers [Zweiter Teil und Schluß]

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{"created":"2022-01-31T17:01:10.536362+00:00","id":"lit33588","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Turr\u00f3, R.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 45: 217-306, 327-432","fulltext":[{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"217\nDie physiologische Psychologie des Hungers.\nVon\nProfessor R. T\u00fcrr\u00f6,\nDirektor des st\u00e4dt. bakteriolog. Laboratoriums zu Barcelona.\nZweiter Teil.\nIY. Die trophische Erfahrung.\nDie Nahrungsaufnahme. \u2014 Die Aufnahme und die Erfahrung bei den sogenannten instinktiven Akten. \u2014 Die Aufnahme zu Anfang oder die blinde Nahrungsaufnahme. \u2014 Daten aus denen die trophische Erfahrung hervorgeht. \u2014 Die Natur dieser Erfahrung. \u2014 Die experimentelle Untersuchung der Grundlage oder des inneren Faktors. \u2014 Das zeitliche Auftreten des Hungers. Grundlage oder \u00e4ufserer Faktor der trophischen Erfahrung. \u00c4ufsere Unterscheidungen als Folge vorhergehender trophischer Unterscheidung. \u2014 Erkenntnis der Anwesenheit der N\u00e4hr ung. Die Umformung der trophischen Erfahrungen. \u2014 Organisation des Appetits. \u2014 Zellhunger und Appetit. \u2014Einsts des Appetits auf Speichel- und Magensekretion. \u2014 Natur der \u201ebedingten Reflexe\u201c. \u2014 Abwehrreaktion der Speichelabsonderung. Der Magensaft psychischen Ursprungs. \u2014 Mechanismus seiner Anpassung an die gew\u00fcnschten Nahrungsmittel. \u2014 Festsetzung der Einfuhrmenge durch die Magensensibilit\u00e4t. \u2014 Das Erl\u00f6schen des Hungers. \u2014 Die trophische Erfahrung und \u2022die funktionelle Einheit des Bewufstseins.\nDurch Vermittlung der trophischen Sensibilit\u00e4t k\u00fcndigt der Organismus das Fehlen der ihm mangelnden Substanzen an. Es tritt Hunger und Durst auf. Wenn der Prozefs hier aufh\u00f6rte, so w\u00fcrden die sensorischen Reaktionen ihres Endzieles und des charakteristischen Verhaltens eines psychischen Vorganges entbehren. Zweifellos ist der Durst eine spezifische Empfindung gerade wie es der Hunger f\u00fcr diese oder jene spezielle Substanz ist. Aber zwischen dem Auftreten dieser\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t14","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nR. Turrit.\nEmpfindungen oder Grundbed\u00fcrfnisse und der Kenntnis der K\u00f6rper, die imstande sind, die Zusammensetzung des Gewebs-saftes wieder herzustellen und den Durst zu stillen, liegt erst noch ein Prozefs, den wir im folgenden kennen lernen wollen.\nDie Beobachtung lehrt, dafs das Tier als Erbteil einige vorgebildete Gemeinschaftsbewegungen mit auf die Welt bringt, die eng an gewisse trophische Reize gekn\u00fcpft sind. Das Neugeborene vollf\u00fchrt spontan Saugbewegungen, ebenso reiht es die zum Schluckakt n\u00f6tigen Muskelkontraktionen aneinander. Das Kind \u00f6ffnet den Mund und verschlingt bei der Ber\u00fchrung mit dem Nahrungsmittel, das m\u00fctterliche Sorgfalt ihm darreicht, dasselbe mit erstaunlicher Leichtigkeit. Junge Hunde und \u00fcberhaupt alle S\u00e4ugetiere schn\u00fcffeln unter dem Einfl\u00fcsse der angeborenen trophischen Reize umher, als wenn sie etwas suchten, das aufserhalb ihres Organismus liegt, l\u00e4ngst bevor \u00e4ufsere Eindr\u00fccke sie \u00fcber die Existenz einer Aufsenwelt unterrichtet haben. Wie schon Helmholtz richtig beobachtete, bringt das Neugeborene einige Bestrebungen mit sich, die \u00e4lter sind als jede tats\u00e4chliche Erfahrung. Die Notwendigkeit Nahrung einzuf\u00fchren besteht vor jeder \u00e4ufseren Beziehung und sie ist es, die das Tier veranlafst, in lebhaften Verkehr mit der Umgebung zu tieten. Nur mit R\u00fccksicht hierauf n\u00fctzt es die Empfindungen aus, die es \u00fcber die Anwesenheit einer Umgebung unterrichten. Aber angenommen, dafs diese Empfindungen gar nicht existierten, so w\u00fcrde sich dieser scharfsinnige Trieb doch in der gleichen Weise \u00e4ufsern. Der enthirnte Hund von Goltz afs und trank wie in seinen besten Zeiten. Es sind Wiederk\u00e4uer zur Beobachtung gekommen mit umfangreichen Gehirnverletzungen, ohne dafs sich hierdurch der zeitliche Verlauf des Hungers und der physiologische Mechanismus, der die Nahrungszufuhr zur Voraussetzung hat, ge\u00e4ndert h\u00e4tte. Aus alle dem geht hervor, dafs die m\u00e4chtige Kraft, die den Organismus auf die Aufsenwelt hinweist, nicht wie man wohl sagt, aus den Gef\u00fchlen hervorgeht, sondern aus dem Organismus selbst. Diese angeborene oder physiologische Disposition bef\u00e4higt das Wesen unabh\u00e4ngig von jedem \u00e4ufseren Eindruck, das was ihm fehlt zu suchen, auch ohne dafs sich dessen Anwesenheit durch seinen Geruch, Geschmack und Farbe bemerkbar macht. Fassen wir kurz zusammen, so sehen wir, dafs die Nahrungsverluste ersetzt werden, als ob eine f\u00fcrsorgliche Hand seiner Unerfahrenheit zu Hilfe k\u00e4me und die n\u00f6tigen","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n219\nNahrungsmittel in seinen Bereich br\u00e4chte; auf diese Weise werden die Nahrungs Verluste ausgeglichen und f\u00fcr eine Zeitlang kommt dieses primum moyens seelischen Lebens zur Ruhe.\nEs hiefse einen schweren Irrtum begehen, und die Tatsachen nur verdunkeln, wollte man die psychophysiologischen Prozesse in einer mehr oder minder willk\u00fcrlichen Weise, wie sie ein vager Empirismus vor dem Beobachter ausbreitet, einordnen, gerade als wenn man diese Ph\u00e4nomene vom genetischen Standpunkte oder nach der Reihenfolge ihres Zustandekommens betrachten wollte. Dazu kommt man aber, wenn man annimmt, dafs das Tier intuitiv das kennt, was ihm n\u00fctzlich ist. Man wirft dann die Erfahrungen mit dem angeborenen Trieb zur Nahrungsergreifung zusammen, und weist einem Deus ex machina, den wir Instinkt nennen, Fragen zu, die es uns zuk\u00e4me, aufzukl\u00e4ren.\nDie phylogenetische Pr\u00e4disposition erleichtert die Erfahrungen in solchem Mafse, dafs es in einigen Ausnahmef\u00e4llen schwer sein kann, gewisse Vorkommnisse zu erkl\u00e4ren, die tats\u00e4chlich angeboren zu sein scheinen. Wenn wir aber der naheliegenden Verlockung widerstehen, an das Wunder zu glauben, und kaltbl\u00fctig die Tatsache untersuchen, so kann man ohne Z\u00f6gern zugeben, dafs in dieser Frage viel \u00fcbertrieben wird, auch ohne dafs man jede Einzelheit erkl\u00e4ren kann. So wird beispielsweise versichert, dafs die K\u00fcken mit der Kenntnis ihrer Futterk\u00f6rner geboren werden. Ich habe sie selbst von dem Augenblick an beobachtet, wo sie die Schale des Eis durchbrochen haben, bis sie sich im Gleichgewicht halten und umherlaufen konnten. So habe ich mich \u00fcberzeugt, dafs diese Kenntnisse die Frucht einer l\u00e4ngeren Lehrzeit sind. Das K\u00fcken pickt in die Schale, in die Luft und in den Erdboden mit derselben Sorglosigkeit, mit der das Neugeborene Saugbewegungen ausf\u00fchrt: W\u00e4hrend seiner ersten Versuche unterscheidet es nicht zwischen Gries, Weizen oder Sandk\u00f6rnern, es kennt die Lage dieser Gegenst\u00e4nde nicht und vermag sie nur nach ihrer Farbe, nicht nach ihrer Form zu unterscheiden. So sieht man, dafs sie auf gut Gl\u00fcck auf das erste beste lospicken und sich h\u00e4ufig irren. Auch dieser Akt des Pickens ist nicht angeboren, sondern setzt eine Lehrzeit voraus, in der durch m\u00fchselige Arbeit die F\u00e4higkeit erworben werden mufs, Entfernungen abzusch\u00e4tzen. Der Beobachter leidet in diesem Punkte unter dem Vorurteil, dafs die anf\u00e4nglich dem\nGegenst\u00e4nde gar nicht angepafsten Bewegungen durch das Ge-\n14*","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nR. Turr\u00f4.\nsichtsbild orientiert w\u00e4ren, das doch in dieser ersten Lebenszeit sich ganz abweichend verh\u00e4lt wie sp\u00e4ter. Untersucht man die Verh\u00e4ltnisse gewissenhaft, so \u00fcberzeugt man sich verh\u00e4ltnism\u00e4fsig leicht, dafs diese Bewegungen zusammen mit dem Gef\u00fchl der Augenmuskelkontraktionen und der des M. ciliaris es sind, die das Retinabild auf den im Raume eingenommenen Platz projizieren. In den ersten Etappen seines Lebens scheint das K\u00fcken blind zu sein. Erst jemehr es sich mit Hilfe seiner Bewegungen Kenntnis dar\u00fcber verschafft, dafs \u00e4ufsere Dinge seinen Hunger stillen, beginnt es sich Rechenschaft abzulegen, inwiefern seine Gesichtsbilder mit diesen \u00fcbereinstimmen. In diesem Augenblick beginnt es die Retinabilder an ihre Stelle im Raum zu verlegen. Setzt man ein K\u00fcken beim Verlassen der Schale auf blauen oder roten Erdboden, in den kleine Griesk\u00f6rner verteilt sind, so pickt das Tier zuerst unbestimmt bald auf diese, bald in die Erde. Schnell aber beginnt es, die Futterk\u00f6rner mit dem zugeh\u00f6rigen Gesichtsbild zusammenzulegen und demgem\u00e4fs seine Bewegungen nach der richtigen Stelle zu verlegen. Wenn man jetzt dasselbe Tier auf eine dem Gries \u00e4hnliche graugelbe Fl\u00e4che bringt, so beobachtet man, dafs es die K\u00f6rner dieses Bodengrundes verkennt und wieder auf gut Gl\u00fcck lospickt, als wenn ihm das Oberfl\u00e4chenbild abginge. Aber bald veranlassen die trophischen Reize das Tier, seine Aufmerksamkeit auf die Form dieser Teilchen zu lenken und es merkt, dafs sie sich von dem Grunde abheben, wo es vorher, als es allein durch die Farbe geleitet wurde, keinen gen\u00fcgenden Unterschied finden konnte. Wenn nun die Griesk\u00f6rner unter Reis und Weizen gemischt werden, so wendet sich das K\u00fcken ausschliefslich den ersteren zu, als wenn es durch die Erfahrung festgestellt h\u00e4tte, dafs nur die ersteren und nicht die zweiten das wahre Nahrungsmittel darstellten. Erst sp\u00e4ter lehrt es ein gedanklicher Vorgang, dafs die Verh\u00e4ltnisse gerade umgekehrt sind.\n\u00dcber diesen Punkt kann man viele und unterschiedliche Experimente anstellen; alle f\u00fchren zu dem Schlufs, dafs die Nahrungsmittel nicht durch eine angeborene oder instinktive Erkenntnis, sondern durch die Arbeit einer l\u00e4ngeren Lehrzeit erkannt werden. \u00dcberdies ist es h\u00f6chst zweifelhaft, ob die Tiere sehend geboren werden, d. h. ob sie die Retinabilder auch in den Raum projizieren. Vielmehr zwingt alles dazu, anzunehmen, dafs sie sich, so lange als sie nicht imstande sind, koordinierte","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n221\nund einem Ziel angepafste Bewegungen auszuf\u00fchren, ungeachtet der Aufnahmef\u00e4higkeit ihrer Retina wie blind verhalten. Diejenigen, welche dem genialen Gedankengang Berkeleys \u00fcber die Natur der Gesichts Wahrnehmung widersprechen und versichern, dafs eben ausgekrochene K\u00fcken die Fliegen im Fluge fressen, haben sicher nicht beobachtet, dafs diese Tiere wenigstens nicht wie andere mit einem vorgebildeten Gleichgewichtsgef\u00fchl, der unerl\u00e4fslichen Bedingung jeder willk\u00fcrlichen Bewegung, zur Welt kommen.\nIch bin bei der Geburt von K\u00e4lbern und Zicken dabei gewesen und kann nicht denen beistimmen, die versichern, dafs sie die m\u00fctterliche Zitze durch Instinkt kennten. Nach ihrer Befreiung aus dem m\u00fctterlichen Gef\u00e4ngnis werden sie 15\u201420 Minuten lang sorgsam und z\u00e4rtlich beleckt. W\u00e4hrend dieses Vorganges wTird das Tier beweglich; es macht den Eindruck als ob es seinen Gleichgewichtszustand zu finden sucht; schliefslich schn\u00fcffelt es in der Luft umher, es wird nicht etw7a durch ein Gesichtsbild orientiert; diese spontane Bewegung wird nur durch das Tastgef\u00fchl geleitet, denn in der Dunkelheit geht der Prozefs in ganz derselben Weise vor sich wie am Licht. Wenn sie dabei auf die Zitze stofsen, so gehen sie in gerader Richtung auf sie zu, ebenso wie wenn sie auf den Bauch stofsen, ohne dafs uns irgend etw7as ihre angeborene Kenntnis dieses K\u00f6rperteiles anzeigt. Da aber das Bed\u00fcrfnis vorliegt, dafs der trophisehe Reiz, der diese Bewegungen veranlafst, nicht etwa zur Ruhe kommt, bevor die Nahrungsquelle gefunden ist, so zeigt sich\nhier eine angeborene Neigung zu einer wenn auch nur unklaren\n\u2022 \u2022 _________________________________________________________\n\u00dcberlegung. Die Bewegungen der Mutter erleichtern den Ent-schlufs und nur selten bedarf es der Hilfe. Ist das Ergreifen der Zitze gelungen, so ist damit auch die weitere Bewegung insofern festgelegt, als jetzt der Schluckakt folgt. Es ist gerade, als ob der Bewegungstrieb hierzu mit dem Ende des vorigen einsetzt, derart, dafs durch ihn die darauffolgende Muskelinnervation ausgel\u00f6st wfird, Bewregungsfolgen, die durch die trophischen Reize von vornherein festgelegt zu sein scheinen. W\u00e4hrend nun die K\u00e4lber und Zicklein bald nach der Geburt die Augen \u00f6ffnen, machen die jungen Hunde sie erst im Laufe von einer bis zw7ei Wochen auf. Aber bei Ergreifung der Zitze und beim Schluckakt verhalten sich diese wie jene. Zun\u00e4chst erkennen sie die Zitze nicht an ihrer Form, derart, dafs wenn man an ihre Stelle ein","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nB. Turr\u00f4.\nKissen hinlegt das Junge die Schnauze verzweiflungsvoll und mit einer Hartn\u00e4ckigkeit in dasselbe hineinbohrt, die zeigt, dafs es sich durch die Ber\u00fchrung nicht Rechenschaft dar\u00fcber zu geben vermag, dafs es einen anderen Gegenstand vor sich hat. Daher kommt es aber auch, dafs sie, wenn sie erst die n\u00f6tige Einsicht besitzen, nicht schlucken, weil ihre Bewegung kein Ziel gefunden hat.\nWenn wir diese instinktiven Vorg\u00e4nge genauer betrachten, so entdecken wir einen organischen oder rein physiologischen Prozefs, der \u00e4lter ist wie jede \u00e4ufsere Erfahrung. Er treibt zum Ergreifen der Nahrungsquelle und zum Schlucken, so dafs man sich eine Pr\u00e4disposition gewisser Nervenkerne vorstellen mufs, auf gewisse trophische Reize zu antworten. Nat\u00fcrlich darf dieser primitive Akt nicht mit einer Kenntnis des Nahrungsmittels verwechselt werden, denn das Tier nimmt zun\u00e4chst in der gleichen Weise wie der enthirnte Hund und der seiner psychischen Zentren beraubte Wiederk\u00e4uer Nahrung zu sich, n\u00e4mlich ohne sich Rechenschaft dar\u00fcber zu geben, dafs das, was es einf\u00fchrt, etwas aufserhalb seines Organismus Befindliches ist. Die Kenntnis des Nahrungsmittels kommt erst lange nach diesen rein maschinenm\u00e4fsigen Handlungen. Wer etwas anderes behauptet und die M\u00f6glichkeit offen l\u00e4fst, dafs diese ersteren Kenntnisse angeborene, instinktive sind, unterliegt einer Illusion, deren Unrichtigkeit auseinandergesetzt werden soll. Bei der Beobachtung des saugenden Kindes, des Kalbes und jungen Hundes, die schn\u00fcffeln, als ob sie etwas suchten, was ihnen intuitiv in ihrem Bewufstsein vorschwebt, des Vogels im Nest, der \u00e4ngstlich den Schnabel auf sperrt, als ob er schon w\u00fcfste, dafs in ihn die vom Organismus geforderte Nahrung hineingesteckt werden soll, verf\u00e4llt man leicht in den Irrtum zu glauben, dafs die Tiere diese Bewegungen in dem Vorgef\u00fchl dessen ausf\u00fchren, was sie an Ber\u00fchrung, Geschmack, W\u00e4rmeempfindung versp\u00fcren sollen, wie es sp\u00e4ter der Fall ist. Da doch aber die Zitze noch nie mit der Schnauze in Ber\u00fchrung gekommen ist, noch nie der Eindruck des Geschmackes, Geruches, der W\u00e4rme oder K\u00e4lte empfunden worden ist, so ist es klar, dafs diese Bewegungen ausgef\u00fchrt werden, ohne dafs im Bewufstsein Vorkehrungen hierf\u00fcr getroffen w\u00e4ren. W\u00e4re es anders, so m\u00fcfste man annehmen, dafs das Wesen die \u00e4ufseren Eindr\u00fccke kennte, bevor es durch die Gef\u00fchlsnervenendigungen die \u00e4ufsere Form der Zitze kennen-","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n223\ngelernt hat, bevor es mittels der Riech- und Geschmacksnerven \u00fcber die Empfindungsqualit\u00e4t orientiert ist, die nur ein Vorstofs in die Aufsenwelt wecken kann. Die Annahme einer solchen Pr\u00e4intuition tr\u00e4gt den Stempel der Unm\u00f6glichkeit in sich. In dem Augenblicke, wo die seelischen Vorg\u00e4nge der Ern\u00e4hrung mit dem Leben in Beziehung gebracht werden, besitzt das Wesen keine Vorahnung der neuen, von den sensiblen Nerven anzuzeigenden, Vorg\u00e4nge. Alles ist bewunderungsw\u00fcrdig f\u00fcr ihren Empfang vorbereitet, wohlverstanden immer, dafs diese Vorbereitung stets nur den einen Faktor ausmacht, aus dem die Erfahrung sich ableitet, sofern sie sich n\u00e4mlich mit dem \u00e4ufseren Faktor vereinigt. Das Angeborene oder vorher Vorhandene ist der Antrieb zum Zugreifen, aber die Kenntnisse, die dem Zugreifen folgen, sind Fr\u00fcchte der Erfahrung und nicht urspr\u00fcnglicher Intuition. Trotzdem k\u00f6nnen wir auch diesen Trieb zum Zugreifen nicht eigentlich als einen spontanen ansprechen, vielmehr ist er durch die trophischen Empfindungen geweckt, die im Bewufstsein die Substanzdefekte der Zellelemente verk\u00fcnden. Ihre spezifische Natur haben wir bereits besprochen. Zweifellos ist der Hunger auf Salz, Eiweifs oder Kohlehydrate ebenso, wie die Notwendigkeit, dem Gewebssaft Wasser zuzuf\u00fchren, durch organische Reize bedingt. Wenn wir auch nicht sagen k\u00f6nnen, dafs diese unterschiedlichen Reize sich in eigenen Nerven fortpflanzen, wie wir es von anderen Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten behaupten, so ist es doch sicher, dafs die uns bewufst werdenden W\u00fcnsche untereinander verschieden sind, dafs es ein qualitativ besonders gearteter Durst sein mufs, der uns zur Einf\u00fchrung von Wasser und nichts anderem als Wasser veranlafst, wie im Salz- oder Eiweifshunger etwas ganz Spezifisches enthalten sein mufs, wann er zur Aufnahme dieser K\u00f6rper treibt, die dem Gewebssaft zuf\u00fchren, was ihm gerade gut ist und was er verlangt. Auf jeden Fall m\u00fcssen wir die psyehotrophischen Zentren vom physiologischen Standpunkte als Zentren betrachten, die auf periphere Reize antworten, gleichg\u00fcltig wie diese verlaufen m\u00f6gen. Ebenso wie die T\u00e4tigkeit der Zentren f\u00fcr die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t unbegreiflich ist, solange man sie nicht mit den sie veranlassenden peripheren Vorg\u00e4ngen zusammenh\u00e4lt, so kann man auch die T\u00e4tigkeit der psyehotrophischen Zentren nur als eine Funktion der ErregungsVorg\u00e4nge verstehen, die die Ern\u00e4hrung auf sie aus\u00fcbt. F\u00fcr die Selbstbetrachtung bildet es eine schwierige Vor-","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nS. Turr\u00f4.\nStellung, was Durst und Salzhunger unabh\u00e4ngig von den \u00e4ufseren Bildern, mit denen wir sie uns verkn\u00fcpft denken, bedeutet, da doch die Selbstbetrachtung den Erfahrungsschatz, einfach oder kompliziert, angibt und nicht die isolierten Teilst\u00fccke, aus denen er sich zusammensetzt. Es ist aber ganz augenscheinlich, dafs wir den Zustand, den wir Hunger, allgemein oder nach einem bestimmten K\u00f6rper, nennen, zeitlich fr\u00fcher existieren mufs, als die Kenntnis der Erinnerungsbilder, die wir von der Existenz derselben erwerben, wenn wir durch ihre Einf\u00fchrung jenen stillen. Andererseits kann man experimentell nachweisen, dafs durch die Abtrennung der Zentren f\u00fcr die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t die Funktion der psychotrophischen Zentren ebensowenig gest\u00f6rt wird, wie das zeitliche Auftreten des Hungers. Es ist also die Empfindung f\u00fcr die im Organismus fehlende Substanz jeder \u00e4ufseren Erfahrung vorangestellt, und man kann sogar hinzuf\u00fcgen, dafs sie die entscheidende Vorbedingung f\u00fcr die in den ersten Lebensabschnitten zu erwerbenden Erfahrungen darstellt.\nPsychologisch kann man die Bedeutung des Wortes Hunger als das Bewufstsein von der Abwesenheit der Substanzen auslegen, an denen der Organismus durch den Stoffwechselumsatz verarmt ist. Mit seinem Auftreten kommen Bewegungsrichtungen zum Vorschein, die darauf hindeuten k\u00f6nnten, dafs die trophischen Zentren mit den psychomotorischen innig verkn\u00fcpft sind und von ihnen anf\u00e4nglich die Reize f\u00fcr deren T\u00e4tigkeit ausgehen. So beobachten wir, dafs bei Neugeborenen, beim jungen Hund, bei allen Wirbeltieren der in Wahrheit zentrale Reiz, der sie zur Bewegung veranlafst, vom Hunger ausgeht, als von einer Kraft, die sie dazu treibt, die Aufsenwelt in der ausgesprochenen Absicht zu ergr\u00fcnden, sie sich zu eigen zu machen. Diese unwiderstehliche Kraft ist zun\u00e4chst blind. Das Neugeborene wie der junge Hund gehen an die Aufsenwelt in v\u00f6lliger Unkenntnis der K\u00f6rper heran, aus denen sie Nutzet ziehen und die ihre Nahrungssorgen beruhigen k\u00f6nnen. Ersteres saugt mit derselben Gier an der zwischen die Lippen gef\u00fchrten Fingerspitze, wie an der m\u00fctterlichen Brust, letzterer bohrt seine hungrige Schnauze mit derselben Ausdauer in das Kissen, das er statt der weichen Brust findet. Beide wissen nicht, dafs sie etwas zu ihrer Beruhigung zu finden haben, geschweige denn, was ein Nahrungsmittel w\u00e4re. Wenn das K\u00e4lbchen nach dem Euter greift, so ist","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n225\nihm unbekannt, dafs sich in ihm eine Fl\u00fcssigkeit zu seiner Ern\u00e4hrung befindet, wie der Vogel im Nest, der den Schnabel aufsperrt, nicht weifs, was die Mutter hineintut, und dafs damit sein Hunger gestillt wird. Um zur Kenntnis dessen zu gelangen, was diesen in ihrem Zweck ihm unbekannten Vorg\u00e4ngen zu folgen hat, ist es erforderlich, dafs ihr Effekt ihm zum Bewufstsein kommt. Um zu der Erkenntnis zu gelangen, dafs das, was diesen Effekt hervorbringt, das gleiche ist, welches an seinen Lippen und der hohlen Zunge eine Bertihrungs-, im Munde eine Geschmacksempfindung, in der Nase einen Geruch, an bestimmten Haut- und Schleimhautstellen eine W\u00e4rme- und Ber\u00fchrungsempfindung hervorruft, ist es notwendig, dafs ein zentraler Zusammenhang zwischen dem Defizit in seinen psyehotrophischen Zentren und den Erinnerungsbildern besteht, die die T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt in den Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t hervorruft. Erst dann kommt es zu der Erkenntnis, dafs der Hunger nicht eher gestillt wird und verschwindet, als bis bestimmte, entscheidende Geruchs-, Geschmacks-, Gef\u00fchls- oder W\u00e4rmeempfindungen auftreten. So lernt es, was ein Nahrungsmittel ist. Mittels der isolierten T\u00e4tigkeit der trophischen Sensibilit\u00e4t w\u00fcrde das Wesen niemals wissen, dafs es in der Aufsenwelt K\u00f6rper gibt, die imstande sind, die Bed\u00fcrfnisse des Organismus zu befriedigen, ebensowenig wie es verstehen k\u00f6nnte, dafs das, was seine Gef\u00fchle in einer bestimmten Form beeinflufst, etwas enth\u00e4lt, was auf jene eingestellt ist. Um zu dieser Schlufsfolgerung zu kommen, mufs in der \u00dcberlegung ein innerer Zusammenhang zwischen den angegebenen Einzelempfindungen durch die trophische Sensibilit\u00e4t einerseits und durch die Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t andererseits zustande kommen. Diese fundamentale Urfolgerung des psychischen Lebens stellt allgemein gesprochen das dar, was wir trophische Erfahrung nennen. Durch sie wissen wir, welche K\u00f6rper der Aufsenwelt im Inneren des Organismus diesen und keinen anderen Substanzdefekt decken.\nMensch und Tier wfissen, dafs es Nahrungsmittel gibt. Es ist klar, dafs man niemals diese Qualit\u00e4t einem K\u00f6rper zuerkennen kann, wenn er sich nicht als solcher im Bewufstsein kundgegeben hat. Aber er ist es nur dann, wenn seine Merkmale, auf Grund deren das trophische Bed\u00fcrfnis, das ein bestimmtes Nahrungsmittel abs\u00e4ttigt, uns bekannt ist, uns von unseren Empfindungen signalisiert werden. Der Fleischfresser,","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nB. Turr\u00f4.\nder sich seine Fleischration zumifst, und den \u00dcberrest stehen l\u00e4fst oder f\u00fcr eine andere Gelegenheit aufspart, verf\u00e4hrt so, als wenn er den Nahrungskoeffizienten, den er aufnehmen mufs, lange vorher kennte, bevor dieser Koeffizient in den Ge webssaft \u00fcbergetreten ist. Diese Kenntnis stammt von fr\u00fcheren Erinnerungen, und wenn es auch gewifs ist, dafs sie durch eine periphere Reizung hervorgerufen werden, so ist es doch jene beispielsweise, die bei der Einf\u00fchrung von 200 Gramm Fleisch so vorgeht, als ob sie schon vorher w\u00fcfste, dafs aus dieser Menge eine hinreichende Nahrungszufuhr sich ergeben w\u00fcrde, um die erlittenen Verluste zu decken. Und dieser Vorgang tritt stundenlang vor der wirklichen Deckung auf. Die Kinder, die beim R\u00fcbenessen die zugef\u00fchrte Brotmenge vorsorglich vermehren, handeln als wenn sie ahnten, dais R\u00fcben nicht die gen\u00fcgende Eiweifs- und aufserdem noch Kohlehydratmenge liefern, die der K\u00f6rperhaushalt fordert, obwohl in gleicher Weise die Bohnen wie das Brot erst nach langen Stunden ihren Weg in den Ge-webssaft finden. Es stillt der D\u00fcrstende, der seinen Durst l\u00f6scht, diesen nicht dadurch wirklich, dafs er die \u00e4ufsere Reizung, die ihn zum Bewufstsein bringt, beschwichtigt, solange nicht das eingef\u00fchrte Wasser in den Ge webssaft \u00fcbergegangen ist. Das Tier weifs bei der Einf\u00fchrung eines Nahrungsmittels durch die Erinnerung an fr\u00fchere Erfahrungen, welcher Art von Ern\u00e4hrungsbed\u00fcrfnissen und welche Nahrungsmenge hierbei dargeboten wird.\nWie gewinnt man solche Erfahrungen?\nWir beginnen damit, von den beiden integrierenden Bestandteilen der trophischen Erfahrung zun\u00e4chst den inneren Faktor zu untersuchen. Um hierzu zu gelangen, gen\u00fcgt es, jemandem ein Nahrungsmittel darzureichen, das er mit dem f\u00fcr identisch h\u00e4lt, an das er gew\u00f6hnt ist, w\u00e4hrend es in Wirklichkeit einen verminderten oder vermehrten N\u00e4hrwert hat. Beobachten wir alsdann experimentell, wie der trophische Sinn den Unterschied bemerkt, so sind wir in der Lage, den Mechanismus zu \u00fcbersehen, der diese Kenntnisse vermittelt.\nNehmen wir an, ein Kind h\u00e4tte seine Milchportion auf 10 g festgesetzt und \u00fcberliefse sich nach Stillung seines Hungers 3 Stunden lang dem Schlafe oder der physiologischen Euphorie der S\u00e4uglinge. Wird nun diese Milch mit der doppelten Menge Wasser verd\u00fcnnt, so bieten die mineralischen Salze, das Kasein, der Milchzucker, die Fettk\u00fcgelchen dem Organismus unter der","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n227\ngleichen Volumseinheit den halben N\u00e4hrwert wie fr\u00fcher. Bemerkt nun das Kind mit der geringen Sinnessch\u00e4rfe seines Alters den Unterschied zwischen beiden Milcharten nicht durch Geschmack, Gef\u00fchl oder einen sonstigen Sinneseindruck, so mifst es sich dieselbe Menge zu wie fr\u00fcher, indem es sich durch die vorhergehende Erfahrung leiten l\u00e4fst. Die Folge ist: So lange, bis diese Milch f\u00fcr die Magen-, D\u00fcnndarm- und Dickdarmver-dauung vorbereitet ist, bietet die vorher genommene Menge, wie eine st\u00e4ndige Quelle, die zur Erneuerung n\u00f6tigen Stoffe, gerade wie sie der Plazentarkreislauf im intrauterinen Leben darreicht. Jetzt kommt aber ein Augenblick, in dem die letzte Menge vom Darm absorbiert ist, und da sie doch blofs die H\u00e4lfte an festen Bestandteilen bietet wTie fr\u00fcher, so ist es nat\u00fcrlich, dafs der Ge-webssaft den Mangel an diesen Produkten unter der Voraussetzung, dafs der Verbrauch der gleiche ist, schon 112 Stunde fr\u00fcher anzeigt. Demnach erscheint auch der Hunger in einem k\u00fcrzeren Zeitverlauf. Kommt nun die Mutter herbei und befriedigt die Bed\u00fcrfnisse jedesmal, so oft dieser Fall sich wiederholt, so wird das zeitliche Auftreten des Hungers sich ver\u00e4ndern und das Kind, anstatt alle 3 Stunden die Milch zu saugen, das Bestreben haben, einen k\u00fcrzeren Zeitraum verstreichen zu lassen. Nat\u00fcrlich l\u00e4fst sich ein bestimmtes Zeitmafs nicht angeben, denn die physiologische Erscheinung ist viel zu kompliziert, um nicht Variationen auf zu weisen. F\u00fcr uns gen\u00fcgt es, festgestellt zu haben, dafs der zeitliche Ablauf des Hungers verk\u00fcrzt ist, um zu begreifen, auf welche Weise sich im Bewufstsein der N\u00e4hrwert der gewasserten Milch festsetzt. Die beschriebene Erfahrung ist nicht etwa eine neue Entdeckung, sondern eine Tatsache, die aller Welt bekannt ist und die wir experimentell jedesmal, wenn es in unserem Belieben steht, hervorrufen k\u00f6nnen. In dieser Beziehung verh\u00e4lt sich das Wesen als wenn es eine \u00e4ufsere Erscheinung, die Verarmung der Milch an festen Bestandteilen, kennte, ohne die Zusammen Wirkung der Empfindungen zu Hilfe rufen zu m\u00fcssen. Unter der Voraussetzung, dafs diese nicht vorhanden w\u00e4ren, w\u00fcrde die Erscheinung sich in derselben Weise ank\u00fcndigen, nur dafs man nicht w\u00fcfste, welcher Umstand in der \u00e4ufseren Welt den Erfolg gezeitigt h\u00e4tte. Daraus ersieht man, dafs die trophische Sensibilit\u00e4t, unabh\u00e4ngig von den \u00e4ufseren Gef\u00fchlen, einen der Grundbestandteile f\u00fcr die trophische Erfahrung liefert.","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nR. Turr\u00f4.\nNehmen wir nun umgekehrt an, die Mutter k\u00e4me dem Kind nicht zu Hilfe, wenn dieses den N\u00e4hrmangel der verw\u00e4sserten Milch empfindet, sondern wartet wie \u00fcblich den Ablauf von 3 Stunden ab, so wird der Hunger des Kindes mehr und mehr zunehmen und wenn der Zeitpunkt gekommen ist, um die Milch abzunehmen, so wird es sich eine gr\u00f6fsere Portion zumessen als es seinen sonstigen Gepflogenheiten entsprach. Die Mutter wird durch dieses ungew\u00f6hnliche Ereignis in Angst geraten, weil sie nicht weifs, was das Kind weifs : die chemische Modifikation, die die Zusammensetzung der Milch erfahren hat.\nWir kommen jetzt zur Umkehrung dieses Experimentes. Wir vermehren den N\u00e4hrwert der Milch in der Volumeneinheit und nehmen an, dafs diese Ver\u00e4nderung unbemerkt durchschl\u00fcpft, dafs ein unbeholfenes Tastgef\u00fchl nicht merkt, dafs sie fetter, ein stumpfer Gaumen nicht den sch\u00e4rferen Geschmack empfindet. Unter diesen Umst\u00e4nden nimmt sich das Kind die gleiche Menge ab, an die es sonst gew\u00f6hnt war, ohne zu wissen, dafs es mit weniger genug h\u00e4tte. W\u00e4hrend sich nun seine Verdauungsm\u00f6glichkeiten dem gr\u00f6fseren chemischen Reichtum der Nahrung anpassen, versieht es bei gleichbleibendem Verbrauch den Gewebssaft im gegebenen Augenblick f\u00fcr eine viel l\u00e4ngere Zeit mit den n\u00f6tigen N\u00e4hrstoffen, und der zeitliche Ablauf des Hungers verz\u00f6gert sich aus denselben Gr\u00fcnden, auf Grund deren er sich vorher verk\u00fcrzte. Die Wiederholung dieser Vorg\u00e4nge schafft einen dauernden Zustand im trophischen Sinn und das Kind nimmt von dieser Milch schliefslich wiederum nur die Menge, die ihrem chemischen Gehalt entspricht, indem es eineti deutlichen Unterschied zwischen ihr und der verw\u00e4sserten Milch macht. Es kennt den N\u00e4hrwert der einen wie der anderen nicht auf Grund des augenblicklichen Nutzeffekts f\u00fcr den Organismus , sondern auf Grund des in fr\u00fcheren Erfahrungen festgelegten. So kommt es, dafs lange, bevor dieser Nutzwert\nzutage tritt, das Wesen so verf\u00e4hrt, als ob es sie schon kennte,\n\u2022 \u2022\nweil es durch das Erinnerungsbild die \u00dcbersicht \u00fcber das hat, was kommen wird.\nWenn die Kinder armer Familien sich zum ersten Male mit R\u00fcben s\u00e4ttigen, so beobachtet man noch nicht den Trieb, mit dieser Mahlzeit \u00d6l- oder Brotaufnahme zu verbinden, weil sie nicht wissen, dafs erstere nicht die Substanzen enthalten, die ihr Fett- und Eiweifsbed\u00fcrfnis s\u00e4ttigen k\u00f6nnen. Sowie aber die","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n229\nZellerregung ihr Fehlen zum Bewufstsein bringt, so veranlafst\nsie diese urspr\u00fcnglich trophische Kraft, herumzuprobieren, was\nihr Bed\u00fcrfnis befriedigen kann, und wenn sie, sei es durch ver-\n\u2022 \u2022\nschiedene Erfahrungen oder Erw\u00e4gungen auf Ol, Brot oder \u00e4hnlich wirkende Stoffe stofst, so hinterl\u00e4fst diese Erfahrung in ihrem Bewufstsein eine Bahn, die um so ausgeschliffener ist, je \u00f6fter sich jene wiederholt.\nUnter diesen neuen Bedingungen verh\u00e4lt sich die Person genau ebenso, wie das Kind, wenn es die der fetten und abgerahmten Milch entsprechende Portion zu sich nimmt. Die periphere Reizung ruft nun nicht mehr wie fr\u00fcher eine unbestimmte Allgemeinempfindung hervor, sondern die Erinnerung an den N\u00e4hrwert der R\u00fcben, des Brotes und Fettes und setzt so durch assoziative Verbindungen dieser drei Produkte nach bestem Wissen die jede von ihnen zukommende Menge fest.\nEbenso kennt das Pferd, das an die Weide gew\u00f6hnt ist, genau die Futtermenge, die ihm den erforderlichen N\u00e4hrwert verabfolgt. Wenn es sich aber an Hafer oder Johannisbrot zu gew\u00f6hnen hat, so fixiert es prompt den jeden von ihnen zukommenden N\u00e4hranteil. An dem Tage, an dem es Weidefutter geniefst, frifst es stundenlang, w\u00e4hrend es an dem Tage, wo es im Stall eine reichliche Menge Hafer und Johannisbrot bekommt, seine Futterration wesentlich einschr\u00e4nkt, um doch in der n\u00f6tigen Weise seinen Hunger in viel k\u00fcrzerer Zeit zu stillen.\nIn allen diesen Experimenten, die man leicht unendlich vermehren k\u00f6nnte, finden wir die Tatsache, dafs sich die Nahrungszufuhr durch die erworbenen Erfahrungen, durch die Erinnerungen reguliert. Immer erweckt die \u00e4ufsere Reizung diese Erinnerung, und auch die Intensit\u00e4t ihres Wiedererscheinens wird durch sie geregelt. So sehen wir, dafs das Kind zun\u00e4chst von der abgerahmten Milch die gleiche Menge nimmt wie fr\u00fcher von der guten, indem es sich darauf verl\u00e4fst, dafs diese auch denselben N\u00e4hrwert enth\u00e4lt wie jene. Kommt nun aber der Augenblick ihrer Ausnutzung, so zeigt die Zellreizung, dafs dieser Glaube ein Aberglaube war, und k\u00fcndigt das Fehlen von Ersatzprodukten in immer steigender Menge an. Die weitere Einfuhr dieses Nahrungsmittels wird verlangt, weil noch kein anderes bekannt ist, und so durch vermehrte quantitative Zufuhr das ersetzt werden mufs, was an Qualit\u00e4t verloren gegangen ist, ohne dafs in dieser Zeit der Versuche, aus denen die Er-","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nR. Turr\u00f4\nf ah rung sich bildet, eine endg\u00fcltige Entscheidung \u00fcber die vorliegende Frage getroffen w\u00fcrde : ln welcher Menge mufs die Nahrung dem Magen zugef\u00fchrt werden, um im Moment der Nutzbarmachung f\u00fcr die Ern\u00e4hrung dem Organismus die erforderliche N\u00e4hrmenge zur Verf\u00fcgung stellen zu k\u00f6nnen? So lange diese Erfahrungen erworben werden, ist der zeitliche Ablauf des Hungers in v\u00f6lliger Verwirrung. Das Kind vermehrt zun\u00e4chst die eingef\u00fchrte Menge, und da durch diese Vermehrung das Wiedererscheinen des Hungers etwas verz\u00f6gert wird, so gelangt es in einem gegebenen Augenblick durch fortschreitende Versuche dahin, dafs die Zellreizung beispielsweise alle 2 Stunden auftritt, und dieser periphere Rhythmus setzt sich im Ged\u00e4chtnis fest. Wird er nun mit einer gegebenen St\u00e4rke hervorgerufen, so veranlafst er das Kind, in einer bestimmten Menge die Milch einzuf\u00fchren. So sehr wir diese Erinnerung bewundern, so ist sie psychologisch doch nichts anderes als die Empfindung oder die Kenntnis vom N\u00e4hrwert der Milch, denn auf diesem Wege weifs es, dafs die dem Magen im Augenblick A zugef\u00fchrte Menge dem Gewebssaft eine f\u00fcr 2 Stunden vom Augenblick B an gen\u00fcgende Nahrung darbieten wird.\nDurch einen \u00e4hnlichen Vorgang erwerben wir die Kenntnis von dem N\u00e4hrwert der an festeren Bestandteilen reicheren Milch. Wenn diese Kenntnisse nicht vorhanden w\u00e4ren, weil die Zellreizung nicht in der Erinnerung festgelegt worden ist, so w\u00fcrde diese Reizung doch die psychotrophischen Zentren in T\u00e4tigkeit setzen und das Gef\u00fchl f\u00fcr ein bestimmtes Bed\u00fcrfnis hervorrufen, von dem man allerdings nicht weifs, wie man es s\u00e4ttigen soll. Das ist der Fall bei dem Kinde, das R\u00fcben ifst. Es hat lebhaften Hunger speziell nach Fetten und Eiweifsk\u00f6rpern; um aber zu erkennen, welche K\u00f6rper diese Substanzen enthalten und den Hunger stillen k\u00f6nnen, ist es n\u00f6tig, sich dar\u00fcber zu unterrichten. Erst dann werden die lebenden Bestandteile ihre Anwesenheit verk\u00fcnden, und ein inniger Zusammenhang zwischen dieser Zufuhr und dem Erl\u00f6schen der zum Hunger f\u00fchrenden peripheren Reizung sich einstellen. Damit es hierzu kommt, ist es notwendig, dafs diese Produkte dem Gewebssaft in einer gegebenen Menge zufliefsen, die durch die St\u00e4rke des Ern\u00e4hrungsumsatzes von vornherein festgelegt ist. Ist diese Menge k\u00e4rglich oder geringer als n\u00f6tig, so besteht die Zellreizung, wenn auch in einem dumpferen Gef\u00fchl, fort und mit ihr h\u00e4lt sich der Hunger im Bewufstsein.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n231\nDann mufs die Zufuhr vermehrt werden, um die dem Gewebs-saft zugehende N\u00e4hrmenge ihrerseits zu vermehren und daher leitet sieh dann das Tasten in der Nahrungsmenge her, bis man zu einer Quantit\u00e4t kommt, die den qu\u00e4lenden Hunger stillt. Die Verh\u00e4ltnisse sind ungef\u00e4hr folgende: Das Eingef\u00fchrte ersetzt in den 10, 15, 20 Minuten, w\u00e4hrend deren es wohl 1000 Umformungen im Magendarmkanal wie im Inneren der Gewebe erleidet, die Verluste des Gewebssaftes in sehr langsamer Weise, indem es in ihm viel l\u00e4nger als im Verdauungskanal verbleibt. Da diese Zufuhr schliefslich ganz oder teilweise an den wesentlichen Bestandteilen der Nahrung verarmt, so tritt in einem gegebenen Augenblick der Hunger auf. Unter normalen Bedingungen ist es selbstverst\u00e4ndlich, dafs die gleiche zugef\u00fchrte Menge auch den gleichen N\u00e4hrwert darbietet. Unter gleichen physiologischen Bedingungen ist es also klar, dafs eine gleiche N\u00e4hrmenge jedesmal in der gleichen Zeiteinheit auf gebraucht wird, und da es so ist, versteht man, dafs der Hunger in bestimmten Zwischenr\u00e4umen oder zu bestimmten Zeiten, die untereinander nicht varriieren, sondern gleichbleiben, auf tritt, vorausgesetzt, dafs einerseits die Bedingungen des Ern\u00e4hrungsvorganges und andererseits die Nahrung selbst sich nicht \u00e4ndern.\nEs besteht also eine physiologische Einrichtung, die das Hungergef\u00fchl zum Bewufstsein bringt. Das Tier weifs bei der Einf\u00fchrung des Futters, zu der es ein ebenso blinder wie gewaltsamer Trieb veranlafst hat, nicht, wozu es gut ist. Je mehr es aber seinen Nutzwert ausprobiert, erkennt es in ihm eine Kraft, die ihm vorher unbekannt war. Es weifs nicht, welches trophische Bed\u00fcrfnis das betreffende Nahrungsmittel nach seiner chemischen Zusammensetzung s\u00e4ttigt. Da aber das, was nicht ges\u00e4ttigt ist, in unangenehmer Weise im Bewufstsein fortschwingt, so gibt es keine Ruhe, bis es auf diese K\u00f6rper st\u00f6fst. So \u00fcberzeugt es sich allm\u00e4hlich von der N\u00e4hrkraft des Wassers, Brotes, Fleisches, der Milch usw. Hiermit aber weifs es immer noch nicht, in welchem Mafse diese die Bed\u00fcrfnisse des Organismus befriedigen und es ist notwendig, dafs diese Daten sinnlich festgelegt werden. Bei K\u00f6rpern, wie dem Salz, das in minimalen Dosen ein gef\u00fchrt wird, erlischt das Bed\u00fcrfnis, das sein Fehlen im trophischen Bewufstsein hervorrief, wenn man auch nur eine kleine Menge einf\u00fchrt. Andererseits kommt beim Wasser z. B. der Durst nur zur Ruhe, wenn man eino","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nR. Turr\u00f4.\ngrofse Menge trinkt. Ebenso steht es mit den Fetten, Kohlehydraten und Eiweifsk\u00f6rpern. In Wirklichkeit ist das Individuum bei der Ausarbeitung aller dieser Erfahrungen nicht aktiv beteiligt: Durch periphere Vorg\u00e4nge graben sich die Erinnerungsbilder im trophischen Sinne ein, gerade wie das leuchtende Abbild auf der Retina unter dem Einflufs eines \u00e4ufseren Geschehens zustande kommt. Auf die gleiche Weise erwirbt das Tier die Erfahrung \u00fcber die Qualit\u00e4t der eingef\u00fchrten N\u00e4hrk\u00f6rper, ohne sich von dem physiologischen Mechanismus Rechenschaft zu geben, durch den sie verarbeitet werden. Auf diese Weise erkennt es auch die Wertigkeit ihrer Qualit\u00e4t und regelt danach ihre Einfuhrmenge. Alles dies wird ihm durch die Zellerregung kund. Aus der enormen Summe aller dieser in den psychotrophischen Zentren niedergelegter Erfahrungen setzt sich eine grundlegende und urspr\u00fcngliche Kenntnis ab, eine Anschauung, die nie v\u00f6llig ausgerottet werden kann, und auf dieser Grundlage baut sich eine Kenntnis der N\u00e4hrk\u00f6rper auf, die nie durch die \u00e4ufsere Empfindung, sondern nur durch die trophische Sensibilit\u00e4t zum Bewufstsein gelangen kann.\nDie trophischen Verschiedenheiten, von denen wir gesprochen haben, entsprechen \u00e4ufseren Verschiedenheiten. Bei der Definition der trophischen Erfahrung haben wir gesagt, dafs sie sich aus 2 Grundelementen zusammensetzt: einem inneren, mittels dessen die Qualit\u00e4t der Nahrung resp. das Bed\u00fcrfnis, das sie s\u00e4ttigt, erkannt wird und ferner einem \u00e4ufseren, mittels dessen man erkennt, welcher Gegenstand unmitttelbar oder virtuell die Substanz enth\u00e4lt, die nun in der einen oder der anderen Form in den Ge webssaft einzutreten hat. Wenn das Kind nicht die Empfindung f\u00fcr die Einf\u00fchrung abgerahmter Milch oder Sahne grunds\u00e4tzlich festgelegt h\u00e4tte, so w\u00fcrde diese doch den gleichen Effekt hervorrufen, aber es w\u00fcrde nicht imstande sein, zu unterscheiden, welches die eine und welches die andere ist. Das Weidefutter, der Hafer und das Johannisbrot w\u00fcrden im trophischen Sinn des Pferdes dieselben N\u00e4hrwerte hervorrufen wie jetzt, aber da es keine \u00e4ufseren Empfindungseindr\u00fccke empfangen w\u00fcrde, k\u00f6nnte es nicht unterscheiden, welchem K\u00f6rper sie entsprechen. Durch die Feststellung dieser Tatsache haben wir ein neues Problem aufgeworfen. In welcher Weise verkn\u00fcpfen sich und entsprechen trophische Unterschiede gewissen","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n233\n\u00e4ufseren Sinnesunterscheidungen ? Welche Vorstellung verbinden wir mit einem Nahrungsmittel?\nDieser Frage k\u00f6nnen wir uns nicht n\u00e4hern, ohne ein tief wurzelndes Vorurteil n\u00e4her zu besprechen. Gewohnheitsgem\u00e4fs nimmt man an, dafs die T\u00e4tigkeit der Empfindungsorgane bei der Geburt pr\u00e4formiert ist, dafs der Akt des Sehens, Riechens, F\u00fchlens, Schmeckens und H\u00f6rens ein angeborener, unmittelbarer, spontaner ist und direkt durch \u00e4ufseren Einflufs zum Bewufstsein kommt. Gegen diese nativistische Behauptung hat sich die genetische Schule gewandt und vertritt speziell mit R\u00fccksicht auf Gef\u00fchl und Gesicht die Anschauung, dafs diese Empfindungen nicht spontan als exzentrische entstehen, dafs vielmehr diese nach aufsen Verlegung sich aus mit ihnen verkn\u00fcpften psychomotorischen Prozessen herleitet. Ich habe nicht die Absicht, diese, anderweitig ausf\u00fchrlich studierte Frage, hier anzuschneiden und beschr\u00e4nke mich darauf, festzustellen, dafs vor der empirischen Beobachtung die Anschauung nicht ernstlich standhalten kann, dafs die Sinnesfunktionen pr\u00e4formiert zur Welt kommen. Das sagen uns vor allem in unwiderlegbarer Beredsamkeit die Tatsachen, die mittels der Erfahrung sich langsam gebildet haben. Nimmt man die Erscheinungen so wie sie sind und nicht so wie sie eine vielhundertj\u00e4hrige \u00dcberlieferung ausgelegt hat, so ist es unzweifelhaft, dafs der Mensch nicht sehend, f\u00fchlend, riechend, schmeckend und h\u00f6rend zur Welt kommt. Es gibt im Leben eine weit zur\u00fcckliegende Periode, in der die verschiedenen Eindr\u00fccke, die die Retina und die \u00fcbrigen Sinneswerkzeuge aufnehmen, so verschieden sie auch untereinander sein m\u00f6gen, doch nicht wirklich unterschieden werden.\nSo beobachten wir, dafs das Kind Augen hat und nicht sieht, Ohren und nicht h\u00f6rt, Gef\u00fchl, Geschmack und Geruch besitzt und doch die verschiedenen Eindr\u00fccke, die diese Empfindungen verursachen, nicht auseinander zu halten versteht. Diese F\u00e4higkeit der Unterscheidung r\u00fchrt von einer \u00dcberlegung oder niner Lehrzeit her. In den ersten Stadien des Lebens ist die trophische Reizung der haupts\u00e4chlichste Ansporn, Sinneseindr\u00fccke auseinander zu halten. Man nimmt gemeiniglich an, dafs das psychische Leben mit der Entwicklung der Sinne beginnt, und dafs es im letzten Grunde ein \u00e4ufserer Umstand ist, der sie erweckt. Nichts falscher als dieses Dogma ! Bevor das Licht die Retina in T\u00e4tigkeit setzt, das Aroma den Geruchssinn,\nZeitschr. f. Siimesphysiol. 45.\t15","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nR. Turr\u00f4.\nder Geschmack den Gaumen, der Druck das Gef\u00fchl, die Tonwelle das kortische Organ in Schwingung versetzt, gibt es bereits im Bewufstsein durch die trophisehe Sinsibilit\u00e4t unterschiedene und genau festgelegte Tendenzen, die blind zur Ergreifung des Fehlenden treiben. In diesen primitiven Zust\u00e4nden wendet sich das Tier wie das Kind der Aufsenwelt mittels Triebquellen zu, die aus der Tiefe seines Organismus hervorbrechen. Und die Unterschiede, die in der Mehrzahl empfangener Eindr\u00fccke dauernd werden, sind ausschliefslich solche, die es zur Erkennung der Anwesenheit seinen Hunger beruhigender Stoffe verwenden kann. Die \u00fcbrigen sind nicht von Interesse und ruhen als innere Empfindungen in den Zentren, die sie empfangen haben.\nSehen wir nun von dem erw\u00e4hnten Dogma ab und wenden unsere Aufmerksamkeit der strengen Beobachtung zu, so k\u00f6nnen wir untersuchen, wie einer trophischen Unterscheidung auch eine Sinnesentscheidung entspricht, die der Person erlaubt, die Anwesenheit dessen, was seinen Hunger stillt, zu erkennen. Zu diesem Zweck gen\u00fcgt es, den Verlauf der Ereignisse zu beschreiben, wie sie sich vor dem erstaunten Blick abspielen, nachdem wir uns von dem Joch des Vorurteils befreit haben, das uns veranlafst, die Vorg\u00e4nge anders zu sehen als sie in Wirklichkeit sich abspielen.\nDas Kind, das sich zun\u00e4chst von der abgerahmten Milch dieselbe Menge zumifst wie von der guten, wird durch die trophisehe Sensibilit\u00e4t sofort \u00fcber den Betrug aufgekl\u00e4rt, dem es zum Opfer gefallen ist. Da es keine andere M\u00f6glichkeit kennt, so wird es bestrebt sein, den Nahrungsausfall durch vermehrte Zufuhr zu decken. Aber an dem Tage, an dem es eine andere bessere Milch kennen lernt, verlangt es nach diesei und nicht nach jener. Wie kommt es nun zur Kenntnis dieser anderen? Das ist das Problem, das wir zu l\u00f6sen haben.\nGehen wir experimentell an seine L\u00f6sung, und nehmen wir dazu an, dafs die w\u00e4sserige Milch A von seiner Mutter und die gute Milch B von einer Nachbarin herr\u00fchrt, die ihm zweimal t\u00e4glich die Brust reicht. A hat einen hellen Teint, B einen r\u00f6tlichen, aber die Retinaeindr\u00fccke, die die eine oder die andere Frau hervor bringen, haben es keinesfall veranlafst, die eine von der anderen zu unterscheiden. In dieser Lage f\u00fchrt es mehr-malils des Tages Nahrung ein und die Zeit zwischen Mahlzeiten bis zum Wiederauftreten des Hungers wird abwechselnd l\u00e4ngerund ver-","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\t235\n\u2022 \u2022\nk\u00fcrzt sich wieder. \u00c4hnliche trophische Unterschiede bilden die Quelle des internen Reizes, der die Veranlassung dazu bildet, zwei optische Eindr\u00fccke, die bis dahin vor seinen Augen gestanden haben, ohne dafs es sich dar\u00fcber Gedanken gemacht h\u00e4tte, zu unterscheiden. Wenn sich nun durch die h\u00e4ufige Wiederholung dieser Tatsachen ein interneuronaler Zusammenhang zwischen der trophischen Unterscheidungsf\u00e4higkeit, die B entspricht, und dem roten Farbeneindruck einerseits und der Unterscheidung des N\u00e4hrwertes mit der weifsen Farbe andererseits gebildet hat, so hebt sich in dieser entstehenden Intelligenz die Kenntnis besser ab, welcher Art der Gegenstand sein mufs, der in h\u00f6herem Grade zur Stillung des Hungers geeignet ist, wenn man sich ihn unter einem Sinnesbild vorstellen kann. Solange dieser darstellende Faktor fehlte, mufste es warten, bis die trophische Sensibilit\u00e4t den Erfolg der beiden Nahrungsmittel ank\u00fcndigte. Es gen\u00fcgte jedoch der optische Eindruck, um wie beeinflufst durch ein Kennzeichen dieser Erfolge, unterscheiden zu k\u00f6nnen, welches die gute und welches die schlechte Milch ist. Ostentativ k\u00fcndigt es diese Kenntnis durch Freudebezeugung bei Anwesenheit von B und Mifsfallens\u00e4ufserung f\u00fcr die Farbe A an, die ihm ein Zeichen ist, dafs ihm nicht Gen\u00fcge geschehen ist, Man sieht also, dafs der Antrieb zu dieser Bewegung von Grund aus ein trophischer ist. Andere Farben haben seine Retina mit grofster Hartn\u00e4ckigkeit getroffen, die des Betthimmels, der W\u00e4nde beispielsweise ohne dafs diese \u00e4ufseren Reize es zu einer klaren deutlichen Differenzierung veranlafst h\u00e4tten, weil infolge des nicht vorhandenen Interesses sie vor seinem Auge blitzen und ihm doch gleichg\u00fcltig bleiben.\nGerade so wie wir es beschrieben haben, dafs A und B nach ihren Farben unterschieden werden, k\u00f6nnen wir auch die Unterscheidung nach T\u00f6nen angeben: es gen\u00fcgt, sich vorzustellen, dafs A Gummischuhe, B klappernde Holzpantinen tr\u00e4gt. Die Ber\u00fchrungs- oder W\u00e4rmeempfindung, die von der einen oder der anderen Frau ausgeht, ihr Geruch, der Geschmack der einen und anderen Milch bieten dem S\u00e4ugling einen Vorstellungskomplex, den er nicht entwirrt und aufl\u00f6st, sondern hinnimmt so, wie die \u00e4ufseren Vorg\u00e4nge auf ihn einwirken, als Kennzeichen der Anwesenheit des einen oder anderen Nahrungsmittels. Ebenso k\u00f6nnen nat\u00fcrlich als Anzeichen f\u00fcr die Anwesenheit\ndes Nahrungsmittels auch Bilder verwendet werden, die nicht\n15*","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nR. Turret.\ndem \u00dcberbringer desselben entsprechen. So zeigt die Klingel, die die Ankunft der Nachbarin meldet, dem Kmde die Anwesenheit der Nahrungsspenderin an. Nehmen wir an, dafs die beiden Mahlzeiten zu der gleichen Tageszeit st\u00e4ndig statthaben, so erkennt das Kind einzig durch blofse innere \u00dcberlegung fur die abgelaufene Zeit sch\u00e4tzungsweise, wann das kommen wird, was seinen Hunger stillt, indem er mittels einer Reihe von Srnnes-eindr\u00fccken sich das vorstellt, was es sehns\u00fcchtig erwartet.\nWir setzen jetzt, auf unserem experimentellen Wege fortschreitend, den Fall, dafs die eingef\u00fchrte Milch kein in sich abgeschlossenes Nahrungsmittel darstellt, sondern dafs ihm eines ihrer Bestandteile fehlt: beispielsweise der Milchzucker. Alle seine Ern\u00e4hrungsversuche werden dann ersetzt mit Ausnahme derer, die auf Kohlehydrate angewiesen sind, und wie der Hunger nach diesem Produkt bestehen bleibt, so tritt der lebhafte Trieb auf, ihn zu stillen. Kommt nun die Person mit einem anderen Wesen in Ber\u00fchrung, das ihm von Zeit zu Zeit gute Milch liefert, so bildet sich durch die h\u00e4ufige Wiederholung desselben Vorganges nat\u00fcrlich eine Unterscheidung zwischen dieser und der Tr\u00e4gerin der schlechten Milch heraus. Diese Unterscheidung bezieht sich gew\u00f6hnlich auf ein Zusammenwirken optischer, akustischer Beriihrungs- und Geruchsempfindung, mitte s deren die Anwesenheit der einen oder anderen Person kund wird Untersuchen wir nun den Fall, dafs diese Unterscheidung mittels des Geschmacks vollzogen wird. Die gute und die schlechte Milch verursachen zun\u00e4chst eine allgemeine oder un e-Btimmte Empfindung, den Milchgeschmack. Dieser Eindruck ist vergleichbar dem, den eine Weinprobe auf einen unge\u00fcbten Gaumen hervorruft und den sie auf einen berufsm\u00e4fsigen Schmecker machen wird. Der erstere unterscheidet gar nichts, w\u00e4hrend letzterer merkt, wie der Wein eine gewisse V\u00f6lle, Sufsig-keit, Trockenheit oder Sch\u00e4rfe besitzt, die es ihm erlauben, ihn von'anderen sehr \u00e4hnlichen zu unterscheiden und sogar sein Alter abzusch\u00e4tzen, w\u00e4hrend der andere ganz schwankend bleibt. Dieses qualitative Unterscheidungsverm\u00f6gen existiert naturlici auch im Gaumen des unge\u00fcbten Trinkers, wenn er auch keinen Gebrauch davon macht. Der Beweis daf\u00fcr geht daraus hervor, dafs er durch allm\u00e4hliche \u00dcbung und Erziehung dieselbe Meisterschaft erringen kann wie sein Genosse. Genau dasselbe passieit dem Kinde mit den zwei Milcharten, in denen es keine Unter-","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Die 'physiologische Psychologie des Hungers.\n237\nschiede wahrnimmt. Wenn aber der Hunger nach Milchzucker beispielsweise es veranlafst, seine Aufmerksamkeit anzuspannen, entdeckt es endlich, dafs diese Substanz sich den Sinnen als etwas S\u00fcfses darstellt. So arbeitet es durch die Unterscheidung in der Allgemeinempfindung oder besonderen Qualit\u00e4t, die einer der beiden Milcharten eigen ist, durch die innere pr\u00e4existierende Unterscheidung ein \u00e4ufseres Unterscheidungsmerkmal heraus, und von dem Augenblick an erkennt es, dafs die Milch, die nicht s\u00fcfs ist, etwas entbehrt, was sein Organismus durch das psycho-trophische Abbild einfordert. Diese Empfindung soll nicht den N\u00e4hrwert des Milchzuckers ausfindig machen, sie ist lediglich ein Anzeichen, mittels dessen man erkennt, welches der K\u00f6rper ist, der dies besondere Bed\u00fcrfnis s\u00e4ttigt. W\u00e4re der Milchzucker statt s\u00fcfs bitter, so w\u00fcrde man, je mehr man sich die trophische Erfahrung festigt, das Bed\u00fcrfnis f\u00fchlen, im Munde einen bitteren Geschmack hervorzurufen, wie man es jetzt mit dem s\u00fcfsen tut, da sich durch jenen die Anwesenheit der Hunger stillenden Substanz anzeigen w\u00fcrde. Dann w\u00fcrde das Bittere dem Gaumen aus denselben Gr\u00fcnden ebenso angenehm sein, aus denen es jetzt das S\u00fcfse ist. Derselbe Zusammenhang und dieselbe untrennbare Ideenverbindung, die hier zwischen dem besonderen Milchzuckerhunger und dem ihn darstellenden Bild geschlagen wird, kann man nat\u00fcrlich auch f\u00fcr das Kasein und das Fett verfolgen. Man kann sich nur schwer klar machen, wie in der Allgemeinempfindung die Anwesenheit dieser Komponenten bewertet wird. Wenn aber die Milch einen dieser Bestandteile entbehren w\u00fcrde oder nicht in der gen\u00fcgenden Menge enthielte, so w\u00fcrde, je mehr sich der Hunger gerade auf dieses Nahrungsmittel zuspitzt, sich durch einen gewissen st\u00e4rkeren Geschmack, einen bestimmten Geruch oder bestimmte Fettigkeit oder andere Empfindungen ein Unterscheidungsverm\u00f6gen f\u00fcr den Gegenstand herausbilden, der die genannten W\u00fcnsche erf\u00fcllt.\nDie Tastempfindung des Mundes enth\u00e4lt ein wunderbares Unterscheidungsverm\u00f6gen f\u00fcr das Wiedererkennen von N\u00e4hrstoffen. Es gen\u00fcgt, dafs das in die Mundh\u00f6hle Eingef\u00fchrte gewohnheitswidrig etwas zu hart oder zu weich ist, um das Tier zu \u00fcberraschen und stutzig zu machen, als ob es im Zweifel w\u00e4re, dafs es sich tats\u00e4chlich dem gew\u00fcnschten Nahrungmittel gegen\u00fcber befindet. Das gleiche gilt von der W\u00e4rme und der Geruchsempfindung. F\u00fchren wir unerwartet einen L\u00f6ffel kalter","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nB. Turro.\nSuppe in unseren Mund, so erscheint uns das nicht als Suppe, so vorz\u00fcglich es auch sein mag. Wir haben den Eindruck, uns etwas gegen\u00fcber zu sehen, dessen N\u00e4hrwert wir nicht kennen und gerade diese Unkenntnis fl\u00f6fst uns einen Widerwillen und ein Gef\u00fchl des Mifsbehagens ein. Die Geruchsempfindung ist grade wie die des Geschmacks zun\u00e4chst amorph und nicht unterschiedlich, aber es kann unter der T\u00e4tigkeit der trophischen Reize eine solche Feinheit des Geruches erworben werden, dafs in einer einzigen Allgemeinempfindung 6, 8 oder mehr Ger\u00fcche deutlich zur Unterscheidung gelangen. Die optischen und akustischen Empfindungen pflegen bei einer grofsen Anzahl von Tieren sich zuletzt als Anzeichen f\u00fcr die Anwesenheit eines Nahrungsmittels einzustellen. Nachdem sie aber einmal als solche verwendet worden sind, erkennt man sie, wie oben gezeigt, auf dieselbe Weise durch einen Farben- oder Toneindruck wie durch eine Geschmacks- oder Geruchsempfindung.\nIn den Morgenstunden des psychischen Lebens steht ein Problem allen anderen voraus: die Notwendigkeit, dem Aufwand des Ern\u00e4hrungsumsatzes Hilfskr\u00e4fte darzubieten. Das Tier kennt die Nahrungsmittel nicht, mufs sie aber baldm\u00f6glichst kennen lernen. Physiologisch k\u00fcndigen sich die Verluste des Organismus in den psychotrophischen Zentren als spezifische Empfindungen an. Um aber zu wissen, welche Gegenst\u00e4nde der Aufsenwelt sie s\u00e4ttigen und in welchem Mafse sie hierzu eingef\u00fchrt werden m\u00fcssen, m\u00fcssen Erfahrungen gesammelt werden. Diese Erfahrung wird niemals zu einer wirklichen trophischen Kenntnis f\u00fchren, wenn sich nicht die trophische Empfindung mit den \u00e4ufseren Bildern verkn\u00fcpft. Nur mittels dieser zentralen Verbindung gelangt man zur Kenntnis davon, dafs das, was den Hunger stillt, dasselbe ist, was sich in seinem Sinnen unter einer schon durch fr\u00fchere Vorg\u00e4nge bekannten Empfindungsform \u00e4ufsert. Fehlt dieses Band zwischen der T\u00e4tigkeit der trophischen Zentren und der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t, so kann zwar der Hunger durch das blinde Einf\u00fchren eines Nahrungmittels erl\u00f6schen, aber das Tier wdrd sich niemals ein sicheres Urteil dar\u00fcber bilden k\u00f6nnen, dafs das, wras den Hunger stillt, und das, was seine Sinne als abwesend kund tun, identisch ist. Hierin besteht die grundlegendste und einfachste T\u00e4tigkeit der Intelligenz. Die Sinne m\u00f6gen eine unendliche Reichhaltigkeit von Eindr\u00fccken auf der \u00e4ufseren Haut, Ger\u00e4usche, Farben, die im Bewufstsein","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n239\n\u25a0unklar und unbestimmt verschwimmen, nie wahrgenommene Ger\u00fcche und nicht sicher unterschiedene allgemeine Geschmacksempfindungen anzeigen. Immer werden die sensiblen Nerven und Zentren unter der T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt in gleicher Weise reagieren, ob sie nun bestimmte Bilder hervorrufen oder ob ihr Effekt ein unbestimmter ist, weil er nicht im Bewufstsein differenziert wurde. Richten wir unsere Aufmerksamkeit frei von jedem Vorurteil auf das, was die Beobachtung uns lehrt und fragen wir uns, welche Triebkraft das Tier veranlafst, gewisse Eindr\u00fccke vorzugsweise zu unterscheiden, so finden wir, dafs der trophische Trieb die Grundlage hierf\u00fcr abgibt und fragen wir wreiter, worin diese Unterscheidung besteht, so sehen wir, dafs sie sich darauf st\u00fctzt, \u00e4ufsere Zeichen f\u00fcr den Gegenstand heranzuziehen. Der Neugeborene wie der junge Hund saugen blind an der Brust. Wenn sie merken, dafs sie durch diese Bewegungen gewisse Ber\u00fchrungs-, W\u00e4rme- und Geschmacksempfindungen im Munde, Geruchsempfindungen in der Nase hervorrufen, gelangen sie allm\u00e4hlich unmerklich dahin, sich eine Reihenfolge zwischen den trophischen und den \u00e4ufseren Empfindungen zu bilden. Wenn diese entstehen, so treten sie wie ein un\u00fcberwindlicher Trieb auf, jene von neuem hervorzurufen, sobald durch die h\u00e4ufige Wiederholung desselben Vorganges die Kenntnis erworben worden ist, dafs der Hunger erst dann gel\u00f6scht ist, wenn die genannten Empfindungen wieder erscheinen. Wenn also diese durch die Erfahrung gebildete Reihenfolge fehlt und statt der bekannten Bilder fremde auftauchen, so sagen diese Bilder dem Betreffenden nichts, da sie nicht Kennzeichen dessen sind, was seinen Hunger stillt.\nVom Beginn des Lebens bis zu seinem Ende kennen der Hunger und die Tiere die Nahrungsmittel mittels Empfindungskennzeichen, die den N\u00e4hrwert genau darstellen. Gerade wie der Blinde sich die Farbe nicht vorstellen kann, so viel und so gut man es ihm auch auseinandergesetzt haben mag, so kann man auch nicht wissen, dafs ein K\u00f6rper ein Nahrungsmittel ist, ohne es vorher versucht zu haben. Die Person l\u00e4fst sich bei der Nahrungsaufnahme immer durch die erworbenen Erfahrungen leiten. So verlangt das Kind immer unter denselben altgewohnten \u00e4ufseren Bedingungen ges\u00e4ugt zu werden. Jede Abweichung hiervon st\u00f6rt und verwirrt es. Nur wenn diese das Nahrungsmittel darstellenden Formen seine Bed\u00fcrfnisse nicht stillen, ent-","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nR. Turro.\nstehen in seinem trophischen Sinn neue Triebe, die es veranlassen, seinen N\u00e4hrplan zu \u00e4ndern. Diese \u00c4nderung findet nicht sprungweise, sondern allm\u00e4hlich unter Erwerbung neuer Erfahrungen statt, die dem Wesen erlauben, die Eigenschaft anderer N\u00e4hrmittel kennen zu lernen, die es, weil es sie nicht kannte, bis dahin nicht verlangt hat. So sehen wir, dafs zur Zeit des Absetzens das Kind nicht pl\u00f6tzlich von der Milchdi\u00e4t zu einer anderen, zusammengesetzten \u00fcbergeht. Der \u00dcbergang zur gemischten Form mufs sich anf\u00e4nglich so gleichm\u00e4fsig und einfach wie m\u00f6glich vollziehen. Beim Anblick einer Milchsuppe bleibt es gleichg\u00fcltig und es mufs ein um das andere Mal kosten, um sich zu gew\u00f6hnen, wie die Leute sagen. Alsdann l\u00e4fst eine Tapiokasuppe das Kind kalt, und es ist nat\u00fcrlich, dafs es so ist, denn weder durch den Anblick oder Geruch, noch durch Geschmack oder Ber\u00fchrungsempfindungen erkennt es die Anwesenheit des N\u00e4hrk\u00f6rpers, dessen Bild ihm als ein Zeichen ohne trophische Bedeutung erscheint. Je mehr sich die Erinnerungsbilder seines N\u00e4hrwertes und die Sinneseindr\u00fccke, durch die sich die Anwesenheit des neuen Nahrungsmittels kundgibt, festigen, rufen sie diese Erinnerungsbilder hervor, und mit ihnen entwickelt sich eine neue Vorliebe, die allm\u00e4hlich die fr\u00fcheren W\u00fcnsche aus dem Ged\u00e4chtnis verdr\u00e4ngt. Um zu diesem Resultat zu kommen, ist es eine unabweisbare Notwendigkeit, dafs diese \u00e4ufseren Formen gleichm\u00e4fsig bleiben, dafs also die Suppe nicht das eine Mal klar, das andere Mal dick, bald warm bald kalt, von wechselndem Geruch oder verschiedenem Geschmack, heute in einem wreifsen und morgen in einem bunten Teller angerichtet ist, denn dann ger\u00e4t die trophische Erfahrung statt sich zu festigen, in Unordnung, weil sie sich kein festes Bild von den trophischen Erinnerungseindr\u00fccken machen kann. Unter diesen Umst\u00e4nden l\u00e4fst sich das Kind von den klaren Erfahrungen, die es schon besitzt, leiten und bleibt bei der Brustern\u00e4hrung, deren vorz\u00fcgliche Erfolge ihm ja bekannt sind.\nDie M\u00fctter haben, durch die Erfahrung belehrt, scheinbar eine Intuition f\u00fcr das seelische Entstehen des Appetits. Sie begreifen, dafs die beste Methode das Kind an ein neues Nahrungsmittel zu gew\u00f6hnen darin besteht, es ihm immer in derselben Form darzubieten. So grofs ist ihr Scharfsinn, dafs sie die Geberden des MifsVergn\u00fcgens bei ihren Kindern richtig erraten und Abhilfe schaffen, ohne deren W\u00fcnsche weiter verletzen zu","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n241\nwollen. Auf diese Weise wird ein scharf umrissenes Bild der \u00e4ufseren Eindr\u00fccke mit einer Summe von trophi sehen Erinnerungen assoziiert und dadurch der \u00dcbergang von einer Di\u00e4t zur anderen erleichtert. Allm\u00e4hlich \u00e4ndert sich dann die \u00e4ufsere Form, die die Darbietung des Nahrungsmittels anzeigt, je zusammengesetzter die neue Kostform ist. Dann gen\u00fcgt es, dafs durch die H\u00e4ufung von Erfahrung die dem Gewebssaft zugef\u00fchrten K\u00f6rper als gleich gute oder bessere Nahrungsmittel als die Milch erkannt werden, um f\u00fcr diese neuen K\u00f6rper die gleiche Vorliebe auf-kommen zu lassen, die f\u00fcr die Brustern\u00e4hrung bestand. Die Zahl der Versuche, die hierzu anzustellen sind, sind nicht z\u00e4hloder beschreibbar. Sie ist ungeheuer grofs und Kind und Tier, die sich durch eine gemischte Kost n\u00e4hren, haben eine schwere psychophysiologische Arbeit auszuf\u00fchren. Die, welche dem Instinkt und nicht der beschriebenen experimentellen Arbeit die intuitive Kenntnis des Brotes, Fleisches, jeden Gem\u00fcses, des Wassers, des Salzes zuschreiben, denken nicht daran, dafs, wenn das in der Tat das Werk eines Instinktes w\u00e4re, der so klug und vorsorglich allen Bed\u00fcrfnissen der Ern\u00e4hrung zu Hilfe kommt, dieser jeder menschlichen Klugheit \u00fcberlegen sein und schon von Anfang aller Zeiten an praktisch die Probleme h\u00e4tten l\u00f6sen k\u00f6nnen m\u00fcssen, die die Wissenschaft noch keineswegs klargelegt hat.\nWie sich das Kind an ein neues Nahrungsmittel gew\u00f6hnt, so pafst sich auch der Erwachsene an. Die trophische Erfahrung kommt immer auf dieselbe Weise zustande. Wir betrachten eine Speise, die wir noch nie im Leben gekostet haben, obwohl sie uns sehr anspricht und wir sie noch obendrein von anderen essen sehen, mit einem gewissen Mifstrauen, mit der Unruhe, mit der wir L^ngewohntes anstaunen. Wenn wir dann, veranlafst durch den Anblick oder den Geruch, zu kosten uns entschliefsen, so werden wir, falls der Eindruck trophische Erinnerungen erweckt, uns von fr\u00fcheren Erfahrungen leiten lassen und die neue Speise mit Vergn\u00fcgen essen: Wenn das nicht der Fall ist und Geschmack und Anblick uns \u00fcber ihren N\u00e4hrwert kein \u00e4ufseres Bild vorspiegeln, so leisten wdr der Einf\u00fchrung unter dem Vorw\u00e4nde Widerstand, dafs die betreffende Speise uns nicht schmeckt, d. h. dafs keine trophische Begierde erweckt wird.\nMan veranlasse eine arme Familie, um ihre d\u00fcrftigen Ver-","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nB. Turro.\nh\u00e4ltnisse zu bessern, Hefe zu essen, die trotz schlechter pekuni\u00e4rer Lage leicht erschwinglich ist. Vater und Mutter werden sich nur schwer daran gew\u00f6hnen. Hie vorhandenen^ Lrfahrungen sitzen zu fest und erneuern sich nicht so leicht. Die Kinder dagegen werden nach dem ersten Widerstand eine solche Vorliebe f\u00fcr dieses Nahrungsmittel bekommen, dafs es sp\u00e4ter dazu kommen kann, dafs sie es dem Weifsbrot vorziehen. Die \u00c4rzte} die Prefshefe zur Behandlung der Furunkulose und anderer Krankheiten verordnen, haben beobachtet, dafs gelehrige Kinder, die sich nicht weigern sie zu nehmen, sich nach einigen Versuchen daran gew\u00f6hnen und sie gern nehmen. Als ich ein Serum gegen Staphylokokken- und Streptokokkeninfektion durch Verabreichung grofser Mengen Prefshefe an Pferde herzustellen besch\u00e4ftigt war, bot der Geruch zun\u00e4chst einen un\u00fcberwindlichen Widerstand, bis ich mich dazu entschlofs, den Geruchssinn durch eine Atmosph\u00e4re mit diesem Geruch abzustumpfen. Vorsichtig mischte ich dann in das t\u00e4gliche Futter kleine Mengen dieses Stoffes und einige Tiere gew\u00f6hnten sich und gewannen eine solche Vorliebe, dafs die blofse Anwesenheit einen reichlichen Speichelflufs hervorruft. Der psychische Vorgang bei dieser Ver\u00e4nderung ist einer der vielen praktischen F\u00e4lle bei der Appetitbildung. Wenn Kinder und Pferde den Nutzeffekt der Hefe ausprobiert haben, und das Erinnerungsbild dieser Wirkung, das der Organismus im trophischen Sinne ank\u00fcndigt, sich mit jenem verbunden hat, so zeigen diese Erinnerungsbilder den Sinnen die Anwesenheit an. So entsteht eine Begierde, weil man durch die Erfahrung weifs, dafs das Bed\u00fcrfnis nach Eiweifsstoffen, Kohlehydraten usw., das der Hunger anzeigt, mit dem ges\u00e4ttigt wird, was durch eben diese Erinnerungsbilder lepr\u00e4sen-\ntiert wird.\nDie Unkenntnis der Faktoren, die die trophische Erfahrung zusammensetzen, veranlafst die Mehrzahl der anderen Menschen zu glauben, dafs ihnen dieselben Nahrungsmittel gut zu schmecken ^ haben, wie uns und dafs sie auch dieselben Abneigungen zeigen m\u00fcssen, wie wir. Dies ist der Grund f\u00fcr den wahrhaft grausamen Krieg, den die Grofsen gegen die Kinder f\u00fchlen, um die Kostform der Familie zu vereinheitlichen. Um ihre fehlerhaften Seitenspr\u00fcnge zu verbessern, veranlassen die Erwachsenen die Kinder, neue Erfahrungen zu machen und erreichen so, sie an dieselbe Nahrung zu gew\u00f6hnen, wie sie selbst. ^","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n243\nDas sch\u00e4rfste Mittel zu diesem Zweck ist die erzwungene Nahrungsenthaltung. Je mehr der Hunger w\u00e4chst, um so st\u00e4rker wird der Trieb, Nahrung einzuf\u00fchren. Es wird von allen erworbenen Erfahrungen abgesehen und darauf hingearbeitet, andere, neue sich anzueignen. Der Hunger w\u00e4chst mehr und mehr und erreicht schliefslich ein Maximum, wie es bei Hungers Sterbenden auftritt; dann wird von allen bekannten Tatsachen abgesehen und der Appetit gestillt. Der Zellhunger tritt jetzt unter derselben Form auf, wie wir es von der ersten Lebenszeit beschrieben haben. Die Nahrungsaufnahme wird blind und wie der Neugeborene mit derselben Begierde die Brust wie den Finger packt, wie der junge Hund in gleicher Weise in dem weichen Kissen wie in der Zitze herumbohrt, so f\u00fchrt der Hungernde Erde, Pflanzen, Stofffetzen, und was sonst in seinem trophischen Delirium in seinen Bereich kommt, ein.\nSelbstverst\u00e4ndlich braucht das Bed\u00fcrfnis nicht diese \u00e4ufsersten Grade zu erreichen. Es gen\u00fcgt viel weniger, um die Kostform f\u00fcr die Familie zu vereinfachen. Werden die trophischen Reize st\u00e4rker, so werden \u00e4ufsere Eindr\u00fccke unterschieden, die bis dahin nicht als Kennzeichen eines Nahrungsmittels aufgefafst wurden. In Wirklichkeit befinden sich diese Kinder unter der Fuchtel der Erwachsenen in derselben Lage wie diese, wenn sie, aus ihrem Vaterlande entfernt, sich gezwungen sehen, einen neuen Appetit sich anzuerziehen und zu bilden, um das in der neuen Umgebung herrschende Regime anzunehmen. Chemisch ist die Kostform der Chinesen identisch mit der unsrigen. Sie, wie wir, f\u00fchren dem Gewrebssaft eine gewisse Menge Fett, Eiweifsstoffe, Salze und Wasser zu. Um aber die K\u00f6rper kennen zu lernen, die virtuell sie enthalten, sowie die Menge des Gehaltes, m\u00fcssen experimentell die trophischen Empfindungen mit gewissen \u00e4ulseren Eindr\u00fccken, die ihre Anwesenheit verraten, verglichen werden. Da nun diese Form in China eine andere ist wie bei uns, so ist der, der die Zubereitung des Fleisches nach seinem Geschmack, Geruch, nach der Art des Anrichtens hier kennt, dort dazu nicht in der Lage. Er sieht sich Nahrungsmitteln gegen\u00fcber, deren N\u00e4hrwert er nicht kennt ebenso wie ihm die Nahrungsmenge, die er hier in der vorhandenen Zubereitung zu sich nehmen mufs, unbekannt ist, d. h. er steht einem Nahrungsmittel gegen\u00fcber, von dem er nicht weifs, dafs es ein solches ist. Bei seiner Neuerziehung verf\u00e4hrt er, indem er unter einer","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nTi. Turr\u00f6.\nbestimmten \u00e4ufseren Form einen neuen Appetit schafft, wie das kleine Kind. Er sucht in den Falten seines Ged\u00e4chtnisses, was ihm den Formen seiner fr\u00fcheren Nahrung am meisten zu \u00e4hneln scheint und je mehr es mit ihnen zusammenf\u00e4llt, desto lebhafter wird sein Appetit f\u00fcr sie. Von dem, dessen er sich nicht erinnert, wird er sich zun\u00e4chst eine minimale Menge nehmen, bis er, gequ\u00e4lt und besiegt vom Hunger oder anderen Motiven, seine nat\u00fcrliche Abneigung auf gibt. Wenn er nun neue Erfahrungen erwirbt, indem er selbst untersucht oder durch fremden Rat das unbekannte kennen lernt, so vermehrt er die Menge des Eingef\u00fchrten, bis er sich daran gew\u00f6hnt.\nBeobachten wir nun mit der geb\u00fchrenden Aufmerksamkeit die unglaubliche Verwirrung, die einem Di\u00e4twechsel folgt, so bemerken wir, dafs der Appetit nicht angeboren ist, sondern sich auf Grund lebhafter Erfahrungen gestaltet, Hat sich der Mensch oder das Tier an eine gegebene Kostform gew\u00f6hnt, so kennt es den N\u00e4hrwert gewisser K\u00f6rper, die es sich unter einem scharf umrissenen Eindrucksbild vorstellt. Wechselt nun dieses Bild zuf\u00e4llig irgendwann, so wird es durch nichts zur Nahrungsaufnahme veranlafst, da es ja die neuen Anzeichen, unter denen sich die Anwesenheit des Nahrungsmittels kundgibt, nicht kennt und nicht weifs, dafs sich in dieser neuen Wahrnehmungsform etwas verbirgt, das seinen Hunger ebenso gut stillen kann, wie er fr\u00fcher ges\u00e4ttigt wurde. So bleibt ihm denn kein anderer Ausweg, als zwischen diesen neuen Geschmacks-, Geruchs-, Gef\u00fchlsund Farbenempfindungen, durch die sich die Nahrungsmittel den Sinnen offenbaren, dieselben Verbindungen herzustellen, wie bei den fr\u00fcheren und so erkennt es schliefslich, dafs das, was seinen Hunger unter den neuen \u00e4ufseren Anzeichen stillt, sich gerade so verh\u00e4lt, wie das, was ihn unter der fr\u00fcheren Form zur Ruhe brachte. Auf diese Weise formiert und reformiert sich der Appetit, wenn man dieses Wort, das Pawlow in das Gebiet der Wissenschaft \u00fcbernommen hat, in seiner gew\u00f6hnlichen Bedeutung gebraucht. Der Appetit setzt sich zusammen aus etwas Bleibendem und Dauerhaften und einer zuf\u00e4lligen und ver\u00e4nderlichen Komponente. Es mufs nat\u00fcrlich das Eingef\u00fchrte, wenn auch nur virtuell, die Bed\u00fcrfnisse des Organismus s\u00e4ttigen. Aber die sinnlichen Anzeichen k\u00f6nnen unendlich verschieden sein und sie wechseln auch tats\u00e4chlich mit dem Alter, den V\u00f6lkern, der Breite, der Zeitepoche. Als das Bleibende in der Flucht der Er-","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n245\nscheinungen und Verwandlungen imponiert einzig das, was das trophische Bed\u00fcrfnis s\u00e4ttigt.\nMit der Organisation des Appetites h\u00f6rt der Trieb zur Nahrungsergreifung auf, blind zu sein. Er wandelt sich in den Wunsch oder die Lust nach dem Gegenst\u00e4nde um, der symbolisch durch das Empfindungsbild dargestellt wird. Wir haben gesagt, dafs der Durst so wTie er sich im Bewufstsein durch die trophische Sensibilit\u00e4t kundgibt, zwar eine spezifische Empfindung ist, und doch bleibt diese eine unklare und unbestimmte, bis der Betreffende f\u00e4hig ist, mit ihr das Vorstellungsbild des Wassers zu verkn\u00fcpfen. Das mit einer kase\u00efnarmen Milch ern\u00e4hrte Kind k\u00fcndigt die Abwesenheit dieser Substanz und nur dieser Substanz dann an, wenn es imstande ist, sie sich durch einen Geschmack sui generis, einen Geruch oder irgend ein anderes Sinneszeichen vorzustellen. Die Efslust richtet sich, sowie sie aus der trophischen Sensibilit\u00e4t entsteht, auf den vom Organismus geforderten K\u00f6rper, unabh\u00e4ngig von seiner \u00e4ufseren Form, die nur ein Hilfsmittel zur Erkennung seines Vorhandenseins darstellt. In diesem Sinne erkl\u00e4ren wTir die Empfindung f\u00fcr eine spezifische. N\u00e4mlich insoweit als das, was unter der Form des Wassers erscheint auch die F\u00e4higkeit besitzt, den Durst zu stillen. In dem Wunsche nach Wasser oder im Durst ist ein unterschiedliches Gef\u00fchl enthalten, das nicht mit dem f\u00fcr Eiweifsk\u00f6rper, Salz oder Fett verwechselt werden kann, und diese Empfindung, die sich wie das Bewufstsein eines fehlenden K\u00f6rpers offenbart, bildet aus sich heraus einen Zellhunger, der mit einem \u00e4ufseren Vorstellungsbild verkn\u00fcpft ist. Das, was wir Appetit nennen, ist nicht etwas vom Zellhunger Verschiedenes: Es ist derselbe Zellhunger mit derDarstellungsform der N\u00e4hr stoffe. An diesem Punkte erkennen wir deutlich, dafs w\u00e4hrend anfangs die psychotrophischen Zentren nur auf Grund der Zellreizung ansprachen, die in ihnen auf Grund der h\u00e4ufigen Wiederholung gleicher Reize unserer Erinnerungsbilder auch durch einen umgekehrten Ablauf des Prozesses, durch die \u00e4ufsere Form der N\u00e4hrstoffe hervorgerufen werden k\u00f6nnen. Jedermann weifs, dafs durch den Anblick einer Speise, die pl\u00f6tzliche Empfindung eines bestimmten Geruches in Verbindung mit den trophischen Erinnerungsbildern seiner Nutz Wirkung der Appetit danach entstehen kann. Zweifellos antwortet unter diesen Umst\u00e4nden der Hunger nicht auf eine organische Reizung, sondern auf eine","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nB. Turr\u00f4.\n\u00e4ufsere Erregung. Diese Umkehr kann aber nur stattfinden, sofern sich durch fr\u00fchere Erfahrungen die dem Appetit zugrunde liegenden Prozesse gebildet haben. Wenn beim Anblick einer Speise oder bei einer Geruchsempfindung der Trieb zu ihrer Einf\u00fchrung in uns auf taucht, deren N\u00e4hrwert wir ja vorher noch gar nicht kennen, so ist es klar, dafs wir auch appetitlos bleiben, wenn diese Speise niemals gekostet, dieser Geruch uns nicht als ein uns bekanntes Zeichen erscheinen w\u00fcrde. So kommt es bei Zust\u00e4nden von Anorexie, in denen es nicht leicht ist, die trophischen Erinnerungen zu wecken, dafs der Anblick des Essens, die Anwesenheit gewisser Geschmacks- und Geruchsempfindungen, die vorher ein lebhaftes Verlangen nach Speise erweckten, jetzt ihre reizende F\u00e4higkeit verloren hat. Wenn wir trotzdem hartn\u00e4ckig auf ihre Einf\u00fchrung bestehen, so rufen sie, obwohl nat\u00fcrlich der N\u00e4hrwert der gleiche ist, wie fr\u00fcher, statt Appetit eine Abneigung gegen diese Nahrungsmittel hervor. Alles dies belehrt uns, dafs die nat\u00fcrlichen Wege der Reizung f\u00fcr das psychotrophische Bewufstsein \u00fcber die Zentren verl\u00e4uft. Wenn infolge pathologischer Zust\u00e4nde die funktionelle T\u00e4tigkeit dieser Zentren gehindert ist, so h\u00f6ren die Empfindungsbilder, die fr\u00fcher die Nahrungsmittel darstellten, auf, solche zu sein, weil ihr N\u00e4hrwert in der trophischen Sensibilit\u00e4t, die sich denselben Stoffen gegen\u00fcber wie taub verh\u00e4lt, nicht mehr wahrgenommen wird.\nDer Verlauf der trophischen Erfahrung ist mit der Erkenntnis der die Anwesenheit des N\u00e4hrk\u00f6rpers anzeigenden Sinnesempfindung nicht beendigt. Eine grofse Menge K\u00f6rper der Aufsenwelt besitzen einen N\u00e4hrwert, von dem sich das Tier nicht \u00fcberzeugen k\u00f6nnte, wenn es sie nicht zerkauen und einspeicheln k\u00f6nnte, um sie so zu verschlingen und durch die Verdauung zur L\u00f6sung zu bringen. Aus diesen Gesichtspunkten ergibt sich die zwingende Notwendigkeit, die den Kauakt bedingenden Bewegungen im voraus zusammen zu ordnen, die Speichelsekretion den Bed\u00fcrfnissen des Schluckaktes anzupassen und die Menge und Art des Magensaftes nach der N\u00e4hrmenge, die die Bed\u00fcrfnisse des Organismus im trophischen Bewufstsein festlegen, zu regulieren. Die Anpassung der Muskelkontraktionen, die zum Kauen f\u00fchren, geschieht im letzten Grunde durch einen weither kommenden Reiz, der im Bewufstsein gleichzeitig mit der Notwendigkeit der Nahrungseinf\u00fchrung auch zwangsl\u00e4ufig","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n247\nihre Weiterverarbeitung derart bewirkt, dafs die Einf\u00fchrung m\u00f6glich ist. Diese ihrem Zweck angepafste T\u00e4tigkeit wirkt in gleicher Weise auf die Speicheldr\u00fcsen und auf die Magensekretion. Auf diese Weise schliefst sich der Kreis der trophischen Erfahrung.\nIn bewunderungsw\u00fcrdiger und tiefgr\u00fcndiger Weise hat Pawlow gezeigt, dafs die Absonderung der Speicheldr\u00fcsen nicht durch einen selbst\u00e4ndigen peripheren Reflexvorgang reguliert wird, wie beispielsweise die Pankreassekretion; vielmehr ist hier der psychische Vorgang sehr \u00e4hnlich oder mindestens vergleichbar dem, den wir wegen seiner Richtung auf ein bestimmtes Ziel eine freiwillige Bewegung nennen. Beobachten wir die von den Parotiden oder den Speicheldr\u00fcsen oder besser mittels des GLiNSKischen Experimentes die von beiden gleichzeitig abgesonderte Speichelmenge, so sehen wir, dafs rohes oder gekochtes Fleisch kaum die Sekretion anregt, w\u00e4hrend trockenes oder gepulvertes Fleisch reichliche Sekretion hervorruft. Der gleiche Vorgang spielt sich bei weichem und feuchtem, hartem und trockenem Brot ab. W\u00e4hrend ersteres kaum Salivation erregt, ruft letzteres dieselbe sehr lebhaft hervor. Auf Grund dieser und \u00e4hnlicher Erfahrungen kommen wir zu dem Schlufs, dafs sich die Absonderung dem physikalischen Zustand des K\u00f6rpers anpafst zu dem Zweck, sein Schlucken zu erleichtern. Dieses Ziel oder, wenn wir wollen, diese Absicht imponiert uns nicht als willk\u00fcrlich oder \u00fcberlegt, da wir nicht imstande sind, sie im Bewufstsein durch einen vorgebildeten Ablauf hervorzurufen. \u00dcberlegen wir, dafs in den Mund eingef\u00fchrte trockene K\u00f6rper die Speichelsekretion nicht mehr erregen, als wenn eine Bewegung oder ein inneres Interesse den Menschen zu ihrer Einf\u00fchrung veranlafst, so kommen wir dahin uns vorzustellen, dafs gerade der Wunsch sie einzuf\u00fchren auf das Innervationszentrum der Sekretion wirkt. Wenn andererseits dieser Wunsch oder Appetit fehlt, so bleiben die Absonderungswege trocken, obgleich das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl das gleiche ist. So sehen wir, dafs trockenes Brot beim hungrigen Hund lebhaften Speichelflufs hervorruft, w\u00e4hrend dasselbe Brot auf einen satten Hund nicht den gleichen Effekt erzielt. Eine \u00e4hnliche Beobachtung zeigt uns klar, dafs diese Ber\u00fchrungsempfindung sich andererseits zu einer Ursache oder Bedingung f\u00fcr die Absonderung umwandeln kann, insofern sie ein Hindernis anzeigt, das den \u00dcbergang des Nahrungsmittels in den hinteren Mundabschnitt und den \u00d6sophagus erschwert.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nR. Turr\u00f4.\nErst dann tritt ein Einflufs auf das Speichelabsonderungszentrum auf, mittels dessen das Hindernis \u00fcberwunden werden kann, indem das harte Nahrungsmittel geb\u00fchrend geschmeidig wird. Es handelt sich also hier um eine wirkliche Erkenntnis, mittels deren das Tier sich Rechenschaft dar\u00fcber gibt, dafs es im vorliegenden Fall nicht gen\u00fcgt zu kauen, um die Nahrung einzuf\u00fchren, wie es der Fall ist beim Zerreiben von Fleisch oder angefeuchtetem Brot. Wir m\u00fcssen obendrein den K\u00f6rper geschmeidig machen, indem wir das Sekretionszentrum in Betrieb setzen und zur Mithilfe veranlassen.\nEs ist kein selbstverst\u00e4ndlicher Vorgang, dafs sich die Ereignisse in der beschriebenen Weise ohne gerechtfertigten Grund und Anlafs folgen. Es liegt hier eine logische Kette vor. Wie wir es f\u00fcr unsinnig halten m\u00fcfsten, dafs eine Klaviertaste beim Anschlag des C einer tiefen Oktave, und eine andere Taste dieselbe Note in der n\u00e4chstfolgenden Oktave angibt, ohne dafs dieser Vorgang einem vorgebildeten Mechanismus entspr\u00e4che, gerade so sind wir der Meinung, dafs diese auf die Speichelsekretion ausge\u00fcbte T\u00e4tigkeit einem physiologischen Mechanismus entspricht, der das eine Mal in Betrieb gesetzt wird, das andere Mal nicht. Untersuchen wir nun, wie diese Inbetriebsetzung zustande kommt, so merken wir, dafs das besondere einer trockenen Speise entsprechende Gef\u00fchl, das uns dar\u00fcber belehrt, dafs sie so nicht geschluckt werden kann, einen sekretorischen Reflex zu bedingen scheint, gerade, als wenn von dem Zentrum, in dem diese Erkenntnis zustande kommt, der auf das Dr\u00fcsensekretionszentrum wirkende Reiz auf einem Nebenweg ausgeht. Dieser Weg ist durch die Erfahrung oder durch die Wiederholung ausgeschliffen wrorden. Tausende von Malen hat man gemerkt, dafs das Kauen und die Koordination der Muskelbewegungen, die zum Schlucken f\u00fchren, zur Bildung eines Bissens bei trockenen Nahrungsmitteln nicht gen\u00fcgen. Durch diese Machenschaften wird mehr erreicht, als nur den Bissen im Munde herumzuw\u00fchlen. Da der leidenschaftliche Wunsch zur Einf\u00fchrung dazu dr\u00e4ngte, diese fruchtlosen Versuche fortzusetzen, so wurden W\u00e4rme-, Ber\u00fchrungs- und Geschmacksempfindungen hervorgerufen, durch die man dar\u00fcber belehrt wrird, dafs das Nahrungsmittel im Munde stecken geblieben ist und nicht weiter kann. Was ist da nat\u00fcrlicher, als dafs die durch eine so dringliche Reizung geladenen","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n249\nEmpfindungszentren sich der Reize, die das Sekretionszentrum anzuregen haben, entledigen.\nNachdem diese Verbindungswege einmal er\u00f6ffnet worden sind, tut die st\u00e4ndige Wiederholung das \u00fcbrige. Nachdem durch die St\u00e4rke der Ber\u00fchrung der Grad der Trockenheit eines Nahrungsmittels abgesch\u00e4tzt worden ist, wird die Reizung, die den zentripetalen Reflex anzuregen hat, festgelegt und durch sie die Speichelmenge, die die Bildung des Bissens sichert, reguliert. Wenn man beispielsweise ein 8 Tage altes Brot ifst, so ist der Gef\u00fchlseindruck selbstverst\u00e4ndlich nicht derselbe, wie bei einem frischen Brot. Auf Grund dieses \u00e4ufseren Eindruckes, der durch eine sensorische Reaktion bedingt ist, wird die St\u00e4rke des Speichelvorganges von selbst reguliert. Wenn dann durch die Wiederholung dieses Vorganges ein Erinnerungsbild in den Zentren des Ber\u00fchrungsgef\u00fchles hervorgerufen ist, so gen\u00fcgt es, dieses ins Bewufstsein zu rufen, damit sich der Mund mit Speichel f\u00fcllt, auch ohne dafs die Nervenendk\u00f6rperchen von dem trockenen Nahrungsmittel ber\u00fchrt werden. Wenn nun dieses Erinnerungsbild nicht auf die gleiche Weise hervorgerufen wird, wie es entstanden ist, wenn es nicht gleichzeitig von dem Wunsche nach Nahrungszufuhr begleitet ist, wenn der Appetit nicht lebhaft die Erinnerung an Kaubewegungen hervorruft, so bleibt das Erinnerungsbild dieser Ber\u00fchrung in dem Zentrum, wo dieses Gef\u00fchl aufgenommen wurde, liegen und pflanzt sich nicht auf das Sekretionszentrum fort; denn dieser Eindruck ist ja nur eins der vielen Elemente des zusammengesetzten Vorganges, aus denen die psychische Speichelabsonderung sich zusammensetzt und nur der Zusammenschlufs aller dieser Elemente vermag letztere hervorzurufen. Die beschriebene Einheit zwischen der Ber\u00fchrungsempfindung und der Speichelsekretion kommt auf gleiche Weise bei allen \u00e4ufseren Eindr\u00fccken zustande, die als Kennzeichen eines Nahrungsmittels die Anwesenheit dessen an-zeigen, was man zu sich zu nehmen w\u00fcnscht. Es belehrt nun das eine oder das andere Mal die Erfahrung dar\u00fcber, dafs dieser Wunsch infolge gewisser mechanischer Schwierigkeiten, die mittels einer geeigneten Einspeichelung zu beseitigen sind, nicht befriedigt werden kann. Hieraus leitet sich die Anpassung der Sekretion an die physikalischen Bedingungen des K\u00f6rpers her. So kommen im Ged\u00e4chtnis eine unendliche Zahl Erinnerungsbilder zustande, durch die kollaterale Verbindungswege zwischen\nZeitsclir. f. Sinnesphysiol. 45.\t16","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nR. Turr\u00f4.\nden Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t und denen der Speicheldr\u00fcsen gebaut werden. Infolge dieser vorhergehenden Arbeit oder T\u00e4tigkeit der Erfahrungen l\u00e4uft dem Tier beim Erkennen des Nahrungsmittels mit Hilfe seiner \u00e4ufseren Kennzeichen das Wasser im Munde zusammen, weil es durch sein Ged\u00e4chtnis weifs, dafs es auf diese Weise dazu kommen wird, das zu sich zu nehmen, was es in einer grofsen Anzahl von F\u00e4llen nicht erlangen kann.\nPawlow hat diese Sekretionsreflexe bedingte Reflexe genannt, weil der Reiz von der zentripetalen auf die zentrifugale Bahn mittels einer bestimmten zentralen Arbeit oder T\u00e4tigkeit \u00fcbertragen wird. Vom physiologischen Standpunkt aus enthalten diese Reflexe etwas Anormales, denn in den gew\u00f6hnlichen Reflexen folgt immer die zentrifugale der zentripetalen T\u00e4tigkeit. Dagegen sehen wir hier, wie die Folge oder Nichtfolge von einem zustande gekommenen Prozefs vorz\u00fcglich abh\u00e4ngt, d. h. von einem Erinnerungsbild. Man k\u00f6nnte sagen, dafs gerade dieses Erinnerungsbild den Weg festlegt, den die zentripetale Reizung zu durchlaufen hat. Ist dieser nun nicht vorher ausgeschliffen, oder durch die augenblickliche T\u00e4tigkeit blockiert, so fehlt der Reizung der Weg, der sie zum Innervationszentrum f\u00fchren sollte. Pawlow und seine Sch\u00fcler haben das Vorhandensein bedingter Reflexe experimentell gl\u00e4nzend nachgewiesen. Es gen\u00fcgt, dafs bei Hunden irgend eine \u00e4ufsere Einwirkung, eine gewisse Anzahl von Malen, die zwischen 10 und 100 zu variieren pflegt, und der Anblick der Mahlzeit gleichzeitig auftritt, um, sowie sich eine trophische Erfahrung in obenbeschriebener Weise bildet, einen interneuronalen Zusammenhang zwischen dem sensorischen Zentrum und der erw\u00e4hnten Sekretion herzustellen und diese zu beeinflussen. Der Klang einer Glocke, Pfeifen, Kamphergeruch, eine W\u00e4rmeempfindung, eine rote Farbe usw. k\u00fcndigt dem Hund das Erscheinen der Mahlzeit durch einen vorgebildeten zentralen Vorgang an, und da dieser Eindruck als ein Zeichen des Nahrungsmittels auf-gefafst wird, so ruft er automatisch Speichelflufs hervor. Das Ged\u00e4chtnis an diese Zeichen ist ein sehr festes. Auch wenn man sie nicht mehr \u00fcbt, halten sie sich auf einen Zeitraum von 2 \u2014 9 Monaten. Boldyreff beobachtete, wenn er ein Tier an einer bestimmten Hautstelle kratzte und gleichzeitig die Nahrung anbot, dafs die Empfindung dieses als Zeichen derselben auf-","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n251\nfafste und bei gen\u00fcgend h\u00e4ufiger Wiederholung Speichelflufs erzielt wurde. Wenn aber statt dieser Stelle eine andere gekratzt wurde, so trat die Erscheinung nicht auf. Diese f\u00fcr die Tastempfindung offenkundige Lokalisation l\u00e4fst sich f\u00fcr das W\u00e4rmegef\u00fchl nicht in gleicher Weise zeigen. Letzteres wird vielmehr nach seinem qualitativen Werte als Zeichen der Mahlzeit auf-gefafst, unabh\u00e4ngig * von dem Orte seines Zustandekommens. H\u00f6reindr\u00fccke bleiben auf die Hunde erfolglos, wenn sie 1jA Ton h\u00f6her oder niedriger sind, gerade als wenn sie das eine Mal ein unterschiedliches oder wohlbekanntes Zeichen darb\u00f6ten, das andere Mal nicht. Ohne Zwang kann man annehmen, dafs das von der Intelligenz der Tiere abh\u00e4ngig sein kann, denn selbstverst\u00e4ndlich k\u00f6nnen leicht die nur durch eine geringe Verschiedenheit der H\u00f6he sich unterscheidenden Zeichen f\u00fcr \u00e4hnlich gehalten werden. So hat Krasrogarski in geistvoller Weise gezeigt, dafs die Speicheldr\u00fcsen von Kindern \u00fcber 6 Jahren auf alle T\u00f6ne der Tonleiter reagieren.\nFassen wir zusammen, so k\u00f6nnen wir sagen, die psychische Speichelsekretion ist ein Werk der Erfahrung. Auf dieselbe Weise wie in einer weit zur\u00fcckliegenden Zeit das Kind den Zellhunger stillt, ohne zu wissen womit, da es die K\u00f6rper nicht kennt, die diese Eigenschaft besitzen, bis es durch unterschiedliche und bestimmte Empfindungseindr\u00fccke sie schliefslich erkennt, so gibt es auch einen Zeitabschnitt, in dem das Schlucken und sogar das Kauen durch bestimmte physikalische Eigenschaften der Nahrung gehindert oder erschwert werden. Der Wunsch nach ihrer Einf\u00fchrung besteht nun als eine brutale Forderung des Organismus fort und da sich die Anwesenheit des Nahrungsmittels in der Mundh\u00f6hle durch W\u00e4rme-, Ber\u00fchrungs-, Geschmacks- und Geruchsempfindung kundgibt, so ist es nicht erstaunlich, dafs diese Kennzeichen eines Gegenstandes, der nicht eingef\u00fchrt werden kann, auf Nebenwegen von fern auf das Innervationszentrum der Dr\u00fcsen einwirken. Damit ist ein Problem aufgestellt, das allein die \u00dcberlegung oder empirische Unterweisung l\u00f6sen kann: welche Innervations menge entspricht der n\u00f6tigen zentripetalen Erregungsmenge, um den K\u00f6rper geschmeidig zu machen und sein Herabgleiten zu erleichtern? Einzig durch den Versuch kann diese Anpassung zustande kommen und so ist die Folge, dafs schliefslich eine enorme Menge von Erinnerungsbildern im Ged\u00e4chtnis aufgespeichert\n16*","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nR. Turr\u00f4.\nwerden. Werden diese nun durch die Anwesenheit der die er-sehnten Nahrungsmittel darstellenden Kennzeichen in T\u00e4tigkeit gesetzt, so sondern die Speicheldr\u00fcsen ihren Saft in bewunderungsw\u00fcrdiger Weise ab, gerade als ob man von Geburt aus ahnte, dafs diese Sekretion f\u00fcr den mechanischen Vorgang des Schluckens notwendig ist, w\u00e4hrend in Wirklichkeit nichts davon bekannt ist, wann das Kind zur Welt kommt. Solche Erfahrungen werden wie immer durch eine induktive Arbeit geleistet. Induzieren heilst die Beziehung aufdecken, die sich zwischen zwei isolierten Vorg\u00e4ngen bilden kann. Zwischen den Empfangszentren der \u00e4ufseren Eindr\u00fccke und dem Kern oder den aufnehmenden Kernen der von den Dr\u00fcsen unabh\u00e4ngigen peripheren Reize existiert keine bei der Geburt vorgebildete Beziehung. Es bildet sich diese durch die Erfahrung oder h\u00e4ufige Wiederholung der Vorg\u00e4nge. Auf diese Weise entstehen genetisch bedingte Reflexe, die das Tier lehren, den Speichel als ein Hilfsmittel zur Einf\u00fchrung der gew\u00fcnschten Nahrung zu benutzen. Die trophischen Bed\u00fcrfnisse fordern diese Belehrung in unabweisbarer Form. Im Grunde ist diese Unterweisung dieselbe, wie der Vorgang, auf Grund dessen man im Geiste die zum Heben eines Gewichtes oder zum \u00dcberspringen einer Entfernung n\u00f6tige Kraft vorher abmifst. Auch dieses Bewegungsbild ist nicht angeboren oder spontan, sondern die I nicht vieler Versuche. Je mehr wir uns n\u00e4mlich \u00fcben, Gewichte zu heben oder zu springen, desto besser verm\u00f6gen wir die aufzuwendende Muskelenergie dem Gewicht oder der zu \u00fcberspringenden Entfernung anzupassen. Ebenso leitet sich von Versuchen die Tatsache her, dafs wir bei der Ber\u00fchrungsempfindung einer 8 Tage alten Brotkante eine ganz unterschiedliche Menge Speichel absondern, als bei einer nur zwei Tage alten. Der Selbstbetrachtung ist es nicht m\u00f6glich im Bewufstsem die Erinnerungsbilder dieser zahllosen Erfahrungen Schritt f\u00fcr Schritt hervorzubringen, wie wir es bis zu einem gewissen Grade mit der Kraft k\u00f6nnen. Denn diese niedere Einsicht ist dunkler als die, die sich in h\u00f6heren Stadien abwickelt. Aber darum kann man nicht sagen, dafs die in dieser h\u00f6heren Sph\u00e4re sich abspielenden Vorg\u00e4nge andere sind, als die, welche in niederen Stadien verlaufen.\nWenn man sagt, die Tiere kennten aus Instinkt, was ihnen schaden oder n\u00fctzen k\u00f6nnte, so redet man der Worte halber. Die Entstehung dieser Erkenntnis ist eine induktive, wenn auch","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n253\ndie Auseinandersetzung der logischen Vorg\u00e4nge, aus denen sie sich herleitet, schwer sein mag. Die Nahrungsmittel, von deren Wirksamkeit die Person \u00fcberzeugt ist, werden mit einem unaussprechlichen Wohlgefallen gekaut und eingespeichelt ; wenn aber pl\u00f6tzlich ein unerwartetes Gef\u00fchl, ein anormaler Geschmack, ein bekannter Geruch die Erinnerung an eine Nahrung erweckt, die sich als sch\u00e4dlich f\u00fcr den Organismus erwies, so f\u00fchlt sich die Person \u2014 gleichg\u00fcltig, ob das Urteil richtig oder falsch war, und ohne dar\u00fcber nachdenken zu m\u00fcssen \u2014 veranlafst, den Nahrungsbissen weit auszuspucken und den Mund durch reichlichen Speichelflufs zu reinigen. Dieses niedere Verst\u00e4ndnis, das aus der Organisation der trophischen Erfahrungen sich immer herleitet, wirkt in gleicher Weise auf die Innervationszentren der Speichelabsonderung, wenn sie das Schlucken eines Bissens erleichtern sollen, als wenn man ihn ausspucken will, weil man an seinen Qualit\u00e4ten zweifelt. Da die Erinnerung fortbesteht, obwohl er ja schon ausgespuckt ist, so wird auch weiter Speichel abgesondert und mit einer Beharrlichkeit gespieen, die anzeigt, bis zu welchem Grade die Erinnerung an etwas Sch\u00e4dliches im Bewufstsein lebendig ist. Scharfsinnig bemerkt Pawlow, dafs das Gef\u00fchl des Abscheus, das bei vielen Personen der Anblick des Speichels erregt, vielleicht denselben Ursprung hat.\nBekannt sind der Einflufs einer sauren oder brennenden Fl\u00fcssigkeit auf die Glandula submaxillaris. Es scheint, als ob die Person die \u00dcberzeugung h\u00e4tte, dafs sie das erstere neutralisieren, letzteres verd\u00fcnnen m\u00fcfste, um ihrer Wirkung entgegen zu arbeiten. Es ist klar, dafs eine Reizung im Bewufstsein gebieterisch verlangt, auf diese Weise vorzugehen. Wenn man sich aber durch das Zusammentreffen unz\u00e4hliger Erfahrungen nicht davon \u00fcberzeugt h\u00e4tte, dafs man auf diese Weise allei n zum gew\u00fcnschten Ziel kommt, w\u00fcrde die geschilderte Anpassung intellektueller Natur nicht statthaben. Auf der Zunge eines Hundes bildet sich w\u00e4hrend einer reinen Milchern\u00e4hrung eine saure Fl\u00fcssigkeit. Vergleicht man nun die dadurch hervorgerufene Speichelabsonderung mit der eines Erwachsenen, der denselben Bedingungen unterworfen wird, so kann man sich \u00fcberzeugen, dafs ersterer nicht adaptiert ist im Gegensatz zu letzterem, der so vorgeht, als ob er eine Vorstellung davon h\u00e4tte, dafs er etwas tun m\u00fcfste, um sich gegen die angreifende Substanz zu wehren. Es ist eine naheliegendeVermutung, auch wenn man","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nit. Turr\u00f4.\ndas nicht experimentell nachgewiesen hat, dafs alle bedingten Reflexe f\u00fcr die Speichelsekretion geradeso, wie sie das charakteristische Bild der Nahrung hervorrufen, auch eine Abwehrsekretion veranlassen, wenn sie in dem Vorstellungsbild etwas Sch\u00e4dliches entdecken. Es gen\u00fcgt ferner die Erinnerung an ein verdorbenes oder sch\u00e4dliches Nahrungsmittel,um die zentrale Innervation der Speicheldr\u00fcsen zur Abwehrreaktion zu veranlassen. Wie bei den bedingten Reflexen nur die Erinnerung einer erw\u00fcnschten Sache hervorgerufen zu werden braucht, so ist es eine logische Folgerung, anzunehmen, dafs das Erwecken der Vorstellung einer abneigung- oder abscheuerregenden Sache auf die Speichelsekretion ebenso wirken wird, wie jetzt bei der Abwehrreaktion.\nEie Abh\u00e4ngigkeit der Sekretion der Speicheldr\u00fcsen von den trophischen Erfahrungen des betreffenden Individuums ist noch deutlicher in Hinsicht auf die Magensekretion. Die aktive Kongestion der Magenschleimhaut, ihre vermehrte sekretorische T\u00e4tigkeit und ihre motorische Anpassung an den Inhalt der Nahrung sind durch eine zentrale Innervation bedingt, die ihrerseits durch die Summe der Erfahrungen gebildet wird, und das deckt sich mit dem, was man unter dem Namen Appetit versteht. Die inneren Magenw\u00e4nde bleiben trocken, solange Hunger herrscht ; sie werden erst feucht, wenn die \u00e4ufseren Empfindungen die Anwesenheit des Nahrungsmittels anzeigen. Bei dem Experiment der f\u00fcr die Wissenschaft so fruchtbaren fingierten Mahlzeit rufen ausschliefslich die \u00e4ufseren Bilder, die nach fr\u00fcheren Erfahrungen als Repr\u00e4sentanten eines Nahrungsmittels angesehen werden k\u00f6nnen, Sekretion hervor. Die \u00fcbrigen bleiben ohne Erfolg. Diese Absonderung steht in bestimmtem Verh\u00e4ltnis zur St\u00e4rke der trophischen Appetenz derartig, dafs dasselbe Nahrungsmittel eine gr\u00f6fsere oder kleinere Menge Verdauungsfl\u00fcssigkeit zeitigt, je nachdem man es mehr oder weniger herbeisehnt.\n\u201eWenn man ein Tier\u201c, sagt Pawlow, \u201eeinem 2-3 t\u00e4gigen Fasten unterwirft und ihm dann bei dem Experiment der fingierten Mahlzeit irgend ein beliebiges Nahrungsmittel (rohes oder gekochtes Fleisch, Eiweifs usw.) darreicht, so erhalten wir immer eine reichliche Absonderung von Magensaft. Wenn aber der Hund nicht vorher dem Fasten unterworfen ist, sondern seine fingierte Mahlzeit 15 oder 20 Stunden nach seiner letzten F\u00fctterung bekommt, so verh\u00e4lt er sich so, als wenn er die ein-","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Die 'physiologische Psychologie des Hungers.\n255\ngef\u00fchrten Nahrungsmittel vollkommen kennte. Seine Gier ist gr\u00f6fser nach dem einen wie nach dem anderen, und einige lassen ihn ganz gleichg\u00fcltig. Die Qualit\u00e4ten und die Menge des abgesonderten Saftes stehen mit diesen Tatsachen im Einklang. Je gr\u00f6fser die Gier ist, mit der das Tier frifst, um so gehaltvoller an Verdauungsverm\u00f6gen und um so reichlicher ist auch der Saft. Der gr\u00f6fste Teil der Hunde zieht Fleisch dem Brot vor; aus diesem Grunde sehen wir, dafs die Absonderung bei Brotnahrung weniger reichlich und von geringem Verdauungsverm\u00f6gen ist, als wenn man sie mit Fleisch f\u00fcttert. Zweifellos gibt es aber F\u00e4lle, in denen die Hunde Brot mehr lieben wie Fleisch, und dann erweist sich auch die Verdauungskraft und die Menge des abgesonderten Magensaftes unter dem Einfl\u00fcsse dieser fingierten Mahlzeit gr\u00f6fser, als bei Fleischnahrung. Reicht man einem Hunde gekochtes Fleisch in bestimmten Zeitabschnitten in kleinen St\u00fccken dar, so kann man beobachten, dafs er sich gar nicht mit Gier auf sie st\u00fcrzt und nach 10\u201415 Minuten sieht man, dafs selbst beim Anbieten nicht mehr zugreift. Parallel damit geht die Magensekretion nicht auf einmal vor sich, sondern in Zwischenr\u00e4umen, die sich mehr und mehr vergr\u00f6fsern, bis die Sekretion ganz gering wird. Wartet man nun ab, bis sie vollst\u00e4ndig verschwunden ist oder besser bis zum n\u00e4chsten Morgen und gibt dann demselben Hunde St\u00fccke rohen Fleisches von gleichem Gewichte und in bestimmten Zwischenr\u00e4umen, verh\u00e4lt sich \u00fcberhaupt in jeder Beziehung wie bei der Darreichung des gekochten Fleisches, so beginnt die Magensekretion genau nach 5 Minuten und h\u00e4lt sehr reichlich an, denn das rohe Fleisch schmeckt dem Tier auch viel besser, und darum frifst es stundenlang an seinem fingierten Futter. Bei dem anderen Hunde, der gekochtes Fleisch dem rohen vorzieht, geht alles umgekehrt vor sich. Br\u00fche, Suppe, Milch, alles Nahrungsmittel, f\u00fcr die die Hunde gew\u00f6hnlich weniger Vorliebe zeigen als f\u00fcr die kompakteren Sachen, rufen, wenn sie bei der fingierten Mahlzeit angeboten werden, nicht die geringste Absonderung hervor, und wenn \u00fcberhaupt Saft erscheint, ist es in sehr geringer Menge und nur deshalb, weil die Br\u00fche beispielsweise an die Geschmacksqualit\u00e4ten des Fleisches erinnert.\u201c\nMan entnimmt den eben skizzierten Beobachtungen des grofsen russischen Physiologen ganz klar, dafs die Gier oder der Hunger, den das Tier f\u00fcr die anwesenden Nahrungsmittel zeigt,","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nR. Turr\u00f4.\nnicht von ihrem tats\u00e4chlichen N\u00e4hrwert abh\u00e4ngt, sondern von dem durch fr\u00fchere Erfahrung festgelegten. Aus diesem Grunde sagen wir mit Recht, dafs ein Nahrungsmittel, so gut es auch an sich sein mag, f\u00fcr den, der sich nicht entschliefst es zu probieren, ein unn\u00fctzer K\u00f6rper ist. Diese empirische Wahrheit erreicht die St\u00e4rke eines Experimentalbeweises, wenn man sie in der Beleuchtung der PAWLOwschen Entdeckungen untersucht. Das rohe oder gekochte Fleisch, dessen N\u00e4hrkoeffizient augenscheinlich der gleiche ist, ruft eine grofse oder kleine Menge Saft hervor, je nachdem dieser Koeffizient eingesch\u00e4tzt wird. Wenn diese Kenntnis fehlt, so tritt kein Erfolg auf das Zentrum der Magen Sekretion ein; ist sie undeutlich, so ist der Effekt ein schwacher; wenn man aber h\u00e4ufig gekostet hat und das Erinnerungsbild des Nutzens lebhaft im Ged\u00e4chtnis bewahrt, so ruft die Zellerregung, wann sie jenes erweckt, oder in den Rahmen der Eindr\u00fccke, durch die die Anwesenheit des jenen Effekt hervorrufenden K\u00f6rpers erkannt wird, einf\u00fcgt, einen lebhaften Appetit hervor. Damit tritt eine Magensaftabsonderung auf, die jener ange-pafst ist und deren Verdauungsverm\u00f6gen entsprechend gr\u00f6fser ist. Genau das gleiche beobachten wir beim Brot, Eiern usw., immer k\u00f6nnen wir feststellen, dafs der Magensaft sich quantitativ und qualitativ nicht der Natur des Nahrungsmittels anpafst, sondern dem, was man \u00fcber seine Natur durch fr\u00fchere Erfahrungen sich zurechtgelegt hat. Diese Kenntnis wird einerseits durch die trophischen Eindr\u00fccke und andererseits durch die Sinnesempfindungen hervorgerufen, die die Anwesenheit dessen anzeigen, was jene verursacht, sei das nun ein Ton, ein Licht, eine Ber\u00fchrung oder eine Zusammensetzung verschiedener Bilder, die einzig diesem Effekt entsprechen und keinem anderen. Kommt in diesem Rahmen eine Ver\u00e4nderung zustande, so schwankt die Person und w\u00e4hrend sie durch das Gesicht und das Gef\u00fchl beispielsweise sich zu dem Glauben veranlafst sieht, dafs sie nicht das vor sich hat, dessen trophischen Effekt sie kennt, ruft der Geruch die gegenteilige Ansicht hervor. Das ist die Lage des Hundes vor der Br\u00fche. Am Geschmack und Geruch erkennt er die trophischen Eigenschaften des Fleisches, aber das Ber\u00fchrungs- und W\u00e4rmegef\u00fchl, sowie das Gesichtsbild sind so verschieden von den fr\u00fcheren, dafs er zweifelt und nicht weifs, welche Partei er ergreifen soll. L\u00e4fst er sich dureh Geruch oder Geschmack verf\u00fchren zu kosten, so wird er das vermutlich auch","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Die 'physiologische Psychologie des Hungers.\n257\n\u00f6fter wiederholen und so wird er in einem gegebenen Augenblick die Br\u00fche ebenso leidenschaftlich begehren wie das Fleisch. Bei dieser Anpassung benimmt sich der Hund, als wenn er eine Vorstellung davon h\u00e4tte, welche Menge Saft er auf die Nahrungsmittel abzusondern hat, damit der Magen seine verdauende Arbeit unter g\u00fcnstigen Bedingungen aufnehmen kann, genau, wie er bei der Einspeichelung auch verfuhr, als w\u00fcfste er die Speichelmenge, die notwendig war, um bestimmte K\u00f6rper geschmeidig zu machen und ihr Herabgleiten zu erleichtern. W\u00fcnscht man die Einf\u00fchrung von 100 g Fleisch, so ergiefst sich unter dem Einflufs einer psychischen T\u00e4tigkeit in die Magenh\u00f6hle eine gr\u00f6fsere Menge Verdauungssaft, als abgesondert wird, wenn man nur 50 g einzuf\u00fchren w\u00fcnscht. Und zu diesem Zweck brauchen die beiden Mengen nicht einmal wirklich in den Magen eingef\u00fchrt zu werden: es gen\u00fcgt, sie sich vorzustellen. Woher weifs nun das Tier, dafs 100 g mehr sind wie 50 und dafs der anf\u00e4ngliche Antrieb, den es dem Eingeweide zuzuerteilen hat, f\u00fcr die erste Menge zur Verdauung gr\u00f6fser sein mufs, als f\u00fcr die zweite. Zweifellos ist die bestimmende Grundlage dieses sekretorischen Ph\u00e4nomens keine periphere, sondern eine zentrale und so sehen wir, dafs bei allen Nahrungsmitteln, die das Tier kennt, mit dem gleichen Verst\u00e4ndnis vorgegangen wird, das es nicht ebenso in Anwendung bringen kann, wenn es sie nicht kennt oder ungen\u00fcgend probiert hat. Es ist offenkundig, dafs diese zentrale T\u00e4tigkeit nicht angeboren, sondern eine Folge der Erfahrung oder Unterweisung ist. Auf Grund welcher Erfahrung pafst sich nun der psychische Saft den bekannten Nahrungsmitteln an, w\u00e4hrend dies bei solchen nicht eintritt, die noch nicht versucht worden sind?\nEs gibt viel Merkw\u00fcrdiges bei der psychischen Anpassung der Speichelsekretion an die physikalischen Bedingungen der zu schluckenden K\u00f6rper, w\u00e4hrend wir doch noch gar nicht das Interesse kennen, das das Wesen hat, den Schluckakt auszuf\u00fchren. Das Interesse leitet sich aus der Kenntnis her. Es \u00fcberrascht aber doch, dafs der psychogene Saft sich dem Appetit anpafst, solange wir das zwischen dem Zentrum der Magensekretion und dem Verlangen zu essen bestehende Band noch nicht gefunden haben. Es gen\u00fcgt aber, diese mechanische Verkn\u00fcpfung klarzustellen, und der Fall wird uns nicht mehr wunderbar erscheinen. Das Wunderbare geht dann in einen nat\u00fcrlichen Vor-","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nR. Turr\u00f4.\ngang \u00fcber, wenn man den bestimmenden Mechanismus kennt. Wir wollen also sehen, wie der Mechanismus dieser Anpassung vor sich gehen rnufs.\nMit einer Reichhaltigkeit von Experimenten, die jeden Widerstand beseitigt, hat Pawlow gezeigt, dafs die peripheren Enden der Magenschleimhautnerven nur auf ihnen eigene oder spezifische Reizungen des Mediums, in das sie eingepflanzt sind, reagieren, w\u00e4hrend sie gegen jede physikalische oder mechanische Reizung unempfindlich bleiben. Die Hypothese von der funktioneilen Indifferenz der Nerven der organischen Sensibilit\u00e4t ist nicht haltbar. Unabh\u00e4ngig von jeder zentralen T\u00e4tigkeit reagiert der Magen, wenn man ihn bestimmten Reizen aussetzt, ihnen gegen\u00fcber, je nach ihrer Eigent\u00fcmlichkeit, mehr oder minder, und bleibt f\u00fcr andere ganz unempfindlich. So sehen wir, dafs das Wasser, die Extraktivstoffe des Fleisches, Pepton usw. die sekretorische Sensibilit\u00e4t reizen, wie der Druck die MEissxERschen K\u00f6rperchen, die Schallwellen den Akustikus, w\u00e4hrend St\u00e4rke, die Mehrzahl der mineralischen Zusammensetzungen usw. ihn ebensowenig beeinflussen, wie die physikalische Reizung. Setzen wir diese Bedingungen der Magensensibilit\u00e4t voraus, die hinreichend bekannt sind, um hier n\u00e4her auf sie einzugehen, so ersieht man klar, dafs die Parotiden, die Submaxillar- und Sublingualdr\u00fcsen infolge der besonderen Natur des Mediums in entsprechend besonderer Weise die in ihnen enthaltenen Nervenendigungen reizen und im Bewufstsein ein Zentrum schaffen, das auf diese spezifischen Reize anspricht und wahrscheinlich in Verbindung mit anderen niederen Zentren steht. Ebenso schafft die Magensensibilit\u00e4t f\u00fcr diese Reizung-spezifische und nur auf jene reagierende Empfangszentren, deren Lage wir nicht kennen und ferner einen zentralen Empfangskern, indem sie zum Bewufstsein kommen. Wenn wir also sagen, der Appetit l\u00f6st auf den Magen einen sekretorischen Reflex aus, so schafft er in Wirklichkeit nicht eine neue Funktion im Bewufstsein, er wirkt vielmehr auf eine Funktion, die schon durch die peripheren Reize, denen er seinen Ursprung verdankt, geschaffen ist.\nDie durch manchen \u00e4ufseren Einflufs unterst\u00fctzte Magensekretion ist bestrebt, sich quantitativ und qualitativ der Natur des Nahrungsinhaltes anzupassen, wie sich eben \u00e4ufsere Reize in ihrer zentrifugalen T\u00e4tigkeit an die zentripetale anlehnen. Wir","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n259\nbrauchen das Wort \u201e\u00e4ufsere\u201c in dem Sinne Pawlows. Geradeso, wie also der Magen das durch eine Fistel in seine H\u00f6hlung gebrachte Fleisch verdaut, weil es die nat\u00fcrlichen Reize enth\u00e4lt, denen die Sekretion gehorcht, so bringt das S\u00e4ugetier w\u00e4hrend seiner ersten Mahlzeiten, wenn es noch blind zugreift, oder das V\u00f6gelchen, das die Grashalme oder Fleischst\u00fccke einf\u00fchrt, die seine Mutter ihm in den Schnabel legt, seinen Magen unter dieselben Bedingungen, die wir eben auseinandergesetzt haben, obwohl diese Tiere noch gar nicht die Zeichen kennen, durch die der Hunger seine Anwesenheit verr\u00e4t. Wie wir sp\u00e4ter sehen werden, ist es eine unabweisbar wahre Tatsache, dafs, wenn auch das Tier die Form verkennt, unter der es sich das Eingef\u00fchrte vorzustellen hat, der Magen die Anwesenheit des Ein gef\u00fchrten im Bewufstsein anzeigt. Wie wir bei der Beschreibung des ersten Stadiums der trophischen Erfahrung auseinandergesetzt haben, sind nat\u00fcrlich auch die \u00e4ufseren Eindr\u00fccke als Anzeichen der betreffenden Sache wertvoll, die die Magenempfindung kund gibt, um der Person die Kenntnis von ihrer Anwesenheit schon in einem fr\u00fcheren Augenblick zu geben ; und so kommt es, dafs durch das Zusammentreffen einer Reihe sensorischer Eindr\u00fccke, die f\u00fcr die zur Stillung des Hungers fehlende Substanz charakteristisch sind, ihre Anwesenheit schon zur Kenntnis gelangt, bevor der Magen sie als anwesend anzeigt. Setzen wir dieses Band und diese Folge der Erscheinung voraus, so dr\u00e4ngt alles zu dem Schlufs, dafs der Magen das als anwesend kundgibt, was die trophische Sensibilit\u00e4t als abwesend angezeigt hat. Fehlen nun die charakteristischen Bilder des Nahrungsmittels, so fehlt auch das vermittelnde Band, das logischerweise die trophischen W\u00fcnsche mit ihrer Erf\u00fcllung verbindet. Trotzdem kann in diesen F\u00e4llen der Hunger zum Stillstand kommen, aber die Person weifs nicht, dafs sie ihn gestillt hat und auf welchem Wege sie dazu gelangt ist. F\u00fchrt man in den Magen eines Hundes durch eine Fistel 200 g zerschnittenen Fleisches nach 2- oder ot\u00e4gigem Fasten ein, so ist das Tier nach der Operation wie durch ein Wunder von dem st\u00f6renden Hunger befreit. Es gibt sich keine Rechenschaft dar\u00fcber, was vor sich gegangen ist, weil in seinem Bewufstsein der vermittelnde Bestandteil der beiden Vorg\u00e4nge fehlt. Andererseits, wenn das Tier die Anwesenheit des Fleisches durch seinen Geruch, seinen Geschmack, das zarte Ber\u00fchrungsgef\u00fchl, durch willk\u00fcrliche Bewegungen beim","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nIi. Turr\u00f4.\nKauen und Verschlingen im voraus erkannt hat, so gibt es sich logischerweise davon Rechenschaft, dafs das, was seine Gef\u00fchle auf diese Weise beeinflufste, dasselbe ist, was der Magen im Be-wufstsein als anwesend gezeigt hat. Geradeso wie die harte Nahrung in der offenkundigen Absicht eingespeichelt wird, sie zu verschlingen, so entstehen und erstarken die Vorstellungsbilder mit der trophischen Notwendigkeit durch die logische Absicht, aus der der Effekt auf den Magen hervorgeht; und mit ihrer Hilfe entsteht das Vorgef\u00fchl der Nahrung.\nWir m\u00fcssen also schliefsen, dafs das, was die Dauer und die Hartn\u00e4ckigkeit der Vorstellungsbilder veranlafst, die trophische Gier, der Zellhunger ist. Wir haben an seiner Stelle gesagt, dafs sich die Menge des Eingef\u00fchrten durch die Nahrungsmenge regelt, die der Gewebssaft liefert. Mag der chemische N\u00e4hrwert sein wie er wolle, das psychotrophische Bewufstsein kennt von diesem Wert nur das, was es von ihm bei der Regenerierung des Gewebssaftes gebraucht hat und die Elemente, die es dem Zellk\u00f6rper zur Wiederherstellung seiner Verluste darreichen mufste. Daher kommt es, dafs der Hund, der die guten Erfolge des Fleisches zu wiederholten Malen ausprobiert hat, die Erinnerung an sie in seinem Ged\u00e4chtnis bewahrt und sobald die Zellreizung dieses Erinnerungsbild weckt, tritt es mit einer bestimmten St\u00e4rke auf, die sich nach den Verlusten des Gewebssaftes an allen den Produkten richtet, welche seine Nahrungsmenge ein andermal ges\u00e4ttigt hat. So bildet sich in dem trophischen Verst\u00e4ndnis ein Mafs, eine gewisse Absch\u00e4tzung f\u00fcr den Appetit auf Fleisch. Umgekehrt tritt dasselbe beim Brot nicht auf, wenn es nur wenige Male gekostet worden ist. In diesem Falle sind die Erinnerungsbilder unsicher, wenig genau und die Person ist im unklaren, welche Menge Nahrung sie sich abmessen soll, um die Bed\u00fcrfnisse des Gewebssaftes zu decken.\nIst durch die trophische Appetenz die Zufuhrmenge festgesetzt, so zeigt ihre \u00e4ufsere Anwesenheit sich durch die Vorstellungsbilder an, unter denen wir sie kennen, seine innere durch die Magenempfindungen, die sie im Bewufstsein kund geben. Der Geschmack, der Geruch, das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl, die W\u00e4rmeempfindung, unter denen man das Fleisch kennt, wenn man dieses Nahrungsmittel vor sich hat, werden so lange anhalten, wie Zeit n\u00f6tig ist, um die durch die psychotrophischen Zentren festgelegte Menge aufzunehmen und wird nicht eher aufh\u00f6ren, als bis","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n261\nsie fertig eingef\u00fchrt sind, weil die Gier nicht nachl\u00e4fst, die zu ihrer Einf\u00fchrung Veranlassung gibt, so lange der Magen das Fleisch aufnimmt und dessen Anwesenheit im Bewufstsein kundgibt. Von diesen durch den \u00e4ufseren Reiz im Bewufstsein geschaffenen Bildern, deren Fortbestehen durch die Gier oder den Wunsch nach der Sache, die wir uns unter ihr vorstellen, geregelt wird, gehen Reizungen aus, die auf das psychische Zentrum der Mageninnervation wirken. Wie wir bei den bedingten Reflexen der Speichelsekretion gesehen haben, dafs die pr\u00e4existente Erinnerung einen Seitenweg einschlug, um an der auf dieses Zentrum wirkenden Reizung vorbeizukommen, so verwandeln sich auch die \u00e4ufseren sensorischen Zentren in Reiz-herde der zentralen Innervationen f\u00fcr die Magensekretion. Wenn wegen der durch die Zellreizung festgelegten Nahrungsmenge oder deren Gef\u00fchl der Antrieb zur Einf\u00fchrung von Fleisch mehr oder minder stark und nachhaltig ist, so werden auch die Vorstellungsbilder, mit denen diese Einfuhrmenge abgesch\u00e4tzt wird, lebhafter und l\u00e4nger dauern und die Reizungen auf das sekretorische Zentrum intensiver sein. Wenn umgekehrt die Einfuhrmenge beispielsweise bei dem nur selten gekosteten Brot ungenau festgesetzt ist, so ist auch der Trieb zur Fixierung der Vorstellungsbilder schwach und ungewifs. Darum greift das Tier voll Zweifel und Schwanken bald zu, l\u00e4fst dann wieder nach und der abgesonderte psychogene Saft pafst sich in seiner Kurve dieser Unsicherheit an. Zweifellos gew\u00f6hnt sich dieses Tier daran, Brot zu essen; die h\u00e4ufige Wiederholung der Vorg\u00e4nge schafft in seinen psychotrophischen Zentren einen Erinnerungszustand und wie sich das Bewufstsein des N\u00e4hrwertes festlegt, so entsteht auch mit ihnen die Kenntnis von der Menge, in der sie eingef\u00fchrt werden m\u00fcssen, um die n\u00f6tige Nahrungsmenge zu liefern, wie sie zu verschiedensten Malen ausprobiert worden ist. Erst dann ist der Zustand geschaffen, dafs der psychogene Saft beim blofsen Anblick sich in die Magenh\u00f6hle in qualitativ besserer Zusammensetzung und quantitativ in reichlicherer Menge ergiefst. Von dem extremen Fall, in dem das Brot ein ganz unbekanntes Nahrungsmittel darstellt, dessen Anblick nicht mehr Saft zeitigt als ein Kiesel, bis zu dem entgegengesetzten Fall, wo es die gr\u00f6fste Gier erweckt, liegt eine endlose Reihe von Anpassungsstadien an das, was man vom Brot durch die trophische Sensibilit\u00e4t weifs.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nR. Turr\u00f4.\nEs regelt sich also der Mechanismus, die Qualit\u00e4t und Quantit\u00e4t des psychogenen Magensaftes nach den Kenntnissen, die von dem N\u00e4hrwert der eingef\u00fchrten Menge vorher gesammelt worden sind.\nWir kommen damit zu der Hauptfrage der trophischen Erfahrung, zu ihrem objektiven Ende, zu dem logischen Schlufs, dem sie von Anfang an zustrebt und der in nichts anderem besteht als darin, den Hunger zu stillen. Die Erfahrung setzt von vornherein im Geiste die Menge der Elemente fest, die eingef\u00fchrt werden m\u00fcssen, um die Bed\u00fcrfnisse des Gewebssaftes zu decken, d. h. die Einfuhrmenge, die zu diesem Zweck n\u00f6tig ist. In gleicher Weise wie die Menge des psychogenen Saftes stellt die Erfahrung im voraus auch seine Verdauungskraft fest, die genau ausreicht, um diese Menge in einer Wise vorzubereiten, die dem anf\u00e4nglichen Antrieb des Zentrums auf den Magen entspricht. Die Eingeweide sollen z. B. 500 kg Futter oder 200 g Fleisch erhalten haben. Dann hat sich das Tier zuerst davon zu \u00fcberf\u00fchren, dafs es durch gewisse Zeichen jene und diese erkennen, dann dafs es durch Kauen und entsprechendes Einspeicheln sie herunterschlingen konnte und sp\u00e4ter durch den psychogenen Saft imstande war, seinen Auftrag durchzuf\u00fchren und so den Verdauungsprozefs durch einen ausschliefslich peripheren Reflex ohne Eingreifen irgendwelcher psychischer Momente zu beenden. Erst dann ist das Wesen befriedigt. Es hat seinen Vorsatz erreicht: der Hunger ist gestillt. Hier ruht nun das grofse Geheimnis: Warum ist der Hunger gestillt worden? Eine von den Bed\u00fcrfnissen des Gewebssaftes abh\u00e4ngige Zellreizung hat ihn in den psychotrophischen Zentren hervorgerufen und die dem Magen durch die Aufnahme zugebrachte Einfuhrmenge braucht viele Stunden, um in den Gewebssaft einzudringen und seine Bed\u00fcrfnisse zu s\u00e4ttigen. Ungeachtet alles dessen besteht die Tatsache, dafs der Hunger zur Ruhe kommt. Es scheint, dafs die Beruhigung durch eine \u00dcberlegung zustande kommt, die man etwa so formulieren k\u00f6nnte. Es ist bekannt, dafs die Substanzen, an denen der Organismus verarmt ist, a b c . . . n sind und dafs jede einen bestimmten Wert hat. Ebenso weifs man, dafs die eingef\u00fchrte Masse a b c ... n in der fehlenden Menge darbieten wird, weil wir es durch zahllose Erfahrungen ausgeprobt haben. So f\u00fchlt man den","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n263\n\u2022 \u2022\nHunger nicht mehr, weil man in der \u00dcberzeugung lebt, dafs dem Organismus das Fehlende dargeboten werden wird.\nIn dieser ganz willk\u00fcrlichen \u00dcberlegung steckt ein richtiger Kern. Nur in einem Punkt hinkt sie und das ist in folgendem. Der Pflanzenfresser, der sich 5 kg Futter oder der Fleischfresser , der sich 200 g Fleisch zumifst, wissen durch die sich im Bewufstsein kundgebenden experimentellen Daten, dafs sie mit dieser Menge die notwendige Nahrungsmenge des einen oder anderen decken. Nach unseren bisherigen Feststellungen kann er das aber erst wissen, wenn er die 5 kg oder 200 g des einen oder anderen Nahrungsmittels eingef\u00fchrt hat. Was zeigt nun die Empfindung dieser Absch\u00e4tzung im Bewufstsein an? Was regelt die Einfuhrmenge? Mit anderen Worten: Wenn die Nahrungsmenge die Einfuhrmenge festsetzt, auf welcher Grundlage regelt sich das Quantum dieser letzteren? Offenbar h\u00f6rt man doch zu essen auf, weil man keinen Hunger mehr hat. Untersucht man diese Frage aber genauer, so merkt man, dafs es sich nicht so, sondern gerade umgekehrt verh\u00e4lt. Man hat darum keinen Hunger mehr, weil im Bewufstsein etwasy das die Einfuhrmenge festsetzt, uns anzeigt, dafs wir genug gegessen haben.\nWas zeigt nun im Bewufstsein die Einfuhrmenge an? Beim Experiment der fingierten Mahlzeit, wo die Nahrung statt in den Magen eingef\u00fchrt zu werden, nach aufsen abgeht, frifst das Tier Stunden und Stunden wTeiter, ohne das Bewufstsein der Einfuhrmenge zu bekommen. Andererseits kommt unabh\u00e4ngig von jeder trophischen Erfahrung ein Augenblick, in dem sich das Tier ges\u00e4ttigt f\u00fchlt. Nach unseren vorigen Auseinandersetzungen weifs es nicht, wie dieser Zustandswechsel aufgetreten ist, aber die Tatsache besteht, der Hunger ist gestillt. Bei den bisher beschriebenen Vorg\u00e4ngen weifs das Tier, wie und auf welche Weise es seinen Hunger stillt. Hierzu merkt es sich bestimmte Zeichen, lernt zu kauen, einzuspeicheln, zu schlucken, Magensaft psychisch abzusondern, und bei allen diesen Vorg\u00e4ngen intellektueller Art verfolgt es keinen anderen Zw^eck als den, in seinem Magen einen Zustand zu schaffen, der im Bewufstsein als die Bezeichnung und die logische Folge dieses Prozesses erscheint. Zweifellos ruft dieser Zustand des Magens, wenn die Nahrungsmittel in sein Inneres eintreten, auf kunstvolle und unbekannte Art das Erl\u00f6schen des Hungers hervor. Nachdem das Bestehen dieses Ph\u00e4-","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nR. Turr\u00f4.\nnomens einmal eingesehen worden ist, geht jeder Prozefs der trophischen Erfahrung darauf aus, das Wiedererscheinen dieses Zustandes zu begr\u00fcnden oder hervorzurufen.\nTraut man der Selbstbeobachtung, deren Urteile infolge Unkenntnis der physiologischen Grundlagen willk\u00fcrlich zu sein pflegen, so k\u00f6nnte man glauben, dafs der Magen die Einfuhrmenge durch seinen mechanischen F\u00fcllungszustand abtaxiert. Diese Vermutung ist nicht zul\u00e4ssig, erstens weil nnn\u00fctze Substanzen den Hunger nicht stillen, ferner weil der Magen das Verschwinden des Hungers auf eine der Natur des Nahrungsmittels angepafste Weise veranlafst. So sehen wir, dafs, w\u00e4hrend 100 g Fleisch ihn stillen k\u00f6nnen, 100 g gekochter Reis oder Bohnen denselben Effekt nicht hervorrufen. Ohne leugnen zu wollen, dafs ein gewisses Schweregef\u00fchl bei der Entstehung dieses Ph\u00e4nomens mitwirkt, mufs man die Ursache doch in Reizungen chemischer Natur suchen. Nach der Menge und der Verdauungskraft des Magensaftes zu urteilen, unterscheidet die Magensensibilit\u00e4t peripher die Anwesenheit verschiedener Prinzipien, denen gegen\u00fcber sie sehr empfindlich ist. Anderen gegen\u00fcber verh\u00e4lt sie sich unempfindlich, wieder andere rufen einen Hemmungsreflex hervor. Ist aber die Verdauung durch die T\u00e4tigkeit des psychogenen Saftes, der auf alle Nahrungsmittel eine gleichm\u00e4fsige Wirkung aus\u00fcbt, einmal in Gang gekommen, so ist sie auch f\u00fcr die letzteren empfindlich. In diesem Punkte sind die Arbeiten der PAWLOwschen Schule sehr lehrreich. Alles veranlafst uns zu glauben, dafs die Magensensibilit\u00e4t durch ihre zentripetale T\u00e4tigkeit in diesem dunkelsten Bewufstsein, in das wir durch die Analysis nur schwer eindringen, die Anwesenheit der Nahrungsmittel qualitativ und in spezifischer Weise anzeigt. So kann man verstehen, dafs die an Gewicht und Volumen relativ kleine Menge Fleisch mit Brot verglichen uns ebenso oder mehr befriedigt als ihr zukommt. Sicherlich ist dies V\u00f6llegef\u00fchl nicht mechanischer Natur.\nFolglich verschwindet der Hunger in gleicher Weise, wenn die Nahrungsmittel bewufst und mit \u00dcberlegung, als wenn sie unbewufst zugef\u00fchrt werden. Da nun von diesem Augenblick an die funktionelle T\u00e4tigkeit aller psychotrophischer Zentren trotz des Bestehens der sie hervorrufenden Zellreizung aufh\u00f6rt, k\u00f6nnen wir dieses Ph\u00e4nomen nicht anders erkl\u00e4ren, als indem wir die Hypothese aufstellen, dafs die Magensensibilit\u00e4t eine","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n265\nreflektorische Hemmungswirkung auf jene aus\u00fcbt. In dem Mafse wie sich diese sp\u00e4tere T\u00e4tigkeit auf die vorhergehende T\u00e4tigkeit erstreckt und interneuronale Zusammenh\u00e4nge mit den Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t und den Innervationszentren der Magen- und Speichelsekretion herstellt, mufs man sich auch vorstellen, dafs die Dendritenzusammenh\u00e4nge, durch die die psychotrophischen Zentren mit den tieferen verbunden sind, sich voneinander l\u00f6sen, sobald der Magen anzeigt, dafs er seinen Vorsatz erreicht hat. Unter diesen Bedingungen lebt der Organismus auf eigene Kosten. Die Verluste des Gewebssaftes sind durch eine auf die mit Hilfe jener elektiv erregten niederen Zentren der Sensibilit\u00e4t ausge\u00fcbte Reflext\u00e4tigkeit gedeckt. Je mehr die Zellelemente verarmen, um so schwieriger wird der Ersatz des Gewebssaftes, bis in einem gegebenen Augenblick die Zellerregung immer h\u00f6here Zentren erreicht und dann erscheint in den psychotrophischen der Hunger und fordert die Nahrungsmenge, an der die Zellelemente verarmt sind, indem sie eines zur Deckung des anderen lieferten.\nDie Verkettung der einzelnen nerv\u00f6sen Reaktionen k\u00f6nnen wrir uns im einzelnen nur durch teleologische Betrachtungen erkl\u00e4ren. So schliefsen wir, dafs die \u00dcberf\u00fcllung der Cardia infolge \u00fcberm\u00e4fsigen Blutzuflusses den N. depressor reizt, eine vasodilatatorische Wirkung auf die grofsen Eiligeweidegef\u00e4fse auszu\u00fcben, um so den Strom einzud\u00e4mmen und den Blutdruck herabzusetzen. Ebenso erkl\u00e4ren wir, dafs die Zellreizung den Hunger weckt und dann die Reihe der Vorg\u00e4nge folgt, die dem Magen das Material zuf\u00fchren, das nach Ablauf einer gewissen Zeit seine Verluste ersetzen kann. Fragen wir uns, wieso sich die Zellreizung beruhigt, bevor die Nahrungsmenge die Verluste hat decken k\u00f6nnen, so stellen wir uns wieder eine Hemmungswirkung vor, die nach einmaliger Feststellung der Totalzufuhrmenge die von den niederen Zentren auf die h\u00f6heren ausge\u00fcbte T\u00e4tigkeit m\u00e4fsigt und zur Ruhe bringt, weil der Hunger keine Veranlassung hat, fortzubestehen, nachdem er seinen Zweck erf\u00fcllt hat.\nAls endg\u00fcltige Schlufsfolgerung der Beobachtungen dieses Kapitels m\u00f6chten wir aufstellen, dafs in diesen niederen Regionen seelischen Lebens sich durch die trophische Erfahrung ein Verst\u00e4ndnis bildet, das dem Organismus soviel liefert, wie er f\u00fcr seinen Verbrauch und sein Wachstum n\u00f6tig hat. Die Probleme,\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t17","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266\nR. Tiirr\u00f4.\ndie diese rudiment\u00e4re Intelligenz zu l\u00f6sen hat, sind von aufser-ordentlicher Bedeutung. Nehmen wir an, das Tier w\u00e4re nicht imstande, empirisch festzustellen, womit es dem Organismus die verbrauchten Substanzen zu ersetzen hat und den virtuellen Gehalt der Nahrung an ihnen, so k\u00f6nnte es sie auch nicht durch eine angemessene Mahlzeit ausgleichen. Soweit ich weifs, hat sich bisher noch niemand damit besch\u00e4ftigt nachzuforschen, wie wir die Kenntnis der Nahrungsmittel erwerben, obwohl doch diese Kenntnis zur Erhaltung des Lebens unentbehrlich und die Voraussetzung jeder weiteren Kenntnis ist.\nSeit undenklichen Zeiten hat man angenommen, dafs das geistige Leben unter dem Einflufs \u00e4ufserer Reize vor sich geht. Erst diese T\u00e4tigkeit schafft im Verstand, der urspr\u00fcnglich si cut tabula rasa in qua nihil est inscriptum ist, die Bilder, mit denen wir uns die Gegenst\u00e4nde der Aufsenwelt vorstellen, durch die wir uns die Arbeitsgrundlage f\u00fcr jede weitere geistige Operation verschaffen. Auf \u00e4ufsere Einwirkung, sagt man, reagiert die Retina und weiter das Sehzentrum; das Gesichtsbild repr\u00e4sentiert einen Gegenstand, der selbst nicht leuchtet. Folglich ist das Licht im Augenhintergrund wie auf ein Fiat entstanden. Auf Grund eines im Ausbreitungsbezirk der peripheren sensibeln Nerven aufgenommenen \u00e4ufseren Antriebes entsteht im Bewufst-sein Geschmack, Geruch, Farbe, K\u00e4lte, Druck, Ton und alles dieses sind Vorstellungsbilder f\u00fcr \u00e4ufsere Gegenst\u00e4nde, sei es auf Grund ihnen innewohnender ungew\u00f6hnlicher Eigenschaften, sei es durch das Zusammenwirken von Antriebsvorg\u00e4ngen oder infolge in dem Verstand pr\u00e4existierender Formelemente, die ihnen zuerkannt und dank deren sie erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen. Die Urspr\u00fcnge der Erkenntnis, mag man sie nach spekulativen oder empirischen S\u00e4tzen erkl\u00e4ren wollen, leiten sich immer aus dem Streit her zwischen der Beurteilung eines \u00e4ufseren Gegenstandes und diesem selbst : das geht so weit, dafs wenn dieser Konflikt sich nicht erh\u00f6be, die Intelligenz ewig als latente Kraft schlummern w\u00fcrde.\nNachdem wir diesen Gesichtspunkt einmal angenommen haben, trennen wir sozusagen die Funktionen der trophischen Sensibilit\u00e4t von denen der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t ab, als ob sie gar nichts miteinander zu schaffen h\u00e4tten. Dann zerf\u00e4llt das Bewufstsein in zwei grofse Abschnitte, einen vorausgehenden, der der T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt gehorcht und das","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hunger's.\n267\nLeben der gegenseitigen Beziehungen in seinen Funktionen schafft, und einen anderen sp\u00e4teren, der auf die Antriebe des Inneren oder des Organismus h\u00f6rt und die Funktionen des vegetativen Lebens zeitigt. Ist auf diese Weise die strukturelle und physiologische Einheit des Nervensystems gebrochen, so ist damit gleicherweise die ungeteilte Bewufstseinseinheit zerissen und mit dieser sonderbaren Entdeckung kommen wir dann dahin, dafs der Mensch, der denkt, nichts mit dem Efsmenschen zu tun hat. Nachdem das Bewufstsein und die Pers\u00f6nlichkeit auf diese Weise verst\u00fcmmelt sind, kann man nicht einmal mutmafsen, dafs die trophische Sensibilit\u00e4t wertvolle intellektuelle Elemente beibringen wird. Wie ein unantastbares Dogma, eine indiskutable Forderung nimmt man als wahrscheinlich an, dafs alles, was den Verstand weckt, aus den Gef\u00fchlen hervorgeht oder dafs der Verstand sie aus sich selbst mit Hilfe von Vorschriften oder Grundlagen sch\u00f6pft, die ihm von Anbeginn an innewohnen.\n\u2022 \u2022\nEine vorurteilslose \u00dcberlegung zeigt uns deutlich, dafs der Denk- und der Efsmensch derselbe sind, ja dafs es, um den Bed\u00fcrfnissen des Organismus gerecht zu werden, n\u00f6tig ist, vor allem zu wissen, was das f\u00fcr Bed\u00fcrfnisse und mit welchen K\u00f6rpern der Aufsenwelt sie zu decken sind. Die Nahrungsaufnahme ist kein Vorgang, der sich wie die Nierensekretion oder die Glykogenbildung abspielt. Es ist kein maschinenm\u00e4fsiger sondern ein be-wufster Akt. In seinen Grundlagen leitet sich der Verstand aus dem niederen, dem organischen her, aus dem, was sich in der trophischen Sensibilit\u00e4t als Hungergef\u00fchl bildet. Solange diese T\u00e4tigkeit durch innere Reize geweckt wird, rufen die \u00e4ufseren auf die Gef\u00fchle Bilder hervor, deren Ursache man nicht kennt. Es wird also das Licht, bevor es auf den ausstrahlenden K\u00f6rper projiziert wird, auf der Retina als eine innere Sensation empfunden. Dasselbe gilt von Geruch und Geschmack in Mund und Nase, bevor sie den sie verursachenden K\u00f6rpern zugeteilt werden. Sind die Funktionen der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t losgel\u00f6st von den der psychotrophischen Sensibilit\u00e4t eigent\u00fcmlichen, so hat man keinen Grund zu glauben, dafs die diese Bilder erweckenden Reizungen im Verein mit ihnen eine Kraft erregen k\u00f6nnten, die zw\u00e4nge, sie der Aufsenwelt zuzuerteilen. Der Optikus reagiert wie alle Ber\u00fchrungsnerven gleich den sen-sibeln Vagusverzweigungen. Beim Empfang eines Reizes k\u00fcndigen sie einen Zustandswechsel und nur diesen an. Das w\u00fcrde\n17*","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\nR. Turr\u00f4.\nvoraussetzen, dafs die Nerven der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t die F\u00e4higkeit h\u00e4tten, diesen Zustandswechsel im Bewufstsein hervorzurufen und obendrein das Gef\u00fchl des veranlassenden Gegenstandes* Damit w\u00fcrde man ihnen eine physiologisch absurde, durch nichts Tats\u00e4chliches begr\u00fcndete Eigenschaft beilegen. Von dieser angenommenen, ungew\u00f6hnlichen Eigenschaft w\u00fcrde Voltaire sagen, sie stelle ein reines Wunderwerk dar. Und so ist es tats\u00e4chlich. Um dieses Wunderwerk zu zerst\u00f6ren, hat man die experimentelle Untersuchung geschaffen, die uns zeigt, dafs es nicht sicher ist, dafs die in den Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t aufgenommenen Eindr\u00fccke dank einer wunderbaren Kraft, die ihnen eine tats\u00e4chliche Grundlage gibt, urspr\u00fcnglich als \u00e4ufsere entstehen. Der Antrieb kommt von innen, von der trophischen Sensibilit\u00e4t, die sie als Zeichen eines n\u00e4hrenden Gegenstandes auffafst, und da diese Zeichen nur erscheinen, wenn der n\u00e4hrende Gegenstand anwesend ist, so werden sie ihm auch wie seiner verursachenden Bedingung zugeteilt. Zwischen der trophischen, der \u00e4ufseren und der Magensensibilit\u00e4t bildet sich eine enge Arbeitsgemeinschaft. Verk\u00fcndet erstere die Abwesenheit einer Sache, so tut diese durch Zeichen seine Anwesenheit kund, w\u00e4hrend die dritte mit dem Gef\u00fchl seiner Anwesenheit lebhaft die Wirklichkeit alles dessen anzeigt, was durch die anderen Zeichen noch nicht vorweggenommen ist. Hier beginnt die Verstandest\u00e4tigkeit. Der Essende weifs, womit er seinen Hunger zu stillen hat und welche Gegenst\u00e4nde diese F\u00e4higkeit besitzen. Niemals k\u00f6nnte er eine so grofse Entdeckung machen, wenn in seinen sensorischen Zentren nicht Eindr\u00fccke best\u00fcnden, von denen er nicht weifs, wie und woher sie kommen. Aber da er zu tausenden Malen beobachtet hat, dafs diese Bilder nicht wiedererscheinen, solange das, was seinen Hunger stillt, nicht in seinem Munde ein Be-r\u00fchrungs-, Geschmacks- und W\u00e4rmegef\u00fchl, in seiner Nase einen Geruch, in seinen Augen einen Farbeneindruck, in seinen Ohren einen Ton hervorruft, so glaubt er schliefslich durch einen in seinen Grundlagen vorgebildeten induktiven Prozefs, dafs diese Eindr\u00fccke nicht in seinem Inneren spontan entstehen, dafs sie vielmehr in ihrem Wiedererscheinen unl\u00f6slich an jene Sache gekn\u00fcpft sind, die der Magen beim Stillen des Hungers als anwesend kundgibt.\nStelle wir also die funktionelle Einheit des Bewu ft seins nicht wieder her, obwohl wir beobachten, wie sich seine psycho-","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n269\ntrophischen Funktionen mit denen der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t und der des Magens verbinden und verst\u00fcmmeln wir sie un\u00fcberlegt und nehmen an, dafs die sensorischen Zentren von Anfang an selbst\u00e4ndig funktionieren, so kommen wir allerdings dazu, die Bilder Gegenst\u00e4nden zuzuerteilen, denen wir einen objektiven Wert verleihen: fragen wir uns jedoch, wodurch dies geschieht, so m\u00fcssen wir mit Voltaire sagen: durch ein Wunder! Beobachten wir andererseits, dafs wir die Nahrungsmittel so den Bed\u00fcrfnissen des Organismus angepafst einf\u00fchren, dafs es die gr\u00f6fste Bewunderung erregen mufs, oder wie die Henne in der Periode des Eierlegens den Kalk sucht oder \u00fcberhaupt alle Tiere den Menschen eingeschlossen die fehlenden Mengen durch die Einfuhr in bestm\u00f6glicher Weise zu ersetzen suchen, und fragen wir nun, wie man zu solcher Kenntnis, so scharfer Logik und einem so bewunderungsw\u00fcrdigen Vorgehen kommt, so treiben wir unaufhaltsam dem Sehlufs zu, dafs diese Wunder einem anderen Wunder ihren Ursprung verdanken, das wir Instinkt nennen. Ist aber die funktionelle Einheit des Bewulstseins erst einmal wieder durch die schwere Arbeit hergestellt, die das Tier beim Sammeln der trophischen Erfahrung auf sich nimmt, und die die Grundlage der Verstandest\u00e4tigkeit \u00fcberhaupt darstellt, so finden sich auch die fehlenden Bindeglieder ein und die Wunder verschwinden wie Nebel am Horizont. Sie bringt uns neue, bisher unbekannte Urteilselemente, die uns erlauben, an die dunkelsten Fragen von neuen Gesichtspunkten heranzugehen. \u2014\nV. Ursprung der Erkenntnis von der Wirklichkeit der\nAu\u00dfenwelt.\nDie Wahrnehmung der Nahrungsmittel und die \u00e4ufsere Wahrnehmung im engeren Sinne. \u2014 Die trophische Wahrnehmung geht zeitlich der \u00e4ufseren voraus. \u2014 \u00dcbergang der trophischen Wahrnehmung in die \u00e4ufsere Wahrnehmung. \u2014 Besonderheit der trophischen Wahrnehmung. \u2014 Woher man weifs, dafs diese Unterscheidung nicht illusorisch ist, sondern etwas Wirklichem entspricht. \u2014 Objektiver Wert der Empfindungszeichen. \u2014 Tats\u00e4chlicher Wert der Objektwahrnehmung. \u2014 Der allgemeine Begriff der Gewifsheit im Realen. \u2014 Skeptiker und Dogmatiker. \u2014 Die nativistische Anschauung. \u2014 Die genetische Anschauung.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\n\u00df. Turr\u00f4.\n\u2014 Das Wirkliche kann nicht aus der \u00e4ufseren Erfahrung hergeleitet werden. \u2014 Satz von Helmholtz. \u2014 Die metaphysische Anschauung vom Wirklichen. \u2014 Erneute Aufstellung des Problems der Wirklichkeit auf Grund experimenteller Tatsachen. \u2014 Wie dasselbe durch induktive Schl\u00fcsse gel\u00f6st werden kann.\nDie Beobachtung lehrt uns, dafs wir in der Aufsenwelt die Nahrungsmittel ganz verschieden wahrnehmen von den fig\u00fcrlichen Gegenst\u00e4nden. Das Brot, das wir nicht begehren, scheint\nuns als eine im Raum befindliche Sache, der wir die Form eines\n\u2022 \u2022\nPr\u00e4dikats und bestimmtes Aufsere, bestimmte Farbe, bestimmten Geschmack und Festigkeit beilegen. Alle diese untereinander verkn\u00fcpften Bilder stellen Eigent\u00fcmlichkeiten dieses K\u00f6rpers dar oder wohnen demselben inne und in der Voraussetzung, dafs sich irgend etwas an ihnen \u00e4ndert, bleiben wir doch noch\nder Meinung, dafs es ebenso Brot ist wie fr\u00fcher. Das zeigt sich\n\u2022 \u2022\nz. B. wenn ein Tropfen \u00c4ther oder irgend eine andere Essenz es mit einem von seinem eigentlichen abweichenden Ger\u00fcche durchdringt. Dasselbe ist nicht der Fall, wenn wir das Brot als Nahrungsmittel wahrnehmen. Jeder einzelne dieser Eindr\u00fccke ist an den Hunger gekn\u00fcpft, der aus diesem Grunde gef\u00fchlt wird ; und wenn es vorkommt, dafs ein einziges von diesen Bildern, die er hervorruft, in einer von der \u00fcblichen trophischen Erfahrung abweichenden Form auftritt, so erscheint es uns nicht mehr als ein Nahrungsmittel, sondern als eine Sache, von der wir nicht wissen, was sie vors teilt. Es gen\u00fcgt, dafs das Brot einen ihm nicht eigent\u00fcmlichen Geruch angenommen hat, so begehren wir es nicht mehr und wenn wir uns freiwillig dazu ent-schliefsen, es einzuf\u00fchren, weil wir gewifs sind, dafs es dasselbe ist wie fr\u00fcher, so widersteht es uns. Wir erkennen die N\u00e4hrkraft des Brotes an einem gewissen Geruch, einem gewissen Geschmack, einer bestimmten Farbe, kurz an einer Anzahl Eindr\u00fccke, deren jede vom N\u00e4hrwert abh\u00e4ngig ist, der im Organismus auftritt, ohne uns weiter mit der Ausarbeitung der Erfahrung zu befassen, ob diese Bilder einem einzelnen oder verschiedenen K\u00f6rpern zuzuerteilen sind ; wenn sich in diesem panoramaartigen Gem\u00e4lde von Eindr\u00fccken einer wie der Geruch zeigt, der nicht derselbe ist, den wir fr\u00fcher unterschieden haben, so befinden wir uns einem K\u00f6rper gegen\u00fcber, von dem wir nicht wissen, ob er","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n271\nein Nahrungsmittel ist oder nicht, weil wir ihn mit diesem neuen Kennzeichen noch nicht gekostet haben.\nWird uns unsere t\u00e4gliche Mahlzeit auf einem Tisch serviert, der mit einem schwarzen Stoff bedeckt ist, anstatt mit dem weifsen Tischtuch, an das wir gew\u00f6hnt sind, so verwirrt uns das aufserordentlich. Wir wissen ganz genau, dafs die in der Terrine dampfende Suppe dieselbe ist wie immer, aber die Kenntnis von dieser Gleichheit \u00fcberzeugt uns nicht und wir urteilen, dafs es sich um eine abweichende Situation handelt, weil die gedeckte Tafel den Appetit durch trophische Erfahrungen anregte und wir jetzt, wo ein neuer Eindruck erscheint, der der schwarzen Farbe, diese Anregung nicht empfinden: denn so ist er f\u00fcr uns kein Zeichen irgend eines N\u00e4hrwertes. Bem\u00fchen wir uns nun, durch Vernunftgr\u00fcnde den vergangenen Appetit wieder zu beleben, so m\u00fcssen wir zun\u00e4chst von diesem verwirrenden Eindruck absehen und jenen wiedererwecken, indem wir Schritt f\u00fcr Schritt die Kennzeichen wieder anregen, durch die uns die Br\u00fche bekannt ist; wir m\u00fcssen den Geruch einatmen, sie mit Genufs kosten, und so gewaltsam die Allgemeinheit von Eindr\u00fccken hervor-rufen, durch die wir sie uns vertraut machen. Ein verstockter N\u00f6rgler von der Sorte, die von den Tatsachen absehen, sobald sie sie st\u00f6ren, wird triumphierend sagen, dafs die Br\u00fche die gleiche bleibt auf dem schwarzen Stoff, wie auf dem weifsen Tischtuche, Aber bei diesem anmafsenden Urteil \u00fcbersieht er, dafs die Wahrnehmung ihrer N\u00e4hrqualit\u00e4ten mit einer Reihe von Zeichen verkn\u00fcpft ist, die mit dem \u00e4ufseren Gegenstand an sich keine Beziehung haben, dagegen mit den trophischen Erinnerungen, die ihr Versuch im Bewufstsein hinterlassen hat. Da dieser sie jetzt nicht erweckt, so bleiben wir appetitlos, d. h. wir merken nicht die Anwesenheit des Nahrungsmittels.\nNehmen wir an, ein Chemiker analysierte die Zusammensetzung eines Reises von roter Farbe, der aus fernem Lande importiert worden w\u00e4re, und f\u00e4nde, dafs er ebenso gehaltreich ist, wie der beste Valenziareis, so w\u00fcrde er doch, wenn seine Frau ihm einen Teller davon vorsetzen w\u00fcrde, sich nicht ent-schliefsen k\u00f6nnen, ihn zu essen, ohne sich Gewalt anzutun, weil er seinen N\u00e4hrwert verkennt. Erinnern der Geruch und der Geschmack ihn an den alten, an den er gew\u00f6hnt ist, so werden ihm diese Erinnerungsbilder helfen, seinen Widerwillen zu besiegen. Ist dagegen auch der Geschmack und das Aroma ein","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nR. Turr\u00f4.\nanderes, so vermehrt sich der Widerwillen noch. Ohne sich \u00fcber die Berechtigung seines Verhaltens zu vergewissern, wird er in seinem Ged\u00e4chtnis die fr\u00fcheren Erfahrungen durchst\u00f6bern, die ihn \u00fcber seinen N\u00e4hrwert aufkl\u00e4ren k\u00f6nnten, indem er eine nach der anderen von Grund auf durchsieht. Da er nun keine einzige finden kann, steht er diesem neuen Reis gegen\u00fcber, wie der Blinde der Farbe, wie der Taube dem Ton. Vorgeben zu wollen, er empf\u00e4nde die Anwesenheit der Nahrung durch die Daten, die die Analyse ihm offenbarte, erschiene gerade so absurd, als wollte man behaupten, der Taube k\u00f6nne h\u00f6ren, sobald er die physikalischen Bedingungen des Tons begriffen h\u00e4tte. Ebenso wie dem Tauben das Ph\u00e4nomen, das die akustischen Schwingungen hervorbringt, nicht zum Bewufstsein kommt, so fehlt unserem Chemiker der Appetit nach dem neuen Produkt, d. h. die innere Wahrnehmung seiner n\u00e4hrenden Eigenschaft.\nAn diesen Beispielen sieht man, dafs die Nahrungsmittel gewifs nicht auf dieselbe Weise wahrgenommen werden, wie Gegenst\u00e4nde der Aufsenwelt. Im letzteren Falle werden die Eigenschaften a b c d . . . n einer Sache der Aufsenwelt zugeteilt, die wir uns als das Subjekt dieser Pr\u00e4dikate vorstellen. Im ersteren Falle aber nehmen wir die sogenannten Qualit\u00e4ten als Zeichen der Effekte, die dieser Gegenstand im Innern unseres Organismus aus\u00fcbt. Ein Nahrungsmittel, das nicht begehrt wird, ist auch nicht in Wirklichkeit wahrgenommen worden, weil im Bewufstsein nicht die lebhaften Erinnerungen seiner Effekte aufgeblitzt sind. Die Philosophen aller Schulen haben diese beiden Klassen von Beziehungen unterschieden, die sich mit den Gegenst\u00e4nden der Aufsenwelt bilden : Die einen nennen sie die Beziehung zum Objekt, die anderen zum Subjekt. Die zweiten k\u00f6nnen angenehm oder unangenehm sein, je nachdem sie die organischen Gel\u00fcste stillen oder nicht. Immer sind sie eigen\u00fctzig, wie Kant sagt. Umgekehrt setzen die ersteren, weil ihr Wert in der Vorstellung sich nicht mit der Erinnerung an organische Effekte verbindet, die sie hervorgerufen haben, sondern an Einfl\u00fcsse, die sie im Gebiete der \u00e4ufseren Empfindungen erwecken, das eigentliche Element des \u00e4sthetischen Urteils zusammen, das nach der Anschauung des K\u00f6nigsberger Philosophen immer uneigenn\u00fctzig ist. Zweifellos stellen uns die einen wie die anderen einen Gegenstand der Aufsenwelt gegen\u00fcber. Ohne irgend eine Spur von Zweifel weifs das Kind, das","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n273\nvor der Auslage einer Zuckerb\u00e4ckerei steht, und sich sehns\u00fcchtig in den Anblick vertieft, vollkommen, dafs es sich vor einer Sache befindet, deren trophischen Wert es kennt. Dasselbe Kind weifs, wenn es schon satt ist und die Gegenst\u00e4nde ziel- und wunschlos betrachtet, trotzdem, dafs es vor seinen Augen eine in der Aufsen-welt existierende Sache vor sich hat, die auch unabh\u00e4ngig von ihren trophischen Wirkungen fortbesteht. Es sind dies zwei verschiedene Arten der Wahrnehmung eines und desselben Gegenstandes.\nDie Wahrnehmung \u00e4ufserer Gegenst\u00e4nde in bezug auf den trophischen Eindruck, den sie hervorrufen, gehen der eigentlichen \u00e4ufseren Wahrnehmung voraus. Man braucht nur durch Selbstbeobachtung die grundlegenden Wahrnehmungselemente einer Apfelsine auseinanderzusetzen, um zu erkennen, dafs eine gewisse Zeit verl\u00e4uft, bis man ihre Farbe wahrnimmt, ohne dafs sich die Person Rechenschaft dar\u00fcber ablegte, dafs das, was ihre Retina beeinflufst, dasselbe war, was auch sein Ber\u00fchrungsgef\u00fchl reizte, und dafs das, was einen Eindruck der Frische auf das Temperaturgef\u00fchl aus\u00fcbte, der gleiche Gegenstand war, den sein Riechnerv als einen Geruch anzeigte. Alle diese Eindr\u00fccke bestehen im Bewufstsein einzeln, bevor die einzeitige Gesamtwahrnehmung auftritt. In dieser elementaren Form gibt ihnen die trophische Erfahrung eine tats\u00e4chliche Grundlage. So haben wir gesehen, dafs das Kind nicht die weifse und die schwarze Farbe zwei verschiedenen Gegenst\u00e4nden, sondern zwei verschiedenen Nahrungsmitteln zuerkennt, ebensowenig, wie es den L\u00e4rm, der ihm die N\u00e4he seiner Mahlzeit kundgab, auf die Glocke bezog, noch die Ber\u00fchrung auf die Brustwarze, den Geschmack auf die Milch. Alle diese aufgez\u00e4hlten Gegenst\u00e4nde waren ihm damals v\u00f6llig unbekannt und die Gemeinsamkeit der Wahrnehmungen hatte f\u00fcr es keinen anderen Wert, als ihm die Ankunft dessen mitzuteilen, was seinen Hunger stillen kann. Wir haben oben bei der Beschreibung der Art, in der sich die trophische Erfahrung bildet, gesagt, dafs das Kind einen Ber\u00fch-rungs- und Geschmackseindruck in seinem Munde empf\u00e4ngt, einen Geruch in seiner Nase, Gesichts- und Geh\u00f6rsbilder, die zu allererst unbemerkt an ihm vor\u00fcbergehen und erst sp\u00e4ter als Zeichen dessen sich enth\u00fcllen, was Nahrung spendet. Offenkundig sind diese Zeichen nicht die der Brust, des Kleides, der Amme oder der Milch, weil diese Individualisierung der Gegen-","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nR. Tiirr\u00f4.\nst\u00e4nde erst aus der Assoziation sich ergibt, die diese Summe elementarer Eindr\u00fccke untereinander verkn\u00fcpft, indem sie jede einzeln dem zugeh\u00f6rigen Gegenst\u00e4nde beilegt. In diesem ersten Augenblick psychischen Lebens werden die Gegenst\u00e4nde nach ihrem N\u00e4hreffekt unabh\u00e4ngig von den Bildern unterschieden, durch die sie sp\u00e4ter die Objekte charakterisieren, indem man sie als Qualit\u00e4ten auffafst, die jenen innewohnen. Das Kind weifs nicht im. entferntesten, dafs das, was es n\u00e4hrt, die Milch ist, wie es sp\u00e4ter wissen wird. Es weifs nur, dafs das, was seinen Hunger stillt, sich vor seinen Augen durch einen bestimmten Gesichtseindruck, vor seinen Ohren mit einem bestimmten Geh\u00f6rseindruck usf. in allen \u00fcbrigen Sinnen kundgibt. Wenn es die verw\u00e4sserte Milch von der guten durch die Farbe der beiden Kleider unterscheidet, fragt es sich nicht, ob diese Farben der einen oder der anderen zugeh\u00f6rig und eigent\u00fcmlich sind. Es erachtet sie einfach als Anzeichen der einen und anderen. An dem Tage, wo diese Farben vertauscht werden und ihm die Erfahrung beibringt, dafs das, was der guten entsprach, jetzt der schlechten entspricht und umgekehrt, wird es sie dennoch wie vorher aus-schliefslich als Zeichen der trophischen Wirkung ansehen, die die eine und andere aus\u00fcbt. Dasselbe ist der Fall beim Hunde, der das Fleisch durch den Anblick, durch die weiche Ber\u00fchrung, seinen Geruch und Geschmack kennt. Vom Gesichtspunkt der Nahrungs Wahrnehmung sind diese Qualit\u00e4ten, die der \u00e4ufseren Wahrnehmung im engern Sinne eigent\u00fcmlich und ihr so zugeh\u00f6rig sind, dafs man durch sie weifs, dafs es Fleisch und nichts anderes ist, ver\u00e4nderlich, ohne dafs das Nahrungsmittel aufh\u00f6rt, dasselbe zu sein. Es gen\u00fcgt, es mit einer anderen Farbe zu bemalen, seinen Geruch oder seinen Geschmack zu verbergen und es zu zerschneiden; sowie es in dieser neuen Wahrnehmungsform erst einmal gekostet worden ist, taucht im Bewufstsein die Kenntnis auf, dafs es dasselbe ist wie vorher und so wird man es auch mit der gleicher Gier herbeisehnen und sich derselben Einfuhrmenge bedienen wie vorher.\nBei der Ausarbeitung der \u00e4ufseren Erfahrung im eigentlichen Sinne wird anders vorgegangen. Wenn wir sagen, dafs das Blei ein K\u00f6rper ist, der eine bestimmte Dichtigkeit hat, in einer bestimmten Fl\u00fcssigkeit sich l\u00f6fst, bei einer gewissen Temperatur schmilzt, so setzen wir damit seinen Charakter mit solcher Genauigkeit fest, dafs wir, sowie diese Eigenschaften","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n275\nfehlen, oder wir es in einer anderen Form wahrnehmen, sogleich sagen w\u00fcrden, dafs es kein Blei w\u00e4re. Die K\u00f6rper, die wir uns vorstellen, sind so und nicht anders, weil ihr Klang, ihre Farbe, ihr Geruch, ihr Geschmack ihre Resistenz ihnen in so hohem Mafse eigent\u00fcmlich ist, dafs wir sie uns nicht in anderer Weise vorstellen k\u00f6nnen, als wie sie sich uns darbieten. Im Gegens\u00e4tze dazu werden die Nahrungsmittel immer als identisch erachtet, wenn sie das gleiche trophische Bed\u00fcrfnis decken, und als verschieden, wenn sie ein anderes s\u00e4ttigen, sei ihre \u00e4ufsere Form, unter der wir sie uns vorstellen, wie sie wolle.\nMan begreift wohl, dafs wegen der gleichartigen Natur der trophischen Erfahrung das Erinnerungsbild des N\u00e4hrkoeffizienten der Nahrungsmittel an ein Gemisch von Eindr\u00fccken gebunden ist, die immer die gleichen zu sein pflegen. Die Wiederholung dieser Handlungsweise f\u00fchrt unmerklich zur Individualisierung der Gegenst\u00e4nde. Jeden Tag merkt man deutlicher und sch\u00e4rfer, dafs die Suppe in der Terrine inmitten des Tisches dampft, dafs sie eine gewisse Farbe und eine bestimmte Temperatur hat, dafs die Teller kommen und gehen, dafs der mit einem Tischtuch gedeckte Tisch stehen bleibt, dafs die Gl\u00e4ser durchsichtig sind, dafs die L\u00f6ffel und die \u00fcbrigen Efs-ger\u00e4te die gleichen sind. T\u00e4glich wiederholt sich einf\u00f6rmig der Vorgang, dafs das, was durch seine Farbe einen bestimmten Eindruck auf die Augen hervorruft, das Gef\u00fchl, den Geschmack, den Geruch, das Geh\u00f6r mit ebenfalls unver\u00e4nderlich gleichen Bildern beeinflufst. So ist es nicht wunderbar, dafs das, was in jedem einzelnen Gef\u00fchl eine bestimmte von allen \u00fcbrigen losgel\u00f6ste Note hervorruft, sich durch die ewige Wiederholung immer gleicher Vorg\u00e4nge mit den anderen verbindet, und so allm\u00e4hlich die Auffassungsf\u00e4higkeit der aufgez\u00e4hlten Gegenst\u00e4nde erworben wird, denen diese Noten entsprechen. Das visuelle Element des Glases oder des Tellers bewahrt einen engen Zusammenhang mit dem akustischen, das seinem Klang entspricht, und mit dem Temperaturgef\u00fchl, das der eine oder andere Gegenstand hervorruft. Dann entsteht eine komplexe Wahrnehmung, die sich durch die Synthese der einzelnen Elemente bildet und sich so im Bewufst-sein als eine zusammengesetzte Einheit abhebt, als die Kenntnis von dem, was dem Glase eigent\u00fcmlich ist, von dem, was dem Teller angeh\u00f6rt, indem es die verschiedenen Noten uns als anwesend vorf\u00fchrt, durch die sie sich vor den verschiedenen Ge-","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nR. Turr\u00f4.\nf\u00fchlen kundtun. Durch die angesammelten Erfahrungen weifs man, wie der eine oder andere Gegenstand im Geh\u00f6r zu t\u00f6nen hat, um wahrgenommen zu werden, wie sie die \u00e4ufsere Haut zu beeinflussen haben, und unter welcher Form das Gesicht sie sich vorstellt.\nNichts ist leichter, als uns die Aufsenwelt so vorzustellen, wie sie sich aus der \u00e4ufseren Wahrnehmung herleitet. Die Erinnerungsvorg\u00e4nge erwecken in uns das Gef\u00fchl unserer F\u00e4higkeit, indem sie jedes Empfindungsbild dem zugeh\u00f6rigen Gegenst\u00e4nde beiordnen. So, wie wir die Sehfunktion jetzt organisiert finden, wird jeder Retinaeindruck auf die zugeh\u00f6rige Stelle im Raume projiziert. Jeder Geschmacks- und Geruchseindruck wird mit seiner Ursache in Zusammenhang gebracht und die gleiche Eigenschaft gilt nat\u00fcrlich auch von den \u00fcbrigen Sinnen. Da diese Empfindungsqualit\u00e4ten sich aus der spezifischen Reaktionsf\u00e4higkeit der erregten Nerven und Zentren herleiten und nicht Abbilder \u00e4ufserer Gegenst\u00e4nde sind, wie Johannes M\u00fcller gezeigt hat, so ist die Aufsenwelt an sich wie ein Projektionsschirm, auf den wir die Bilder werfen, die ausschliefslich in unserem Bewufstsein existieren. Versuchen wir jedoch, uns die Aufsenwelt so vorzustellen, wie sie sich uns in der trophischen Erfahrung darstellt, indem wir uns in jene Zeit zur\u00fcckversetzen, in der die Eindr\u00fccke noch nicht durch das Band der Assoziation verkn\u00fcpft und untereinander verschiedenen \u00e4ufseren Einheiten zugeteilt sind, so ist unser Vorhaben unm\u00f6glich. Werden die Bilder nicht den Gegenst\u00e4nden a b c . . . n beigelegt, sondern den trophischen Wirkungen, die sie als Zeichen dieser auffassen, so sind sie auch keine Repr\u00e4sentanten der Aufsenwelt, wie sie es in der \u00e4ufseren Wahrnehmung sind. Sie stellen zweifellos etwas dar, dessen Anwesenheit sich im Magen kundgibt und von dem wir durch fr\u00fchere Erfahrungen wissen, dafs es einen bestimmten Effekt auf den Organismus aus\u00fcbt. Dieses etwas, das durch die Nahrungsaufnahme eingef\u00fchrt wird, geh\u00f6rt der Aufsenwelt an. Durch die trophische Erfahrung weifs man ganz klar, dafs es aufserhalb des Organismus sich befindet und so sucht man erst blind, dann mit Bewufstsein in der Aufsenwelt nach ihm.\nWas ist das also, was man von der Aufsenwelt vermittels der trophischen Erfahrung kennen lernt? Betrachtet man die Frage von diesem Gesichtspunkt, so merkt man sofort, dafs der","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n277\nBetreffende das Bild nicht als ein Mittel zur \u00e4ufseren Unterscheidung, sondern als einen Ausdruck der \u00e4ufseren Unterscheidung auffafst. Man setzt die rote Farbe als ein Symbol f\u00fcr die gute Milch, die weifse f\u00fcr die schlechte, wie wir es beim Studium der Bildung jener Erfahrungen gesehen haben. Es hat also weder die eine noch die andere Farbe etwas mit diesem besonderen K\u00f6rper zu tun, den wir in der Aufsenwelt mit dem Namen Milch belehnen. Die enge Beziehung, in der sie mit ihm stehen, verh\u00e4lt sich wie der trophische Effekt, den die eine oder andere Milch aus\u00fcbt. Diese Beziehung wird durch eine \u00e4ufsere Handlung gebildet, denn, wenn nicht das eine Mal der Eindruck der weifsen Farbe oder der roten mit der guten oder schlechten Wirkung der beiden Milcharten zugleich aufgetreten w\u00e4re, so h\u00e4tte die Erfahrung sich niemals bilden k\u00f6nnen, auf Grund deren sie als unterschiedliches Zeichen der beiden Sorten aufgefafst werden. Folglich sind diese Zeichen auch nicht willk\u00fcrliche; die Person weifs ganz genau, dafs, wenn eins von ihnen erscheint, der Hunger f\u00fcr eine k\u00fcrzere Zeit zur Ruhe kommt und f\u00fcr eine l\u00e4ngere Zeit, wenn das andere auftritt und es weifs das im voraus, mittels der Erinnerungsbilder an das, was sich fr\u00fcher ereignet hat. Man sieht also durch diese Auseinandersetzungen klar, dafs jedes einzelne dieser Zeichen einer ganz bestimmten trophischen Unterscheidung entspricht.\nWenn wir anstatt das Problem zu vereinfachen, indem wir es als eine elementare Empfindung Vorbringen, es in seiner nat\u00fcrlichen Zusammengesetztheit auf werfen, so erkennen wir, dafs doch dasselbe eintritt. Die Gesamtheit der Eindr\u00fccke, mit denen wir das Brot, das Wasser, das Fleisch unterscheiden, sind wie die weifse oder rote Farbe des vorangehenden Beispiels nur Zeichen der trophischen Wirkungen, die einzutreten haben und deren Erinnerungsbilder lebhaft im Bewufstsein vibrieren. Bei ihnen holt sich die Person Rat, indem sie das Zutrauen hat, dafs sich auch diesmal wiederholen wird, was immer eingetreten ist.\nWollen wir jetzt den wirklichen intellektuellen Wert dieser Zeichen begreifen, so haben wir sie nur im Geiste von den trophischen Erinnerungsbildern loszul\u00f6sen.\nIm Bewufstsein des Kindes tritt das Bild der roten Farbe oder in der des Erwachsenen die Gesamtheit der Eindr\u00fccke, unter der sich die Anwesenheit von Brot oder Wasser verr\u00e4t, wie eine Halluzination auf. Dieser Zustand ist der eines Traumes.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nR. Turr\u00f4.\nDie Person ist unter diesen Bedingungen unf\u00e4hig, zu \u2018 unterscheiden, ob diese Bilder die Anwesenheit dessen anzeigen, was seinen Hunger stillt oder nicht. Wenn wir nunmehr, statt das Vorstellungsbild von der trophischen Erinnerung unabh\u00e4ngig zu machen, uns denken, dafs das Kind den Hunger, der Erwachsene den Durst f\u00fchlt, so besteht offenbar im Bewufstsein des einen etwas, das die Abwesenheit des Nahrungsmittels anzeigt, im anderen die Abwesenheit dessen, was seinen Durst stillt. Was sind also diese halluzinatorischen Bilder? Zeichen einer Sache, die gar nicht existiert, reine Gef\u00fchlst\u00e4uschungen! Was sind sie andererseits, wenn sie die Anwesenheit des Nahrungsmittels oder des Wassers anzeigen? Kennzeichen eines Gegenstandes, dessen Wirklichkeit die Magensensibilit\u00e4t anzeigt, indem sie in den psych otrophischen Zentren das Gef\u00fchl seiner Abwesenheit im Auftreten verhindern!\nEbenso k\u00fcndigt die Nahrungseinfuhr, die alle Bed\u00fcrfnisse mit Ausnahme eines einzigen, des Salzes oder der Proteine deckt, wenn sie den Hunger in seiner Gesamtheit zum Erl\u00f6schen gebracht hat, prompt die Abwesenheit eines speziellen K\u00f6rpers an, von dem man eine Zeitlang nichts weifs, woraus er besteht. Wenn man aber das Kennzeichen unterschieden hat, wenn man das Salz durch seinen Geschmack, das Fleisch durch seinen Geruch oder seine Farbe erkennt, dann weifs man, dafs diese Bilder etwas Tats\u00e4chlichem entsprechen, nicht, weil es die Sinne uns mitteilen, sondern infolge der unabweisbaren Daten, die uns die trophische Sensibilit\u00e4t liefert. Sagen wir also, dafs die Empfindung des Salzigen etwas Tats\u00e4chlichem entspricht und die einer gewissen Farbe und Geruches der Eiweifssubstanz, so ist das darum der Fall, weil wir seine Wirkung im Organismus probiert haben und das unzerst\u00f6rbare Bild an sie im Ged\u00e4chtnis bewahren. W\u00fcrde uns dieses urspr\u00fcngliche Wissen fehlen, so w\u00fcrde man nie zu der Erkenntnis gelangen, warum wir glauben, dafs die Empfindung im Gef\u00fchl nicht spontan entsteht. Es ist uns jetzt nicht m\u00f6glich, zu zweifeln, dafs das Salzige einer speziellen Sache entspricht, weil sich das Bed\u00fcrfnis nach dieser Sache zu tausend Malen im Bewufstsein lebhaft kund gegeben hat, sei es in der Empfindung des allgemeinen Hungers, sei es durch eine einzelne unterschiedliche Empfindung und immer hat man auf eine ganz scharfe und tadellose experimentelle Weise, die keinen Widerspruch zul\u00e4fst, festgelegt, dafs das, was der Orga-","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n279\nnismus verlangt, sich durch einen bestimmten Geschmack, in einem anderen Sinne mit einem unterschiedlichen Eindruck anzeigt. Wie sollte man da an der \u00dcbereinstimmung zweifeln, die sich zwischen dem Eindruck bildet und dem Gegenstand, dessen Wirkung wir ausprobiert haben. Man hat immer gefunden, dafs das, was sich vor unseren Sinnen unter der Form des Wassers darstellt, den Durst stillt. Stellt es sich uns nun unter der Form von Wein dar, so wissen wir nicht, ob es den Durst stillen wird oder nicht, weil wir noch keine Verbindung zwischen dieser neuen Farbe, dem neuen Geschmack und Geruch aufgestellt haben, mit den Eindr\u00fccken, unter denen wir das Wasser kennen\u00bb Sind diese neuen Eindr\u00fccke aber erst einmal ebenso fest geworden wie die, die bei den anderen bestehen, so wird auch unsere Sicherheit bei diesen ebensogrofs sein wie bei jenen. In den Empfindungszentren ein Bild durch die trophische Erfahrung zu unterscheiden, heilst dasselbe, wie klarstellen, welcher trophi-schen Unterscheidung es entspricht, und da diese Unterscheidung im Bewufstsein die Abwesenheit eines Gegenstandes ank\u00fcndet, so kommt es, dafs dieses Bild einer Sache entspricht, die vor den Sinnen als anwesend kund gibt, was die trophische Sensibilit\u00e4t als abwesend bezeichnet hat. Wenn wir uns nun fragen, woher wir wissen, dafs im Wasser etwas enthalten ist, das an sich nicht kalt ist, keine Farbe, kein Geruch, kein Ton ist und zweifellos doch unabh\u00e4ngig von allen diesen Eindr\u00fccken als etwas Tats\u00e4chliches besteht, dafs nicht ausschliefs-lich unsere Vorstellungen es sind, die aus den spezifischen Eigenschaften unserer Sinnesnerven hervorgehen, so werden wir unzweifelhaft darauf bestehen, wir wissen es deswegen, weil die Erfahrung uns gelehrt hat, dafs das, was unsere Nerven auf diese Weise beeinflufst, auch das ist, was den Durst l\u00f6scht. Daran zweifeln wollen, dafs diese Beziehungen zwischen den Empfindungen und dem Ding an sich bestehen, hiefse daran zweifeln, dafs diese Sache den Durst stillt, und damit w\u00fcrde die Richtigkeit der Schl\u00fcsse der inneren Erfahrung, die uns dies kund getan hat, in Frage gestellt werden.\nDas Geistesleben beginnt mit der Kenntnis des Tats\u00e4chlichen. Wir haben uns bei der Wahrnehmung der Nahrungsmittel bem\u00fcht, zu zeigen, dafs die Intelligenz nicht einzelne Gegenst\u00e4nde unterscheidet, sondern die Eindr\u00fccke unabh\u00e4ngig voneinander und dafs diese keine Beziehung zu den K\u00f6rpern","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nB. Turr\u00f4.\na, b, c, d . . . haben, sondern Beziehung zu dem Gegenstand, der im Organismus einen bestimmten N\u00e4hrelf ekt aus\u00fcbt. Bevor sich die Vorg\u00e4nge der \u00e4ufseren Wahrnehmung im engeren Sinne bilden, kommen tieferliegende Prozesse zustande, durch die man in einem ersten Zeitpunkt weifs, dafs dem Organismus etwas fehlt, in einem zweiten, dafs die Anwesenheit dieses Gegenstandes entdeckt werden kann, indem man die Eindr\u00fccke verwertet, die wir in den Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t finden. Dann erst bemerkt man, dafs eine bestimmte, durch physiologische Bedingungen festgelegte Reihenfolge zwischen dem Antrieb zu saugen und den \u00e4ufseren Eindr\u00fccken besteht, die der Saugakt in den Gef\u00fchls-, Geschmacks- und Geruchsendigungen hervorruft, und damit er\u00f6ffnet sich der Kreislauf dieser fruchtbaren Arbeit, durch die bestimmte \u00e4ufsere Unterscheidungsmerkmale mit bestimmten pr\u00e4existierenden inneren in Beziehung treten. Je mehr sich nun diese ersten Erfahrungen psychischen Lebens festigen, je reichhaltiger und zahlreicher sie werden, mit um so gr\u00f6fserer Deutlichkeit merkt man einerseits, dafs jede innere Unterscheidung bestimmten \u00e4ufseren Unterscheidungsmerkmalen entspricht, deren Zahl anfangs gering ist, sp\u00e4ter aber aufserordent-lich w\u00e4chst, und andererseits, dafs diese \u00e4ufseren Eindr\u00fccke nicht spontan auftreten, sondern als Folge etwas von dem Wunsch Unabh\u00e4ngigen. Daher werden sie im Augenblick, in dem sie auftreten, als das Kennzeichen dieses Gegenstandes auf-gefafst. Das Tier, welcher Gattung es auch angeh\u00f6ren mag, gibt sich vollkommen dar\u00fcber Rechenschaft, dafs sein Wiedererscheinen einer \u00e4ufseren Handlung entspricht, weil sein Hunger gestillt ist. Wenn sein Wiedererscheinen den Hunger nicht stillt, betrachtet es sie als tr\u00fcgerische ; wenn es ihn nicht auf die gleiche Weise wie fr\u00fcher stillt, bildet es sich die Meinung, dafs sie nicht wie fr\u00fcher den pr\u00e4existierenden trophischen Merkmalen entsprechen, dafs sie also falsch sind, und verbessert werden m\u00fcssen. Nur wenn sich die Ereignisse so folgen, wie sie durch fr\u00fchere Erfahrungen vorauszusehen waren, h\u00e4lt man sie f\u00fcr richtig. Auf diese Weise lagern sich die Erfahrungen im Untergrund des Verstandes ab und es bildet sich die Forderung, die ihm als Grundlage dienen soll und auf der als Ausgangspunkt sich jeder geistige Prozefs im weiteren aufbaut. Das Empfindungsbild entspricht etwas Tats\u00e4chlichem. Entspricht es dem nicht, so ist es tr\u00fcgerisch, entspricht es schlecht,","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n281\nso ist es falsch. Diese grundlegende Erkenntnis ist nicht angeboren oder uns durch eine spontane T\u00e4tigkeit irgend einer Kraft, eines nicht auf eine experimentelle Tatsache zur\u00fcckf\u00fchr-baren intellektuellen Prinzipes gegeben, weil es die Quelle selbst w\u00e4re, aus der die Ereignisse hervorgingen ; in so hohem Grade leiten sie sich aus dem trophischen Experiment her, dafs, wenn das Tier nicht w\u00fcfste, dafs es sich ern\u00e4hrt, sein Verstand nie zu der Erkenntnis gelangen k\u00f6nnte, dafs das Reale existiert.\nVon dieser ersten grundlegenden Wahrheit an verbinden sich die Elementareindr\u00fccke untereinander, gruppieren sich und weisen die einen einem Objekt A, andere einem Gegenstand B zu. Die Vorg\u00e4nge der eigentlichen \u00e4ufseren Wahrnehmungen beginnen und die Gegenst\u00e4nde werden erkannt, indem wir sie unterscheiden und individualisieren. Wie gehen diese Prozesse vor sich? Wie beginnt der anfangs blinde Gesichtssinn, den Eindruck des Lichtes aufzunehmen, Farben zu unterscheiden und das Bild zu vollenden, indem er scharf jedes an seinen Platz im Raume projiziert und nicht an einen anderen? Wie f\u00e4ngt das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl, das im Vorderteil des Mundes in bestimmter Weise auftritt, obwohl es noch nicht an den \u00fcbrigen Teilen der \u00e4ufseren Haut existiert, allm\u00e4hlich sich zu entwickeln an und vervollkommnet sich soweit, wie es die wunderbare Einsicht bei dem von Geburt Blinden erreicht? Wie lernt das Geh\u00f6r, das den Ton zuerst nur als ein inneres Ger\u00e4usch auffafst wie der Taube, sp\u00e4ter mit solcher Genauigkeit in der Orientierung und so scharf unterschiedliche Qualit\u00e4ten bestimmen, dafs es m\u00f6glich ist, Steingut von Kristall, das Rauschen des Windes von dem der Brandung zu unterscheiden? Wie gewinnen Geschmack und Geruch, die anfangs nur allgemeine und amorphe Empfindungen sind, sp\u00e4ter ein analytisch so bewunderswertes K\u00f6nnen, dafs durch einen von ihnen allein das Vorhandensein der Komponenten in der Mischung zu erkennen m\u00f6glich ist? Alle diese schwierigen Fragen interessieren uns in diesem Augenblick nicht. Mag der Mechanismus der funktionellen Entwicklung unserer Gef\u00fchle sich verhalten wie er wolle, eine Tatsache hebt sich gemeinsam aus allem diesen ab : jede unterschiedliche Empfindung setzt immer eine Verkettung mit dem Tats\u00e4chlichen voraus, die weiterbesteht, wie etwas, das an sich nicht empfunden wird. Man projiziert das Gesichtsbild in eine bestimmte Richtung und Stelle im Raum. In diesem Augenblick ist es uns gleich, wie man es projiziert.\nZeitschr. f, Sinnesphysiol. 45.\t18","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nR. Turr\u00f4.\nDas einzige was uns jetzt interessiert, ist festzustellen, dot's der Verstand die feste \u00dcberzeugung hegt, die die kritischen Gelehrten, so viel sie sich auch bem\u00fchen werden, nie werden entkr\u00e4ften k\u00f6nnen, dafs an dieser Stelle tats\u00e4chlich etwas besteht, was an sich zwar weder Farbe noch Gestalt hat, das aber zweifellos existiert. Es ist sicher, dafs der an die Haut gebrachte Gegenstand durch die Tastnerven einen Eindruck aus\u00fcbt, der eine ausschliefsliche Funktion dieser Nerven ist. Aber er ist es nur, wenn dieser von Natur subjektive Eindruck von der Intelligenz nicht als eine blofse physiologische I unktion empfunden wird, sondern als das Anzeichen dessen, was uns die Anwesenheit von etwas Tats\u00e4chlichem kundgibt. Ebenso ist es sicher, dafs das H\u00f6r-, Riech-, Temperatur- und Geschmacksbild die gleiche Natur wie der Ber\u00fchrungseindruck haben. Der Vorstand jedoch glaubt, durch das pr\u00e4existierende Gef\u00fchl des Tats\u00e4chlichen gefesselt, niemals, dafs es spontan in dem erregten Nerven entst\u00fcnde. Immer wird als selbstverst\u00e4ndlich angenommen, dafs es einer \u00e4ufseren T\u00e4tigkeit entspricht, einer Sache, die an sich nicht t\u00f6nt, nicht schmeckt, riecht, kalt oder wTarm ist. Ohne das Bestehen dieser Sache w\u00fcrde man nicht einmal merken, dafs die Empfindungsnerven arbeiten, oder im Bewufstsein die Modifikation oder den folgenden Zustandwechsel anzeigen.\nDas sind die Tatsachen. So erscheinen uns die \u00e4ufseren Wahrnehmungen im Bewufstsein. Wie ist nun der Verstand zur Einsicht gekommen, dafs die Empfindungsbilder einem tats\u00e4chlichen Gegenstand entsprechen? Woher weifs er, dafs diese Sache eine conditio sine qua non jeder m\u00f6glichen Wahrnehmung ist, wenn diese Sache nicht in ihren Wirkungen gegeben w\u00e4re, oder wie Johannes M\u00fcller sich scharf und plastisch ausdr\u00fcckte, wenn die Nerven nicht Eigenschaften \u00fcbermittelten, sondern nur ihren eigenen Zustandswechsel anzeigten? Bevor man dazu kommen k\u00f6nnte, eine Wirkung ihrer Ursache zuzuschreiben, die Reaktion einer Aktion m\u00fcfste man eine enorme Menge Erfahrungen sammeln, durch die man dann dahin gelangt, sich genaue Rechenschaft dar\u00fcber abzulegen, dafs diese Empfindungen durch die Gegenwart des Tats\u00e4chlichen veranlafst werden, bis man in einer gl\u00fccklichen Stunde entdeckt, dafs der Hunger sich immer dann beruhigt, wenn in den Gef\u00fchlen ein bestimmtes Bild auftritt. Man hat ein- und das anderemal ausprobiert, dafs sich die Ereignisse im","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n283\nder \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t und in der trophischen, obwohl sie ganz verschiedener Natur sind, folgen. Wenn man zu der Idee kommt, man k\u00f6nnte erstere als das Kennzeichen der zweiten nehmen und hofft, dafs sie wieder erscheinen w\u00fcrden, wenn der Hunger dr\u00e4ngt, dann kann man in dem Augenblick, in dem sie auftreten, sagen, das ist das, was den Hunger stillt. Nach dieser Richtigstellung kann man auch feststellen, dafs jeder besondere Hunger durch besondere Kennzeichen unterschieden wird, und so wird jedes besondere Verlangen des Organismus mittels eines ihm entsprechenden Zeichens erkannt. Wenn hiermit die Verstandesarbeit anf\u00e4ngt, wenn man vor allem sich damit besch\u00e4ftigt hat, die Nahrungsmittel, mit denen die Ern\u00e4hrung des Organismus aufrecht erhalten wird, zu erkennen und sich ausschliefslich der T\u00e4tigkeit widmet, das charakteristische Kennzeichen dem Gegenstand zuzuerteilen, der tats\u00e4chlich die trophischen Bed\u00fcrfnisse deckte, ist es da nicht nat\u00fcrlich und logisch, dafs man sp\u00e4ter, wenn man diese Zeichen auf Sachen der Aufsenwelt bezieht, ebenso der Meinung ist, dafs sie von Grund aus Darstellungen des Realen sind? Oder k\u00f6nnte man vielleicht auch anders denken?\nDas Menschengeschlecht hat immer geglaubt, dafs die Vorstellungsbilder keine T\u00e4uschungen sind; dasselbe glauben alle Tiere der Sch\u00f6pfung. So allgemein verbreitet ist dieser Glaube, so unleugbar und sicher, dafs man aus analytischem Unverm\u00f6gen die Darstellung eines Gegenstandes von dem Dargestellten nicht zu unterscheiden pflegt, das Kennzeichen eines Gegenstandes und diesen selbst zusammenwirft, indem man beispielsweise als gegeben annimmt, dafs das Gesichtsbild nicht durch einen \u00e4ufseren Vorgang in der Retina entstanden ist, sondern dieser Vorgang selbst ist, oder dafs die S\u00fcfsigkeit des Zuckersv der Geruch der Rose nicht aus der T\u00e4tigkeit der Nerven entspringen, sondern das lebende Abbild der Sache an sich sind. Seit Johannes M\u00fcllee ist dieses Problem des R\u00e4tselhaften entkleidet worden, wie Yvonnaeius sagen w\u00fcrde. Niemand kann heute im Ernst aufrecht erhalten, dafs die Bilder eine Wiedergabe oder ein Abdruck \u00e4ufserer Gegenst\u00e4nde w\u00e4ren, wie die Glieder der Gleichung a = a. Wollte man sich auf diesen geistvollen Satz versteifen, so hiefse das eine andere Luft atmen, als die experimentelle Wissenschaft geschaffen hat.\nDie subjektivistische Auffassung von der Natur des Bildes\nist weder verschwunden, noch schw\u00e4cher geworden, sei der Glaube\n18*","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nB. Turr\u00f4.\nob sie etwas Tats\u00e4chlichem entspricht, wie er wolle. Nur in der rein logischen Sph\u00e4re haben zu allen Zeiten und unter dieser und jener Form die Genies der Analyse, die wir unter dem Namen Skeptiker zusammenfassen, an dieser grundlegenden Forderung des Verstandes gez weif eit. Ihre Zweifel sind unleugbar formelle, niemals haben sie sie auf das praktische Leben \u00fcbertragen; die niederen psychischen Vorg\u00e4nge geben ihnen eine Sicherheit, deren Urspr\u00fcnge sie durch die \u00dcberlegung nicht entr\u00e4tseln k\u00f6nnen. Daher kommt es, dafs ihre Zweifel nicht aufrichtig sind, und sie sich im gew\u00f6hnlichen Leben so benehmen, wie die, die an das Reelle glauben. Man versteht ganz gut, dafs beispielsweise Pirron nicht sicher war, ob die \u00fcbrigen Menschen existierten oder nicht, als er versuchte, sie zu seiner Ansicht zu bekehren. Der Zweifel am Realen ist mit dem Leben unvertr\u00e4glich. Man m\u00fcfste z\u00f6gern zu trinken, wenn man an der Anwesenheit des Wassers zweifelte. Die Bewegungen w\u00fcrden verhindert werden, wenn man seiner Schritte nicht sicher w\u00e4re. Alle Akte des psychischen Lebens setzen immer den Glauben voraus, dafs die Empfindungen uns nicht t\u00e4uschen. K\u00f6nnte man auch nur die M\u00f6glichkeit eines Zweifels annehmen, dafs die Empfindungseindr\u00fccke nicht einem tats\u00e4chlichen Gegenst\u00e4nde entsprechen, dafs also die Welt der Vorg\u00e4nge nur eine Erscheinungsform w\u00e4re, so m\u00fcfsten wir sterben. Als Descartes sich bem\u00fchte, sein erstes Gesetz aufzustellen, und, wenn auch nur vorl\u00e4ufig, diese M\u00f6glichkeit zuliefs, zweifelte er doch nicht einen Augenblick, an der Wirklichkeit seiner Empfindungen, denn, h\u00e4tte er dies getan, so h\u00e4tte er nicht die Meditation, in der er diese Zweifel auseinandersetzte, schreiben k\u00f6nnen. Vergleichen wir nun, worin der Unterschied besteht, wenn man formell dar\u00fcber rechtet, ob die Bilder illusorisch sind oder nicht, oder ob man aufrichtig glaubt, dafs sie, wenn auch nur vor\u00fcbergehend, bestehen. An diesem letzten Extrem zweifelt niemand und kann niemand zweifeln.\nDie Skeptiker aller Zeiten haben sich mit der fraglosen Tatsache abgefunden, dafs wir die Bilder einem \u00e4ufseren Vorgang zuteilen, haben aber die Frage nie l\u00f6sen k\u00f6nnen, woher wir wissen, dafs sie mit diesem Vorgang oder mit dem Tats\u00e4chlichen verkn\u00fcpft sind. Ebensowenig haben das die l\u00f6sen k\u00f6nnen, die keine Skeptiker sind, aber sich keine Rechenschaft geben, dafs dieses Problem \u00fcberhaupt existiert und an das Tats\u00e4chliche entweder","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n285\nvon einem objektiven oder \u00e4ufseren Gesichtspunkt, oder von einem subjektiven, d. h. idealistischen glauben, ohne sich nach dem Ursprung dieses inneren Glaubens zu fragen. W\u00e4hrend die ersteren versichern, dafs wir nicht w\u00fcfsten, wie wir zur Kenntnis der tats\u00e4chlichen Existenz des Realen k\u00e4men, lassen die letzteren die Existenz als ein richtiges Dogma zu. Kant sagt, dogmatisch ist alles das, was man zul\u00e4fst, ohne bewiesen zu haben, wie der Verstand dazu kam. Wenden wir diese uns vorz\u00fcglich erscheinende Definition in einem Umfange an, den der Autor kaum ahnen konnte, so m\u00fcssen wir sagen, dafs die, die die Existenz der tats\u00e4chlichen Aufsenwelt zugeben, ohne bewiesen zu haben, wie der Verstand dazu gekommen ist, damit eine rein dogmatische Annahme zulassen. Der Skeptizismus ist in seinem vollen Recht, wenn er diese Frage vor dem Forum der freien Forschung aufrollt und sich gegen solche Zumutungen wehrt.\nDie Ursache, warum dieser alte Streit nicht schlechthin im einen oder anderen Sinne durch eine endg\u00fcltige Begr\u00fcndung der Frage entschieden werden kann, liegt in der Abh\u00e4ngigkeit von dem angenommenen Standpunkt. Seit der Mensch angefangen hat dar\u00fcber nachzudenken, betrachtet man es als ein indiskutables Zugest\u00e4ndnis, dafs man nichts von der Aufsenwelt weifs, als was uns unsere Empfindungen kundgeben. Was dabei in unseren Gef\u00fchlen entsteht, ist nicht der Abdruck eines von ihm unabh\u00e4ngigen Originales und hat schliefslich nur einen rein subjektiven Wert. Wenn wir uns nicht an die genetische Methode bei der Verfolgung der Objektivierung dieser inneren Modifikation und ihre tats\u00e4chliche Grundlage halten und die Vorg\u00e4nge so untersuchen, wie wir sie tats\u00e4chlich vorfinden, so treffen wir auf die \u00fcberraschende Tatsache, dafs eine sensorische, rein innere Modifikation sich nach Art eines mit Zauberkr\u00e4ften begabten Phantasiegebildes auf die Aufsenwelt projiziert und sich an eine Stelle im Raume setzt, wo wTir die ihr tats\u00e4chlich entsprechende Sache vermuten. Nehmen wir diese spontane Exzentrizit\u00e4t als Ausgangspunkt des empirischen Verst\u00e4ndnisses, so glauben wir an die Eigenschaften, die wir den Gegenst\u00e4nden beilegen, durch eine geheimnisvolle Kraft, die uns diesen Glauben innerlich aufdr\u00e4ngt. Wie Taine sagt, gehorchen wir, wenn wir uns auf alle diese Grundurteile, die uns die unmittelbare Wahrnehmung darbietet, verlassen, dafs der Schnee weifs, der Honig s\u00fcfs, die Rose","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nR. Turr\u00f4.\nwohlriechend ist, einer uns ber\u00fcckenden halluzinatorischen Kraft. An alle diesem sieht man deutlich, dafs die empirische Beobachtung, so wie sie in den Sinnen entsteht, sich nur auf eine\n\u2022 \u2022\ninnere, in allen Punkten unlogische \u00dcberzeugung gr\u00fcndet, sobald\nwir uns einmal auf diesen Standpunkt festlegen. Versichern wir\nbeispielsweise, dafs der Schnee weifs ist. Solange wir uns nicht\nfragen, worauf wir diese Versicherung gr\u00fcnden und sie in blindem\n\u2022 \u2022\nVertrauen auf unseren inneren Glauben, der uns zu dieser \u00dcberzeugung bringt, hinnehmen, scheint uns unser Urteil unwider-sprechlich und so ist es auch tats\u00e4chlich. Wenn wir uns aber fragen, was wir mit diesem h\u00f6chst einfachen Urteil sagen wollen, so merken wir, dafs die Empfindung des Weifsen, die in der Retina entstanden ist, auf einen Gegenstand projiziert wird, der aufserhalb der Augen sich befindet und mittels dessen wir dazu kommen, ihn uns vorzustellen. Dann m\u00fcssen wir uns fragen: Wie wissen wir, dafs er diesem Gegenstand entspricht? Vom nativistischen Standpunkt haben wir aufrichtig zu bekennen, dafs wir nicht wissen, wie wir dies wissen, wenn wir es auch rundweg behaupten. Wir begegnen also hier einer unlogischen Erkenntnis. Im Bereich des Verstandes erachten wir als logisch\nalles, was sich aus dem Vorhergehenden ableitet, was es be-\n\u2022 \u2022\ngr\u00fcndet; und weil es so ist, leben wir der \u00dcberzeugung, dafs der Vorgang, der im Bewufstsein im Augenblick B erscheint, dort nicht erscheinen w\u00fcrde, wenn ihm nicht andere Vorg\u00e4nge im Augenblick A vorangegangen w\u00e4ren. Das logische ist immer die Verkn\u00fcpfungsfolge, der ewige Ablauf des Vorangehenden und Folgenden. Sehen wir uns einem spontanen Vorgang gegen\u00fcber, so mufs es ein unbegr\u00fcndeter sein, d. h. etwas, was man nicht in eine Reihenfolge bringen kann und das in seinem Ende von der logischen verschiedener Natur ist. So verh\u00e4lt es sich mit dem elementarsten Erfahrungsurteil. Teilen wir eine sensorische Eigenschaft einem Gegenstand zu, so stellen wir eine Beziehung zwischen dem in unseren Gef\u00fchlen Auftretenden und der Sache, von der wir sie ausgesagt haben, her, als ob wir ahnten, dafs diese Eigenschaft sich tats\u00e4chlich auf diesen K\u00f6rper beziehen m\u00fcfste. Aber von dem Augenblick an, wo die Erfahrung uns versichert, dafs diese Beziehung nicht auftritt, weil dieses durch tiefgr\u00fcndige, geistige Vorg\u00e4nge, die wie alle nach einem logischen Plan angelegt sind, ermittelt wurde, sondern dafs wir es hier mit einer geheimen Eigenschaft, einer mysteri\u00f6sen Kraft zu tun","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n287\nhaben, die uns zu diesem Glauben treibt, so gehen wir nicht logisch, sondern willk\u00fcrlich vor. Wenn die Exzentrizit\u00e4t der Empfindung von Geburt spontan best\u00fcnde, so w\u00e4re sie unbegr\u00fcndet und entbehrte der veranlassenden Vorg\u00e4nge. Damit w\u00fcrden wir dann auch nicht wissen, wie wir tats\u00e4chlich wissen, dafs die weifse Farbe dem Schnee, die S\u00fcfsigkeit dem Honig zugeh\u00f6rte, und wir k\u00f6nnten es auch niemals lernen. Da alle Beobachtungswissenschaften sich so verhalten und alles Grundlegende und Sichere im Verst\u00e4nde sich so auf baut, so sucht man seine Erleuchtung in einem instinktiven, urspr\u00fcnglichen Vertrauen, das uns durch magische K\u00fcnste eingepflanzt w\u00e4re.\nNiemand glaubt an ein solches Wunder. Vom letzten Wirbeltier bis zum kl\u00fcgsten Menschen hegen alle nicht nur den Glauben, sondern die logische Gewifsheit, dafs der Schnee es ist, der weifs ist und der Honig, der s\u00fcfs ist. Sie k\u00f6nnen sich von den logischen Prozessen, aus dem sich diese Sicherheit herleitet, keine Rechenschaft geben. Aber der endg\u00fcltige Schlufs lebt so deutlich in ihrem Bewrufstsein, dafs sie die feste \u00dcberzeugung haben, dafs sie sich nicht irren oder t\u00e4uschen. Sie k\u00f6nnen nicht er\u00f6rtern, woher sie es wissen, aber es besteht die Tatsache, dafs sie es wdssen. Sie befinden sich unter \u00e4hnlichen Bedingungen, wie ein Mathematiker, der die Erinnerung an die dem Pythagoras vorausgehenden S\u00e4tze verloren h\u00e4tte und nun nicht mehr imstande w7\u00e4re, ihn zu beweisen, obwohl er sehr gut begreift, dafs er richtig ist, oder auch einem, der sich der letzten Silbe eines Namens erinnert, aber nicht der vorhergehenden. Wie diese das Bewufst-sein der vorhergehenden S\u00e4tze oder der fehlenden Silben besitzen, wenn ihnen auch das Erinnerungsverm\u00f6gen fehlt, so leben wir in der \u00dcberzeugung, dais wir nicht einer blinden, spontanen Kraft gehorchen, wenn wir die weifse Farbe dem Schnee und die S\u00fcfsigkeit dem Honig zuteilen, sondern einer logischen \u00dcberlegung, die uns zu diesem Glauben zwingt.\nHelmholtz, wenn auch nicht der Gr\u00fcnder der genetischen oder auch empirisch genannten Schule, hat dies am klarsten und genauesten vor allen an den optischen Wahrnehmungen auseinandergesetzt, indem er mit der Empfindung diese nach aufsen verlegende Kraft verband, die der Nativismus ihr nur hypothetisch zuweist. In seinem Sinne ist der Gef\u00fchlseindruck ein Zeichen, das der Verstand auslegen mufs; solange er es nicht ausgelegt hat, entbehrt das Zeichen einer \u00e4ufseren","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nR. Turr\u00f4.\nBedeutung, wie die Schrift f\u00fcr den, der nicht lesen kann, d. h\u201e also, die Empfindung geht damit dazu \u00fcber, eine innere Modifikation darzustellen. Erwirbt es sp\u00e4ter eine objektive Bedeutung, so geschieht das durch eine unbewufste \u00dcberlegung, die sich auf Erfahrungstatsachen st\u00fctzt. Solche Tatsachen bietet die Bewegung. Nehmen wir die Gesichtsfunktion nicht so, wie sie sich beim Kind zu bilden beginnt oder beim Blinden, der das Augenlicht durch einen chirurgischen Eingriff wiedererh\u00e4lt, sondern so, wie wir sie jetzt nach einer langen und m\u00fchsamen Lehrzeit besitzen, so haben wir offenbar im Gesichtsfeld einer Landschaft z. B. das Gef\u00fchl oder das Bewufstsein dessen, was rechts und links, was oben und unten ist. Fragen wir uns nun, ohne uns hier auf an dieser Stelle unangebrachte, tiefgr\u00fcndige Untersuchungen einzulassen, auf welcher Grundlage wir das Gef\u00fchl dieser Hauptrichtungen besitzen, so m\u00fcssen wir uns zugestehen, dafs das auf Grund der erworbenen F\u00e4higkeit ist, an erster Stelle die Augen, dann den Kopf und schliefslich den ganzen K\u00f6rper nach einer oder der anderen Seite zu drehen. Wir besitzen ja aber nicht nur die F\u00e4higkeit, uns in vier Richtungen zu bewegen. Beim Betrachten der Landschaft f\u00fchlen wir uns imstande, auf jeden einzelnen der unz\u00e4hligen Punkte einzustellen, aus denen sich das Gesichtsfeld zusammensetzt, wenn wir es in Gesichtspunkte zerlegen. Fixieren heifst soviel wie im voraus ein bestimmtes Gesichtsbild durch angepafste Innervation sgef\u00fchle inAbschnitte und Lokalzeichen der Retina zu zerlegen. Das Gesamtbild, aus dem sich die Landschaft zusammensetzt, auf den ersten Blick an die Stelle im Raum zu lokalisieren, auf die wir es projizieren, heifst dasselbe wie die lebende Bewegungsvorstellung dessen zu besitzen, was man zu tun h\u00e4tte, um es an der Stelle zu sehen, auf die wir es projizieren.\nWenn wir die Frage nicht in so komplexer Form auf werfen, zu der sie durch viele Versuche geworden ist, sondern sie dadurch vereinfachen, dafs wir einen blofsen Pigmentfleck annehmen, so begreifen wir intuitiv, dafs der Lichteindruck, der die Nervenendigungen reizt, ein rein innerer sein mufs, solange das Tier \u00fcber keine anderen Urteilsmomente verf\u00fcgt als die, welche sich ihm hierbei darbieten. Sobald sich jedoch das Tier bewegt und einen Begriff von dem zur\u00fcckgelegten Weg hat, mufs, jemehr Bewegungsversuche sich ansammeln, zwangsweise ein Augenblick","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n289\nkommen, in dem das von dem Objekt x ausstrahlende Licht, das in Greifn\u00e4he eine Helligkeit von 5 Einheiten hatte, als dasselbe erkannt wird, das nur die Helligkeit 2 hat, wenn der K\u00f6rper weiter entfernt wird. Um dieses Gleichheitsurteil zu f\u00e4llen, gen\u00fcgt es, das Bewufstsein der Bewegung zu besitzen, die ausgef\u00fchrt werden mufs, um die Helligkeit 5 zu erreichen und es dann durch Angreifen zu bestimmen. W\u00e4re das Tier absolut unbeweglich, so w\u00e4re es auch nicht imstande, die Entfernungen zu beurteilen, weil ihm der zur Messung n\u00f6tige Bewegungsfaktor fehlt.\nHierin liegt kurz gesagt der Ursprung der visuellen Exzentrizit\u00e4t. Aus dem Sinneseindruck allein kann man nicht die Richtung und ebensowenig die Entfernung, die ja nur ein Quantum oder ein Mafs derselben darstellt, ableiten. Die spezifisch wirkende Nervenendigung zeigt das Licht nach der St\u00e4rke der Reizung an, aber das Mehr oder Minder wird aus sich selbst nie N\u00e4he oder Weite verk\u00fcnden, solange nicht durch die Bewegung die Kenntnis von dem zwischenliegenden Raume erworben ist. Erst dann kann sich durch die Zusammensetzung der beiden Faktoren, des sensorischen und des motorischen, ein Urteil \u00fcber Richtung und Entfernung bilden, in der sich der leuchtende Gegenstand befindet.\nIm Grunde ist die visuelle Exzentrizit\u00e4t dieses rudiment\u00e4ren Auges dieselbe wie die von den Augen der h\u00f6heren Vertebraten offenbarten Funktionen, wenn man von der enormen Zusammen-gesetzheit des Vorganges bei diesen absieht. Der Nativismus macht sich anheischig, sie uns als spontan und nicht durch Bewegungserfahrungen erworben hinzustellen, und aus diesem Grund erscheint er uns unlogisch ; denn damit sieht er von dem grundlegenden logischen Moment ab. Wir wissen jetzt, welches der Polarstern ist, sofern wir in unserer Erinnerung das Bewegungsbild besitzen, das wir auf unsere Augen zu \u00fcbertragen haben, damit dieser Stern auf unsere Retina wirken kann. Fehlt die Kenntnis dieser Bewegungsvorstellungen in unserem Ged\u00e4chtnis, so werden wir nicht wissen, welches der Polarstern ist, auch wenn er in unserem Augenhintergrund aufleuchtet. Auf dieselbe Weise wissen wir, dafs die Farben a b c d . . . n den zugeh\u00f6rigen Objekten angeh\u00f6ren, wofern wir das nat\u00fcrliche Geschick in uns f\u00fchlen, sie nacheinander oder gemeinsam in ein tiefes Gesichtsfeld zusammenzufassen. Unterdr\u00fccken wir im Geiste die Kenntnis der Richtungen, sondern wir die Retinafunktion von der der","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nR. Turr\u00f4.\npsychomotorischen Innervation, so k\u00f6nnen die Objektive a b c d... n die Retina ebenso wie fr\u00fcher beeinflussen und wir werden doch nicht wissen, dafs es verschiedene sind, weil wir nicht wissen, wo sie sind.\nMan kann also nicht sagen, wir glauben aus einer uns dazu veranlassenden Geisteskraft heraus, dafs der Schnee weifs ist. Wir wissen das durch einen experimentellen Lehrgang, dessen Leiter wir selbst sind. Die weifse Schneeflocke, die sich von dem gelben Boden oder der gr\u00fcnen Pflanze abhebt, setzt eine Unterscheidung zwischen dieser Farbe und allen anderen voraus, die nicht wie die des Schnees sind. Diese Unterscheidung ihrerseits setzt die Kenntnis der den Retinalokalzeichen zugeh\u00f6rigen Richtungen voraus, durch die wir wissen, dafs der sich scharf abhebende Eindruck dieser bestimmte und kein anderer ist. Wir k\u00f6nnen nicht zweifeln, dafs jede Farbe ihrem Gegenstand zugeh\u00f6rt, denn das hiefse an unserer willk\u00fcrlichen Geschicklichkeit zweifeln, das Gesichtsbild in bestimmten Retinaabschnitten hervorzurufen und nicht in anderen.\nDie unzerst\u00f6rbare Sicherheit, dafs die \u00e4ufseren Beziehungen nicht willk\u00fcrliche sind, auch nicht spontan entstehen, leitet sich aus dieser vorhergehenden Arbeit her, durch die man die genaueste Kenntnis der Lokalzeichen erwirbt, die angerufen werden m\u00fcssen, je nach dem Bestehen motorischer Unterscheidungen, die ihre Reizung vorher festlegen. Daher ist Sehen immer das Resultat einer inneren Untersuchung. Die psychomotorische Innervation bestimmt die Bedingungen, unter denen der Vorgang sich abzuspielen hat. Die optische Sensibilit\u00e4t schafft den Vorgang selbst absolut unabh\u00e4ngig von der willk\u00fcrlichen Bewegung.\nBedenken wir das wohl, so merken wir im Gegensatz zu der Anschauung des Nativismus, dafs Sehen nicht darin besteht, dem Eindruck des Lichtes aufzunehmen, denn dieser Eindruck kann aufgenommen werden, ohne dafs gesehen oder wahrgenommen wird. Sehen heifst das Licht empfinden und es projizieren, indem ein Zusammenhang zwischen dieser spezifischen, verursachenden und veranlassenden Reaktion aufgestellt wird. Diese Beziehung besteht nicht schon vorher in einer geheimnisvollen Weise. Sie braucht nur durch die Erfahrung geweckt zu werden, und daher stellt der Sehakt eine wirkliche Einsicht dar, die aus dem logischen Prozefs als seiner genetischen Bedingung hervorgeht. Die Richtigkeit oder Unrichtigkeit dieses Urteils h\u00e4ngt von den Bedingungen","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n291\nab, unter denen dieser Prozefs zustande kommt. Stellen wir uns nur vor, dafs einer der motorischen Augenmuskeln unvorhergesehen paretisch wird, so wird beim Hervorrufen der psychomotorischen Erinnerungen, die vor dem Eintreten dieses Zustandes peripher gebildet worden sind, das Bild auf eine Stelle im Raum projiziert werden, wo der Gegenstand, dem es entspricht, in Wirklichkeit nicht liegt. Urteilen wir jetzt, dafs der motorische Apparat des Augapfels so funktionierte wie fr\u00fcher und st\u00fctzen wir uns auf die fr\u00fcheren Erinnerungen und verlegen wir das Bild an dieselbe Stelle wie fr\u00fcher, so irren wir uns nicht deswegen, weil unsere Retina uns get\u00e4uscht hat; was sich t\u00e4uscht ist die Person, die annimmt, dafs dieselben Bedingungen bei dem Sehvorgange herrschen, wie fr\u00fcher, w\u00e4hrend sie in Wirklichkeit sich ge\u00e4ndert haben. Sowie uns das Gef\u00fchl zeigt, dafs die Projektion irrig war, beginnen wir von neuem die entsprechende experimentelle Arbeit und berichtigen so den Irrtum. Was haben wir zu diesem Behufe zu tun? Wir m\u00fcssen die Kraftmenge messen, die wir auf diesen paretischen Muskel auszu\u00fcben haben, damit das Bild, das an eine n\u00e4here Stelle wie unter normalen Bedingungen projiziert wurde, in gr\u00f6fsere Entfernung f\u00e4llt.\nEbenso r\u00fcckschliefsen wir urspr\u00fcnglich, dafs die K\u00f6rper sich bewegen, wenn wir kraft der Beobachtung, dafs sie verschwinden, versuchen, ihnen durch unsere Augenbewegungen im Raume zu folgen. So erreichen wir, dafs ihr Bild auf der Retina ebenso bestehen bleibt, wie es das ohne diese Notwendigkeit und Kraftanstrengung tun w\u00fcrde, wenn die K\u00f6rper unbeweglich w\u00e4ren.\nDie Wahrnehmung der Bewegung macht sich von diesem in-\n\u2022 \u2022\nduktiven Urteil unabh\u00e4ngig, durch das wir zu der \u00dcberzeugung kommen, dafs das Bild fortbesteht, solange mittels des die Augenstellung im Kopf und die Linsenakkomodation bewirkenden Innervationsgef\u00fchls, das, was sie verursacht, auf die Retina wirkt. Die Kenntnis von der determinierenden Bedingung dieses Sehvorganges gibt erst der Objektivierung der Bewegung ihren eigentlichen Wert. Nehmen wir jetzt an, dafs vor der unbeweglichen Pupille ein K\u00f6rper vorbeizieht und verschwindet. Dieses Vor\u00fcberziehen ruft die Erinnerung an alle motorischen \u00dcbungen wach, durch die wir uns das Urteil bilden: der K\u00f6rper bewegt sich. Die Richtigkeit des Urteils h\u00e4ngt davon ab, dafs","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nR. Turr\u00f4.\nder Sinneseindruck in der Retina unter denselben Bedingungen vor sich geht, wie damals, als man den Bewegungsvorgang ableitete. Daher k\u00f6nnen wir das Urteil jedesmal dann mit voller experimenteller Sicherheit abgeben, wenn wir die Bedingungen in Rechnung ziehen k\u00f6nnen, unter denen sich das Bild darstellt. Wenn wir in den fr\u00fcheren Erinnerungen sch\u00f6pfen und dieselben Bedingungen voraussetzen, so wird unser Urteil richtig sein, wenn die Voraussetzung richtig war, falsch, wenn sie es nicht war. Nehmen wir jetzt an, dafs nicht der K\u00f6rper vor\u00fcbergeht, sondern die beobachtende Person, wie es der Fall ist, wenn wir in der Eisenbahn fahren oder im Luftballon aufsteigen, ln diesem Fall t\u00e4uscht uns die Sehfunktion. \u00c4ndert sich in diesem Falle die lichtabbildende Funktion? Sie reagiert wie vorher. Nur dafs vorher das Bild durch eine freiwillige Bewegung unserer Augen Bestand hatte und wir darum unterscheiden konnten, dafs der K\u00f6rper nacheinander verschiedene Punkte im Raume einnahm und jetzt das Bild nicht aus demselben sondern einem unterschiedlichen Grunde fortbesteht und, da wir annehmen, dafs jenes die Ursache ist, so liegt der Fehler nicht in unseren Augen, sondern in der geistigen Voraussetzung. Wenn Galilei die scheinbare von der reellen Bewegung unterscheidet, so st\u00fctzt er sich im Grunde genommen auf folgenden Satz : Das Gesichtsbild entbehrt so lange des objektiven Wertes, solange nicht im Bewufst-sein die Innervationsbedingungen bekannt sind, unter denen es auftritt. Das geht soweit, dafs, wenn wir annehmen, die Erde steht still, die Sonne sich im Raume bewegen mufs. Wenn uns aber Zweifel an der Richtigkeit dieser Annahme aufkommen, sei es, dafs wir nicht sicher w\u00e4ren, ob die Sonne oder die Erde oder beide K\u00f6rper sich bewegen, so zerst\u00f6ren wir unser Zutrauen in das, was uns das Gef\u00fchl in so gebieterischer Weise zeigt.\nMan sieht also, wie fraglos der Sehakt das Resultat eines durch die Erfahrung geschaffenen Vorganges ist. Wie wir erkennen, dafs wir uns in der Auslegung irren k\u00f6nnen, so erkennen wir auch, dafs das, was unsere Sinne uns beibringen, einer Berichtigung unterliegt, weil in der Tiefe unseres Bewufstseins etwas uns sagt, dafs der Akt des Sehens und Projizierens auf den Gegenstand ein irrt\u00fcmliches oder richtiges Urteil enth\u00e4lt, je nachdem die Bedingungen, unter denen das Bild erscheint, eingesch\u00e4tzt werden, ebenso wie uns die nachdenkliche Beurteilung zu einem richtigen oder falschen Schlufs je nach den Bedingungen","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n293\nder vorhergehenden Glieder der Reihe verf\u00fchrt, aus denen sich die folgenden ableiten. Der Unterschied ist, dafs man in dem letzten Zustand nicht im Bewufstsein empfindet, wie sich die Reihen eine nach der anderen ab wickeln, w\u00e4hrend im ersten Fall die Erinnerungsbilder, aus denen sich die f\u00fcr die visuelle Einsicht mafsgebenden Tatsachen ergeben, so tiefliegend und fern sind und ein solcher Grad von Automatismus erworben ist, dafs sie bei der Selbstbetrachtung aufserhalb des Bewufstseins zu liegen scheinen, obwohl dies eine reine Illusion ist. Helmholtz nennt diese Urteile unbewufste Schl\u00fcsse. Tats\u00e4chlich versteift sich der Mathematiker nicht hartn\u00e4ckiger auf die L\u00f6sung seiner Probleme als das Kind auf seine Versuche der Gesichtsbildprojektion w\u00e4hrend jener langen Lebensperiode, in der es die optischen Eindr\u00fccke als Objektzeichen aufzufassen sich bem\u00fcht. Da der ber\u00fchmte Heidelberger Gelehrte glaubt, dafs die Organisation der Gesichtsvorg\u00e4nge sich auf eine geistige Arbeit st\u00fctzt, so ist es klar, dafs er das Wort \u201eunbewufst\u201c nicht in \u00fcbertragenem Sinne auffafst, noch mit ihm den physiologischen Hintergrund bezeichnen will, sondern einfach den vollst\u00e4ndig bewufsten Vorgang, der durch die Wiederholung automatisch geworden ist.\nWir brauchen nicht von allen Empfindungen auszuf\u00fchren, was wir bei den optischen angedeutet haben. Wahrnehmen heifst das Bild auf seine \u00e4ufseren Bedingungen beziehen und es sich in der Aufsenwelt vor stellen. Um diese Operation ausf\u00fchren zu k\u00f6nnen, ohne die Hilfe einer geheimen Kraft in Anspruch nehmen zu wollen, mufs man erforschen, worin diese Bedingung ruht. Wenn man den Duft der Rose, die S\u00fcfsigkeit dem Honig, den Klang dem schwingenden K\u00f6rper zuteilt, so zeigt man damit offenkundig die Kenntnis, dafs die von diesen K\u00f6rpern ausgehenden Reize den H\u00f6r-, Geschmacks- und Geruchsnerven getroffen haben. Wie ist man zu dieser der Person zweifellos innewohnenden Kenntnis gelangt?\nSolange man es f\u00fcr m\u00f6glich h\u00e4lt, dafs die sensible Intuition von selbst im Verst\u00e4nde entsteht, kann man wenigstens das Problem nicht auf stellen, das Helmholtz in bezug auf die optischen Wahrnehmungen mit solcher Sch\u00e4rfe formuliert hat. Diese Unf\u00e4higkeit ergibt sich aus dem vom intuitionistischen Nativismus eingenommenen Standpunkt. Von dem Augenblicke an, wo man die Sicherheit erlangt hat, dafs alle Vorg\u00e4nge der","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nR. Turr\u00f4.\n\u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t nur den von aufsen kommenden Bedingungen unterliegen, mufs man anerkennen, dafs, wenn ihre T\u00e4tigkeit Farben auf der Retina und in den optischen Zentren, den Druck in der Haut und ihren aufnehmenden Zentren, den Geschmack im Mund und den zentralen Kernen, usw., erzeugt, der Vorgang, durch den die Eindrucksspezies auf ihre Ursache bezogen wird, sich zu diesem selbst verh\u00e4lt wie das Echo zum Ton. Von solchen Gesichtspunkten versteht man, dafs zwischen Subjekt und Objekt ein vorher gebildeter Einklang bestehen mufs, dem vergleichbar, der zwischen den Tasten eines Klaviers und dem Ton besteht, den die Saiten im Innern des Geh\u00e4uses von sich geben, wenn sie von den H\u00e4mmern angeschlagen werden.\nWie Helmholtz mit bitterer Ironie sagt, heilst das nicht einen Vorgang erkl\u00e4ren: Das ist einfach eine geschickte Art, den Weg zu jeder Diskussion abzuschneiden. Mit dieser Hypothese wird nichts gel\u00f6st, aber man macht die L\u00f6sung des Problems unm\u00f6glich. Auf den ersten Blick scheint man sich ja auf die Beobachtung zu st\u00fctzen, aber diese ist so l\u00fcckenhaft und unvollkommen, dafs sich ihre Auslegung zu einem reinen Anschein verfl\u00fcchtigt, wenn man tiefer in sie eindringt und die fehlenden Daten erg\u00e4nzt. Es ist durchaus nicht sicher, dafs das Tier wie ein Apparat zur Welt kommt, der eigens dazu montiert ist, zu t\u00f6nen, wenn man ihn anschl\u00e4gt, Zwischen den Vorg\u00e4ngen der Aufsen- und Innenwelt besteht diese getr\u00e4umte Harmonie nicht. Die Empfindungen sind nicht, wie man sich einbildet, blofse Aufnahmeapparate, die in die Tabula rasa der Verstandes Eindr\u00fccke graben, die eine intuitive Kraft nach aufsen verlegt. Sie liefern und speichern diese Eindr\u00fccke nach dem Ausdruck der alten Schule nach Einsichtsarten auf. Wie wir an anderer Stelle gezeigt haben, bringt das Tier Bestrebungen mit, die aus den vom Organismus im Bewufstsein angegebenen Bed\u00fcrfnissen hervorgehen. Sie veranlassen Bewegungen, durch die das Tier seine F\u00e4higkeit merkt, \u00fcber seine Empfindungen wie \u00fcber angepafste Mittel zu verf\u00fcgen, um die Eindr\u00fccke hervorzurufen, mit denen es jene zur Ruhe bringen kann. Auf diese Weise werden die genannten Empfindungen unter die Herrschaft des Willens gestellt. Es ist sicher, dafs die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t nur unter dem Eindruck eines \u00e4ufseren Reizes reagiert. Sicherlich kann der kr\u00e4ftigste Wille nie einen Geschmack im Munde, einen Farbeneindruck im Auge","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n295\nhervorrufen. Aber sofern er die Empfindungen unter Bedingungen bringen kann, die ihnen erlauben, den Vorgang eines so schmeckenden K\u00f6rpers, einer solchen Farbe, die Kenntnis dieser Bewegungsform oder dieser Bewegungsunterschiede aufzunehmenr ist er eine conditio sine qua non jeder \u00e4ufseren Unterscheid dung. Das geht so weit, dafs, wenn diese Kenntnis fehlte, die Aufsenwelt den Nerven in gleicher Weise beeinflussen k\u00f6nnte; aber dieser Eindruck w\u00e4re kein intuitiver, weil man nicht weifs, wo seine Ursache liegt. Im Gegensatz zu den Anschauungen des Nativismus werden uns die \u00e4ufseren Unterscheidungen nicht von aufsen nach innen beigebracht, sondern von innen nach aufsen. Um die rote, weifse, blaue Farbe eines Gegenstandes unterscheiden zu k\u00f6nnen, ist es unerl\u00e4fslich, dafs wir durch die Akkommodation vorher die motorische Erfahrung erworben haben, durch die wir die Stellen scharf und abgegrenzt beurteilen k\u00f6nnen, die jede von ihnen einnimmt, weil wir bei ihrem Fehlen nicht wissen, wo das eine und andere ist, und damit das Bild undeutlich wird. So m\u00fcssen wir auch, um den einen oder anderen Geruch, den Klang zweier K\u00f6rper unterscheiden zu k\u00f6nnen, den Geruch a nach einer bestimmten Richtung und den Geruch h nach einer anderen verlegen, wie wir den Klang der Suppenterrine dahin orientieren m\u00fcssen, wo der so t\u00f6nende K\u00f6rper steht und ebenso den des Glases. Diese motorischen Unterscheidungen bilden die genetische Bedingung jeder \u00e4ufseren Unterscheidung.\nSo wie wir eben die Vorg\u00e4nge, aus denen die \u00e4ufsere Wahrnehmung sich herleitet, aufgestellt haben, hat es ganz den Anschein, als ob das Empfindungsbild die Bewegung orientiert und nicht die Bewegung das Bild, wenn es es auf eine Ursache projiziert. Wenn der Rabe durch den Geruch die Richtung seines Fluges festsetzt, so wird er unzweifelhaft ebenso durch ein nach aufsen verlegtes Bild geleitet, wie der Hund auf der F\u00e4hrte,. Dringen wir aber tiefer in diese Beobachtung ein, so sehen wir, dafs dies der Vorgang im entscheidenden Augenblick ist, weil in fr\u00fcheren Zeiten durch die Bewegung die Erfahrung gemacht wurde, dafs der Geruch von dieser bestimmten Stelle herkommt. Wenn die jungen Hunde ihre ersten Bewegungsversuche machen, so bleiben sie immer im Umkreis ihrer Mutter. Ein Geruch wirkt auf ihre Nerven, ein besonderer Klang macht sich in ihren Ohren geltend. Wo liegen die Ursachen dieser Empfindung? Davon haben wir keine Ahnung. Positiv wissen wir","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nR. Turr\u00f4.\nnur, dafs die einen wie die anderen die Anwesenheit der Nahrung verk\u00fcnden. Sie n\u00e4hern und entfernen sich, indem sie Muskelreizen gehorchen und wandern eine Zeitlang ganz unst\u00e4t umher, als ob ihre Bewegungen blind w\u00e4ren. Wann beginnen sie, ihnen eine Richtung vorzuschreiben? Soweit sie kraft ihrer Versuche sich allm\u00e4hlich Schritt f\u00fcr Schritt dar\u00fcber Rechenschaft ablegen, dafs sie sich mittels des Geruchs und Geh\u00f6rs \u00fcber das Nahrungsmittel Klarheit verschaffen k\u00f6nnen, die je nach ihrer Entfernung sch\u00e4rfer oder undeutlicher wird. Wenn sie sich verirren oder nicht mehr wissen, wo die Nahrung sich befindet, so bestehen in ihrem Ged\u00e4chtnis motorische Erinnerungsbilder, die sie veranlassen, die Ohren zu spitzen oder zu schn\u00fcffeln, damit die momentan nicht wahrgenommenen Bilder wieder auftreten. Nur bei der Ausf\u00fchrung dieser Bewegungen entstehen diese Empfindungen. Mit und ohne sie wirkt die Erregung auf die Nerven in gleicher Weise, aber der Eindruck ist ein innerer und wird nicht nach aufsen verlegt, solange nicht das Erinnerungsbild hinzukommt, und sie unl\u00f6slich in einen einzigen Zustand zusammenschmilzt (Aprehensio). Dann beginnt der Glaube, dafs das, was den Hunger stillt, an einem bestimmten Orte sich befindet. Wo ist dieser Ort? Der Versuch lehrt, dafs das Ziel nur dann erreicht wird, wenn man sich von der zunehmenden St\u00e4rke der Empfindung leiten l\u00e4fst. So wird das Richtungsgef\u00fchl geschaffen, so gelangt man auch zu der Erkenntnis, dafs diese das Gef\u00fchl affizierende, unterschiedliche Reizung einem bestimmten Gegenst\u00e4nde entspricht und nicht einem anderen. Dieses Gef\u00fchl h\u00e4lt w\u00e4hrend des ganzen Lebens unaufh\u00f6rlich an.\nBetrachten wir diese Frage oberfl\u00e4chlich, so scheint es zweifellos, dafs die Spur die Bewegungsrichtung beim erwachsenen Hund festlegt, sehen wir aber genauer zu, so bemerken wir, dafs vielmehr die Bewegungsrichtung die Spur bildet. Wenn der Geruchssinn pl\u00f6tzlich verschwindet, so h\u00f6rt auch die Spur augenblicklich auf, und dann schweift das Tier unsicher umher und mufs wieder dieselben Versuche anstellen, wie in der fr\u00fchesten Jugend. Findet es ihn von neuem, so formt es eine innere, in der Membrana pituitaria schon vorhandene Empfindung in eine \u00e4ufsere Wahrnehmung durch das Innervationsgef\u00fchl um, das ihren Standpunkt im Raum bestimmt. Unterdr\u00fccken wTir diese innere Bedingung, die den Sinneseindruck unter die Herrschaft der psychischen Motilit\u00e4t stellt, so wird die Aufsenwelt so auf","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n297\ndas Gef\u00fchl weiterwirken wie vorher, aber die Person wird auch weiter im unklaren bleiben, wieso dieser Vorgang zustande gekommen ist.\nFassen wir zusammen, so gen\u00fcgt es, dieses so einfach erscheinende Ph\u00e4nomen, das wir Wahrnehmung nennen, zu analysieren, um zu verstehen, dafs es aus der Zusammensetzung zweier unentbehrlicher Faktoren zustande kommt, deren einer ausschlie\u00dflich auf Vorg\u00e4nge in der Aufsenwelt zur\u00fcckgeht und das reine Empfindungselement bildet, deren anderer motorischer Natur ist und unterschiedlich die Ursache oder den \u00e4ufseren Vorgang determiniert, den er in den Sinnen hervorruft. Dieser Gesichtspunkt ist nicht neu. Die aus den Anschauungen des Aristoteles sch\u00f6pfenden Scholastiker setzten dieselbe Idee, wenn auch in intuitiver Art, auseinander. Die genetische Schule hat das Problem auf den Boden des reinen Experimentes gestellt und seine Erforschung in diese Richtung gelenkt. Wir wollen im zweiten und dritten Teil dieser Arbeit die psychomotorische Innervation in ihrer Wirkung auf Gef\u00fchl und Gesicht untersuchen und wie sie das Element darbietet, das die Eindr\u00fccke der thermischen, akustischen, der Geruchs- und Geschmacksempfindung nach aufsen verlegt, und wenn wir uns diesem Studium zuwenden, so k\u00f6nnen wir in diesem Augenblick den Satz, wenn auch in ganz kurzen allgemeinen Ausdr\u00fccken, nicht von einer Fortsetzung unserer Forschungen auf die Erkenntnis vom Wirklichen absondern.\nDie nativistische und genetische Schule haben etwas Gemeinsames, so verschieden und entgegengesetzt sie auch auf den ersten Blick erscheinen. Beide geben zu, dafs das geistige Leben durch \u00e4ufsere Reize erweckt wird, indem sie die Funktion der Wahrnehmungszentren vom Bewufstsein der psychotrophischen Zentren trennen, ohne dafs man bis heute Mutmafsungen dar\u00fcber angestellt hat, dafs der wahre urspr\u00fcngliche Antrieb zur Differenzierung der in den Zentren auftretenden Ph\u00e4nomene sich von dem unvermeidlichen Bed\u00fcrfnis herleitet, das der Organismus im Bewufstsein anzeigt ; hat man doch die Aufmerksamkeit \u00fcberhaupt noch nicht auf die Natur der Hungerempfindung gelenkt. Da man also die logischen Vorg\u00e4nge dieser Unterscheidungen noch nicht da gesucht hat, wo sie tats\u00e4chlich sind, da man ihr Bestehen noch nicht kannte, so sucht man sie, wenn auch auf verschiedenen Wegen in der Aufsenwelt. Der Nativismus ordnet\nZeitschr. f, Sinnesphysiol. 45.\t19","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nR. Turr\u00f4.\ndas Bild der Sache durch eine spontane Handlung zu, die uns zwingt, es auf sie zu projizieren. Diese Handlung wird von der genetischen Schule, welche zun\u00e4chst alle Empfindungen als urspr\u00fcnglich innere betrachtet, die dann durch die psychomotorische Innervation nach aufsen verlegt werden, nicht als spontan angesehen. Aber dasselbe Bild wird von einer wie der anderen Schule immer auf etwas Reales, als die Bedingung seines Zustandekommens, bezogen. Sie treffen in dem Punkte zusammen, dafs die Empfindung nicht spontan reagiert. Wenn diese Fragen durch Vernunftsgr\u00fcnde dabattiert werden, so werfen die Skeptiker den Intuitionisten das schwierige Problem von der Wirklichkeit vor und wir haben ja schon gesehen, dafs sich alle ihre Gesichtspunkte und Er\u00f6rterungen in folgende Fragen und Antworten zusammenfassen lassen: Woher wissen wir, dafs die sensorischen Reaktionen durch eine \u00e4ufsere Bedingung bestimmt werden? Wir wissen eben nicht, woher wir das wissen. Und da der logische Vorgang fehlt, so fehlt auch das, was den Schlufs berechtigt. Es ist klar, dafs, wenn wir versichern, unsere Vorstellungsbilder entspr\u00e4chen etwas Tats\u00e4chlichem, diese Versicherung formell ungerechtfertigt, unsere Behauptung willk\u00fcrlich ist, da ja all das willk\u00fcrlich ist, was sich nicht auf eine tats\u00e4chliche Grundlage st\u00fctzt. Der genetischen Schule scheint das Bewufstsein der Bewegung diese Garantie zu bieten. Wenn man den Arm 40 cm weit ausstreckt und die Ber\u00fchrung der Hand eine Empfindung anzeigt, so scheint uns der Schlufs offenkundig, dafs der Gegenstand, dafs die Ursache an dieser und keiner anderen Stelle sich befindet, weil im Bewufstsein die unableug-bare Kenntnis von Gr\u00f6fse und Richtung der Bewegung besteht, die ausgef\u00fchrt werden m\u00fcssen, um ein Wiedererscheinen zu veranlassen. Ebenso heifst es das Bewufstsein der zur Unterscheidung dieser Bilder auszuf\u00fchrenden Bewegungen besitzen, will man in derselben oder in tieferen Bildebenen die rote oder blaue Umrahmung unterscheiden. Es ist klar, dafs man bei diesem Vorgang weifs, an welchem Punkte sich die Ursache befindet, die die Bilder der einen oder anderen Farbe hervorruft.\nWer in dieser Weise Schl\u00fcsse zieht und annimmt, dafs man im Metaphysischen keinen Grund zu suchen braucht, der uns \u00fcber das Bestehen des Reellen Aufschlufs gibt, weil dieses Gef\u00fchl sich aus der motorischen Erfahrung herleitet, der merkt nicht, dafs die genannten Erfahrungen keine Folgerung auf die","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n299\nErkenntnisse des Reellen zulassen. Wenn wir den Arm 40 cm weit ausstrecken und das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl wahrnehmen oder den Bljck nach den Stellen akkommodieren, wo sich die Ursache der roten und blauen Farbe befindet, so haben wir die Empfindung von dem Reellen bereits vorausgesetzt und ebenso, wie man schon von Seiten des Objektes weifs, dafs ein Gegenstand existiert, der in den Ber\u00fchrungsendigungen oder in den St\u00e4bchen der Retina seinen Druck resp. einen Farbeneindruck her-vorrufen wird, so unternimmt man auch eine Reihe von Versuchen, durch die man zu der Erkenntnis gelangt, wie man den Arm bewegen mufs, damit die Hand ein Druckgef\u00fchl empf\u00e4ngt, wie man den Akkommodationsmuskel innervieren mufs, damit die Farben scharf erscheinen. Wenn die Kenntnis dieser realen Sache nicht schon vorher im Geiste existierte, w\u00fcrde der logische Vorgang fehlen, der die Muskeln veranlafst, sich in bestimmter Weise in ihrer T\u00e4tigkeit zu gruppieren, um in den Sinnesorganen das die Anwesenheit des Wirklichen anzeigende Bild hervorzurufen und auf sein Bestehen schliefsen zu k\u00f6nnen.\nTats\u00e4chlich ist diese geheimnisvolle oder in ihrem Ursprung unbekannte spontane vom Nativismus der Empfindung zugeschriebene Wirkung das, was die Vernunft im angegebenen Sinne der psychomotorischen Innervation beilegt. So sehen wir ganz klar, wenn wir freim\u00fctig und offen fragen: was veranlafst die motorischen Augenmuskeln und den M. ciliaris, eine Sache, gerade so einzustellen, dafs das von dieser Sache ausgehende Licht die Retina unter seine Wirkung nehmen kann? Welche Reize ordnen die Armmuskelkontraktionen so zusammen, dafs man in der Hand elektiv den gew\u00fcnschten Eindruck empf\u00e4ngt ? Wiederum sehen wir uns einer spontanen Kraft gegen\u00fcber, einer von allen Vorg\u00e4ngen losgel\u00f6sten Grundlage, einem etwas, das keine Bedingung hat, noch auf experimentelle Tatsachen zur\u00fcckf\u00fchrbar ist, weil wir es nicht aus der Reihe der vorhergehenden, dasselbe bestimmenden, Ph\u00e4nomene ableiten k\u00f6nnen.\nHelmholtz, den die gewissenhafte Gewohnheit des Forschers\nvon allen Spekulationen fernhielt, sah klar ein, dafs das Bestehen\ndes Realen oder der auf die Empfindungsnerven wirkenden\n\u00e4ufseren Ursache nicht aus motorischen oder wahrnehmenden\nErfahrungen hergeleitet werden k\u00f6nnte, was doch fr\u00fcher als eine\ngenetische Grundlage vorausgesetzt wurde. So erkannte er, dafs\ndas Gesetz der Kausalit\u00e4t ein Gesetz unseres Den-\n19*","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nR. Turr\u00f4.\nkens ist, das jeder Erfahrung vorhergeht. Diese Meinung des grofsen Mannes hat man als ein metaphysisches Zugest\u00e4ndnis angesehen. Th. Ribot sieht es mit einigem Erstaunen, dafs einer der genialsten Vork\u00e4mpfer der modernen empirischen Schule als Grundlage jeder m\u00f6glichen Erfahrung ein Prinzip hingestellt hat, das experimentell nicht bearbeitet werden kann. Diese Anschuldigung ist ungerecht. Es ist nicht Helmholxz\u2019 Absicht, mit dem Einsetzen des Rationalismus in das Gebiet der Experimentalwissenschaft, deren Methode er immer treu geblieben ist, ein Prinzip aufzustellen. Er beschr\u00e4nkt sich darauf, eine tats\u00e4chliche Wahrheit zu bezeichnen, die er nicht auseinanderzusetzen beabsichtigt und von seinem Gesichtspunkte aus auch nicht erkl\u00e4ren konnte. Das Wort Gesetz bedeutet in seiner experimentellen Auffassung nur so viel wie Bedingung, und Helmholtz kannte die Bedingung nicht, durch die der Verstand vor der Aufstellung jeder \u00e4ufseren Erfahrung bereits weifs, dafs die Ursache existiert. Diese nichts pr\u00e4judi-zierende Frage liefs er sp\u00e4terer Forschung often.\nStatt sich vor einer Tatsache, deren bestimmte Ursache unbekannt ist, respektvoll zur\u00fcckzuhalten, tut die Spekulation so, al& ob sie ihre Natur kennte, indem sie folgende \u00dcberlegung anstellt: Es gibt keine Erfahrungen aufser \u00e4ufseren Erfahrungen. Jede \u00e4ufsere Erfahrung aber besteht darin, das Bild auf seine Ursache zu beziehen, indem der Empfindungsvorgang einer tats\u00e4chlich bestehenden ihn bestimmenden Sache, im Gef\u00fchl verkn\u00fcpft wird. Aus alledem entnimmt man, dafs keine Erfahrung m\u00f6glich ist, wenn nicht im Geiste ein erstes, grundlegendes oder angeborenes Prinzip besteht, das in Gegenwart des Bildes auf-tritt und uns zwingt, es auf seine \u00e4ufsere Ursache zu beziehen.\nAuf dem Boden des Experimentellen ergibt sich, wenn wir die Tatsache an dem Punkte angreifen, wo sie Helmholtz verlassen hat, ganz klar, dafs das Tier den Empfindungsvorgang auf eine \u00e4ufsere Bedingung bezieht, die wir eine reelle Ursache nennen, die Kausalit\u00e4t. Zur Bezeichnung dieser Tatsache brauchen wir nur zu erkennen, dafs die Empfindungen nicht spontan reagieren. Woher wissen wir das? Zur Erkl\u00e4rung der Tatsache hat die Spekulation eine nicht dem Experiment zug\u00e4ngliche Hypothese auf gestellt, in der angenommen wird, dafs diese Tatsache nicht wie ein Glied einer Reihe in Rechnung gestellt werden kann, das sich aus den vorhergehenden Tatsachen als seinen","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n301\nnat\u00fcrlichen logischen Vorg\u00e4ngen herleitet. An dieser Stelle hat die Kette eine L\u00fccke. Das letzte Glied h\u00e4ngt \u00fcber einem tiefen Abgrund und will man diesen Ring ergreifen, so reifst man sie von dem Nagel los, der nach Kants Ausspruch uns als Ausgangspunkt dient. Von diesem Augenblick an erkennen wir ein dem Bewufstsein innewohnendes Prinzip an, eine verborgene F\u00e4higkeit, eine geheime Kraft, ein unbegreifliches Quid, das\nuns dazu treibt, das Bild auf seine Ursache zu beziehen.\n\u2022 \u2022\nIst diese \u00dcberlegung zwingend? Dr\u00e4ngt sie sich mit derselben logischen Kraft auf, wie ein Gesetz oder ein psychischer\n\u2022 \u2022\nVorgang? Die spekulative \u00dcberlegung darf sich die \u00e4ufsere Beziehung erkl\u00e4ren, indem sie annimmt, dafs die Kausalit\u00e4t dem Verstand urspr\u00fcnglich gegeben ist. Aber die widerspenstige, freie \u00dcberlegung kann sich von dieser Annahme losmachen; dann mufs man fragen, wie es sich erkl\u00e4rt, dafs die Kenntnis des Realen die Voraussetzung der \u00e4ufseren Erfahrung ist. Darauf kann man nur antworten : Ich erkl\u00e4re es mir nicht und lasse es klug im Zweifel, wieso die Sachen sich so folgen, wie ich es beschrieben habe. Diese abwartende Haltung des menschlichen Geistes vor einer gewissen, unerkl\u00e4rlichen Tatsache, ist verst\u00e4ndig und zeugt von tiefer Weisheit, dieses Vorgehen hat gr\u00f6fseren Wert, als ein Luftschlofs von Erkl\u00e4rungen aufzurichten, das durch eine vernichtende Kritik zu Boden st\u00fcrzen kann. Ein vern\u00fcnftiges Urteil wird niemals eine Erkl\u00e4rung als gerechtfertigt ansehen, die sich nur auf die zwingende Notwendigkeit st\u00fctzt, den Grund f\u00fcr eine gutwillig nicht erkl\u00e4rbare Tatsache zu finden. Sicherlich zwingt die logische Notwendigkeit zu solchem Vorgehen, denn der Zweifel ist ein angstvoller Zustand, dem man im schlimmsten Falle auf jede m\u00f6gliche Weise entgehen mufs. Das allein zeigt, dafs die spekulative \u00dcberlegung tief im menschlichen Wesen wurzelt, auch wenn ihre Schl\u00fcsse keine gen\u00fcgenden Grundlagen haben.\nSehen wir also ein, dafs die Quellen der Erkenntnis des Realen im Verst\u00e4nde liegen, so brauchen wir nur ein experimentell unl\u00f6sliches Problem auf das Gebiet der Metaphysik zu \u00fcbertragen, indem wir die ewige Frage offen lassen: Woher wissen wir, dafs aufser uns etwas existiert? Woher wissen wir, dafs unsere Sinne nicht spontan reagieren?\nIn der Geschichte der Entwicklung der menschlichen Erkenntnis finden wir immer, dafs man die Vorg\u00e4nge, die man","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nR. Turr\u00f4.\nsich experimentell absolut nicht klarlegen konnte, metaphysisch zu erkl\u00e4ren versucht hat. Solange die physikalisch-chemischen Vorg\u00e4nge in ihren ewigen Umwandlungen und ihrer Herleitung auseinander nicht studiert waren, griff man, als Ultima ratio auf diese Causa sorda, von der Baco von Veeulam spricht, zur\u00fcck, indem man dunkle Kr\u00e4fte einsetzte, geheimnisvolle Gottheiten, in denen man ihre Wirksamkeit suchte. In dem Augenblick, in dem der Mensch sich ausschliefslich damit besch\u00e4ftigte, die Bedingungen festzulegen, die ihrem Entstehen, unabh\u00e4ngig von jeder geheimen Handlung, die nicht offenkundig nach aufsen verlegt werden kann, zugrunde liegen, werden diese Kr\u00e4fte als reine Zaubermittel ihres Blendwerks entkleidet.\nEs gab eine Zeit, in der die Lebensvorg\u00e4nge nicht derart untersucht wurden, dafs man in den vorhergehenden oder gleichzeitig auftretenden die bestimmenden Bedingungen f\u00fcr die folgenden suchte und so das Leben auf eine rein mechanische Folge zur\u00fcckf\u00fchrte. Man bildete sich, indem man dem logischen Antrieb gehorchte, der dazu f\u00fchrt, eine metaphysische Erkl\u00e4rung f\u00fcr das zu suchen, was man nicht experimentell erkl\u00e4ren kann, ein, dafs diese, den lebenden K\u00f6rpern eigent\u00fcmlichen Vorg\u00e4nge aus einem tiefen Gew\u00f6lbe hervorsprudeln, aus dem impetus facie ns, und allem jenen dar\u00fcber noch hinaus liegenden, das sich vor unseren Gef\u00fchlen in irgend einer Wahrnehmungsform darstellt und das wirksame Prinzip enth\u00e4lt. Als man dann sp\u00e4ter von diesen von Baco als Virgines steriles, die keine Frucht geben, bezeichneten Auffassungen absah und das Lebensph\u00e4nomen auf einen physikalisch-chemischen Mechanismus zur\u00fcckf\u00fchrte, f\u00fchlte man nicht mehr die Notwendigkeit, das Eingreifen einer geheimen Gottheit anzurufen, um die Folgeordnung in Zeit und Raum zu erkl\u00e4ren. Noch immer aber bleiben auf dem Gebiete der Biologie eine reichliche Anzahl Tatsachen, die wir uns nicht erkl\u00e4ren k\u00f6nnen, da ihre Stunde noch nicht geschlagen hat. Ihnen gegen\u00fcber unterdr\u00fccken die Biologen durch die im Laboratorium zur Gewohnheit gewordene Beschr\u00e4nkung im Geiste jede spekulative Erkl\u00e4rung als Chim\u00e4re und warten geduldig ab, bis die Zeit sie reift. Andere Voreilige ziehen spekulative Erkl\u00e4rungen den experimentellen vor, sprechen uns von Entelequien, von bestimmenden Kr\u00e4ften, von willk\u00fcrlichen Prinzipien, die auf keine mechanische Form zur\u00fcck-f\u00fchrbar sind. Die Zeit mit ihrer st\u00e4ndigen Arbeit und ihren","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n303\nsegensreichen Fr\u00fcchten wird von diesen neovitalistischen Erkl\u00e4rungen gerade so viel \u00fcbriglassen, wie von den alten.\nWie in der \u00e4ufseren Welt die Wissenschaft sich nach Mafs-g\u00e4be der Vorg\u00e4nge festigt, die sich einer aus dem anderen entwickeln, ohne dafs jemals etwas dazwischen tritt, was nicht der Beobachtung zug\u00e4nglich w\u00e4re, so kann man auch in der inneren oder psychischen Welt nicht von diesen abseh en, weil auch hier die zweiten nicht erscheinen k\u00f6nnten, wenn nicht schon vorher die ersten festgestellt worden w\u00e4ren, die sie begr\u00fcnden. An dem Punkt und zu der Stunde, wo die Kette l\u00fcckenhaft wird, die Vorschriften der experimentellen Methodik durchbrochen werden und die freischwebende letzte Schorke durch eine Maske ausgebessert wird, macht man sich durch ein Prinzip, welches eine sch\u00f6pferische Kraft in uns beherbergen m\u00fcfste, metaphysisch das klar, was man experimentell nicht auseinandersetzen kann. Dieses tritt auch bei den Urspr\u00fcngen auf, die die Spekulation der Erkenntnis vom Realen zuschreibt. Durchbrechen wir die strukturelle und physiologische Einheit des Nervensystems, so kommen wir zu der Annahme, dafs der Verstand mit der \u00e4ufseren Wahrnehmung abl\u00e4uft. Aber die \u00e4ufsere Wahrnehmung setzt ja die Kenntnis der reellen Aufsenwelt oder der Ursache voraus, und man versteht, dafs diese Erkenntnis sich von dem Grund des denkenden Dinges durch die T\u00e4tigkeit von Kategorien oder die vorher in ihr bestehenden Formen abhebt. Es ist ganz zweifellos, wenn wir die Einheit des Nervensystems nicht zer-reifsen, Vorurteile, die die Beobachtung fehlerhaft machen, ab-legen und uns fragen, wo eigentlich das psychische Leben anf\u00e4ngt, so kommen wir dazu, dafs die trophische Sensibilit\u00e4t im Bewufstsein das Gef\u00fchl der dem Organismus fehlenden Substanzen durch lebhafte Empfindungen kundgibt.\nEin so freier Geist, wie der Humes, hielt in dem Vorurteil, dafs der Verstand zugleich mit der \u00e4ufseren Intuition auftrete, als eine Tatsache aufrecht, dafs der Gedanke der Substanz keinesfalls existieren k\u00f6nnte, da ihn doch nichts im Geiste anzeigte. H\u00e4tte er in unserer Zeit gelebt, so h\u00e4tten ihn die grofsen Entdeckungen Pawlows \u00fcberzeugt, dafs die Retina vielleicht nicht so viel Farbent\u00f6ne unterscheiden kann, wie die Magen- und D\u00fcnndarmsensibilit\u00e4t Abstufungen der Substanzen. Aber doch zeigt die trophische Sensibilit\u00e4t in einem niederen Bewufstsein mit dem Gef\u00fchl des Hungers spezifisch und unterschiedlich die","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"B04\nR. Turr\u00f4.\nfehlenden oder im Gewebssaft nur sp\u00e4rlich vorhandenen Substanzen an. Nachdem man sich einmal von dieser ersten Grundlage Rechenschaft gegeben hat, bilden sich allm\u00e4hlich reichliche Erfahrungen, die keine Beziehung zum Objekt haben, sondern nur zu den Wirkungen, die sie im Organismus aus\u00fcben, und dadurch entsteht das tiefliegende Gef\u00fchl, dafs aufserhalb unseres Selbst etwas besteht, was an sich weder Farbe noch Ton, weder Geschmack noch Geruch ist. Dieses Gef\u00fchl besteht fr\u00fcher als jede Wahrnehmung oder \u00e4ufsere Erfahrung, da wir, bevor wir die Farbe, die ihm eigent\u00fcmlich ist, den Ton, der ihm angeh\u00f6rt, den Geschmack, der ihm anhaftet, auf einen bestimmten Gegenstand beziehen, diese Farbe, diesen Klang und Geschmack als Zeichen -aufgefafst haben, die uns die Anwesenheit dieses Gegenstandes als Nahrungsmittel anzeigten. Wir sehen also, dafs die Kenntnis des Realen der Kenntnis der aufgez\u00e4hlten Gegenst\u00e4nde durch eine vorzugsweise fr\u00fchere Reihenfolge vorausgeht. Wenn wir von diesen Erfahrungen absehen, dasBewufstsein verst\u00fcmmeln und uns einbilden, dafs die Kenntnis von der Aufsenwelt uns durch die Empfindungen zukommt, wie w\u00e4re es da m\u00f6glich, die Urspr\u00fcnge des Wirklichen zu erforschen, wenn wir die Augen von ihren wahren Quellen abwenden? Es hiefse das so viel, wie die Winkel eines Dreiecks berechnen wollen, ohne die inneren und \u00e4ufseren zu kennen, wie ein Problem l\u00f6sen zu wollen, ohne \u00fcber seine Grundlage orientiert zu sein. Das Gef\u00fchl, das aus der trophischen Sensibilit\u00e4t hervorgeht, wie die Farbe aus der optischen, scheint aus einer metaphysischen Einheit sich zu erheben und, wenn wir nicht diesen h\u00f6chst wichtigen Faktor in Rechnung ziehen, dann kommen wir in ganz nebelhafte Regionen.\nMit dieser Unterscheidung, die wir eben kurz zu skizzieren versucht haben, kommen wir von den Prozessen der trophischen \u201eund der \u00e4ufseren Wahrnehmung zu den Urspr\u00fcngen der Erkenntnis von der Wirklichkeit. Nach dem Vorausgehenden mut-mafsen wir, dafs uns das Tats\u00e4chliche nicht urspr\u00fcnglich gegeben ist, sondern sich aus einer inneren Erfahrung herleitet, die der perzeptiven oder \u00e4ufseren Erfahrung vorausgeht. Die Tatsachen dieser Erfahrungen werden durch die trophische Sensibilit\u00e4t einerseits und die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t andererseits geliefert. Aber der Schlufs, dafs die Wirklichkeit existiert, kommt nicht durch die isolierte T\u00e4tigkeit der einen oder anderen, sondern nur durch ihre Verbindung zustande. Es besteht hier ein Mechanismus, ein","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n305\nlogischer Vorgang, der das Empfindungsbild mit Recht als Zeichen des Gegenstandes auffafst. Die einzelnen Teile dieses Vorganges sind klargestellt, aber das induktive Band aus dem die Sch\u00f6pfung des ersten Gedankens im Bewufstsein auftaucht, fehlt. Wie kommt man zu der Erkenntnis, welches der Gegenstand ist? Wie kommt man zu der Erkenntnis, dafs die Sinne nicht spontan reagieren, sondern in ihren Funktionen an eine Handlung gekn\u00fcpft sind? Wie kommt man zu dem Wissen, dafs diese Handlung in der Aufsenwelt wie die ewige M\u00f6glichkeit fortbesteht, jene zu beeinflussen und zu reizen, so dafs das Wirkliche als Ursache erscheint?\nAlle diese Fragen lagen bis heute im Gebiet der Metaphysik. Aber wir k\u00f6nnen sie auf lebende Experimente zur\u00fcckf\u00fchren, wenn wir nur die Bedingungen feststellen, unter denen die Vorg\u00e4nge sich folgen. Die Beobachtung kann ihre Rechte zur\u00fcckfordern, indem sie in die verschlossenen Gehege niederer psychischer T\u00e4tigkeit eindringt, in denen wir den Schl\u00fcssel grofser R\u00e4tsel finden werden. Das Tier lernt von seiner Geburt an, und es lernt sehr schnell; es weifs zun\u00e4chst nicht, dafs es Dinge gibt, die es ern\u00e4hren und gelangt sehr bald zu dieser Kenntnis. Es weifs anfangs nicht, dafs diese Dinge in der Aufsenwelt liegen und durch die Bewegung err\u00e4t es dies schnell. Es wreifs zun\u00e4chst nicht, dafs diese Dinge in der Aufsenwelt bestehen bleiben und arbeitet unz\u00e4hlige Erfahrungen aus, die ihm erlauben, anzunehmen, dafs sie sich in der Tat noch da befinden, wo es sie andere Male liegen gelassen hat. So bilden sich im Geiste Unsummen von Erfahrungen, deren jede einzelne die Anwesenheit einer wirklichen Sache, einer Ursache anzeigt. Wenn die Spekulation atemlos in den h\u00f6heren Regionen die Welt der Vorg\u00e4nge, das Wirkliche und die Ursache sucht, indem sie vorgibt, ihre Natur im einen oder anderen Sinne zu bestimmen, merkt sie nicht, dafs die Grundelemente, aus denen sich ihre weiten und tiefen Auffassungen herleiten, ihr diese rudiment\u00e4ren Erfahrungen liefern, die diese niedere und geringsch\u00e4tzig als Instinkt bezeichnete Intelligenz baut. Der Ursprung wird dem \u00fcberm\u00fctig gemachten Verstand sehr minderwertig erscheinen, der alles bis zum Uner-forschlichsten durchdringt. So wird der nicht urteilen, der sich \u00fcberlegt, dafs die Einsicht sich selbst immer gleich ist, ja, dafs im Grunde das Kind, das die N\u00e4hrwerte der Milch absch\u00e4tzt und ein Empfindungsbild dorthin projiziert, wo es liegen mufs,","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nR. Tun-6.\nmit diesen elementaren Tatsachen ebenso verf\u00e4hrt wie mit schwierigeren Vorg\u00e4ngen einst Newton, als er die Beziehungen zwischen den Bewegungen der Gestirne feststellte. Die geistigen Prozesse entwickeln sich immer auf dieselbe Weise. Die spekulative Vernunft, die empirische oder die instinktive Vernunft unterscheiden sich nur durch die Zusammengesetztheit oder Einfachheit des Prozesses. Der Modus operandi ist immer derselbe. Es ist also die instinktive Vernunft nicht die Folge eines unebenb\u00fcrtigen Intellekts, sondern desselben, der in h\u00f6heren Stufen der Entwicklung die bewunderungsw\u00fcrdigsten Werke schafft. Verfolgen wir das, was die entstehende Intelligenz und wie sie denkt, so m\u00fcssen wir uns mit der enormen Masse der Erfahrungen in Verbindung setzen, aus der sich sp\u00e4ter die Kenntnis der Gleichheit, der Wirklichkeit und der Ursache entwickelt. Eine derartige Anmafsung wird denen, die das Gebiet der Spekulation so ansehen wie die antiken Priester den heiligen Wald, als eine Profanation erscheinen. Aber der Forscher sieht es nicht so an, wTenn er ohne Z\u00f6gern in ihn eintritt und sich den verborgenen Gottheiten n\u00e4hert und sein Wagemut ist nicht gottesl\u00e4sterlich.\n(Sehlufs folgt.)","page":306},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"327\nDie physiologische Psychologie des Hungers.\nVon\nProfessor R. Turr\u00f6,\nDirektor des st\u00e4dt. bakteriolog. Laboratoriums zu Barcelona.\n(Schlufs.)\nTL Der logische Yorgang der Induktion yon der Wirklichkeit\nder Au\u00dfenwelt.\nSpontane sensorische Exzentrizit\u00e4t. \u2014 Hypothese, auf die\nsie sich gr\u00fcndet. \u2014 Kritische Untersuchung dieser Hypothese. \u2014\n\u2022 \u2022\n\u00dcbergang der Empfindung zur Wahrnehmung. \u2014 Die diesen\n\u2022 \u2022\n\u00dcbergang begr\u00fcndenden Bedingungen. \u2014 Die sensorischen Elemente, aus denen sich die trophische Einsicht herleitet. \u2014 Das Bildzeichen des trophischen Effektes. \u2014 Sein Vorstellungswert. \u2014 Sein logischer Wert. \u2014 Notwendige Forderung, die sich aus dem trophischen Verstand ableitet. \u2014 Die physiologische Bedingung f\u00fcr das Bewufstsein der Identit\u00e4t eines gleichen psychischen Vorganges. \u2014 Der periphere Vorgang und der latente, zentrale Zusatz. \u2014 Die Identit\u00e4t des psychischen Vorganges als Ausgangspunkt eines m\u00f6glichen Verst\u00e4ndnisses.\nWahrnehmung des empirisch Wirklichen. Experimentelle Bedingungen, die die Entstehung dieser Wahrnehmung bestimmen. \u2014 Das Wirkliche erkennen heilst, den trophischen Effekt voraussehen.\nDas Problem der \u00e4ufseren Kausalit\u00e4t. Die Urspr\u00fcnge der Erkenntnis von der \u00e4ufseren Ursache. \u2014 Die motorische Voraussicht des sensorischen und trophischen Effekts ist die Voraussicht der \u00e4ufseren Ursache. \u2014 Die Umkehrung des inneren Reellen in das \u00e4ufsere Reelle. \u2014 Die Natur der willk\u00fcrlichen Bewegung. \u2014 Die motorische Voraussicht in dem nach aufsen verlegten Bild. \u2014 Experimente, aus denen sie entsteht. \u2014 Die dynamische Anordnung der wahrnehmenden Funktion. \u2014 Auf Grund welcher Vorg\u00e4nge wir die anfangs inneren Gef\u00fchle f\u00fcr \u00e4ufsere halten. \u2014 Man kann dem urspr\u00fcnglich exzentrischen","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328\nR. Turr\u00f4.\nBild nicht den Wert einer Erfahrung zuteilen. \u2014 Der logische Wert der Erfahrung entsteht aus dem psychomotorischen Experiment, der das Empfindungsbild festlegt. \u2014 Das Bild ist nicht die empirische Darstellung der \u00e4ufseren Sache, sondern das Zeichen der urs\u00e4chlichen Handlung, die es hervorruft. \u2014 Logischer Wert dieses Zeichens. \u2014 Die Erkenntnis des Gegenstandes besteht nicht in seiner Darstellung: Sie besteht in der Voraussicht der Eindr\u00fccke, die er in den Gef\u00fchlen hervorzurufen hat. \u2014 Die \u00e4ufsere Wirklichkeit wird durch sensorische Zeichen erkannt, mit denen sie wie mit einer durch die Erfahrung geschaffenen Sprache laut zu uns redet. \u2014 Kritische Untersuchung der Theorie der darstellenden Erkenntnis. \u2014 Die \u00e4ufsere Erfahrung setzt nicht die Erkenntnis der Kausalit\u00e4t voraus. \u2014 Die Unm\u00f6glichkeit der Induktion der Kausalit\u00e4t in der Theorie der darstellenden Erkenntnis. \u2014 Die Kausalit\u00e4t in der Folge der Ereignisse. \u2014 Die empirische Folge und die logische oder notwendige Folge. \u2014 Wie die empirische Folge zur logischen wird. \u2014 Die Urspr\u00fcnge der logischen Notwendigkeit.\nDie elementarsten Einheiten, die man in der Intelligenz durch die selbstbeobachtende Analyse entdecken kann, erscheinen unter der Form nach aufsen verlegter Vorstellungsbilder, indem ihre Qualit\u00e4t auf die Ursache oder die sie veranlassende Reizung projiziert wird, und sie so zu Darstellungen dieser Ursache werden. Der Druck wird nicht im peripheren Tastgef\u00fchl empfunden, sondern in dem ihm zugeh\u00f6rigen K\u00f6rper. Die Farbe wird nicht in der Retina empfunden, noch der Ton im Ohre, sondern sie werden auf den Gegenstand bezogen und dem K\u00f6rper zugeteilt, der sie aussendet, Die W\u00e4rme- und K\u00e4lteeindr\u00fccke, das Bittere und S\u00fcfse, das, was dampft, gilt uns nicht als das Resultat einer Reaktion sensorischer Nerven, sondern als Eigenschaften der K\u00f6rper selbst, die sich uns als warm oder kalt, wohlriechend oder schmackhaft darstellen. Solange wir diese Vorg\u00e4nge vom Gesichtspunkt unseres eigenen Bewufstseins betrachten, scheint es uns in jeder Beziehung offenkundig, dafs unsere Gesichtsbilder nicht spontan aus den Empfindungen hervorgehen, denn, wenn nicht aufserhalb von uns die Retina reizende Dinge vorhanden w\u00e4ren, so w\u00fcrde ihre Energie brach liegen bleiben und diese Vorstellungsbilder k\u00f6nnten nicht erscheinen. Nachdem sie aber einmal erregt ist, erscheinen sie und werden urpl\u00f6tzlich","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hwigers.\n329\nnach aulsen verlegt, indem sie sich sua sponte auf die sie hervorrufende Ursache st\u00fctzen. Dasselbe ereignet sich in der Folge mit den \u00fcbrigen Sinnesorganen. Eine \u00e4ufsere Bedingung, sei sie an sich wie sie wolle, reizt die periphere Ausbreitung der sensorischen Nerven und ruft im Empfangszentrum eine Wirkung hervor, deren physikalisch-motorische Form uns unbekannt ist. Diese Reaktion ist die Ursache, warum im Bewufstsein das nach aufsen verlegte oder diese Bedingung darstellende Bild entsteht.\nMit einer \u00e4hnlichen, durch ihre Einfachheit verf\u00fchrerischen Theorie pr\u00e4judizieren wir die Physiologie einer Funktion durch Daten der reinen Selbstbeobachtung und damit stellen wir die Glieder des zu l\u00f6senden Problems um. AVir nehmen an, dafs diese Abteilung des Nervensystems, die wir optische Sensibilit\u00e4t nennen, bei der Antwort auf alle Erregungen, die sie empf\u00e4ngt, seien sie physikalischer, mechanischer oder chemischer Natur, sofern sie nur unter der Form des Lichtes auftreten, diese zun\u00e4chst und urspr\u00fcnglich im Bewufstsein als aufsenliegende hervorruft oder sie nach aufsen projiziert und das mufs man experimentell beweisen, anstatt es einfach anzunehmen. Selbstverst\u00e4ndlich k\u00f6nnen wir jetzt das Licht nicht sehen, ohne es nach aufsen zu projizieren. Aber dieser Sehvorgang, von dem wir voraussetzen, dafs er einzig und ausschliefslich aus der optischen Sensibilit\u00e4t besteht, kann offenkundig auch aus dem Zusammentreffen anderer Faktoren entstehen, die wir nicht in Rechnung gezogen haben. Der Physiologe kann diese h\u00f6chst wichtige Frage nicht mit derselben Leichtigkeit beurteilen wie der Psychologe. Fragen wir, ob die optische Sensibilit\u00e4t, wenn sie von jeder Verbindung mit anderen nerv\u00f6sen Elementen durch eine sehr geschickte Vivisektion gel\u00f6st w\u00e4re, bei einer in ihr eine Reaktion hervorrufenden Reizung im Bewufstsein die Empfindung des Lichtes ank\u00fcndigen w\u00fcrde, so wird man ohne Z\u00f6gern mit ja antworten, weil so und nicht anders die spezifische Note ist, mit der sie sich im Bewufstsein anzeigt. Fragen wir uns nun aber, ob dieses Vorstellungsbild bei seinem Entstehen auch nach aufsen auf die urs\u00e4chliche Bedingung \u00fcbertragen werden w\u00fcrde, so m\u00fcssen wir bescheiden zugeben, dafs wir diese Frage nicht beantworten k\u00f6nnen, weil wir das noch nicht versucht haben. Es gen\u00fcgt nicht, dafs es uns so zum Bewufstsein kommt, um es zu versichern. Anstatt die Funktion aus der inneren Beobachtung herzuleiten, handelt der Physiologe hierbei gerade umgekehrt,","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330\nR. Turr\u00f4.\nn\u00e4mlich so, wie der Psychologe vorgeht. Er entdeckt, dafs die urs\u00e4chliche Bedingung dieser psychischen Note, die wir Licht oder Farbe nennen, in einer unterschiedlichen Abteilung des Nervensystems ihren Sitz hat, wenn er bemerkt, dafs die Reizung, die auf diese und keine andere Abteilung wirkt, auch die einzige ist, die die F\u00e4higkeit besitzt, sie zu reizen. Aber bei dieser Versicherung, dafs sie in der Aufsenwelt entsteht, kann man sich nicht darum beruhigen, weil die Selbstbeobachtung zu diesem Glauben neigt.\nIn einem gesunden physiologischen Urteil darf man nicht die Funktion aus dem Gegebenen durch Selbstbeobachtung ableiten, im Gegenteil hat das durch die Selbstbeobachtung Gegebene auf die sie veranlassende physiologische Bedingung bezogen zu werden. Wenn z. B. Johannes M\u00fclleb die W\u00e4rmeeindr\u00fccke auf das Tastgef\u00fchl bezog, so ging er damit wie die selbstbeobachtende Psychologie vor, wenn sie das nach aufsen verlegte Bild auf die zentrale Reaktion bezieht. Nur wenn man Experimente dar\u00fcber anstellt, welche Hautnervenendigungen f\u00fcr Druck und W\u00e4rme empfindlich sind, so merkt man, dafs das von der Selbstbeobachtung als einfach geoffenbarte ein in zwei unterschiedliche Elemente zerlegbarer Vorgang ist, und nicht ein einzelner. Durch die Selbstbeobachtung k\u00f6nnen wir den termischen nicht vom Tasteindruck isolieren, weil sie immer gleichzeitig auftreten. Aber das physiologische Experiment erlaubt uns, die peripheren Punkte zu sondern, die im Bewufstsein den einen oder anderen Eindruck hervorrufen. Ebenso nehmen wir durch die Selbstbeobachtung an, dafs alles das, was in dem nach aufsen verlegten Bilde dargestellt ist, das gleiche ist, was im Eindruck gegeben worden ist, und so stellen wir uns einf\u00e4ltigerweise vor, dafs in der Retina Farben oder Farbent\u00f6ne nur insoweit existieren oder existieren k\u00f6nnen, als wir sie auf den Gegenstand projizieren, ebenso wie im Geschmack und Geruch nur die Geschmacks- und Geruchsqualit\u00e4ten bestehen k\u00f6nnen, die wir \u00e4ufseren Sachen zuerkennen. Unser Glaube wird durch die Beobachtung L\u00fcgen gestraft. Wir legen einem Objekt keine Eigenschaften bei, die nicht in der Empfindung sich anzeigen; aber es befinden sich und k\u00f6nnen sich in der Empfindung immer Eigenschaften befinden, die nicht nach aufsen projiziert werden, weil sie nicht im Verst\u00e4nde unterschieden und auseinandergehalten werden, und von denen wir auch keine Kenntnisse er-","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n331\nhalten, weil sie in diesem Zustande rein innere Empfindungen sind. Vor dem merkw\u00fcrdigen Bild der \u201eHofdamen\u201c kann ich, der ich kein Visualist bin, weder in Form noch in der Farbe alles das entdecken, was Velazquez empfunden hat, nicht einmal das, was sicher ein Erfahrener sieht. Unzweifelhaft gibt es in meiner Retina Farbeneindr\u00fccke, die f\u00fcr mich unsichtbar sind. Der Beweis hierf\u00fcr liegt darin, dafs, wenn man mich von Jugend auf der Malerei geweiht h\u00e4tte, diese heute unbestimmten Empfindungselemente mir ihre Gegenwart deutlich zum Bewufstsein bringen w\u00fcrden, so dafs ich in dem Bilde alles das wahrnehmen w\u00fcrde, was mir jetzt entgeht. W\u00fcrde ich sp\u00e4ter einmal durch das Studium oder eine fleifsige Seharbeit dazu kommen, mir \u00fcber dieselben Rechenschaft abzulegen, so sind sie nicht in der Retina und den aufnehmenden Zentren gegeben, weil ich sie wahrnehme, sondern ich nehme sie wahr, oder sie werden mir sichtbar, weil sie sensorisch bereits in einem inneren Zustand gegeben sind, in dem ich aber nie eine Vorstellung mit ihnen verb and. Das, was wir ein scharfes Bild nennen, ist ein durchaus relativer und ganz pers\u00f6nlicher Vorgang. Der Maler sieht die Farbe nicht wie der Laie, er sieht sie unvergleichlich viel besser. Nachdem er seinen Beruf 20 Jahre lang ausge\u00fcbt hat, sieht er sie nicht so, wie in seinem ersten Lehrjahr. Der Erwachsene sieht die Gegenst\u00e4nde sch\u00e4rfer, als das dreij\u00e4hrige Kind, und dieses wiederum besser wie das dreimonatliche, das noch alles in eine tiefenlose Frontalebene verlegt und so kommen wir herab bis zum Neugeborenen oder dem Blindgeborenen, der das Augenlicht durch einen chirurgischen Eingriff wiedererlangt hat. Diese sehen die Farbe nicht, weil sie im Augenhintergrund als eine rein innere Empfindung auftritt. Wenn es in dem Sehvorgang etwas Angeborenes gibt, so ist es sicherlich nicht diese in den entferntesten Lebensstadien beginnende Exzentrizit\u00e4t, die sich mit der Zeit vervollkommnet und durch eine dauernde Unterweisung eines unendlichen Fortschrittes f\u00e4hig ist. Angeboren ist die lichtsehende Eigenschaft. Die Retina reagiert in gleicher Weise in der fr\u00fchesten Jugend wie beim Erwachsenen. Daraus, dafs letzterer besser sieht, kann man nicht folgern, dafs er mit der Zeit farbenempfindlicher geworden ist, als er es fr\u00fcher war. Vielmehr hat man daraus zu folgern, dafs die optische Sensibilit\u00e4t ohne Zusammenhang mit jeder anderen Nervenaktion bei","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332\nR. Turr\u00f4.\nihrer Wirkung nur inexzentrische Farbeneindr\u00fccke bedingt, d. h. Empfindungen, die an sich nichts darstellen.\nMan sagt, dafs wir durch Geschmack und Geruch dazu kommen, die Gegenst\u00e4nde voneinander zu unterscheiden, weil mit dem Geschmack und Geruch auch der Vorsatz zur Nach-aufsenverlegung entsteht, der uns dazu treibt, die Eigenschaften der entsprechenden Dinge kund zu tun. Dafs diese Absicht besteht, ist unzweifelhaft. Sehr streiten l\u00e4fst sich nur dar\u00fcber, ob die Geruchs- und Geschmacksempfindung so entsteht, wie es sich die selbstbeobachtende Psychologie vorstellt. Wenn es gen\u00fcgt, dafs einer dieser spezifisch unterschiedenen Teile des Nervensystems unter dem Einflufs eines \u00e4ufseren Reizes reagiert, um die sensorische Qualit\u00e4t desselben als eine Darstellung des Gegenstandes zu empfinden, so mufs ich auch im Bier oder Wein alles das wahrnehmen, was ein ge\u00fcbter Gaumen darin merkt. Unzweifelhaft ist es nicht so. Meine Geschmacksempfindung ist physiologisch nicht so empfindlich wie die anderer Leute, und weil sie stumpfer ist, sollte ich darum nicht mit der Sch\u00e4rfe anderer Leute das Bild nach aufsen verlegen? Auch wenn es wirklich so w\u00e4re, so ist das nicht der Grund, warum meine Wahrnehmung unklarer ist, da ich ja meinen Gaumen geh\u00f6rig ausbilden kann, und so dazu komme, in meinem Gef\u00fchl fr\u00fcher nicht unterschiedene Eigenschaften zu trennen, woraus hervorgeht, dafs in meiner Empfindung in amorphem und unbestimmten Zustand das schon vorher existiert, was ich durch einen sch\u00e4rferen Vorgang derselben Empfindung bei der Aussage von einem Gegenstand nach aufsen projiziert habe. Ich glaube, durch die Selbstbeobachtung get\u00e4uscht, dafs das Bier in meinem Gaumen nur den Eindruck hervorruft, den ich wahrnehme. Verlasse ich aber diesen Gesichtspunkt, so merke ich, dafs nicht alles im Eindruck Gegebene wahrgenommen wird, da ich ja, sowie ich mich im Wahrnehmen \u00fcbe, sensorische Elemente entdecke, die ich auch noch von dem Gegenstand aussagen kann, wenn ich sie in die Aufsenwelt verlege. Alle diese Elemente sind nicht in dem Augenblick geschaffen, indem ich sie wahrnehme. Sie waren in der sensorischen Reaktion schon in einem Zustand gegeben, in dem sie gar nichts vorstellten.\nVom Geh\u00f6r und Geruch, von W\u00e4rme und Tastgef\u00fchl brauchen wir nicht dasselbe zu wiederholen, was wir eben f\u00fcr die optische und Geschmackssensibilit\u00e4t ausgef\u00fchrt haben. Wenn wir uns","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n333\ndann, auf der psychologischen Methode fufsend, fragen, welcher psychische Vorgang die auf die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t wirkende Reizung bedingt, so m\u00fcssen wir uns zugestehen, dafs dies eine innere, qualitativ von den \u00fcbrigen unterschiedene, Empfindung ist. In Wirklichkeit reagieren die sensorischen Nerven gerade so wie die \u00fcbrigen: Wirkt auf sie eine Reizung, sei es nun ein Juckreiz, Licht, F\u00fcllungszustand, Ton, Ausdehnung oder Schmerz, so rufen diese einen Zustandswechsel hervor und dieser k\u00fcndigt sich seelisch an. Betrachtet man die Frage von diesem Gesichtspunkt und geht gerade umgekehrt vor, wie man es m\u00fcfste, wenn man, statt das psychische Ph\u00e4nomen aus der physiologischen Bedingung abzuleiten, die physiologische Bedingung aus dem psychischen Zustand folgert, indem man sie f\u00fcr willk\u00fcrlich h\u00e4lt, dann glaubt man das Absurde, dafs die sensorischen Nerven den Zustandswechsel anzeigen, den sie beim Empfang der \u00e4ufseren Reizung hervorgebracht haben, und dafs sie fernerhin das Gef\u00fchl ihrer Ursache anzeigen. Welche physiologische Bedingung legt diesen \u00e4ufseren Antrieb fest, durch den es zum Bewufstsein kommt, dafs der Eindruck etwas \u00c4ufseres vorstellt? Eine solche gibt es nicht. Wir befinden uns einem spontanen Ph\u00e4nomen ohne Vorhergang gegen\u00fcber, das nicht aus dem seinem Entstehen vorhergehenden, bestimmenden Ph\u00e4nomen hergeleitet werden kann, mit einem Worte, einem metaphysischen Vorg\u00e4nge, der, wie geschildert, aus dem Gebiet der Experimentalwissenschaft verwiesen bleibt.\nSehr ernsthaft versichert W. James, dafs, wenn man in fr\u00fcheren Zeiten von inneren Empfindungen gesprochen hat, diese Frage jetzt aus der Mode gekommen ist. Im Gegensatz hierzu glauben wir mit Helmholtz weiter, dafs sie nicht aus der Mode gekommen ist und auch nie kommen wird, dafs die Empfindungen unverst\u00e4ndliche Zeichen sind, solange man sie nicht auslegt und ihnen eine Bedeutung zuteilt, die sie an sich nicht besitzen. Die Farbeneindr\u00fccke zeigen sich, so wie sie entstehen, in der Retina und den optischen Zentren an. Die Geschmacks-, Geruchs-, W\u00e4rmeeindr\u00fccke, die die \u00e4ufsere Welt in den Empfindungszentren anh\u00e4uft, bieten dem Verstand das, was Kant, der Aristotelischen \u00dcberlieferung folgend, die Materie der Erkenntnis nannte. Keiner von ihnen hat selbst eine Einsicht, weil keiner zu der Kenntnis gelangt, dafs sie \u00e4ufseren Sachen entsprechen, da man die Existenz dieser Sache \u00fcberhaupt noch","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334\nR. Turr\u00f4.\nnicht erforscht hat und dafs wir sie uns nur mit ihrer Hilfe vorstellen k\u00f6nnen. Das Licht, das in der Retina entsteht und wie durch einen geheimnisvollen Abprall auch in den optischen Zentren aufleuchtet, der Geruch und Geschmack, der Ton und der Druck, den der Empfindungsnerv anzeigt, so wie die zentripetalen Fasern des Vagus gewisse Magenreizungen oder die Abwesenheit und den Eintritt der Luft in die Lungen kundgeben, sind Modifikationen, die uns durch etwas unserem Organismus selbst Fremdes eingepr\u00e4gt werden und dies mufs man zuerst erforschen, weil wir es, wenn wir zur Welt kommen, nicht wissen, da ja die Retina und der Vagus nur ihre eigenen Zustandswechsel anzeigen und uns nicht zu dem Glauben verpflichten, dafs das, was erstere beeinflufst, etwas in der Aufsenwelt Liegendes und das auf den zweiten Wirkende etwas Innerliches ist. Um aber auf diese Unterscheidung eingehen zu k\u00f6nnen, mit deren Hilfe die Bilder, die aus unseren Empfindungen hervorgehen, als das Zeichen etwas in der Aufsenwelt Befindlichen aufgefafst werden k\u00f6nnen, m\u00fcssen sie notwendigerweise in unseren Empfindungszentren vorher bestehen. Von der Geburt bis zum Grabe bringen wir unser Leben hin, indem wir am Objekt Eigenschaften entdecken, die uns in der vorhergehenden Zeit unbekannt waren. Und wenn wir gut dar\u00fcber nachdenken, so entdecken wir nichts direkt am Objekt; was wir tun, ist Eindr\u00fccke, die die Nerven kundgeben, auf das Objekt beziehen. Das in den optischen Zentren auftretende unsichtbare Licht wird sichtbar, wenn wir es der Aufsenwelt zu-teilen und dann bildet sich das Urteil, dafs das Licht dieser auf seren Ursache eigent\u00fcmlich ist. Wir stellen uns irrt\u00fcmlicherweise vor, dafs wir es sehen, weil es anwesend ist, w\u00e4hrend zweifellos wir selbst es sind, die wir es uns vorsteilten, als wir eine sensorische Wirkung, die vorher in einem bestimmten Teil des Bewufstseins bestand, ohne dafs wir davon irgend eine Notiz genommen h\u00e4tten, objektivierten. Zwischen der \u00e4ufseren Sache, die das Gef\u00fchl beeinflufst und diesem weiteren Vorgang, bei dem das Bild zur Darstellung gelangt, gibt es ein vermittelndes Band: das Aufnahmezentrum, in dem das Bild als eine Wirkung und nur als eine Wirkung gegeben ist. Alles, was nach aufsen verlegt werden kann, alles, was man an der \u00e4ufseren Sache sehen, schmecken, riechen kann, mufs vorher in diesen Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t, in denen die empfangenen Eindr\u00fccke aufge-","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n335\nspeichert sind, entdeckt werden, und erst wenn man merkt, dafs diese Eindr\u00fccke nicht in ihnen spontan auftreten, sondern dank einem \u00e4ufsereren Vorgang, so werden sie als die Darstellung dieses Vorganges angesehen. Die Nachaufsenverlegung ist das Werk eines induktiven Prozesses, einer \u00dcberlegung, wie Helmholtz sagte, deren Mechanismus unbedingt verfolgt werden mufs, um die Frage auf stellen zu k\u00f6nnen, wie wir so fest davon \u00fcberzeugt sein k\u00f6nnen, dafs unsere Gef\u00fchle uns nicht t\u00e4uschen und sich immer an die lebende Wirklichkeit anpassen.\nDieses Problem, auf dem sich unser ganzes Geistesleben aufbaut, ist nicht das gleiche Problem f\u00fcr die selbstbeobachtende Psychologie. Von dem Augenblick an, wo man annimmt, dafs die die Anwesenheit der \u00e4ufseren Dinge bedingende sensorische Reaktion unmittelbar und direkt das nach aufsen verlegte Bild hervorruft, entsteht die Erkenntnis, wem diese Sache entspricht, nicht durch einen logischen Prozefs, durch den wir zu der \u00dcberzeugung kommen, dafs es so und nicht anders ist. Sie entsteht dann spontan und vorgebildet. L\u00e4fst man diese Hypothese einmal zu, so glauben wir nicht mehr, dafs wir das Bild in dem Raume dahin verlegen, wo, wie wdr erforscht haben, die Sache sich befindet. Wir nehmen willk\u00fcrlich an, dafs die Sache an der Stelle ist, auf die wir das Bild projiziert haben, und dieser Glaube entbehrt jeder logischen Sicherheit, weil wir von diesem Standpunkte nicht wissen, wie wir zu der Wissenschaft gekommen sind, dafs dies die Sache ist und dafs unser Vorstellungsbild ihr entspricht. Durch innere Antriebe, durch unbegreifliche Mechanismen veranlafst, legen wir dem Honig die S\u00fcfsigkeit, den Geruch der Rose, den Klang dem t\u00f6nenden K\u00f6rper, die Farbe dem betreffenden Gegenstand bei, und da wir nicht wissen, woher uns bekannt ist, dafs in diesem uns unter der Form des Honigs, der Rose, des K\u00f6rpers oder Gegenstandes, den wir uns in unserem Geiste konstruieren, etwas enthalten ist, das wir uns nicht vorstellen k\u00f6nnen und das in unseren Empfindungen jene Bilder hervorruft, so wissen wir auch nicht, ob wir sie in den leeren Raum oder auf reelle Sachen projizieren, indem wir uns eine Aufsen weit wie ein Phantasiebild in einem Guckkasten schaffen. Wenn es richtig ist, dafs die Bilder schon bei ihrem Entstehen durch die T\u00e4tigkeit und dank der sie hervorrufenden \u00e4ufseren Wirkung nach aufsen verlegt werden, so kann in den sensorischen Zentren zwischen dem Vorgang dieser Auffassung und","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336\nR. Turr\u00f4.\nder des Halluzinanten kein Unterschied gemacht werden, der ja auch glaubt, dafs die Sache sich da befindet, wo er sein ihm jene vorspiegelndes Phantasiebild hinverlegt. Beide gehen in gleicher Weise vor.\nIn Wirklichkeit unterscheiden wir das Tats\u00e4chliche von dem Tr\u00fcgerischen. Sicherlich k\u00f6nnen wir in tr\u00fcgerischer Weise unsere Bilder in den leeren Raum verlegen, aber es gen\u00fcgt die Tatsache, dafs wir den begangenen Irrtum berichtigen k\u00f6nnen, um uns zu \u00fcberzeugen, dafs die Projektion aus einem logischen Prozefs entsteht, in dem die Vorg\u00e4nge die Folgen bedingen, und nicht aus einer spontanen T\u00e4tigkeit. Unser Leben ist an das Tats\u00e4chliche gekn\u00fcpft, das die Entwicklung unserer Geistest\u00e4tigkeit bedingt. Die \u00e4ufsere Wirklichkeit mag dann der Erkenntnis so unzug\u00e4nglich sein, wie man es sich nur denken kann. Wir werden von dieser unerkennbaren Sache doch wissen, dafs sie besteht, dafs sie unsere Sinne beeinflufst und unter vorausbestimmten Bedingungen immer mit denselben Eindr\u00fccken versieht und dafs das sich so immer wiederholen wird, solange\nunsere Sinne die gleichen bleiben.\nDie Erfahrung belehrt uns, dafs ein Zeitabschnitt im Leben besteht, in dem die \u00e4ufseren Empfindungen vollkommen von der Verbindung mit den \u00fcbrigen Zentren losgel\u00f6fst sind, wTeil diese, aus denen die psychischen Erfahrungen hervorgehen, noch nicht aufgestellt worden sind. Dann reagieren sie autonom, wenn sie die T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt aufnehmen. W\u00e4hrend dieser Periode wird weder der Druck auf die Tastk\u00f6rperchen, noch der Geschmack, das Licht oder irgend ein Empfindungseindruck auf die erkannte Ursache bezogen. W\u00e4hrend der blinden Nahrungsaufnahme weifs das Tier nicht, dafs eine Beziehung zwischen den bewufstwerdenden Wirkungen und den darauf erscheinenden Ph\u00e4nomenen gebildet werden kann. Erst durch die Wiederholung zeigt sich dann in einer durch physiologische Bedingungen aufgestellten Folge, dafs die Ber\u00fchrung, der Geschmack usw. das Tier vorher dar\u00fcber auf kl\u00e4ren, dafs es sich in Gegenwart des K\u00f6rpers befindet, den ihm sp\u00e4ter die gastrische Sensibilit\u00e4t als ein im Inneren des Organismus wirklich Bestehendes, wie fr\u00fcher beschrieben, anzeigt. Wir sehen hier den \u00dcbergang eines unklaren, psychischen Vorganges, in dem die unzweifelhafte Wirkung des Nerven unbemerkt vor\u00fcbergeht, in ein offenkundiges Ph\u00e4nomen, in dem diese Wirkung als das Anzeichen dessen vorgebracht","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n337\nwird, dessen Anwesenheit wiederholte Male unbekannt geblieben war. Boldyreff zeigt uns, dafs beim Kratzen des R\u00fcckens und gleichzeitiger Anbietung der Nahrung sich beim Hunde eine Verbindung zwischen diesem Eindruck und dem Speichelreflex bildet, derart, dafs dieser Eindruck im Bewufstsein als das Erinnerungsbild dessen erscheint, was im Munde beim Kauen des Nahrungs-\n\u2022 \u2022\nmittels zu folgen hat. So k\u00f6nnen wir auch den \u00dcbergang des unklaren Eindrucks auf das geistige Bild durch eine Beobachtung zeigen, bei der uns klar wird, wann eine innere Empfindung aufh\u00f6rt, eine solche zu sein, und f\u00fcr eine \u00e4ufsere erachtet wird.\nSetzt man frisch geworfene Hunde in einen Korb, bringt sie in ein dunkles, ruhiges Zimmer und ern\u00e4hrt sie mit fl\u00fcssiger Kost, so bemerkt man, dafs, falls man die Nahrungsaufnahme mit dem T\u00f6nen einer Glocke verbindet, bei einer bestimmten Anzahl von Malen dieser Ton gen\u00fcgt, damit das Tier ihn als ein Signal auffafst und deutliche Zeichen seines Verst\u00e4ndnisses f\u00fcr seine Bedeutung kundgibt. Hat man aber nicht das Zusammentreffen dieses Tones mit der Nahrungsaufnahme vorher geschaffen, so kann das Geh\u00f6r wohl die Empfindung verursacht haben, aber das Objekt bleibt gleichg\u00fcltig, als wenn es das Zeichen f\u00fcr nichts Bestimmtes w\u00e4re. In gleicher Weise kann man im Augenblick der Nahrungsdarreichung einige Tropfen kalten Wassers dem Tier auf den Bauch fallen lassen. Hat man das einige hunderte Mal wiederholt, so wird es nicht mehr st\u00f6rend empfunden ; dann aber kommt ein Augenblick, in dem es den W\u00e4rmeeindruck als das Zeichen der Nahrung auffafst; dann schn\u00fcffelt es mit der Schnauze lebhaft umher, statt wie vorher eine einfache Bel\u00e4stigung zu verraten; hier ist der Unterschied so klar, dafs keine Zweifel aufkommen k\u00f6nnen. Ich habe junge, 4 Tage alte Hunde, die an v\u00f6llige Dunkelheit gew\u00f6hnt waren, das Saugen gleichzeitig mit elektrischer Beleuchtung vornehmen lassen, und obwohl ihre Augenlider weiter fest verschlossen bleiben, ist der Lichteindruck auf die Retina wirksam, da mit der Wiederholung dieser sehr verschiedenen Akte ein Augenblick kommt, in dem es gen\u00fcgt, dafs das Licht das Zimmer durchflutet, um dem Subjekt durch den empfangenen Eindruck zu dem Verst\u00e4ndnis zu verhelfen, dafs dieser Eindruck das Zeichen der Nahrung ist.\nDie Empfindungen, die am fr\u00fchesten wahrgenommen werden, sind die Tastempfindungen im Munde. Zun\u00e4chst findet die Nah-","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nR. Turr\u00f4.\nrungsaufnahme statt, ohne dafs das Subjekt sich von den hervorgerufenen Eindr\u00fccken Rechenschaft gibt. Bietet man ihm aber zwischen dem zweiten und dritten Tage eine scharfe Fl\u00fcssigkeit anstatt der gewohnten milden an, so verwundert es sich \u00fcber die Ver\u00e4nderung, als ob dieser Eindruck nicht der erwartete w\u00e4re.\nPraktisch haben wir uns dar\u00fcber klar zu werden, dafs die am fr\u00fchesten im Bewufstsein unterschiedlich auftretenden Eindr\u00fccke gerade nicht eigentlich die sind, die mit gr\u00f6fserer Hartn\u00e4ckigkeit auf die Empfindung ein wirken, die sich von der \u00e4ufseren Handlung zun\u00e4chst dumpf abheben und schliefslich den Eindruck hervorrufen. Diese allgemein angenommene Hypothese wird durch die direkte Beobachtung der Tatsachen berichtigt. Die besser unterschiedenen Eindr\u00fccke sind die, die gleichzeitig mit der Stillung des Hungers auftreten, und die leichter als das Zeichen dessen aufgefafst werden, was ihn beruhigt. W\u00e4hrend das Kind sichtlich gleichg\u00fcltig f\u00fcr die Farbe der Vorh\u00e4nge, der W\u00e4nde, der Decke, des Zimmers, in dem es steht, bleibt, gibt es lebhafte Zeichen der Erkenntnis f\u00fcr seine Mutter von sich, deren Kleiderfarbe es merkt, obwohl doch diese Farbe auf seine Sinne nicht mit derselben Hartn\u00e4ckigkeit einwirkt, wie erstere. Der Druck der Windeln auf die Haut ist unvergleichlich gr\u00f6fser als der der m\u00fctterlichen Brust und doch entwickelt sich unzweifelhaft zuerst im Munde das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl, indem das Kind mit seinen Eindr\u00fccken die Gegenwart der Aufsenwelt err\u00e4t, die es sicherlich nicht an anderen K\u00f6rperstellen kundgibt. Von allen H\u00f6reindr\u00fccken werden nur die als Zeichen der Aufsenwelt aufgefafst, die es in Verbindung mit einem Nahrungsmittel setzt, wie das Knarren der T\u00fcr, das L\u00e4uten der Glocke, die Schritte oder die Stimme der Mutter. Alle \u00fcbrigen klingen ihm konfus und unbestimmt, als ob es sich durch sie nicht \u00fcber die Anwesenheit der Aufsenwelt orientieren k\u00f6nnte. Andererseits haben wir bei der Beschreibung der Vorg\u00e4nge, aus denen sich die tro-phische Erfahrung herleitet, uns \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dafs w\u00e4hrend dieses wichtigen Abschnittes psychischen Lebens das Wirbeltier sich allein damit besch\u00e4ftigt, Kennzeichen zu unterscheiden, mit denen es die Anwesenheit des N\u00e4hrk\u00f6rpers feststellt, und statt die Erkl\u00e4rung dieser Unterscheidungen im Fortbestehen des \u00e4ufseren Vorganges zu suchen, haben wir sie in der gebieterischen und rohen Notwendigkeit zu sehen, die das Subjekt zwingt, das zu erkennen, was ihm guttut. Sicher h\u00e4ufen die Gef\u00fchle in den","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n339\nEmpfindungszentren jeweils die von der Aufsenwelt aufgenommenen Eindr\u00fccke an. Ebenso sicher ist ihre Spur, solange sie noch nicht gen\u00fcgend oft wiederholt sind, fl\u00fcchtig, und sie treten nicht unter Bedingungen auf, die ihre Unterscheidung zulassen, indem sie als Zeichen der Aufsenwelt aufgefafst w\u00fcrden. Nicht weniger einwandfrei ist es, dafs ohne eine so kr\u00e4ftige und machtvolle Triebkraft wie die, welche sich von der trophischen Sensibilit\u00e4t herleitet, weder das Licht noch der Geschmack, die Ber\u00fchrung oder der Ton geliebt und als der Vorl\u00e4ufer dessen angesehen w\u00fcrden, was erwartet wird. Da dann keinerlei Wunsch bestehen w\u00fcrde, w\u00fcrde uns nichts von innen heraus veranlassen, zu sehen, zu h\u00f6ren, zu riechen, zu schmecken oder zu ber\u00fchren. W\u00e4ren die Sinnesorgane tats\u00e4chlich blofse Aufnahmeapparate, wie es die selbstbeobachtende Psychologie annimmt, und hinge die Festigkeit der Bilder von der Festigkeit, mit der die \u00e4ufsere Ursache auf sie ein wirkt, ab, so w\u00e4ren die Wirbeltiere nicht wie sie sind, da ja die Liebe, die uns mit der Aufsenwelt verbunden h\u00e4lt, die gleiche ist in ihrem Ursprung, wrie die Liebe des Kindes zur Brust, die es n\u00e4hrt. Die Sinne sind Aufnahmeapparate, deren sich das Wesen mittels einer inneren Kraft bedient, um sich mit der Aufsenwelt in Verbindung zu setzen, indem es sie an das anpafst, was ihm am besten ist, und so begreift man, dafs w\u00e4hrend dieses langen Zeitabschnittes, in dem die trophische Erfahrung gebildet wird, nur die Kenntnis der Aufsenwelt erworben wird, die eine Beziehung zu den Ern\u00e4hrungsbed\u00fcrfnissen besitzt.\nNehmen wir also die Sachen so wTie sie sind und nicht so, wie wir sie uns vorstellen, so sind die bei den Hunden beschriebenen Untersuchungen das darstellende Symbol dessen, was wir beim Neugeborenen und allen Wirbeltieren beobachten. In gleicher Weise haben wir schon bei der Beschreibung dessen, was wir trophische Erfahrung genannt haben, festgestellt, dafs das Tier zu Anfang ohne Bewufstsein dessen, was es vor sich hat, die Nahrung einf\u00fchrt und sich so verh\u00e4lt, als ob es der Sinne entbehrte. Die durch das trophische Bed\u00fcrfnis hervorgerufene psychische Motilit\u00e4t erweckt die blinde Nahrungseinfuhr und durch das jeweilige Zusammentreffen von gewissen Be-r\u00fchrungs-, Geschmacks-, W\u00e4rme-, Geruchseindr\u00fccken mit der Nahrungsaufnahme rufen wir bei den Hunden im Korb k\u00fcnstlich gewisse Seh- und H\u00f6reindr\u00fccke hervor. Auf diese Weise bildet\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t22","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340\nR. Turr\u00f4.\nsich durch die gleiche materielle Reihe, in der die Vorg\u00e4nge gegeben sind, eine Zustandsfolge, die man so aufz\u00e4hlen kann: 1. trophisches Bed\u00fcrfnis und psychische Motilit\u00e4t, 2. gleichzeitige \u00e4ufsere Empfindungen, 3. hemmende Magenempfindungen f\u00fcr die ersteren.\nEbenso wie die Folge von Tag und Nacht im Verst\u00e4nde des Tieres die unklare Vorstellung erweckt, dafs diese Folge sich ewig wiederholen wird, und es in Schrecken geraten l\u00e4fst, wenn das einmal bei einer Sonnenfinsternis nicht der Fall, so glaubt auch das Wesen beim Saugen, Kauen und Schlucken durch die Wiederholung gleicher Akte das Wiedererscheinen der gleichen Eindr\u00fccke wie vorher veranlassen zu k\u00f6nnen und gerade, weil dieser Glaube in seinem Verstand aufgetaucht ist, weifs es, dafs es ifst. Kurz zuvor war ihm das unbekannt, weil sich, obwohl die Empfindungseindr\u00fccke erschienen waren, der zweite Vorgang noch nicht mit dem ersten in Verbindung gesetzt hatte und der zweite nicht mit dem dritten, da das Tier noch nicht gemerkt hatte, dafs sie als Folge aus einem vorhergehenden sich entwickeln. Weil nun diese Folge nicht erkannt worden ist, obwohl die Be-r\u00fchrungs-, W\u00e4rme- usw. Nerven tats\u00e4chlich gereizt worden waren, so hat das Wesen auch weiter blind die Nahrung eingef\u00fchrt, als wenn es eine solche gar nicht w\u00e4re. Aber einmal ist der Glaube oder die Voraussicht auf getaucht, dafs beim Essen gewisse, schon bekannte Eindr\u00fccke wieder zu erscheinen haben, und wenn diese durch eine pl\u00f6tzliche Unempfindlichkeit des Mundes verschwinden, mufs es glauben, dafs es keine Nahrung einf\u00fchrt und zu saugen, kauen und schlucken auf h\u00f6ren. Vergleichen wir diesen Zustand mit dem der blinden Nahrungsaufnahme, so sehen wir, dafs der erstere von Einsicht zeugt, der zweite nicht.\nBei diesen Eindr\u00fccken geht in dem Wesen dasselbe vor sich wie beim Hunde mit dem Ert\u00f6nen der Glocke. 20, 30, 40 mal hat das Tier den Ton geh\u00f6rt, w\u00e4hrend es seine Suppe geschl\u00fcrft hat, ohne dafs es f\u00fcr ihn ein Zeichen gewesen w\u00e4re. Das Verst\u00e4ndnis, dafs dieser Ton ein Zeichen ist, heifst geradesoviel, wie glauben, dafs dieser Vorgang in Verbindung mit einem vorher unbekannten trophischen Bed\u00fcrfnis steht. So hat das Subjekt w\u00e4hrend einer gewissen Anzahl Male die Eindr\u00fccke in seinem Munde gef\u00fchlt, ohne dafs irgend eine Verbindung zwischen dem sie hervorrufenden trophischen Antrieb und ihnen selbst bestanden h\u00e4tte, bis in einem gewissen Augenblick diese Folgebeziehung","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n341\nsich eingestellt hat und erst dann weifs man, dafs das Wiedererscheinen dieser Sinnesbilder eine unumg\u00e4ngliche Bedingung zur Stillung des Hungers war. Diese Voraussicht, Meinung oder rudiment\u00e4re Einsicht entsteht nicht aus einem peripheren Vorgang: sie entspringt einem zentralen Zusammenhang. Wir ersehen in dem beschriebenen Falle klar, dafs die Zellreizung den Hunger hervorruft und dieser die Muskelbeweglichkeit auf eine vorher wohlgeordnete Weise in Bewegung setzt. Wir haben als Folge dieser Erscheinung ferner eingesehen, dafs in der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t Eindr\u00fccke entstehen, und obwohl alle diese Elemente imBewufstsein sich zusammenfinden, entsteht doch nicht die Einsicht, bevor nicht ein zentraler Zusammenhang sich einstellt, aus dem die Meinung hervorgeht, dafs man ifst, derart, dafs wenn innerlich ein Faktor vom anderen getrennt ist, das Tier die Nahrung einf\u00fchrt, ohne sich dar\u00fcber Rechenschaft abzulegen.\nDieselbe Beziehung, die wir zwischen der trophomotorischen Notwendigkeit und gewissen \u00e4ufseren Eindr\u00fccken soeben beschrieben haben, kann man in gleicher Weise zwischen diesen letzteren und den Magenempfindungen aufstellen, welche Schritt f\u00fcr Schritt die ersten zum Verschwinden bringen. Solange das Tier blind die Nahrung einf\u00fchrt, erwirbt es nicht die Kenntnis, dafs der vom Magen ausgehende Hemmungsreflex den Hunger zum Verschwinden bringt. Unter diesen Bedingungen verschwindet das qu\u00e4lende Gef\u00fchl ebenso, wie beim Hunde, wenn das Fleisch ohne seine Kenntnis in die Magenh\u00f6hle eingef\u00fchrt wird. Sobald sich das Tier dar\u00fcber Rechenschaft ablegt, dafs es ifst, weil in seinem Bewufstsein sich gewisse Bilder vorfinden, bildet sich auch zweifellos zwischen diesen Bildern und den Magenempfindungen ein so enger Zusammenhang, dafs man die Erkenntnis erwirbt, dafs der Hunger allm\u00e4hlich sich in dem Mafse vermindert, wie die ersteren, als die dieses Ph\u00e4nomen verursachende Bedingung, fortbestehen. Wenn durch eine pl\u00f6tzliche Unempfindlichkeit des Mundes die Bilder unerwartet verschwinden, so f\u00fchrt doch das Tier sich weiter Nahrung zu und der Hunger wird gestillt, obwohl sich das Tier von dieser Folge keine Rechenschaft geben kann.\nEs zeigt sich hier eine Zustandsfolge, die durch urspr\u00fcnglich\nphysiologische Bedingungen veranlafst worden ist. Ein peripherer\nVorgang ruft die trophischen Empfindungen an einer Stelle des\n22*","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342\nR. Turr\u00f4.\nBewufstseins, und ein peripherer Vorgang ruft die \u00e4ufseren und die Magenempfindungen an anderen Stellen hervor. Alle diese Empfindungen k\u00fcndigen sich als die Wirkung und nur als die Wirkung der Reizung an. Und doch bildet sich aus dem Zusammentreffen, dafs n\u00e4mlich solange der Effekt Hunger in dem psychotrophischen Zentrum auftritt, auch der Effekt Empfindung sich in den Sinneszentren zu wiederholten Malen unver\u00e4nderlich und dauernd kundtut, ein Zusammenhang oder eine untrennbare Assoziation, sei es auf direktem Wege oder auf schwierigeren, die sich mehr und mehr f\u00fcr uns ungangbar erweisen. Daraus leitet sich die Meinung her, dafs der Hunger fortbestehen wird, solange nicht in den Gef\u00fchlen gewisse Bilder auftreten. Aus diesem Grunde h\u00e4lt man das f\u00fcr eine Tatsache, weil eine lange Erfahrung uns gelehrt hat, dafs diese Folge immer auftritt, dafs nur in Gegenwart dieser Bilder der Magen langsam das Verschwinden des Hungers anzeigen wird und dies nicht tun wird, wenn sie fehlen.\nMan kann sich vorstellen, dafs diese Bilder, anstatt aus den Gef\u00fchlen hervorzugehen, sich aus einem \u00e4ufseren Vorg\u00e4nge herleiten, wie die gastrische Wirkung, die sich ja auch in gleicher Weise ank\u00fcndigt; und doch werden sie als das Zeichen dieser Wirkung aufgefafst werden. Nehmen wir in diesem Sinne an, dafs jedesmal bei der Nahrungsaufnahme von der Niere ein besonderes Gef\u00fchl ausginge oder von der Schmerzempfindlichkeit der Lende ein gewisser stechender Eindruck, so w\u00fcrde sich im Verst\u00e4nde der Glaube einstellen, dafs diese inneren Gef\u00fchle Vorg\u00e4nger des Magengef\u00fchls sind. Stellen wir diese phantastische Vermutung auf, indem wir die Vorg\u00e4nge anders auffassen, als sie sind, so geschieht das in der Absicht, besser zu begreifen, dafs die Vorg\u00e4nge der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t als Anzeichen des Nahrungsmittels aufgefafst werden; und zwar sind sie das, weil sie gleichzeitig mit der Magenempfindung auftreten und nicht, weil sie von Natur physiologisch sich von anderen unterscheiden.\nAus der vorhergehenden Auseinandersetzung mufs man schliefsen, dafs die trophische, die \u00e4ufsere und die Magenempfindung einzeln betrachtet, nicht intellektiv sind. Die Einsicht leitet sich aus einem logischen Vorg\u00e4nge her, dessen Daten im Bewufstsein sich kundtun. Je mehr das Tier verstehen lernt, dafs zur Stillung des Hungers das Wiedererscheinen gewisser Bilder unentbehrlich ist, legt es ihnen einen Wert bei, den sie","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n343\nvorher nicht hatten. Wer Einsicht sagt, meint die Erkenntnis einer Beziehung, und damit ist bereits die Erkenntnis der Beziehung zwischen dem Hunger, dem Vorstellungsbild und dem folgenden Hemmungsreflex gegeben. In diesem Falle handelt das Tier wie ein Reisender in einem fremden Lande, dessen Sprache und Gewohnheit er nicht kennt. Wenn, nachdem er gerade zu Bett gegangen und eingeschlafen ist, ihn ein Klang erweckt, das L\u00e4uten der Sturmglocke des Dorfes, so wird er, da er ihre Bedeutung nicht kennt, zwischen diesem L\u00e4uten und den folgenden Sch\u00fcssen und Alarmrufen keine Beziehung aufstellen. Wenn aber in der folgenden Nacht wieder gel\u00e4utet wird, so wird ihn schon die Furcht \u00fcberkommen, ob die Sch\u00fcsse sich nicht wiederholen werden und so kommt er beim dritten Male dazu, beim H\u00f6ren desselben eine Verteidigungsstellung einzunehmen, schon bevor die Sch\u00fcsse abgefeuert werden, weil er jetzt das L\u00e4uten f\u00fcr das Zeichen einer Gefahr h\u00e4lt. So beginnt auch das geistige Leben. Die Hunde im Korbe leiden Hunger, und gleichzeitig ert\u00f6nt die Glocke, ohne dafs sie im entferntesten ahnten, dafs dieser Ton das Zeichen zu seiner Stillung w\u00e4re. Ist aber der eine und andere Vorgang zusammengefallen, so bildet sich eine innere Verbindung zwischen beiden, und jedesmal bei ihrem Wiedererscheinen nehmen sie an, dafs der Hunger verschwinden w\u00fcrde. Das S\u00e4ugetier, das beim hastigen Saugen unbemerkt gewisse Gef\u00fchle hervorruft, weifs zuerst nicht, dafs diese Eindr\u00fccke ihm genau einen Augenblick fr\u00fcher gegeben waren, wie die folgende Empfindung der Befriedigung, weil zwischen dem einen und anderen Vorgang keine Beziehung bestand. Aber sowie die Kenntnis der Beziehung erworben ist, \u00fcberlegt es, dafs die ersteren Anzeichen und Ank\u00fcndigung der letzteren waren. Ebenso h\u00e4uft w\u00e4hrend jener langen Periode, in der die trophische Erfahrung sich bildet, die T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt in den Nerven-zentren dauernde oder fl\u00fcchtige Eindr\u00fccke an, ohne dafs man etwas davon w\u00fcfste. Da aber alle diese als Anzeichen eines Bed\u00fcrfnisses verwendet werden k\u00f6nnen, so ist das Subjekt auch bestrebt, sie wieder hervorzurufen, indem es hierzu die Gef\u00fchle unter die Herrschaft der trophomotorischen Sensibilit\u00e4t stellt. Auf diese Weise zwingt das Wesen, statt passiv zu warten, bis dieses Gef\u00fchl eintritt, sich zu dem notwendigen Eindruck. Der Antrieb zur Auffassung der Empfindungen als Anzeichen des Nahrungsmittels ist also, wie ersichtlich, ein scharf logischer.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344\nR. Turr\u00f4.\nUnterdr\u00fccken wir ihn im Geiste, oder sehen wir von ihm ab, wie es die selbstbeobachtende Psychologie tut, so bleibt uns unbegreiflich, dafs dieser sensorischen Wirkung ein nicht recht erkl\u00e4rlicher geistiger Wert beigelegt wird.\nBei der eben vollendeten Beschreibung sehen wir, dafs der erste Schritt zur Einsicht aus gegebenen Erinnerungen hervorgeht, die im Bewufstsein ohne die Notwendigkeit vorliegen, ihrem Zustandekommen nachzuforschen. Ein und das andere Mal ist im Augenhintergrund des Hundes ein schwacher Lichtstreifen entstanden, oder hat ein besonderer Ton im Augenblick der Nahrungsaufnahme geklungen, und da das eine und andere Mal der Hunger sich beruhigt hat, hat sich im Geiste ohne die Notwendigkeit der Erkenntnis, was diese Bilder hervorgerufen hat, und ohne die entfernteste Ahnung in diesem Augenblicke, dafs sie ohne eine \u00e4ufsere Bedingung nie zustande gekommen w\u00e4ren, zugleich mit dieser entstehenden Einsicht eine Urteilsfolge gebildet, indem das Wesen so vorgeht, als ob es ahnte, dafs der trophische Effekt eine Folge dieser Bilder ist. Aus diesem Grunde erachtet es sie nicht als ein Zeichen von etwas \u00c4ufserlichem, sondern als das Zeichen der zu erwartenden Wirkung. Ihr Einsichtswert ist keineswegs ein \u00e4ufserer, sondern ein rein innerlicher. Stellen wir uns auf denselben psychologischen Standpunkt wie der Hund, so sehen wir deutlich ein, dafs weder dieser Lichteindruck im Hintergr\u00fcnde der verschlossenen Augen, noch der Klang, der pl\u00f6tzlich in seinem Kopfe ert\u00f6nt, noch auch der W\u00e4rmeeindruck, der nicht im entferntesten dahin lokalisiert wird, wo er auf der Haut auftritt, Darstellungen von irgend etwas \u00c4ufserlichem sind; sie sind einfach Ph\u00e4nomene, die sich infolge Zusammentreffens mit dem Verschwinden des Hungers mit diesem Vorgang verkn\u00fcpften und als das Anzeichen dessen sich darstellen, was sofort zu folgen hat.\nWir erinnern uns, dafs wir bei der Besprechung der trophischen Erfahrung (und solches Zur\u00fcckgreifen auf schon Besprochenes ist unvermeidlich, weil wir die gleiche Frage jetzt von einem anderen Gesichtspunkte betrachten) gesagt haben, dafs die Empfindungszeichen, durch die man die Anwesenheit des vom Organismus verlangten Stoffes erkennt, keine Beziehung zur Aufsen-welt unterhalten sondern zu der trophischen Wirkung, die sie hervorrufen. So haben wir ausgef\u00fchrt, dafs das von seiner Mutter ges\u00e4ugte Kind eine gewisse trophische Unruhe wegen der","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n345\nschlechten Eigenschaften ihrer Milch empfand, die es reizbar und brummig machte, w\u00e4hrend umgekehrt die von der Nachbarin verabfolgte Mahlzeit es zufriedenstellte. Das Zusammentreffen der schlechten Wirkung der ersteren folgte unver\u00e4nderlich dem Anblick der weifsen Farbe A, w\u00e4hrend der Anblick der roten Farbe B die gute Wirkung der zweiten war, und diese eine gewisse Anzahl von Malen unver\u00e4nderte Folge baute im trophischen Bewufstsein und in den optischen Zentren zwei Erinnerungsbilder auf, zwischen denen sich eine interneuronale Verbindung herstellte. Dank dieser Verbindung trat A nie auf, ohne dafs gleichzeitig das Erinnerungsbild dessen erschien, was zu anderen Malen im selben Augenblick vor sich gegangen ist, und ebensowenig wird B erscheinen, ohne dafs gleichzeitig die Erinnerung auftritt, dafs bei diesem Empfindungszustand niemals jenes undefinierbare Unbehagen zu erwarten ist, das nach dem Erscheinen von A auftrat. Unter diesen neuen Bedingungen hat das Subjekt nur zu warten, dafs eine gewisse Zeit abl\u00e4uft, bis die Zellerregung im Bewuifstsein den trophischen Effekt anzeigt. Es ist schon ein Erinnerungsbild durch die Wiederholung der Vorg\u00e4nge ausgearbeitet worden und dieses Erinnerungsbild erweckt in Gegenwart des Bildes A dasselbe, was die die Zellerregung veranlassende Empfindung anzeigte, d. h. einen Schmerz, ein inneres Unbehagen. Im umgekehrten Falle entsteht B gegen\u00fcber mit dem fr\u00fcheren trophischen Erinnerungsbild ein angenehmes Gef\u00fchl der Befriedigung. Wenn also das Vergangene sich als anwesend erweist, so erwirbt man die Voraussicht dessen, was 50 oder 100 Male gefolgt ist, und wird daraus den Schlufs ziehen, dafs es sich auch jetzt wiederholen wird. 50 oder 100 Male hat sich die Tatsache wiederholt, dafs eine Stunde nach dem Auftreten von A das geschilderte Unbehagen sich einstellte. An diese Folge sich erinnern, heifst in dem gegebenen Augenblicke, wo A auftritt, auch wissen, dafs nach Ablauf einer Stunde dasselbe folgen wird. Hier ist also wie bei dem Bilde einer Farbe, der Vorgang mit der Erinnerung an das i ergangene verkn\u00fcpft, und das Wesen erwirbt die Voraussicht dessen, was folgen wird, weil es sich dasselbe hierdurch vorstellt.\nEbenso hat man durch die Wiederholung einer bestimmten Ber\u00fchrung, eines gewissen Geschmacks, Geruchs, mag er auch unklar und diffus gewesen sein, w\u00e4hrend der mechanischen Einf\u00fchrung der Nahrung in den Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346\nR. Turr\u00f4.\nBilder geschaffen, die unver\u00e4nderlich als die Vorg\u00e4nger der tro-phischen Wirkung, d. h. der Stillung des Hungers gegeben sind, und so erscheinen sie, wenn sie erweckt werden, in Verbindung mit dem Erinnerungsbild des Vergangenen im Bewufstsein als die lebendige Einsicht in das, was von neuem vor sich gehen mufs oder sich wiederholen wird. Halten wir daran fest, dafs zur Bildung dieser ersten Einsicht nicht die Kenntnis unbedingt notwendig ist, dafs das, was den Hunger stillt, etwas \u00c4ufserliches ist, oder dafs das, was das Bild hervorruft, eine aufserhalb der Sinne befindliche Ursache ist. Es gen\u00fcgt, dafs sich zwei bestimmte Erinnerungsbilder im Bewufstsein bilden und durch eine interneuronale Verbindung vereinigen, damit das zustande kommt, was sich uns subjektiv unter der Form einer logischen Beziehung darstellt.\nDa also das Empfindungsbild nicht urspr\u00fcnglich intellektiv ist, sondern die Einsicht vielmehr aus seiner Verbindung mit dem trophischen Erinnerungsbild entsteht, so kann man sich fragen, was begreift das Wirbeltier, nachdem dieser Zusammenhang sich gebildet hat, mehr als fr\u00fcher? Die Antwort ist eine sehr einfache. Implicite haben wir sie schon im vorausgehenden gegeben. Wenn das Kind in der Farbe A einen von der Farbe B verschiedenen trophischen Effekt voraussieht, wenn sich bei der mechanischen Nahrungszufuhr durch die Wiederholung der Vorg\u00e4nge gewisse zentrale Bilder bilden, die die periphere Reizung nur zu erwecken braucht und in deren Gegenwart das Tier schon weifs, was es vorher nicht wufste, die Voraussicht n\u00e4mlich, dafs sein Hunger gestillt werden soll; wenn bei jeder aufgestellten trophischen Erfahrung das Tier die klare Erkenntnis erworben hat, nicht von dem, was augenblicklich in seinem Organismus folgt, sondern von dem, was folgen wird, so ist unzweifelhaft in diesem ersten Abschnitte psychischen Lebens das Bild rein und ausschliefslich als die genuine Vorstellung der trophischen Wirkung gegeben. Der Durstende, der sich das Wasser durch gewisse Eindrucksbilder vorstellt, der Fleischfresser, der sich das gew\u00fcnschte Fleisch vorstellt, kennt nicht zwei Gegenst\u00e4nde so, wie sie sp\u00e4ter die eigentliche \u00e4ufsere Wahrnehmung ihm zeigen wird. Er kennt die trophische Wirkung, die sie hervorzubringen haben, eine Erkenntnis, die nur in der Voraussicht dieser Wirkung besteht. Um zu dieser Voraussicht im Geiste zu gelangen, war es n\u00f6tig, sich ihre Wirkung vor-","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n347\nstellen zu k\u00f6nnen, und da auf diesen Effekt vorz\u00fcglich dieses Bild folgte und auf jenes durch eine von der Erfahrung vorgebildete Weise ein anderes, so wurde das Bild als das Zeichen der Wirkung angesehen, da ein Zeichen alles das ist, was ein Mittel zur Bildung der Vorstellung darstellt. In diesem Punkte geht das letzte Wirbeltier ebenso klug vor wie der Mensch, wenn er das Zifferblatt einer Uhr bemalt und einfach aus der Lekt\u00fcre der aufgesetzten Zeichen die H\u00f6he der Sonne im Weltenraume abliest, ohne diese von neuem festlegen zu m\u00fcssen. Es ist klar, dafs diese Zeichen ihres Wertes entbehren w\u00fcrden und nichts darstellten, wenn nicht vorher experimentell das festgelegt worden w\u00e4re, was sie anzeigen. Nachdem dies einmal fixiert ist, hat es denselben Wert, die H\u00f6he der Sonne im Raume zu messen, wie sie durch das Ablesen des Zeichens, in das jene unver\u00e4nderlich \u00fcbertragen ist, festzustellen. Ebenso haben das Kind, das sich die trophische Wirkung durch die Farbe, der D\u00fcrstende, der sie sich durch ein bestimmtes Empfindungsbild ebenso wie der Fleischfresser vom Fleische vorstellt, nicht die Notwendigkeit, abzuwarten, was kommen wird, um das zu wissen. Sie sehen die Wirkungen voraus, weil sie gewisse trophische Erinnerungsbilder mit solchen der Empfindungszentren fest verbunden haben. Die Experimente, aus denen diese Voraussicht entsteht, leiten sich einerseits aus den Zellerregungen her, andererseits von den \u00e4ufseren die beide Erinnerungsbilder schaffen, und von dem zentralen Konnex, der sie eint. Dadurch wird die Erkenntnis ihrer Folge erworben. Diese Erkenntnis ist empirischer Art, wenn man unter empirisch alles das versteht, was durch die p e rip h er e R ei zun g veranlafst wird und als ein Vorgang erscheint.\nIntuitiv begreifen wir, dafs von dem Augenblick an, in dem unsere Empfindungsbilder nicht Abdr\u00fccke \u00e4ufserer Sachen sind, wir sie als Zeichen verwenden, mittels deren wir uns jene vorstellen. Wenn wir uns aber nicht einer Tatsache gegen\u00fcber befinden, so wie sie uns die Beobachtung darstellt, und weiter gehen, indem wir uns fragen, wie es m\u00f6glich ist, dafs die Einsicht sie als Zeichen verwendet, so entdecken wir, dafs das ganz nat\u00fcrlich so sein mufs, da sie ja an diesem Punkte ebenso vorgeht, wie bei schwierigeren und h\u00f6heren Prozessen. Es sind zwei einzelne Vorg\u00e4nge gegeben, einer in den psychotrophischen Zentren, der andere in der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t und, wie unver\u00e4nderlich","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348\nJR. Ttirr\u00f4.\neiner dem anderen folgt, so bildet sich zwischen ihnen, ein Zusammenhang auf Grund dessen man glaubt, dafs das Bild das symbolische Zeichen der trophischen Erinnerung ist, gerade wie die Striche der Sonnenuhr die H\u00f6he des Gestirnes oder das Erklingen der Alarmglocke das Symbol der Gefahr darstellen. Diese \u00dcberlegung, oder diese Herleitung ist nicht d i s k u r s i v. Sie entsteht aus Bedingungen, die urspr\u00fcnglich eingegeben sind, und aus diesem Grunde glauben -wir Wirbeltiere an dieser Stelle alle in gleicher Weise, dafs das Bild das Zeichen der Nfthrwirkung ist, das der Organismus in unterschiedlicher Weise im Bewufstsein eingrabt.\nDa diese elementare Herleitung aus dem trophischen Experiment entsteht, bleibt, so lange die Folge sich ebenso einstellt wie immer, auch der logische \"W ert des Zeichens immer der gleiche. Sowie aber einem gleichen Zeichen nicht der gleiche trophische Effekt entspricht, h\u00f6rt es auf, ein solches zu sein. Beispielsweise hat man immer die Farbe A als Symbol eines schlechten N\u00e4hrwertes betrachtet und die barbe B als das eines guten. Und gerade aus diesem Grunde ist A das Zeichen des ersteren, B das des letzteren. Nehmen wir an, dafs die Zeichen umgestellt werden, indem die Mutter das rote, die Nachbarin das weifse Kleid anzieht, so wird das Wesen aus den vergangenen Erfahrungen sch\u00f6pfen und diesen Zeichen einen Wert zuerkennen, den sie in Wirklichkeit nicht enthalten; da aber die trophische Sensibilit\u00e4t den Organismus berichtigt, so wird es ebenso, wie die erste Erfahrung, jetzt eine neue aufstellen, in der das, was bisher als Charakteristikum f\u00fcr A gegolten hat, jetzt B zuge-w'iesen wird und umgekehrt. Daraus sieht man, dafs in dieser Anfangsperiode geistigen Lebens der logische Wert der Empfindungszeichen immer ein bedingter ist. Entspricht er in Wirklichkeit dem in der Erinnerung vorhandenen Effekt, so h\u00e4lt man ihn f\u00fcr richtig, weil das Experiment sich so wiederholt hat wie fr\u00fcher. Man h\u00e4lt ihn f\u00fcr falsch, wenn der Organismus nicht die gleiche Wirkung ank\u00fcndigt, wie sie in dem durch fr\u00fchere Erfahrung gebildeten Ged\u00e4chtnis vorausgesehen wurde, und f\u00fcr tr\u00fcgerisch, wenn er \u00fcberhaupt nichts anzeigt.\nSo entsteht also die Einsicht weder aus der \u00e4ufseren noch aus der trophischen Empfindung, sondern aus ihrer Verkn\u00fcpfung, und der logische Wert dieses Urteils oder dieser \\ erbindung h\u00e4ngt davon ab, dafs die zwischen beiden taktoren bestehende","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n349\n\u2022 \u2022\n\u00dcbereinstimmung ungenau oder erdacht ist. Das Subjekt geht untadelig vor mit derselben Sch\u00e4rfe wie der Mathematiker. Eine periphere T\u00e4tigkeit bedingt an zwei verschiedenen Bewufstseins-stellen zwei Erinnerungsbilder und eine gesetzm\u00e4fsige Folge, die ihren zentralen Zusammenhang veranlafst. Ebenso ruft eine periphere Handlung diese Erinnerungsbilder hervor. Wenn also das Wesen einem solchen Zeichen gegen\u00fcber glaubt, dafs eine bestimmte Wirkung einzutreten habe, und der Organismus lebhaft anzeigt, dafs sie nicht hervorgebracht worden ist, so wird das durch dieses Zeichen Vorausgesehene L\u00fcgen gestraft und, wenn nicht anderweitig Ersatz eintritt, so kann man nicht Vorhersagen, was kommen wird. Sobald jedoch die Erfahrung in der Erkenntnis ein neues Zeichen gebildet hat, kann man sich ein anderes Mal den folgenden trophischen Effekt vorstellen. Es h\u00e4ngt also der Wert des Zeichens nicht von der Bedeutung ab, die wir ihm durch fr\u00fchere Erfahrung beilegen ; er ist von den fr\u00fcheren und den folgenden oder vorauszusehenden abh\u00e4ngig, und daher kommt es, dafs, wenn die erwartete Wirkung nicht eintritt, es auch weder ein Zeichen noch sonst etwas ist. So sagt die Geometrie : auf einer geraden Linie liegen die Punkte in einer gleichen Richtung. Liegen auf einer Linie Punkte, die nicht in\nderselben Richtung gegeben sind, so ist das keine gerade Linie.\n\u2022 \u2022\nEs ist die gleiche \u00dcberlegung wie die des Tieres, das das Empfindungszeichen als Darstellung des trophischen Effektes ansieht.\nMittels dieses intellektiven Vorganges besch\u00e4ftigt sich das Tier einzig mit einem Gegenst\u00e4nde ; die Bed\u00fcrfnisse des Organismus zu ersetzen. Zu diesem Zwecke ist es notwendig, dafs es die Wirkung voraussehen kann, die die Nahrungsmittel zu verursachen haben. Diese Voraussicht entsteht nicht aus einem verborgenen Quid oder einer instinktiven F\u00e4higkeit, noch ist sie angeboren. Sie entsteht aus einem empirischen Vorgang, der sich auf der peripheren Reizung aufbaut, und so lernt es, weil der Hunger beim Auftreten bestimmter Bilder sich beruhigt, schliefslich, dafs er nur zur Ruhe kommt, wenn jene erscheinen, und dafs man ohne diese Folge ihn nicht stillen kann. Unzweifelhaft kann man ihn aber dennoch durch mechanische Nahrungsaufnahme, durch eine Transfusion, durch Einl\u00e4ufe oder eine Magenfistel zum Verschwinden bringen. Ebenso kann man phantastische Ansichten Vorbringen, wie es einige Romanschriftsteller getan haben, dafs man den Hunger durch n\u00e4hrende","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350\nR. Turr\u00f4.\nGase oder feine Elixiere stillen k\u00f6nnte. Aber wenn auch die M\u00f6glichkeit seines Erl\u00f6schens durch ungew\u00f6hnliche Mittel vorhanden w\u00e4re, so hat das immer die Voraussetzung, dafs sich das Wesen niemals Rechenschaft dar\u00fcber ablegen kann, was folgen wird, sofern es sich nicht durch Vorstellungsbilder den zu erwartenden trophischen Effekt vor Augen f\u00fchren kann. Infolgedessen entsteht in diesem beginnenden Verst\u00e4ndnis eine notwendige, logische Folgerung; die Erwerbung der Erkenntnis einer trophischen Wirkung kann nur durch die Vorstellung dieser Wirkung mittels Empfindungszeichen zustande kommen. Wir sagen diese Forderung ist logisch, weil sie aus der Beziehung zweier Faktoren entsteht. Wir sagen, sie ist notwendig, da wir bei der Annahme des Gegenteiles schliefslich die M\u00f6glichkeit einer trophischen Einsicht zerst\u00f6ren w\u00fcrden, weil wir von ihren Grundlagen absehen. Diese logische Notwendigkeit wirkt auf das Wirbeltier notgedrungen durch die gleiche Erkenntnis, dafs das Bild die Wirkung wiederspiegelt, und wie die Forderung des Euclid richtig ist, weil es praktisch unm\u00f6glich ist, sich das Gegenteil des Satzes vorzustellen, so sagen wir, dafs diese Forderung absolut sicher ist, weil wir keine trophische Erfahrung auffassen k\u00f6nnen, in der der N\u00e4hrwert nicht durch Vorstellungsbilder dargestellt w\u00fcrde. Wir m\u00fcssen also entweder auf die Voraussicht der N\u00e4hr Wirkung verzichten oder die Tatsache so nehmen, wie sie ist, als eine notwendige Forderung.\nDie Voraussicht des Kindes f\u00fcr das, was der Milch der Mutter und der der Nachbarin zu folgen hat, wird durch A und B dargestellt. Die Voraussicht des Durstenden, der annimmt, dafs sein Durst nur durch das gestillt werden kann, was ihm unter der Empfindungsform des Wassers erscheint, oder der Rabe, der durch einen Geruch die Richtung des Aases entdeckt, das seinen Hunger stillen soll, sie alle gr\u00fcnden sich auf ein Gleichheitsurteil. Immer nimmt das Tier an, dafs die heutige Farbe die gleiche ist wie vorher, dafs A = A, B = B ist. Diese Annahme beruht nicht auf einer \u00e4ufseren Erfahrung, sie entsteht aus einer inneren Forderung.\nWoher weifs das Wesen, dafs die weifse Farbe von jetzt die gleiche ist, wie die von vor 3 Stunden, wie die von gestern und vorgestern und die, die sich immer, seit es seine trophische Erfahrung gebildet hat, in gleicher Weise wiederholte? Woher","page":350},{"file":"p0351.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n351\nweifs der Rabe, dafs der von ferne wahrgenommene Geruch der gleiche ist, den er immer empfunden hat? Dafs sie es wissen, ist unzweifelhaft, da sie sich durch diese Zeichen die trophischen Wirkungen vorstellen, die einzutreten haben. Und da dies eine indiskutable Tatsache ist, so ist es wichtig, zu erforschen, was dies ist, das im Bewufstsein das Gef\u00fchl der Identit\u00e4t anzeigt, auf dem der Wert der trophischen Erfahrung beruht; wenn das Kind nicht jedesmal sicher w\u00fcfste, dafs A dem A, B dem B entspricht und der Rabe, dafs der augenblickliche Geruch mit dem fr\u00fcheren identisch ist, k\u00f6nnten sie nie voraussehen, was folgen wird. Wir haben 30, 50, oder sovielmal es eben n\u00f6tig war, bei unseren Hunden die Nahrungsaufnahme mit dem Ert\u00f6nen der Glocke zusammenfallen lassen und konnten so beobachten, dafs ein Augenblick eintrat, in dem dieser Ton ein gewisses Verst\u00e4ndnis hervorrief. Betrachten wir diese Frage vom Standpunkte der Selbstbeobachtung, so k\u00f6nnte man glauben, dafs die psychische Erfahrung mit dem Erscheinen des Verst\u00e4ndnisses beginnt, da sich ja das Wesen hierdurch Rechenschaft ablegt, was mit ihm vorgeht. Um aber begreifen zu k\u00f6nnen, dafs das, was sich ereignet, das Resultat einer vorhergegangenen Erscheinung ist, in der die urs\u00e4chlichen Bedingungen dieses Endph\u00e4nomens festgelegt sind, m\u00fcssen wir auf der Suche nach den Bedingungen f\u00fcr die Erkl\u00e4rung tieferliegender Vorg\u00e4nge weiter zur\u00fcckgehen. Wie kommt die Erkenntnis zustande, dafs das Erklingen der Glocke das gleiche ist, wie andere Male? Es weifs das nicht, weil es seine Ursache unterschiedlich erkennt und sich dadurch Rechenschaft ablegte, dafs es verschieden ist von anderen Ger\u00e4uschen, beispielsweise dem der T\u00fcre, einer Stimme oder eines Vogels. Dieses Geh\u00f6rsbild erscheint nur deshalb scharf, weil es gleichzeitig mit der Aufnahme der Nahrung gebildet ist. Alle, die nicht auf diese Weise zustande kommen, werden auch, wenn sie ert\u00f6nen, nicht wie dieses aufgefafst. Wenn sie scharf erscheinen, so ist das nicht deshalb, weil man weifs, dafs dieser Gegenstand sie veranlafst, oder sich gar dar\u00fcber Rechenschaft ablegt, dafs eine Ursache sie hervorgerufen hat ; es ist dies nur der F all, weil sie bei ihrem Erscheinen als das Zeichen eines unmittelbar eintretenden Effektes aufgefafst werden, wie es sich schon zu anderen Malen ereignet hat. Die Erkenntnis dieser Identit\u00e4t entsteht aus der Erinnerung fr\u00fcherer Wiederholungen. War die Spur, die sie in den zentralen Kernen das erste Mal,","page":351},{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nR. Turr\u00f4.\nals der periphere Eindruck wirkte, zur\u00fcckgelassen hat, eine fl\u00fcchtige, so wird beim zweiten Male, wenn die Glocke erklingt, sich im Momente B das wiederholen, was im Augenblick A sich ereignet hat, und daraus entsteht A -f- B. In den Zeichen C, D, E . . . N tritt dasselbe ein, und so ist das Bild beim letzten Eindruck als die Summe aller vergangenen entstanden, ohne dafs die Zwischenr\u00e4ume sich in mefsbarer Weise anzeigen, wie die Seiten eines Buches, die man mit dem Daumen schnell durchbl\u00e4ttert, sich zu einem fortgesetzten Bilde zusammensetzen. Die Tiere verdanken der physiologischen F\u00e4higkeit des Nervensystems, die vergangenen Reizungen in einem Zustande latenter Addition zu bewahren, das Ged\u00e4chtnis und mit ihm das Gef\u00fchl der Gleichheit derselben Eindr\u00fccke. Fragen wir uns nun, worauf das Subjekt fufst, wenn es glaubt, dafs der Eindruck E der\ngleiche ist, wie der in D, C, A, B gegebene, so werden wir zugestehen, dafs es dies glaubt, weil sie alle in \u00e4hnlicher Weise wie ihr letzter Eindruck auftreten. Das gleiche folgt bei den tro-phischen Erinnerungsbildern. Merken wir beim Kosten eines Gerichtes, dafs es fade schmeckt, und uns der Wunsch treibt, Salz hinzuzutun, so geschieht das, weil das Erinnerungsbild dieses K\u00f6rpers, durch die Erregung belebt, vorher im Bewufstsein bestand, und durch die Erfahrung die Kenntnis erworben ist, dafs das, was dieses Bed\u00fcrfnis deckt, das ist, was sich im Geschmack unter diesem Kennzeichen offenbart. So sieht man schon, l\u00e4ngst bevor dieses Bed\u00fcrfnis sich bis zum Paroxysmus gesteigert hat, voraus, was folgen wird, und diese Voraussicht entsteht nicht\naus der augenblicklichen peripheren Reizung, sondern aus der lebhaften Erinnerung an alle vorhergegangenen Erregungen, die mit ihr zusammen in einem Akte auftauchen. Wenn sie sich nicht in jenen unbekannten Stellen auf speichern, in denen gleiche Eindr\u00fccke im trophischen Bewufstsein unterschieden werden, und wenn die augenblickliche Zellreizung anstatt in der gegenw\u00e4rtigen Empfindung alle vorhergehenden zu erwecken, isoliert zutage tritt, so wird die trophische Voraussicht oder die Erkenntnis der Wirkung, die von den Nahrungsmitteln auszugehen hat, vollst\u00e4ndig unm\u00f6glich sein. Ebenso wird man sich nicht die Wirkung, die zu folgen hat, vorstellen k\u00f6nnen, wenn das Vorstellungskennzeichen sich in der Erkenntnis, sowohl in der Gegenwart wie in der Vergangenheit, d. h. im Ged\u00e4chtnis, nicht selbst gleicht.\nDas Problem der Identit\u00e4t der seelischen Vorg\u00e4nge leitet","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n353\nsich, auf die einfache Gattung experimenteller Ph\u00e4nomene zur\u00fcckgef\u00fchrt, aus dem latenten Zusatz dieser selben Eindr\u00fccke her. Die Bilder, mit denen die Wirbeltiere sich die trophischen Wirkungen vorzustellen beginnen, entsprechen nicht rein und aus-schliefslich der augenblicklichen Reizung, sondern dieser und den vorangegangenen, und aus diesem Grunde sind diese Unterschiede als fest und dauernd gegeben. Wenn weiterhin die gleichen Bilder als Zeichen der Gegenst\u00e4nde erachtet werden, so zeigen sie sich doch nicht einzig und ausschliefslich durch die Daten des \u00e4ufseren peripheren Eindrucks an, sondern durch das, was in diesem Eindruck sich darbietet, und in der zentralen Unterscheidung, die er hervorruft.\nDas nativistische Vorurteil bringt uns zu dem Glauben, dafs wir zuerst die weifse Farbe des Tischtuchs, des Schnees, der Milch sehen und erst dann das Weifse als solches. Das ist eine T\u00e4uschung, weil der allgemeine Begriff vor diesen unterschiedlichen Angaben, die in der zentralen Unterscheidung gar nicht aufzutreten brauchen, gegeben ist. So kommt es, dafs, w\u00e4hrend man einm\u00fctig erkennt, dafs diese drei Sachen weifs sind, sehr viele nicht die Unterschiede auseinanderhalten, die jeder einzelnen von ihnen zukommen und sich die Sehbegabten \u00fcber sie untereinander streiten, weil alle die Farben nach ihrem pers\u00f6nlichen Wahrnehmungskoeffizienten auffassen. Dieser Koeffizient geht aus einer zentralen Unterscheidung hervor, in der alle vergangenen Eindr\u00fccke sich im Ged\u00e4chtnis als sich selbst gleich spiegeln oder wie ein gemeinsames Merkmal und wie die M\u00f6glichkeit ihrer Unterscheidung im augenblicklich sie erweckenden peripheren Gesichtsbild. Wenn die selbstbeobachtende Psychologie annimmt, dafs das zentrale Sehbild der peripheren Reizung wie das Echo dem Tone entspricht, zieht sie nicht in Rechnung, dafs die richtig wiedergegebene Erfahrung uns belehrt, dafs im zentralen Kern, wo der Eindruck der weifsen Farbe empfangen wird, in versteckter Form alle fr\u00fcheren Eindr\u00fccke mitschwingen, und dieses Erinnerungsbild ist durch den gegenw\u00e4rtig peripheren Eindruck geweckt worden. Auf diese zentrale Reaktion antwortet das bewufste Epiph\u00e4nomen mit dem Gef\u00fchl der Gleichheit alles dessen, was als \u201eweifs\u201c gegeben ist. In Wirklichkeit wird das Weifse nicht durch eine weitere Arbeit von allen Farben, die als solche gegeben sind, abgeleitet. Ganz im Gegenteil sind diese besonderen weifsen Nuancen vom allgemeinen","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nR. Turr\u00f4.\nBegriff unterschieden, je weiter die Sehfunktion sich entwickelt und vervollkommnet, indem sie immer vom weniger genauen zum Sch\u00e4rferen, vom amorphen zum unterschiedlichen, vom dunklen zum hellen schreitet. Die Erkenntnis dieser unendlichen Mannigfaltigkeit setzt stets das Gef\u00fchl ihrer v\u00f6lligen Gleichheit voraus, l\u00e4fst aber immer noch alle m\u00f6glichen Unterscheidungen offen und leitet sich aus diesem versteckten Zusatz her, der urspr\u00fcnglich die Gleichheit eines im Bewufstsein trotz aller Mannigfaltigkeit fortbestehenden Ph\u00e4nomens anzeigt.\nMan wird sich erinnern, dafs wir bei der Beschreibung der trophischen Erfahrungen den Geschmack in allgemeiner Weise aufgefafst haben, so wie ihn das Wirbeltier in den ersten Lebensabschnitten empfinden mufs, und dafs wir dann den Unter-scheidungsprozefs klargestellt haben, dank dessen sich die Eigenschaften jedesmal klarer und deutlicher abhoben. Man erinnere sich dessen, was wir in bezug auf die Farben, die Ber\u00fchrungen und T\u00f6ne angegeben haben, und dann mag man sagen, ob der Vorschlag zul\u00e4ssig ist, das zentrale Bild als die einfache Wiedergabe des peripheren Eindrucks zu betrachten. Unzweifelhaft ist die Zusammensetzung des zentralen Vorganges eine viel schwierigere als die, die wir eben vorausgesetzt haben, da ja mit dem gegenw\u00e4rtigen Eindruck auch die Erkenntnis der vergangenen vorausgesetzt wird.\nDie grundlegende Bedingung dieser zentralen Arbeit liegt in der peripheren Reizung. In ihr ruht auch der sie veranlassende Antrieb, der sie im Bewufstsein kundgibt und infolge dieser schwerwiegenden \u00dcberlegung erinnern wir uns bei der Wahrnehmung des gegenw\u00e4rtigen Eindruckes \u00e4hnlicher vergangener. Diese fortschreitende, ebenso langsame wie dunkle, Arbeit der zentralen Unterscheidung, die Schritt f\u00fcr Schritt die Entwicklung des geistigen Lebens kennzeichnet, kann man nicht einzig durch Selbstbetrachtung bemerken, sondern nur durch eine aufmerksame und langdauernde Beobachtung. Die Selbstbetrachtung zeigt nur die Erfolge und sieht von den veranlassenden Bedingungen ab. Da doch aber die Tatsache besteht, dafs das Weifse als weils, das Bittere als bitter sich anzeigt, w\u00e4hrend in der Aufsenwelt nicht zwei gleiche Farben und zweimal der gleiche bittere Geschmack Vorkommen, so ist die Gleichheit oder der gemeinsame Begriff, den wir ihnen zuteilen, durch die Identit\u00e4t der sie veranlassenden Reizungen zu erkl\u00e4ren.","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n355\nDarum sagen wir, dafs der Schnee, das Tischtuch und die Milch als weifs erscheinen, weil sie die Retina in gleicher Weise reizen. So sagt man auch, dafs die K\u00f6rper a, b, c und d gesalzen sind, weil sie den Geschmacksnerven in gleicher Weise beeinflussen. So erkl\u00e4ren wir uns das gemeinsame Merkmal, das der psychische Vorgang anzeigt, indem wir das Problem der Gleichheit vom Subjekt auf das Objekt \u00fcbertragen, durch einen gleichen Vorgang der \u00e4ufseren Ursache, eine Erkl\u00e4rung, die in allen Punkten tr\u00fcgerisch ist, weil wir ja von dieser Ursache nur die Wirkungen kennen, die sie in unseren Sinnesnerven aus\u00fcbt; und darum d\u00fcrfen wir von der Folge nicht auf das Vorhergehende, sie veranlassende, schliefsen, sondern umgekehrt: aus dem Vorhergehenden leitet sich das Folgende ab. Stellen wir die Glieder der Frage nicht um, so m\u00fcssen wir, wenn wir sagen, dafs die K\u00f6rper a, b, c, d gesalzen sind, weil sie den Geschmacksnerv in gleicher Weise beeinflussen, zur Bildung dieses Urteils vor allen Dingen wissen, was dies f\u00fcr eine Weise ist, da ja diese unterschiedliche Bezeichnung, die wir den Salzgeschmack nennen, noch nicht existiert, und so werden wir nie wissen, dafs A uns ebenso wie B, B wie C und C wie D beeinflufst. Das Gef\u00fchl dieser Gleichheit geht jeder \u00e4ufseren Unterscheidung voraus. Wann werden wir dann also erkennen, dafs A, B, C, D uns in qualitativ gleicher Weise beeinflussen? Wenn der augenblickliche Eindruck zugleich das Erinnerungsbild anderer, vergangener in einem einzigen Akt, wie ein gemeinsames Merkmal, weckt. Dies gemeinsame Kennzeichen ist der periphere Vorgang, der es unter der Voraussetzung weckt, dafs es als zentrale Unterscheidung schon vorher existiert, und ebenso sagen wir, wenn sich auf den Geschmacksknospen der Zunge ein Salzkorn l\u00f6st, nicht, dafs das Zentrum der reine Abklatsch dieser peripheren Handlung ist; und weil das Abbild dieses Eindruckes, zusammen mit \u00e4hnlichen zu anderer Zeit gesammelten auf tritt, so wird man folgern, dafs wir beim Wahr nehmen uns erinnern. Durch dieses uns innerlich gegebene k\u00f6nnen wir nicht urteilen, dafs A wie B, und wie C und D ist. Wie k\u00f6nnten wir aber, wenn uns dieses nicht gegeben w\u00e4re, \u00fcber die Glieder der Reihe ein Gleichheitsurteil aufstellen?\nAlle Eindr\u00fccke, die die \u00e4ufsere Handlung in das Empfangszentrum eingr\u00e4bt, sind mit dem Klang der Glocke vergleichbar und mit dem Licht- oder Farbeneindruck, von dem wir vorher\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t23","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nR. Turr\u00f4.\ngesprochen haben. Infolge dieses Vorganges bildet sich in dem Empfangskern unter dem Bilde eines versteckten Zusatzes ein Unterscheid ungsverm\u00f6gen, und wenn dieses dank einer neuen Reizung in der Erkenntnis sich als anwesend verr\u00e4t, tauchen auch die vergangener Zeiten, wie die gegenw\u00e4rtigen wieder auf. Es ist tr\u00fcgerisch, wenn die Selbstbeobachtung glaubt, dafs diese Empfangskerne vor ihrem ersten Eindruck auf einen peripheren Vorgang gerade so antworten, wie nachdem sie die zentralen Unterscheidungen ausgearbeitet haben. Wenn durch Vorg\u00e4nge logischer oder geistiger Art diese mehr oder minder bunten Unterschiede auf eine \u00e4ufsere Handlung bezogen werden, so glauben wir nicht, dafs sie identisch sind, weil dieselbe Ursache auf die Sinne einwirkt, sondern weil sie immer in gleicherweise auftreten, glauben wir, dafs die sie veranlassende Ursache identisch ist.\nWir fragten, wie das Kind den trophischen Effekt, den es hervorzubringen hat, durch die Farbe A und durch die Farbe B unterscheiden kann oder wie der Hund durch einen ihm unbekannten Ton dies vermag, wie er auch gar nicht weifs, dafs diese T\u00f6ne und A und B durch eine gleichbleibende Ursache hervorgerufen werden, die immer in derselben Art auf die Sinne einwirkt. Diese Frage werfen wir auf, weil die trophische Erfahrung jeder logischen Grundlage entbehrt, da ja das Gef\u00fchl der Gleichheit gar nicht vorher besteht. Nach dieser kurzen Untersuchung wissen wir schon, dafs das Wesen sicher sein kann, dafs das Kennzeichen von heute das gleiche ist, wie in vergangenen Zeiten, ohne die es bedingende Ursache erkennen zu m\u00fcssen, weil dem Neuron eine physiologische Eigenschaft innewohnt, die im Bewufstsein das Epiph\u00e4nomen der Identit\u00e4t begr\u00fcndet. W\u00e4re es sicher, dafs das Bewufstsein das Abbild des letzten aufgenommenen Eindruckes w\u00e4re, so k\u00f6nnte das Wesen den trophischen Einflufs, der einzutreten hat, durch den Ton, die rote oder weifse Farbe nicht voraussehen, weil es anfangs nicht weifs, dafs diese Bilder dieselben sind wie fr\u00fcher. Aber das Bewufstsein h\u00e4uft die vergangenen Eindr\u00fccke an und ruft, da es das Abbild der vergangenen und der gegenw\u00e4rtigen ist, die klare Erkenntnis hervor, dafs das, was heute sich ereignet, das gleiche ist, wie fr\u00fcher, und so sind dem Tier in einem einzigen Akt Gegenwart und Vergangenheit gegeben.","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\t357\nGehen wir den schwierigen Weg, den wir in den vergangenen Seiten Schritt f\u00fcr Schritt durchmessen haben, noch einmal zur\u00fcck, so erkennen wir, dafs das Tier allein durch die Tatsache, dafs sich eine reichliche Anzahl von Malen drei elementare Empfindungen, dietrophische, die \u00e4ufsere und die des Magens kundgegeben und wiederholt haben, die Erkenntnis ihrer Aufeinanderfolge sich bildet. Es ist nichts weiter n\u00f6tig, als dafs der zweite Faktor in abgestufter Weise den trophischen Einflufs darstellt und voraussieht, bevor die Zellreizung ihn anzeigt. Ein solcher geistiger Vorgang ist so nat\u00fcrlich, dafs man, nachdem man einmal in die Grundbegriffe des Problems eingedrungen ist, ohne Zwang versteht, dafs die Sachen so vor sich gehen, weil sie gar nicht anders vor sich gehen k\u00f6nnen, und damit nimmt die Folge vor dem Blick des untersuchenden Beobachters wieder eine logische Form an, da das, was sich in der empirischen Phase des Vorganges wie eine einfache Zustandsfolge dargestellt hat, in der logischen als eine Zwangsfolge auftritt. Wenn ein Bild vor einem schlechten N\u00e4hreffekt gegeben ist, so weifs die Person nicht, wieso es in dieser Weise gegeben ist, aber es besteht die Tatsache, dafs es immer auftritt, bevor der schlechte Effekt durch die trophische Sensibilit\u00e4t angek\u00fcndigt wird, und da diese schlechte Wirkung im Bewufstsein eine Spur hinterl\u00e4fst, so kommt ein Augenblick, in dem das Wiedererscheinen dieses Bildes die Erinnerung weckt, und das gen\u00fcgt zu der Voraussicht dessen, was zu folgen hat, lange bevor es wirklich folgt. Diese Intuition verfeinert und vervollkommtet sich von Tag zu Tag, bis wir schliefslich durch einen Geruch oder Geschmack oder f\u00fcr gew\u00f6hnlich durch ein besonderes Eindrucksbild ein Urteil abgeben k\u00f6nnen \u00fcber das, was in derselben Weise und ohne diese Anzeige durch die Zellreizung nach Ablauf einer gewissen Zeit zum Bewufstsein k\u00e4me. Was erlaubt uns nun diese vorausgesehene Folge, d. h. das, was wir eine logische Folge oder eine Einsicht nennen, aufzustellen? Eine empirisch aufgestellte Folge, die im sensorischen sowie im psychotrophischen Zentrum ein Erinnerungsbild erweckt. Wie kommt dieses Erinnerungsbild zustande? Durch eine periphere Reizung, die oft wiederholt wird und sich immer unter denselben Bedingungen abspielt. Wieso ruft das Bild die trophische Erinnerung hervor? Durch einen Verbindungsweg, der vorher nicht bestand, ein zentrales Band, das sie vereint.\nDas ist das Schema des trophischen Verst\u00e4ndnisses. Zum Zu-\n23*","page":357},{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nB. Turin.\nstandekommen dieser Einsicht ist es nicht n\u00f6tig, dafs vorher andere Erkenntnisse aufgestellt worden sind, da sie die grundlegendsten der Wirklichkeit und der Ursache bilden. Wozu mufs das Wesen wissen, dafs das Bild durch eine Ursache bedingt ist, und dafs das, was den trophischen Effekt veranlafst hat, in seinem Organismus aufgenommen worden ist? Es gen\u00fcgt, dafs es seine Wirkung ausprobiert hat, damit die gleichen Erinnerungsbilder das eine und das andere Mal die Intuition oder einzig das Erinnerungsbild dessen wecken, was von neuem folgen wird. Umgekehrt ist es, um zu wissen oder sich Rechenschaft ablegen zu k\u00f6nnen, dafs etwas in den Organismus eingetreten und dafs das Bild nicht spontan, sondern durch eine Ursache entstanden ist, n\u00f6tig, im Geiste die urspr\u00fcngliche Intuition des trophischen Effektes vorher als den unumg\u00e4nglichen logischen Vorgang formuliert zu haben, um diesen Schritt vorher zu erkennen.\nDie Urspr\u00fcnge der Erkenntnis werden ewig unerforschlich bleiben, solange man nicht den Sinn der Worte auseinandersetzt, indem man die konkrete Tatsache, die man durch sie ausdr\u00fccken will, klarlegt. Man sagt, dafs die Empfindung schon eine Erkenntnis ist; ich aber sage, dafs diese Versicherung sehr unklar ist, und wir nicht endg\u00fcltig wissen, was wir damit ausdr\u00fccken wollen. Es ist nicht dasselbe, den Hunger isoliert, wie er in den psychotrophischen Zentren entsteht, zu empfinden und das zu kennen, was ihn stillen kann. Ich sehe nur, dafs durch diese Empfindung heftig gequ\u00e4lte Wesen gar nichts begreifen. Es ist nicht dasselbe, das Bild zu f\u00fchlen, das die Reizung durch ihre T\u00e4tigkeit auf die Sinne hervorruft, um zu wissen, dafs es einer Sache entspricht. Das heifst einfach die Wirkung, deren Ursache man nicht kennt, zu empfinden, wie wir das ja oben auseinandergesetzt haben. Nur wenn wir mit dem Hungergef\u00fchl die Kenntnis verbinden, die wir durch die trophische Erfahrung erwerben, oder das von Geburt nach aufsen verlegte Bild wahrnehmen, stellen wir uns in tr\u00fcgerischer Weise vor, dafs die Erkenntnis aus der \u00e4ufseren Handlung, wie die Wundertat aus der W\u00fcnschelrute, entsteht. Merken wir aber, dafs die Empfindung nur eine Wirkung des Reizes ist, und dafs diese Reizung, wenn sie auch als eine versteckte Summe oder ein Erinnerungsbild gegeben ist, nicht aus sich heraus, sondern nur durch das Hinzukommen eines anderen psychischen Vorganges eine Einsicht besitzt, dann begreifen wdr, dafs Einsicht Beziehung heilst, und wir bewundern","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n359\ndie Weisheit Kants, der so tief in den Bau dessen eingedrungen ist, was wir Gedanken nennen. So merken wir in dieser ersten unklaren Einsicht, in der das Bild als Vorstellung der trophischen Wirkung auftritt, nur, dafs eine Beziehung zwischen den beiden internen Daten besteht. Beide sind in ihren zugeh\u00f6rigen Zentren vollst\u00e4ndig vorgebildet, aber eines wie das andere weckt blofs die periphere Reizung, die sie geschaffen hat, mit ihrer Zauberformel. Sowie aber eine fruchtbare Verbindung beider eingetreten ist, so entstehen sie, wenn eine periphere Handlung sie hervorruft, in der Erkenntnis in gleicher Weise, und dieses einzige Erinnerungsbild setzt die trophische Intuition als Ausdruck einer Verschmelzung oder einer Synthese, wie Wundt sagen w\u00fcrde, zusammen. Zweifellos zeigt in dieser Synthese jedes der beiden zusammensetzenden Elemente das gleiche an, als es kundgab, als sie noch isoliert auftraten; und wie die trophische Empfindung vorher in spezifischer Weise das Gef\u00fchl anzeigte, dafs etwas fehlt, von dem man nicht weifs, woraus es besteht, so zeigt sie diese Abwesenheit auch jetzt an, aber durch die Vorstellung eines Bildes. Es ist oft vorgekommen, dafs, wenn dieses Bild auftrat, die Abwesenheit oder der Hunger verschwanden oder gestillt wurden. Da dies empirisch eine grofse Anzahl von Malen sich gefolgt ist, so nimmt man mit dieser jenes als Symbol f\u00fcr das, was die trophische Sensibilit\u00e4t als abwesend anzeigte und glaubt beim Wiedererscheinen, dafs das, was die trophische Sensibilit\u00e4t als abwesend b e -zeichnete, vom Bild als anwesend kund gegeben wird. Durch diese Umkehrung erh\u00e4lt die trophische Intuition die Einsicht f\u00fcr das, was den Hunger stillt, und dafs das, was den Hunger stillt, erfahrungsgem\u00e4fs das ist, was man als wirklich erachtet oder als etwas Aufsengelegenes, das der Organismus verlangt. Nun sieht man, wie in der trophischen Erfahrung die Voraussicht des Aufsengelegenen immer feiner wird. Der Hund, der sich im Korb bewegt, wenn er das versteht, was der Ton der Glocke ihm verk\u00fcndet, gibt deutliche Zeichen des Begreifens f\u00fcr die Anwesenheit dessen, was seinen Hunger stillt. Das Kind, das mechanisch zu saugen beginnt, stellt sich, wenn es zu dem Verst\u00e4ndnis kommt, dafs die Eindr\u00fccke, die es in seinem Munde hervorbringt, denselben Effekt darstellen, den es andere Male hervorgerufen hat, durch eine vollst\u00e4ndig logische Umkehrung vor, dafs der Geschmack und die lauwarme Ber\u00fchrung Zeichen sind,","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nB. Tiirr\u00f4.\ndie ihm das kundtun, was ihm fehlt. Wir haben bei der Erkl\u00e4rung dessen, woraus sich die Wahrnehmung der Nahrungsmittel zusammensetzt, gesagt, dafs es der lebhafte Trieb nach dem ist, was der Organismus fordert und das wir uns durch einen Geruch, Geschmack, Gef\u00fchl vorstellen, ohne dafs wir bei dieser Vorstellung die geringste Ahnung haben, ob diese Bilder nur einem oder verschiedenen Gegenst\u00e4nden entsprechen. Wir m\u00fcssen uns den Effekt durch ein beliebiges Zeichen vorstellen, und es gen\u00fcgt, dafs dieses zu wiederholten Malen gleichzeitig mit dem Verschwinden des Hungers auf getreten ist, um das Erinnerungsbild dieses Verschwindens als das Symbol dieses Bildes erscheinen zu lassen. Hierdurch, so sagten wir, kennen wir nicht den Gegenstand : wTir kennen das, was n\u00e4hrt. So merkt der D\u00fcrstende an dem, was er sich unter der Form des Wassers vorstellt, weder Licht noch Bewegung, weder Durchsichtigkeit noch Frische, noch auch sein Murmeln. Er nimmt in seiner Gier nur wahr, was er aus den Zeichen seiner Abwesenheit im Bewufst-sein kennt, und das, wie er weifs, tats\u00e4chlich das enth\u00e4lt, was er auf diese Weise symbolisiert, weil er es ein andermal versucht und die Erinnerung an diese Wirkungen leidenschaftlich im Ged\u00e4chtnis bewahrt hat. Der Eskimo, bei dem ein vermehrter Kalorienverbrauch den Fetthunger entwickelt, nimmt diese K\u00f6rper nicht mit derselben Gleichg\u00fcltigkeit wahr, wie der, der dies Bed\u00fcrfnis nicht f\u00fchlt. Er empfindet das, was seine durch die Verbrennung erw\u00e4rmten Zellelemente fordern, das, was die Einfuhrmenge seinem Organismus aus der Aufsenwelt an Salzen, Kohlehydraten, Proteinen, die er braucht, bieten mufs, und er nimmt die \u00e4ufsere Wirklichkeit unabh\u00e4ngig von der Eindrucksform wahr, mit der er sie ausstattet, weil in seinem Geiste die trophische Erinnerung vorbesteht, die ihn dar\u00fcber belehrt, dafs nur diese seine Verluste decken k\u00f6nnten. Das Verlangen nach dem, was wTeder eine Farbe, noch einen Geruch hat, weder kalt ist noch schmeckt, was auch nicht t\u00f6nt, heifst etwas wahrnehmen, was unweigerlich im Verstand als das Empirisch-Reale gegeben ist. Wir Wirbeltiere alle haben eine ungeheure Summe von Experimenten vorgenommen, aus denen sich die un\u00fcberwindliche\nSicherheit ableitet, dafs die Aufsenwelt dem Gewebssaft das\n\u2022 \u2022\nliefert, was verloren gegangen und verbraucht ist. Uber diesen Punkt gibt es keine Er\u00f6rterung, da man nicht gegen die Erfahrung sprechen kann: Duifst? Also weifst du, dafs in","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n361\ndem, was du ifst, etwas enthalten ist, was dir fehlt.\nZur Gr\u00fcndung der Erkenntnis von der Wirklichkeit ist es nicht n\u00f6tig, das Wirkliche, wie man es getan hat, anzunehmen, indem man glaubte, dafs es ein notwendiger Begriff der Erkenntnis w\u00e4re. Geht man so vor, so stellt man die Glieder des Problems um. Wir teilen unsere Bilder nicht der \u00e4ufseren Sache zu, weil wir wissen, dafs diese Sache existiert, indem wir uns auf den spekulativen Satz st\u00fctzen: ganz im Gegenteil erwerben wir die Kenntnis davon, dafs das, was wir brauchen, etwas Tats\u00e4chliches ist, sobald wir uns den trophischen Effekt durch das Bild symbolisieren. Wir wissen, dafs das Wirkliche bestimmt aufser-halb liegt, weil wir die Kenntnis des Wirklichen erworben haben, das unserem Organismus fehlt. Aus diesem Grunde mufs unter neuen Auspizien die Frage auf gestellt werden: wie erwirbt man die Erkenntnis dessen, was fehlt? Dieser Frage einen solchen Wortlaut zu geben, heifst uns fragen, woher wir wissen, dafs wir essen und dafs wir in unsere K\u00f6rperh\u00f6hle etwas einf\u00fchren; und diese Frage bedeutet gerade so viel, wie die Frage, wie wir anfangen zu verstehen oder zu denken.\nWenn wir bis zu den Quellen der Erkenntnis hinabsteigen, so stellen wir uns das Wirbeltier in dem Augenblick vor, in dem die Einsicht noch nicht als ein Ph\u00e4nomen gegeben ist und untersuchen, wann und wie sie gegeben ist. Diese Abschweifung ist f\u00fcr den, der nicht jedes Vorurteil abschw\u00f6rt und seine Erkenntnis aus einem gesunden Widerstand gegen alles, was sich nicht als ein beobachtungsf\u00e4higes Ph\u00e4nomen erweist, sch\u00f6pft, m\u00fchevoll und sehr schwierig. Haben wir uns aber einmal mit der festen Absicht, ohne Erstaunen unser Ziel bis zu seinem Ende zu verfolgen, auf den Weg gemacht, so finden wir, dafs sich in der mechanischen Nahrungsaufnahme trophische Gef\u00fchle ebenso wie \u00e4ufsere und Magenempfindungen ank\u00fcndigen, ohne dafs das Wesen mit ihnen irgend etwas von der Aufsenwelt begriffe. Diese Faktoren, einfach und isoliert betrachtet, er\u00f6ffnen in nichts eine Einsicht. In dem Wesen wird der Hunger gestillt, ohne dafs es sich \u00fcber den Vorgang Rechenschaft ablegte ; unzweifelhaft kommt aber ein Augenblick, indem es sich \u00fcber das Rechenschaft ablegt, was sich ereignet, und in diesem rein empirischen Abschnitt des Prozesses bereitet sich die Entstehung der Erkenntnis f\u00fcr das vor, was eintreten wird. Erstere bildet","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nR. Turr\u00f4.\ndie logische Garantie dieser Voraussicht, da ja der Glaube an das Kommende aus dem so oft Vor\u00fcbergegangenen sich herleitet. Was hat sich hier ereignet? Wieso ist das hier eingetreten? Wieso hat das Wesen jetzt verstanden, was ihm noch vorher unklar war? Worin besteht der Akt des Verst\u00e4ndnisses? Das, was sich ereignet hat, ist, dafs dieses Bild in Beziehung zu der trophischen Erinnerung durch eine zentrale Verbindung gesetzt worden ist und diese Empfindung darstellt. Gerade, wie einem, der \u00fcber einen Stein stolpert, sein Mifsgeschick widerf\u00e4hrt, weil er den Fufs nicht ordentlich hoch gehoben hat und wie er das n\u00e4chste Mal nicht stolpert, weil er voraussieht, dafs er ihn heben mufs, so wird auch das Wesen wissend, das Hunger leidet, aber nicht weifs, was es qu\u00e4lt, nachdem es einmal durch eine empirische Erfahrung gemerkt hat, dafs das, was es qu\u00e4lt, durch ein Bild darstellbar und dasselbe ist, was ihm in dieser symbolischen Form erscheint. Das ist weniger das Symbol selbst; die Hauptsache ist das, was uns das Symbol vorstellt. Es bedurfte eines Mittlers, um festzustellen, was ihm fehlte, und beim Hervorrufen von Bildern, deren Existenz ihm unbekannt war, durch eine \u00e4ufsere Handlung geht es vor, als ob es zu sich sagen wollte : hier ist etwas, was mir als Mittel dienen kann, um das zu erkennen, dessen Abwesenheit der Organismus in meinem Bewufstsein in einer erbitterten Weise kundgibt. Das ist die erste Einsicht. Das Bild verwandelt sich in ein Kennzeichen, und man weifs auch, was dieses Merkmal kundgibt. Eine reichliche Anzahl Male trat das Bild auf, und der Hunger wurde gestillt, und wenn es nicht wieder erschien, blieb er hartn\u00e4ckig bestehen und steigerte sich zeitweilig. So erkennt man ihm durch die T\u00e4tigkeit der lebendigen Erfahrung die Eigenschaft eines Kennzeichens zu. Diese Erfahrung erleidet eine Umkehrung, wenn man sie mit aller Klugheit, mit der immer die empirische Erfahrung vorgeht, auf diese Stufenfolge erhebt, und so beruhigt sich der Hunger allm\u00e4hlich, wenn mechanisch in den Magen etwas eingef\u00fchrt wird, was die trophische Sensibilit\u00e4t sp\u00e4ter als das Fehlende anzeigt, und von diesem Augenblick an stellt das Bild nicht das Kennzeichen dessen dar, was eingeht, sondern dessen, was eingef\u00fchrt werden mufs, damit der gleiche Effekt wieder erscheint.\nMan sieht also, dafs man zu der Erkenntnis, dafs das Bild das Merkmal von etwas Bestimmtem ist, nicht zu wissen braucht,","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n363\ndafs die Aufsenwelt wie ein vorausgesetztes Glied, wie die vorherbestehende Bedingung dieser Beziehung existiert. In dem Vorgang, bei dem dieses Bild als das Merkmal dessen, was folgt, verwendet wird, ist intuitv das uns fehlende Reelle enthalten.\nVon der \u00e4ufseren Wirklichkeit hat man auf viele und mannigfaltige Weisen und von verschiedenen Gesichtspunkten aus gesagt, dafs sie ein unerkennbarer Begriff w\u00e4re. Damit hat man zugegeben, dafs wir ihre Existenz wenigstens kennen. Fragen wir uns weiter, was wir mit dem Wort \u201ekennen\u201c bezeichnen wollen, so entdecken wir, dafs \u201ekennen\u201c das Wirkliche durch Bilder sich vorstellen heifst. Wenn wir der Sinne entbehrten und die mechanische Einf\u00fchrung zur Erhaltung des Lebens gen\u00fcgte, so w\u00fcrde das Wirkliche im Bewufstsein ebenso angezeigt werden wie jetzt*, aber wir w\u00fcrden nie zu der Erkenntnis gelangen, dafs es existiert. Wenn wir andererseits die Empfindungsbilder, losgel\u00f6st von der trophischen Empfindung des Realen, so bes\u00e4fsen, wie wir sie seit undenklichen Zeiten auffassen, w\u00fcrden wir nie zu der Erkenntnis gelangen, dafs sie Merkmale von etwas Tats\u00e4chlichem sind. Man sagt also nicht, dafs das Reale unerkennbar ist, weil man es sich nicht durch \u00e4ufsere Bilder vorstellen kann, da ja das Reelle, so wie die Einsicht der Wirbeltiere nun einmal ist, als erster Begriff jedes m\u00f6glichen Urteils, d. h. als Subjekt, gegeben ist. Der Denkakt besteht nur darin, ihm ein Pr\u00e4dikat beizulegen. Eine Einsicht aufzufassen, in der die Darstellung vom Dargestellten getrennt ist wie ein in der Luft schwebender Begriff, ist das gleiche, wie ein Urteil ohne R\u00fccksicht auf das Subjekt formulieren zu wollen, und das ist eine seltsame Funktion, die unendlich weit von allen Vorg\u00e4ngen entfernt ist, die wir Einsicht nennen. Die grundlegenden Bestandteile jeder m\u00f6glichen Einsicht entsprechen immer dem, was in der Erkenntnis als wirklich gegeben ist, wie ein Band, eine Beziehung und wie eine Vorstellung, die in allen Sprachen unter dem Namen Subjekt, Verbum und Pr\u00e4dikat enthalten ist. Diesen obersten Ausdruck der Einsicht als leeren Formalismus unter dem Vorw\u00e4nde verachten, dafs das Subjekt immer einer metaphysischen, auf experimentelle Vorg\u00e4nge nicht zur\u00fcckf\u00fchrbaren Einheit entspricht, heifst dasselbe, wie annehmen, dafs der Wert des Zeichens von der bezeichneten Sache unabh\u00e4ngig ist, eine Annahme, die aus dem physiologischen Irrtum sich herleitet, isoliert \u00fcber die sensorischen Zentren, als intellek-","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nR. Turr\u00f4.\ntive, Betrachtungen anzustellen, w\u00e4hrend in Wirklichkeit diese blofs die Grundlagen der m\u00f6glichen Einsicht liefern. Folglich ist das Wirkliche ein unerkennbarer Begriff, sobald wir willk\u00fcrlich die intellektive Funktion verst\u00fcmmeln. Nehmen wir sie aber so, wie sie ist, so ist das Reale das, was wir durch die Vorstellung erkennen.\nWir Wirbeltiere leben der \u00dcberzeugung, dafs die Empfindungen nicht spontan auftreten. Wir wissen, dafs das psychische Ph\u00e4nomen, das wir Licht benennen, nicht auftreten w\u00fcrde, wenn die Medien des Auges verschlossen w\u00e4ren, und nicht etwas aufsen Gelegenes bis zur Retina dringen und diese reizen w\u00fcrde. Die Riech-, Geschmacks-, Geh\u00f6rs-, Ber\u00fchrungs- und schmerzempfindlichen Nerven w\u00fcrden nicht reagieren, wenn ihre Endigungen sich in den verschlossenen H\u00f6hlen ausbreiten w\u00fcrden, in denen die Nerven der organischen Sensibilit\u00e4t eingepflanzt sind. Woher wissen wir Tiere der Sch\u00f6pfung, dafs die das CoRTiscbe Organ oder die St\u00e4bchen der Retina reizenden Wellen nicht in dem Medium enstehen, in das sie eingepflanzt sind, wie es bei denen der Herz- oder Nierensensibilit\u00e4t der Fall ist, sondern dafs sie sich aus einer aufserhalb dieses innerorganischen Mediums gelegenen Handlung herleiten? Unzweifelhaft ist, dafs wir es wissen. Wie wir zu dieser Wissenschaft kommen, m\u00fcssen wir erforschen.\nIn der Jetztzeit gibt es Gelehrte, die von dieser Untersuchung Abstand nehmen und beim Studium der Folge geistiger Ph\u00e4nomene sich in der T\u00e4uschung wiegen, dafs zu deren Beschreibung jene entbehrlich ist. Es handelt sich aber hier um eine Frage der Tatsachen, die sich jedem unwiderstehlich aufdr\u00e4ngt und die es wegen ihrer st\u00e4ndigen Wiederkehr unn\u00fctz ist, lang und breit auseinanderzusetzen. Wir wissen alle, dafs unsere Sinne nicht autochthon oder spontan reagieren, und dafs wir die Bilder, die unter solchen Umst\u00e4nden entstehen, als halluzinatorische ansehen. Unter normalen Verh\u00e4ltnissen entstehen sie immer durch einen aufserhalb unserer Sinne gelegenen Vorgang und zwar bildet dieser die Bedingung ihres m\u00f6glichen Zustandekommens in absoluter und notwendiger Weise, so notwendig und absolut, dafs, wenn sie nicht bestehen w\u00fcrden, wir taub und blind w\u00e4ren, und die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t aufh\u00f6ren w\u00fcrde zu funktionieren. Das ist eine Tatsache, und Tatsachen beweisen sich selbst: Beweisen heifst darlegen.\nEs ist etwas ganz Verschiedenes, die Urspr\u00fcnge der Erkennt-","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n365\nnis der Kausalit\u00e4t erforschen wollen, oder untersuchen, was diese Kausalit\u00e4t ist. Beim Studium der empirischen Urspr\u00fcnge der Erkenntnis des Realen hat es nicht gek\u00fcmmert, ob das ein Sein war, eine Substanz, Ich, Idee, Wille, das ausstr\u00f6mende Prinzip einer ununterbrochenen Umw\u00e4lzung. Unser Vorwurf war einfacher und beschr\u00e4nkte sich darauf: Woher wissen wir, dafs es etwas gibt? Ebenso haben wir uns nicht darum gek\u00fcmmert, ob die Ursache in der Aufsen-welt ein principium fiendi ist, der Erzeuger allerm\u00f6glichen Ver\u00e4nderungen oder der logischen Arbeit im Inneren. Wir haben uns ausschliefslich zu erforschen vorgenommen: Woher wissen wir durch die Erfahrung, dafs unsere Sinne nicht spontan reagieren.\nBei dieser Gelegenheit bemerken wir, dafs der empirische Ursprung der Erkenntnis der Wirklichkeit das metaphysische Problem weder, wie es auf den ersten Blick erscheinen k\u00f6nnte, umst\u00f6fst noch aburteilt. Das metaphysische Problem wird ewig fortbestehen, solange im Menschengeschlecht hervorragende Geister existieren.\nWir kehren nun um und kn\u00fcpfen an unsere Frage da wieder an, wo wir sie verlassen haben, da ja die Erkenntnis, dafs das Empfindungsbild ein bestimmter Effekt ist, sich eben daher leitet wie die Erkenntnis des Realen.\nWir haben gesagt, dafs das, was mittels der Bilder symbolisiert wird, dasselbe ist, von dem die trophische Erfahrung lehrt, dafs der Organismus es n\u00f6tig hat und gebieterisch verlangt. Der Ochs, bei dem eine lange Abstinenz den Salzhunger sehr gesteigert hat, glaubt dieses in der Aufsenwelt durch einen bestimmten Gesichtseindruck wiederzuerkennen, den er dann durch ein ihm bekanntes Geschmacksbild berichtigt und best\u00e4tigt. Nehmen wir an, dafs ihn auf der Weide der Anblick gewisser Felsen oder eines Kiesels an die Kugel erinnert, an der er in seinem Stall f\u00fcr gew\u00f6hnlich leckt, und dies ihn dazu veranlafst zu kosten, ob es das ist, was er herbeisehnt, oder nicht. Wenn es das ist, so ruft die Reizung des Geschmacksnerven ein Bild hervor, mittels dessen er durch vorhergehende Erfahrungen weifs, dafs er sich dem gegen\u00fcber befindet, was seine trophische Sensibilit\u00e4t als abwesend anzeigte, und dafs es diesmal dieselben Erfolge zeitigen wird wie fr\u00fcher. Setzen wir nun die Erkenntnis dieses Etwas als bekannt voraus: Woher weifs er, dafs es die-","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nB. Turr\u00f4.\nses Etwas ist, was seinen Geschmacksnerven beeinflufst hat? Woher weifs er, dafs diese Erkenntnis nicht spontan in seinem Verst\u00e4nde entstanden ist? Er weifs es durch die willk\u00fcrliche Bewegung, die seinen Kopf dazu trieb und veranlafste, die Zunge an eine gegebene Stelle im Raume anzulegen, weil in seinem Verstand die Voraussicht besteht, dafs dann das Merkmal wiedererscheinen wird, mit dem er sich das Fehlende vorstellt. Nehmen wir an, dafs dieses Bild nicht infolge einer vorhergehenden Arbeit etwas Bestimmtes vorstellte, so k\u00f6nnte das Tier es durch eine gleiche Bewegung hervorrufen, aber dieses Schmecken w\u00e4re etwas rein Innerliches, weil es nicht das Kennzeichen von irgend etwas Bekanntem ist. Da es aber jetzt als das Kennzeichen von etw7as Fehlendem gegeben ist, so bestimmt das Tier durch die Bewegung die Stelle, wo es das betreffende Fehlende erh\u00e4lt, und in dem Augenblick, wo das Objektzeichen wiedererscheint, glaubte es, dafs es das Erw\u00fcnschte ist. Dieser Glaube entspringt einem streng gesetzm\u00e4fsig logischen und gut fundierten Vorgang. Solange das Bild fehlt, bleibt im Bewufstsein die Erkenntnis, dafs etwas fehlt, das erst wiedererscheinen wird, wenn das Bild auftaucht und seine Anwesenheit kundtut. Entsteht es aber infolge einer Bewegung wieder, so induziert das Wesen folgendermafsen: Das gewisse Etwas, dessen Anwesenheit sich durch das Bild verr\u00e4t, ist das gleiche wie das, was das Bild bedingt. Wir nehmen jetzt den negativen Fall an: der Ochs legt die Zunge an das, was er f\u00fcr salzig h\u00e4lt und erf\u00e4hrt, dafs es dies nicht ist, so probiert er nach dieser Entt\u00e4uschung nicht weiter, sondern wendet sich ab ; dabei verh\u00e4lt ei sich, als ob er folgende \u00dcberlegung anstellte : Da das Objektzeichen des mir Fehlenden nicht wiedererscheint, so ist es auch nicht das, was es bedingt.\nIn dem beschriebenen Fall verf\u00e4hrt das Wesen in gleicher Weise bei positivem und negativem Ausfall, als ob es durch motorische Erfahrungen sich \u00fcberzeugt h\u00e4tte, dafs das Wirkliche aufserhalb seines K\u00f6rpers liegt und wo es liegt. Damit aber diese Erfahrungen auch wirklich lehrreich werden, ist es notwendig, dafs vorher die Erkenntnis des Fehlenden erw\u00fcrben worden ist. Denn es ist klar, dafs es in Ermanglung dieser Erkenntnis, auch wenn es sich bewegte und den sensorischen Eindruck irgendwo im Raume hervorriefe, da es ja nicht das Kennzeichen etwas Bekannten w\u00e4re, daraus keine Erkenntnis ziehen","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n367\nk\u00f6nnte, weil es ihm nichts darstellt. \u00dcberlegen wir dies eingehend, so begreifen wir, dafs die Erkenntnis dessen, was den Hunger l\u00f6scht, logischerwTeise als Ausgangspunkt oder vorher n\u00f6tige Angabe der Erkenntnis der Kausalit\u00e4t vorausgeht. Setzen wir n\u00e4mlich alle motorischen Erfahrungen voraus, durch die das Tier jetzt die Bewegungsrichtung einzuhalten vermag, durch die es gerade die Stelle erreicht, wo der Eindruck erscheint und \u00fcber die es nicht diesseits oder jenseits hinausschiefst. Aus welchem logischen Element k\u00f6nnen wrir dann schliefsen, dafs an dieser Stelle eine Ursache existiert? Woher k\u00f6nnen wir versichern, dafs an dieser Stelle etwas besteht, wenn dieses Etwas uns nicht in dem Nerven gegeben ist, der allein den empfangenen Effekt anzeigt? Unter solchen Bedingungen ist die Erkenntnis der Kausalit\u00e4t vom induktiven Standpunkte aus unm\u00f6glich, und man mufs in \u00dcbereinstimmung mit den spekulativen Anschauungen annehmen, dafs das Streben, das uns veranlafst, den Eindruck einer \u00e4ufseren Bedingung zuzuteilen, uns nach Art eines nicht durch die Erfahrung erworbenen Grundbegriffs von innen heraus beeinflufst. Wir haben schon in dem vorausgehenden Kapitel auseinandergesetzt, dafs diese Hypothese, die geschaffen ist, um eine ganz sichere Tatsache auseinanderzusetzen, die sich bei dieser Fragestellung in Wirklichkeit als unerkl\u00e4rlich erweist, uns nicht gef\u00e4llt und zwar, weil wir nicht merken, dafs jeder \u00e4ufseren Erfahrung eine innere Untersuchung vorausgehen mufs, auf die sie sich wie auf ihre wahre Grundlage st\u00fctzt. Das Wirbeltier kann seine Eindr\u00fccke \u00fcber etwas in der Aufsenwelt nicht kund tun, solange es nicht die Erkenntnis dieses Etwas durch eine fr\u00fchere Erfahrung erworben hat, die ihm Rechenschaft ablegt \u00fcber seine Existenz und, diese erste grundlegende Erkenntnis vorausgesetzt, kann es sich dann mittels der Be-wTegungserfahrungen vergewissern, dafs sich dieses Etwas aufser-halb seines Organismus befindet, bis es schliefslich die Stelle feststellen kann, wo es sich befindet.\nDer junge Hund, der durch den Licht-, W\u00e4rme- oder Geh\u00f6rseindruck dazu kommt, sich von der Gegenwart einer Sache Rechenschaft abzulegen, schn\u00fcffelt atemlos umher, als wenn er sich in seinem Verst\u00e4nde die motorische Voraussicht dessen zurechtgelegt h\u00e4tte, was er beim Herumsuchen im Raume treffen wird und dafs das seinen Geschmack und das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl in seinem Munde beeinflussen wird. Besitzt er diese Voraussicht","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nR. Turr\u00f4.\nauch in derselben Weise f\u00fcr die drei ersten? Gibt er sich wirklich dar\u00fcber Rechenschaft, dafs sie durch einen \u00e4ufseren Vorgang veranlafst werden? Man kann wohl annehmen, dafs das weiche Gef\u00fchl, das er in seinem Bewufstsein pl\u00f6tzlich wahrnimmt, dieser W\u00e4rmeeindruck, dessen Herkunft er nicht weifs, weil die Ber\u00fchrungsgef\u00fchle noch gar nicht organisiert sind und er deshalb auch nicht das Ortsgef\u00fchl f\u00fcr die gereizte Stelle besitzt, der Ton, der in seinem Kopfe erklingt, Bilder sind, die mit einem leichten Kneifen, einem Juckreiz, einer Nierenempfindung vergleichbar sind, wenn sie jedesmal gleichzeitig mit der Nahrungsaufnahme und dem Erl\u00f6schen des Hungers aufgetreten sind, bis schliefslich eine Einsicht f\u00fcr diese Wirkung sich bildet. Untersuchen wir diese Vorg\u00e4nge, so findet man in ihnen nicht das Gef\u00fchl der Kausalit\u00e4t, so wie ich es mit Bezug auf den Geschmack und das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl im Munde auseinandergesetzt habe, deren Empfindungen immer auf eine Bewegung folgen. Verfolgen wir jetzt diese Frage eingehender, so mufs man sich \u00fcberlegen: waren dieser Geschmack und dieses \u00dfer\u00fchrungsgef\u00fchl urspr\u00fcnglich als eine Bewegungsvoraussicht gegeben? Vom physiologischen Gesichtspunkte aus m\u00fcssen wir erkennen, wie wir im vierten Kapitel auseinandergesetzt haben, dafs die Bewegung nicht gleichzeitig mit der willk\u00fcrlichen Absicht entsteht, diese Empfindungen hervorzurufen, dafs sie vielmehr infolge ihres Auftretens nach der Bewegung schliefslich als ein Ziel aufgefafst wird, das uns anzeigt, dafs eine gewisse Zeit verlaufen mufs, in der die Person nicht weifs, dafs sie durch eine Ursache bedingt sind. Bis aber dieser Schlufs zustande kommen kann, ist es n\u00f6tig: 1. dafs der zentrale Zusatz das Bewufstsein ihrer Gleichheit liefert; 2. dafs sie als Kennzeichen der trophischen Wirkung aufgefafst werden. Nur so ist es verst\u00e4ndlich, dafs, wenn man ihr Wiedererscheinen erwartet und dieses nicht eintritt, der trophische Reiz den motorischen Antrieb erregt, und in ihm zeigt sich mit t\u00e4glich zunehmender Klarheit die Absicht, jene zu erwecken. Was ist aber die Absicht, das Objektzeichen dessen, was den Hunger stillt, hervorzurufen, anderes als die Erkenntnis, dafs das, was den Hunger stillt, das gleiche ist, was die Empfindung im Munde hervorbringt?\nMan sieht also, was im Grunde genommen der Ochs, der den weifsen Felsen in der Erwartung beleckt, das Objektzeichen dessen hervorzurufen, was den durch die Entbehrung hervorge-","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n369\nrufenen besonderen Hunger stillen kann, ebenso vorgeht, wie der junge Hund, der im Raume umhersucht, oder wie das Kind, das einen Eindruck auf seinen Mund hervorzubringen w\u00fcnscht, wenn es nach der m\u00fctterlichen Brust sucht. Der einzige Unterschied zwischen diesen beiden Zust\u00e4nden liegt in der Meisterschaft oder Unerfahrenheit, mit der diese Bewegungen ausgef\u00fchrt werden, indem das erwachsene Tier mit bewundernsw\u00fcrdiger Genauigkeit vorgeht und sich der Ursache des Eindrucks an-pafst, w\u00e4hrend derjenige, welcher noch gar keine Herrschaft \u00fcber seine Muskeln infolge mangelnder Erfahrung erworben hat, mit motorischer Unsicherheit verf\u00e4hrt. Zweifellos offenbart sich bei beiden die Absicht, schon bekannte Bilder hervorzurufen, weil sie die lebhafte Darstellung der erhofften trophischen Wirkung widerspiegeln. Diese Absicht, die Muskelkontraktion derart zusammenzuordnen, dafs das Gef\u00fchl unter die unmittelbare Wirkung des Reizes gestellt wird, der das Objektbild des hungerstillenden K\u00f6rpers hervorzurufen hat, entsteht aus dem bedingenden trophischen Vorgang. Nehmen wir an, dafs diese trophische Bedingung nicht existierte, und das Individuum nicht die Notwendigkeit empf\u00e4nde, die Bilder hervorzurufen, welche die Anwesenheit des vom Organismus Verlangten anzeigen, so begreift man nicht recht, was das Wesen veranlassen k\u00f6nnte, Gesichtsrichtungen festzuhalten und allgemein gesprochen die Gef\u00fchle unter die Herrschaft der psychomotorischen Innervation zu stellen, der Zone, in der das Band zwischen diesen und jenen entsteht. Es ist eine logische und nat\u00fcrliche \u00dcberlegung, dafs die Bewegungsantriebe in der vorausempfundenen Absicht vollf\u00fchrt werden, dem Organismus genau das Verlangte darzureichen, und aus diesem Grunde ordnet sich in diesem ersten Abschnitt der Wahrnehmungsfunktionen alles dem obersten Bed\u00fcrfnis unter, und das Wesen besch\u00e4ftigt sich ausschliefslich mit der Erkenntis des ihm Zutr\u00e4glichen. Nahrungsmittel erkennen, so sagten wir, heifst nicht Gegenst\u00e4nde erkennen, es bedeutet die Vorstellungsbilder der trophischen Wirkung und nicht einzelne \u00e4ufsere K\u00f6rper festzulegen, und da die Notwendigkeit besteht, immer die Bilder des Zutr\u00e4glichen hervorrufen zu k\u00f6nnen, so erwirbt das Wesen, anstatt passiv das Wiedererscheinen in zuf\u00e4lliger oder in ihrem Ursprung unbekannter Weise zu erwarten, unaufh\u00f6rlich die F\u00e4higkeit, jene durch die Bewegung hervorzurufen. Dringen wir in die Tiefen des entstehenden geisti-","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nR. Turr\u00f4.\ngen Lebens ein, so begreifen wir, dafs das Wesen von der Existenz der n\u00e4hrenden Sache nicht etwas weifs, weil es sie ber\u00fchrt, sondern dafs es sie ber\u00fchrt und immer zu ber\u00fchren strebt, sobald es sie von neuem braucht, weil es schon weifs, dafs sie das Fehlende enth\u00e4lt. Der Geruch, der Geschmack, der Ton und die Farbe werden eher als Kennzeichen des N\u00e4hrenden aufge-fafst, als als Merkmale des Objektes, und da diese Zeichen nicht wieder erscheinen, bevor das Abwesende seine Anwesenheit kundgibt, so kann man sie auch nicht als spontane betrachten, auch nicht in dieser rein inneren Phase der trophischen Erfahrungen, weil sich ununterbrochen die gleiche Tatsache wiederholt, die lehrt, dafs es keine Kennzeichen gibt, wenn der N\u00e4hrstoff abwesend ist, dafs sie aber in seiner Gegenwart existieren. Der Trieb zur \u00e4ufseren Umkehr einer rein inneren Erfahrung leitet sich aus der psychomotorischen Innervation her. Je mehr das Tier die F\u00e4higkeit erwirbt, in den Gef\u00fchlen diese Objektzeichen, die ihm die Anwesenheit des notwendigen K\u00f6rpers verk\u00fcnden, hervorzurufen, desto mehr w\u00e4chst auch die Sicherheit, dafs sie nicht spontan entstehen, sondern durch diese hungerstillende Sache selbst hervorgerufen werden, und daher kommt der un\u00fcberwindliche Trieb, die Bilder als Kennzeichen dieser Sache aufzufassen.\nHume sagt mit der diesen grofsen Denker charakterisierenden Rechtschaffenheit, dafs der Antrieb einen Vorgang auf seine Ursache zur\u00fcckzuf\u00fchren (und ein Vorgang ist immer das, was sich uns als Bild darstellt) logisch nicht als instinktiv bedingt erkl\u00e4rt werden k\u00f6nne. Er hat die Berechtigung zu dieser Meinung. Wozu er kein Recht hatte, war zu glauben, dafs der Instinkt eine blinde Kraft w\u00e4re. Der Instinkt, der das Tier veranlafst, das Bild einer Ursache anzugeben, ist eine durch die \u00e4ufsere Erregung veranlafste \u00dcberlegung. Wenn das Wesen das Bild auf seine Ursache bezieht, so l\u00e4fst es damit einen auf ein so schlagendes Experiment gegr\u00fcndeten Schlufs gelten, dafs bis auf den heutigen Tag die Physiker und Chemiker keinen besseren haben ausfindig machen k\u00f6nnen. Das Bild ist kein Ph\u00e4nomen, das einer trophischen Wirkung vorausgeht, und da dieser Effekt immer durch das Bild begleitet worden ist, so stellt man sich schliefslich das eine durch das andere vor. Einerseits ist bekannt, dafs die trophische Wirkung nicht vor dem Wiedererscheinen dieser Bilder auf treten kann, und diese Voraussicht gr\u00fcndet sich auf","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n371\ndie Erinnerung, dafs es immer so gewesen ist. Andererseits weifs man, dafs beim Wiedererscheinen dieser Bilder der Magen die Anwesenheit etwas vorher nicht Vorhandenen durch das Gef\u00fchl kundtun wird, und die Wahrnehmung dieses Etwas besteht im trophischen Bewufstsein als Appetit schon vorher mit solcher Klarheit, dafs sich mit ihrer Hilfe die Menge, die Eigenschaft des psychischen Magensaftes reguliert, der die Verdauung in dem empfangenden Eingeweide einzuleiten hat. Das Wesen weifs in der willk\u00fcrlichen Voraussetzung, dafs die Glieder dieser logisch gutgefestigten Reihe ohne Vermittlung der Bewegung folgten, nicht, dafs diese Ph\u00e4nomene durch eine \u00e4ufsere Sache, d. h. durch eine Ursache bedingt sind. Nimmt man aber an, dafs sie durch die motorische Erfahrung in voller Absicht hervorgerufen werden, wie kann man da noch zweifeln, dafs das, was das Bildzeichen des als Appetit Wahrgenommenen bedingt, das gleiche ist, das seine Magensensibilit\u00e4t beeinflufst, und dafs das seine Magensensibilit\u00e4t Reizende das gleiche ist, was sp\u00e4ter das im Organismus Fehlende ersetzen soll?\nIn Wirklichkeit versucht das Tier beim Efsakt drei verschiedene, durch einen logischen Prozefs vorher vereinte Wirkungen, wodurch das Vorhandensein einer Sache oder von etwas, dessen Anwesenheit sich kundtat, angezeigt wird. Aus keinem dieser drei Effekte kann die Erkenntnis dieses abwesenden Etwas hergeleitet werden, aber aus ihrer Vereinigung entsteht natur-gem\u00e4fs der Schlufs auf das Fehlende, und wenn das Wesen unter diesen Bedingungen durch die Bewegung merkt, dafs das Fehlende anwesend ist, so erwirbt es auch die Voraussicht oder die F\u00e4higkeit, von neuem die gleichen Effekte hervorzurufen, die es fr\u00fcher, ohne zu wissen wie, veranlafst hat. Es hat jetzt allein infolge der F\u00e4higkeit, sie von neuem hervorzurufen, die Erkenntnis, wann es sie erregt, weil es die Kenntnis besitzt, wie es sich zu diesem Zweck zu bewegen hat, und hieraus entsteht die empirische Erkenntnis der Kausalit\u00e4t. Ein Tier, das der freien Beweglichkeit entbehrte und weiter nicht w\u00fcfste, wie es die Mundmuskulatur zu innervieren h\u00e4tte, um die Ber\u00fchrung der Zitzen mit seinen Lippen, sowie einen gewissen Geschmack oder W\u00e4rmeeindruck, die ihm die Anwesenheit der hungerstillenden Sache anzeigen, hervorzurufen, kann diese Sache erkennen, aber nicht sich Rechenschaft ablegen, dafs sie eine \u00e4ufsere ist, weil ihm das reversive Element dieser inneren Erfahrung fehlt. Wenn ihm\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t24","page":371},{"file":"p0372.txt","language":"de","ocr_de":"372\nR, Turr\u00f4.\naber die motorische Erfahrung gezeigt hat, dafs es nicht so unf\u00e4hig ist und nicht passiv abzuwarten braucht, bis ihm diese Bilder und Magenempfindungen zuf\u00e4llig begegnen, um ihm die Anwesenheit des seinen Hunger stillenden K\u00f6rpers zum Bewufst-sein zu bringen, dafs es vielmehr mit wertvollen Mitteln rechnen kann, um ihr Wiedererscheinen immer, wenn es ihm gutd\u00fcnkt, vorwegzunehmen, dann wird es die seinen Hunger stillende Sache als eine \u00e4ufsere ansehen, die in entsprechender Weise behandelt werden mufs, damit diese Bilder, die Magenempfindungen und die weitere trophische Wirkung von neuem erscheinen, die auch fr\u00fcher ohne die Erkenntnis von wann und wie zutage traten. Durch eine \u00e4hnliche Umkehrung geht das innerlich Wirkliche in das \u00e4ufserlich Wirkliche oder die Ursache \u00fcber, und das geistige Leben des Wesens erleidet von Grund aus eine Umformung. Wenn es vorher Hunger hatte, so zeigte ihm die unvorhergesehene Ber\u00fchrung der Brust, der Geschmack oder der W\u00e4rmeeindruck die Anwesenheit des Hungerstillenden an, und jetzt sehnt es diese Ber\u00fchrung herbei und ordnet die Muskelkontraktionen, die zum Saugakt f\u00fchren, in der offenkundigen Absicht zusammen, sie m\u00f6chten wiedererscheinen, weil es die motorische Voraussicht erworben hat, dafs eine diese Zeichen, diese gastrischen und trophischen Wirkungen hervorrufende Sache existiert, wie sie sie ja auch vorher bedingte, als diese Voraussicht noch gar nicht bestand. Wenn vorher das Bild einer weifsen Farbe ihm ein gewisses trophisches Unbehagen voraussagte, und das einer roten Farbe ein Wohlbefinden, so veranlafst es jetzt ein innerer Antrieb, die Augen zu bewegen und die schwierige Aufgabe der Akkommodation zu erlernen, damit das Retinabild dem Gew\u00fcnschten entspricht. Es gab eine Zeit, in der der Durstende beim Gef\u00fchl der Frische und der Ber\u00fchrung des in seinen Mund einstr\u00f6menden Wassers wufste, dafs sein Durst gestillt w\u00fcrde, weil er das fr\u00fcher ausgeprobt hatte. Dann kommt sp\u00e4ter eine Zeit, in der er durch die motorische jetzt viel besser als fr\u00fcher unterrichtete Erfahrung veranlafst wird, wenn der Durst ihn qu\u00e4lt, lebhaft den abwesenden K\u00f6rper zu suchen, um so den Eindruck in seinem Munde hervorzurufen, und wenn er von ferne sein Murmeln vernimmt, oder ihn an dem wie durch einen Kristall durchfallenden Lichte unterscheiden konnte, so weifs er schon, dafs das, was seine Augen und Ohren so beeinflufste, das gleiche ist, was in seinem Munde in bestimmter Weise wirkt, und was","page":372},{"file":"p0373.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n373\nin seinem Organismus eine bestimmte trophische Wirkung hervorbringt. Die eben aus dem Ei gekrochene Rabenbrut, die den Schnabel verzweifelt aufsperrt und die Fleischst\u00fcckchen verschluckt, die die Mutter ihr hineinsteckt, weifs in der ersten Zeit\n\u2022 \u2022\nkaum, dafs sie etwas Aufserliches kaut. Sobald aber das eingef\u00fchrte Etwas durch einen Geruch, durch die Wahrnehmung eines seine Ankunft anzeigenden Fl\u00fcgelschlages in die Aufsen-welt verlegt wird, bildet sich in seinem Verstand eine Voraussicht der'in seinem Schnabel zu erwartenden und in ihrer Wirkung bei ihrem Eintritte durch die zu ihrer Verdauung n\u00f6tige psychogene Magensaftabsonderung vorweggenommenen Eindr\u00fccke sowie des weiteren trophischen Effekts, der eintreten mufs und den es durch die von fr\u00fcher her bewahrten Erinnerungsbilder kennt. Wenn sie das Nest verlassen und die Bed\u00fcrfnisse ihrer Ern\u00e4hrung sie zum Nahrungsuchen zwingen, so m\u00fcssen sie sie durch die Bewegung finden, und zu diesem Zwecke k\u00f6nnen sie nur auf die Hilfe der Bilder rechnen, die in ihren Sinnen beim Einstellen des weitentfernten Lichtes oder bei einer Orientierung auf beispielsweise 50 km den auf ihr Geruchsorgan wirkenden entfernten Geruch veranlassen. Wer wollte sagen, dafs diese Gesichtsbilder, durch die das Nahrungsmittel auf eine so enorme Entfernung erkannt wird, die gleichen sind, mit denen das Tier die Stillung seines Hungers erkannte, als es noch nicht einmal wufste, dafs sie durch eine Ursache bedingt sind. W\u00e4re die Bewegung unterdr\u00fcckt, so w\u00e4ren diese erstaunlichen Wahrnehmungen unm\u00f6glich, weil dem Tier das schaffende Element dieser \u00e4ufseren Umkehr fehlt, das ihm erlaubt, die festgestellten Wirkungen auf eine Ursache zu beziehen und den Zwischenraum, der es von dieser Ursache trennt, abzumessen.\nJeder motorische Versuch, ein Bild hevorrzurufen, setzt immer die vorhergehende Erkenntnis der es veranlassenden \u00e4ufseren Ursache voraus. Von dem Augenblick an, wo das Bild als Kennzeichen der trophischen Wirkung aufgefafst wird, stellt es auch das Wirkliche dar, und von dem Moment an, wo man durch die Bewegung die F\u00e4higkeit zu seiner Reproduktion erwirbt, besitzt man auch die Vorstellung des realen \u00c4ufseren oder der Ursache. Das, was mit Bezug auf das Subjekt sich uns als eine die trophische Wirkung bedingende Einfuhr kund gibt, stellt sich uns mit Bezug auf die Aufsenwelt als die M\u00f6glichkeit zu dieser\nEinfuhr, die Quelle der Zufuhr, dar. Aus diesem Grunde kann\n24*","page":373},{"file":"p0374.txt","language":"de","ocr_de":"374\nR. Turr\u00f4.\ndas Tier nicht die Ursache selbst, unabh\u00e4ngig von ihren psychophysiologischen Wirkungen betrachten, weil diese keinen Zustand hervorbringende Ursache ein schlafender W\u00e4chter ist. Die sensorischen und trophischen Wirkungen ihrerseits k\u00fcndigen sich, in ihrer Eigenschaft als Wirkungen und unabh\u00e4ngig von der sie veranlassenden Handlung betrachtet, so an, als wenn man die Ursache kennte. Die ganze Folge verl\u00e4uft in der gleichen Weise, nur dafs diese Folge nicht \u00e4ufserlich vorauszusehen war. Bei der Auseinandersetzung der Urspr\u00fcnge der Erkenntnis vom Wirklichen sagten wir, dafs das Objektzeichen beim Wecken des trophischen Ged\u00e4chtnisses die lebhafte Erinnerung an das hervorrief, was immer gefolgt ist und was auch jetzt sich ereignen wird. Aus dieser \u00dcberlegung heraus stellt ihm das Bild das fehlende, innerlich Wirkliche dar. Ebenso ist die Erinnerung der Bewegung, die zum Wiederhervorrufen des Objektzeichens, das den trophischen Effekt hervorbringen soll, erforderlich ist, das lebhafte Ged\u00e4chtnisbild dessen, was die sensorischen und trophischen Wirkungen zu bedingen hat, und wie vorher im trophischen Ged\u00e4chtnis die Erkenntnis der Wirkung auf den Organismus bestand, so ist in der Intuition dieser Bewegung jetzt die Kenntnis der von den Sinnen ausprobierten Wirkung gegeben, der gastrischen und der trophischen Sensibilit\u00e4t, bevor diese ihre Untersuchung wirklich anstellen. Diese motorische Voraussicht bildet aus sich heraus die Erkenntnis der veranlassenden Ursache, eine Erkenntnis, die den bestimmten Charakter der willk\u00fcrlichen Bewegung tr\u00e4gt.\nDie Worte \u201efreiwillige Bewegung\u201c werden nicht pr\u00e4zise und bestimmt gebraucht. Manche verstehen unter willk\u00fcrlich jede von quergestreifter Muskulatur ausgef\u00fchrte Kontraktion, andere meinen, willk\u00fcrlich sei jede Bewegung psychischen oder zentralen Ursprungs, ohne auseinanderzusetzen, worin diese Bewegungen bestehen; die Mehrzahl versteht unter willk\u00fcrlich jede einem Zweck angepafste Bewegung, ohne auf die cardio-vascu-l\u00e4re, die gastro-intestinale usw. Innervation R\u00fccksicht zu nehmen, die sich wie alle Bewegungen der lebenden Wesen einem Ziele anpassen. Wir merken jedesmal, wenn wTir willk\u00fcrliche Bewegungen von solchen unterscheiden wollen, die es nicht sind, dafs erstere einen Eindruck mit einer gewissen Voraussicht hervor-rufen, indem sie die periphere Nervenendigung oder den zu ihrer Reizung n\u00f6tigen Vorgang bereitstellen. Dieser Vorgang kann","page":374},{"file":"p0375.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n375\naus dem Organismus oder aus der Aufsenwelt sich herleiten. Als Beispiel f\u00fcr das erstere kann die Kontraktion oder \u00d6ffnung des Blasen- oder Rektumsphinkters, der auf die intramuskul\u00e4ren Nerven von Golgi und K\u00fchne ausge\u00fcbte Druck oder Zug, die Kompression, die Bewegung oder Drehung der Gelenkoberfl\u00e4chen usw. angef\u00fchrt werden. Das gew\u00f6hnlichste ist, dafs die willk\u00fcrliche Bewegung in der Absicht auftritt, \u00e4ufsere Eindr\u00fccke hervorzurufen, indem sie den Sinn der Ursache anpafst, derart, dafs dieser nur die von dem gew\u00fcnschten Bilde hervorgerufene Reizung empf\u00e4ngt. Hat das Wesen durch eine lange Unterweisung die Herrschaft \u00fcber sein Muskelsystem erworben, so existiert beim Augenrollen, beim Ausstrecken des Armes und \u00d6ffnen der Hand, um einen Gegenstand zu ergreifen, beim Aufheben eines K\u00f6rpers, um ihn zu kosten, beim Einatmen der Luft, um den vor\u00fcberziehenden Duft wahrzunehmen, im Verst\u00e4ndnis schon die Voraussicht, dafs in der Retina das Bild der Gegenst\u00e4nde erscheinen wird, die dort liegen, wohin die Augen gedreht worden sind, in der Hand der Eindruck des K\u00f6rpers, im Munde der Geschmack, in der Nase der Geruch, als ob man schon vom Anbeginne des Lebens w\u00fcfste, dafs sie auf diese Weise zustande kommen k\u00f6nnten, obwohl jene motorische Voraussicht doch noch gar nicht existierte und das Wesen nicht wufste, dafs diese jene hervorgerufen hat, wie es den Durst erst von dem Augenblick an kennt, wo die Reizung auf die periphere Ausbreitung des sensorischen Nervens wirkt.\nWenn das Wesen jetzt weifs, dafs es zur Auffassung von aufsengelegenen Gegenst\u00e4nden in seiner Retina seine Augen nach innen richtet, so tut es das aus der motorischen Voraussicht der Richtung, in der diese Bilder erscheinen werden. Wenn man sich f\u00e4hig f\u00fchlt, mit gr\u00f6fserer Beharrlichkeit und genauer das Bild der verschiedenen im Hintergrund dieses Gesichtsfeldes bestehenden Gegenst\u00e4nde zu betrachten, so geschieht das, weil durch die motorische Erfahrung die F\u00e4higkeit erworben worden ist, eine bestimmte Stelle der Retina vorz\u00fcglich zu belichten und zwar isoliert, um sie direkt der Lichtwirkung auszusetzen, und wenn dieser Vorgang auf einen Punkt eingeschr\u00e4nkt werden kann, in dem das Bild aufserordentlich gl\u00e4nzend und leuchtend ist, so verdankt man auch das der aufserordentlich ausgebildeten motorischen Erfahrung, die den Punkt oder das Lokalzeichen des photoskopischen Vorganges zu bestimmen vermag. Diese","page":375},{"file":"p0376.txt","language":"de","ocr_de":"376\nB. Turr\u00f4.\nmotorische Rolle der Retina ist nur die vorweggenommene Erkenntnis, wie die Muskeln alle bewegt werden m\u00fcssen, damit die Akkommodation zustande kommt, damit das Organ in wundervoller Weise der \u00e4ufseren Ursache, auf die es zu wirken hat, angepafst wird, und aus der Kenntnis dieser inneren Punkte entsteht die Erkenntnis der \u00e4ufseren Punkte, auf die das Bild projiziert wird. Die Voraussicht dessen, was in der Retina zu folgen hat, wenn man sie dem Einflufs des einen oder anderen Vorganges aussetzt und auf ihr verschiedene Punkte festlegt, die ihn aufzunehmen haben, hat ein Vorgef\u00fchl f\u00fcr die \u00e4ufsere Ursache. Das Tier weifs nicht, dafs das Gesichtsbild der wirklichen Sache, die sich statt ihrer darstellt, entspricht, weil es auf diese Sache projiziert. Es weifs im Gegenteil, dafs es auf diese Sache projiziert, weil es durch eine langsam und m\u00fchsam ausgearbeitete motorische Erfahrung allm\u00e4hlich gelernt hat, dafs das Bild nach Mafsgabe der Adaptation des Aufnahmeapparates an dieses vom Organismus geforderte wirkliche Etwas auf trat. Wie nun beispielsweise der Fall eintrat, dafs das Weifse und Rote als Zeichen eines guten oder schlechten N\u00e4hreffektes vor seinen Augen erschienen und verschwanden, ohne dafs es wufste warum, so zwingt es sich durch immer wiederholtes Versuchen, beide Farben festzuhalten, und lernt zuerst, zitternd wie der Blinde, mit seinen Augen fixieren, dann sie in der aus dem Ortswechsel folgenden Richtung zu drehen, immer mit der ausgesprochenen Absicht, in der Retina das Zeichen hervorzurufen, das ihm die Anwesenheit des ben\u00f6tigten Wirklichen kundgab. Das Zeichen mittels der Bewegung festlegen, heifst aber dasselbe, wie wissen, dafs es nur unter der Wirkung auftreten kann, und aus diesem Grunde mufs das Kind ihm im Raume folgen, wenn es sich entfernt, um auch weiter den Eindruck zu empfangen, und mufs die zitternden Augen fixieren, um in gleichf\u00f6rmiger Weise den Eindruck im Sinnesorgan wirken zu lassen. Es leitet sich also die Erkenntnis dieser Ursache nicht aus dem photoskopischen Vorgang her, sondern aus dem motorischen Antrieb, der es in aufser-ordentlich hartn\u00e4ckiger Weise festh\u00e4lt, weil es die Kenntnis besitzt, dafs ein \u00e4ufserer Vorgang ihn jedesmal bedingt, wenn der Aufnahmeapparat adaptiert ist.\nStellen wTir uns vor, dafs die in der ganzen Haut weit verteilten druckempfindlichen Punkte nur die durch die Ber\u00fchrung hervorgerufenen Eindr\u00fccke der Aufsenwelt anzeigen w\u00fcrden.","page":376},{"file":"p0377.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\t377\nBei dieser Darstellung vergessen wir, dafs vom genetischen Gesichtspunkte jeder einzelne dieser Punkte an eine motorische Unterscheidung gebunden ist, die uns die F\u00e4higkeit, sie dynamisch zu beeinflussen, liefert, als ob im Geiste die Voraussicht der bei einer Bewegung nacheinander mit Eindr\u00fccken zu versehenden Punkte best\u00fcnde. Beim Gehen schleudern wir den Fufs furchtlos in die Luft, weil wir die Sicherheit der Ber\u00fchrungspunkte der Fufssohle haben, die nach dieser Exkursion in den Raum Eindr\u00fccke empfangen sollen. Nehmen wir an, dafs ein Sternchen in unbekannter Weise den Gef\u00fchlseindruck ver\u00e4ndert und dieser an der Fufssohle nicht so auftritt, wie wir es im Geiste angenommen haben, sondern in anderer, nicht vorausgesehenerWeise, so verwirrt uns dieser unerwartete Eindruck aufserordentlich. Ebenso geraten wir in Verwirrung, wenn der Boden, den wir hart glaubten, sich als weich erweist, weil wir die Heftigkeit, mit der die Ber\u00fchrungspunkte ihre Eindr\u00fccke zu empfangen haben, in einer bestimmten Weise Voraussagen und in weichem Terrain der auf die Tastk\u00f6rperchen ausge\u00fcbte Druck geringer ist als der vorausgesetzte; daher sind wir \u00fcberrascht, dafs die \u00e4ufsere Ursache ganz anders auf sie wirkt, als wir gedacht hatten. Ebenso wissen wir mit ihrer Hilfe, wenn wir in der Dunkelheit den\n\u2022 \u2022\nArm nach unserem Nachttisch ausstrecken, in der festen \u00dcberzeugung, dafs die Hand die Marmorplatte ber\u00fchren wird, auf der wir die Streichh\u00f6lzer suchen, und diese Bewegung, ein Symbol f\u00fcr alle unsere willk\u00fcrlichen Ber\u00fchrungsbewegungen, mit vollst\u00e4ndiger Klarheit uns dar\u00fcber orientiert, dafs im Bewufstsein die Voraussicht der Ber\u00fchrungsempfindung gegeben ist, dafs diese Empfindung und w o sie erscheinen wird und an welchen Stellen der \u00e4ufseren Haut. Man k\u00f6nnte sagen, dafs diese Empfindung im Bewufstsein nicht als das einfache Abbild der peripheren Reizung auftritt, sondern unl\u00f6slich mit der motorischen Erfahrung verkn\u00fcpft ist, die den Raumpunkt bestimmt, wo sie wahr-genommen werden mufs. Angenommen, diese Erfahrung existierte nicht, die Reizung aber best\u00fcnde wie fr\u00fcher, so w\u00fcrde das Wesen nicht wissen, wo sie vor sich geht, gerade, wie es beim Sehen die Stelle oder die Retinapunkte, die gereizt werden, nicht kennte, wenn nicht durch entsprechende motorische Erfahrungen vorher diese Aufnahmestellen und -punkte der Reizung bestimmt w\u00e4ren. Die Ber\u00fchrung ist wie das Gesicht ein Sinn, in dem die Empfindung an den motorischen Antrieb gekn\u00fcpft ist und mit","page":377},{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nB. Turr\u00f4.\nihm eine untrennbare Einheit bildet. Wird diese interneuronale Vereinigung zerrissen, so bringt das auf die Tastk\u00f6rperchen Wirkende unzweifelhaft eine Empfindung hervor, aber das Wesen weifs nicht, dafs sie einem Druck oder einer Ursache ihr Entstehen verdankt. Wenn hingegen das Wesen sie von innen nach aufsen durch die Bewegung bestimmt, wenn es durch Versuche zur Erkenntnis der Muskeln gelangt, die es innervieren mufs und wie es das so zu tun hat, um den Eindruck wirklich in dieser Gegend oder an jenen Hautpunkten hervorzurufen, erst dann entsteht im Geiste die Voraussicht f\u00fcr das die Ber\u00fchrungsnerven reizende \u00c4ufserliche und man erforscht durch ein von Grund aus logischen, aus dem lebenden Experiment hergeleiteten, Vorgang, was die Ursache dieser Wirkung ist und wo sie liegt. Hierzu gen\u00fcgt es, die Bewegung in die Richtung dieser Sache zu leiten und sie so zu spezialisieren, dafs man unterschiedliche Punkte an ihr festlegen kann, so dafs wir, wenn die Fingerspitze an der Stelle A ber\u00fchrt wird, wissen, dafs es nicht dieselbe ist, wie die an der Stelle B auf sie einwirkt, w7eil die Kenntnis zweier bestimmter Bewegungsrichtungen vorher existiert. Auf dieselbe Weise wissen wir auch, dafs der Gesichtspunkt A nicht der gleiche ist wie B, weil durch zwei bestimmte Richtungen die Retinapunkte, auf denen die Reizung elektiv zu entstehen hat, vorher festgesetzt sind.\nDie Empfindung der \u00fcbrigen Sinnesgebiete k\u00f6nnen auch ohne die Notwendigkeit, sie nach aufsen zu verlegen, eine Vorstellung des Realen sein, ebenso wie die Vorhergehende. Aber die Erkenntnis, dafs sie durch eine Ursache bedingt sind oder nicht spontan in den Gef\u00fchlen entstehen, leitet sich aus tiefliegenden psychomotorischen Vorg\u00e4ngen her, die in kurzer Synthese auseinanderzusetzen, sehr schwierig ist. Der Geruch oder der Ton, den das Tier mehr oder minder entfernt liegenden Ursachen zuteilt, enthalten logischerweise die Kenntnis der Richtung, in der sich diese Ursachen befinden und diese Daten k\u00f6nnen nur durch die Bewegung hervorgerufen werden. Um sich von der Richtigkeit dieser \u00dcberlegung zu \u00fcberzeugen, gen\u00fcgt es, zu wissen, dafs diese Reize auf die Sinne von S\u00fcden wirken und dazu ist es n\u00f6tig, die Kenntnis dieser Richtung zu besitzen. Die Kenntnis dieser Richtung wie die aller \u00fcbrigen setzt die F\u00e4higkeit voraus, sich in allen Richtungen des Raumes frei zu bewegen, womit wir diese Bilder beurteilen, die soweit bestimmt","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n379\nsind, wie im Verstand die motorische Intuition besteht, mit deren Hilfe wir sie nach aufsen von dem aufnehmenden Sinne projizieren. Allerdings k\u00f6nnen wir in diesem Augenblicke die Psycho-genese dieser Erkenntnis der Geruchs- und Geh\u00f6rsrichtungen nicht hinreichend auseinandersetzen. Wir behalten uns das f\u00fcr den dritten Teil dieser Arbeit vor, die uns erlaubt, eine leicht zu beweisende Erfahrung zu entdecken, die uns ihren empirischen Ursprung klarstellt.\nWenn wir die V\u00f6gel eines H\u00fchnerhofes daran gew\u00f6hnen, ihr Futter beim Schlagen eines Topfes zu nehmen, so haben sie zun\u00e4chst kein Verst\u00e4ndnis f\u00fcr den L\u00e4rm, weil sie seine Bedeutung nicht kennen. Sowie sie es aber als das Zeichen f\u00fcr die Anwesenheit der Nahrung auffassen, gen\u00fcgt das Ger\u00e4usch, um sie den Kopf heben und in der Erwartung dessen, was kommen wird, herbeieilen zu lassen. Entfernt man allm\u00e4hlich den Ton immer in gleicher Richtung, so kommen sie nach der Stelle herbeigelaufen und auf diese Weise sch\u00e4rft sich das sonst so wenig ausgebildete Geh\u00f6r dieser V\u00f6gel, so dafs sie schliefslich auf eine relativ aufserordentlich grofse Entfernung wahrnehmen. Die akustische Projektion entsteht aus einer grofsen Anzahl motorischer Experimente, die durch Zur\u00fccklegen immer desselben Weges zustande kommen. Der Beweis hierf\u00fcr liegt darin, dafs, wenn man den Topf in der gleichen Entfernung aber in einer der anf\u00e4nglichen gerade entgegengesetzten Richtung schl\u00e4gt, sie nicht verstehen, was dieser L\u00e4rm bedeutet, als wenn sie ihn nicht zu projizieren verm\u00f6chten. Wir wrollen damit nicht etwa f\u00fcr bewiesen halten, dafs sie ihn nicht h\u00f6ren, weil sie nicht Verst\u00e4ndnis f\u00fcr ihn zeigen; wir beschr\u00e4nken uns darauf, durch dieses Beispiel zu zeigen, wie die Erkenntnis akustischer Richtungen entstehen kann, ohne dieser Beschreibung gr\u00f6fseren Wert beizulegen, als sie tats\u00e4chlich verdient. Gew\u00f6hnen wir die Hennen durch immer wiederholte Versuche daran, auf den Ort zuzulaufen, wie wir sie nach A hingew\u00f6hnt hatten, so wird der akustische Eindruck in der gleichen St\u00e4rke nach dem einen wie dem anderen projiziert. Das gleiche folgt mit den beiden \u00fcbrigen Kardinal punkten C und D. Nach Mafsgabe der sich aufspeichern-den Erfahrungen lernen diese V\u00f6gel langsam und schrittweise w\u00e4hrend sie zuerst nur eine Richtung kannten, alle Hauptrichtungen des Quadranten und wie sich durch die h\u00e4ufige Wiederholung der gleichen Vorg\u00e4nge die Erfahrung sch\u00e4rfer und klarer","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nR. Turr\u00f4.\nabhebt, vervollst\u00e4ndigt sich die akustische Projektion so weit, dafs sie in gerader Richtung von ihrem Ausgangspunkte nach der Stelle laufen, wo der Topf ert\u00f6nt. Beim Anblick eines solchen Schauspieles k\u00f6nnte einer sagen, dafs die akustische Projektion, die Bewegung leitet, da ja die V\u00f6gel, wenigstens scheinbar, auf den L\u00e4rm zulaufen. Ziehen wir aber die genetischen Vorg\u00e4nge dieser Richtungserkenntnis in Rechnung, so m\u00fcssen wir naturgem\u00e4fs glauben, dafs sie nicht auf den Ausgangspunkt des Tones zu laufen, weil er dort ert\u00f6nt, sondern, dafs sie wissen, dafs er dort ert\u00f6nt, weil sie eben dahin gegangen sind. In diesem Falle wird die Bewegung durch eine angeborene Projektion gelenkt: die Projektion ist das, was aus der Erkenntnis der ausgef\u00fchrten Bewegung entsteht.\n\u00c4hnliches kann man begreiflicherweise auch von den Geruchsprojektionen auseinandersetzen. Die F\u00e4higkeit, sich im Raume zu bewegen, verleiht dem Tiere die M\u00f6glichkeit, die Eindr\u00fccke nach ihrem Ursprungsort zu bestimmen. So sehen wir, dafs die von Natur aus besser beweglichen Tiere die sind, welche sch\u00e4rfere Sinnesorgane zu haben pflegen und wenn wir uns nach der Ursache dieses Vorganges fragen, so merken wir, dafs diese Sch\u00e4rfe nicht von dem Aufnahmeakt, sondern von der Aufmerksamkeit abh\u00e4ngt, die dem aufgenommenen Eindruck zugewandt wird, d. h. von der motorischen Erkenntnis der Richtung, in der er auftritt. Der trophische Antrieb h\u00e4lt diese Aufmerksamkeit wie das logische Anfangsglied wach, welches den Eindruck als das Zeichen des Verlangten auffafst. Sp\u00e4ter betrachtet es ihn als durch das Verlangte selbst begr\u00fcndet und schliefslich glaubt es jedesmal dasselbe, wenn es weiterhin im Raum oder in einiger nur scheinbar von den Sinnesorganen weitabliegenden Entfernung ihn entdeckt.\nDie Geschmacksbilder, die W\u00e4rme- und Schmerzempfindungen, die in gewisser St\u00e4rke auf das Ber\u00fchrungsgebiet wirken, k\u00fcndigen sich in einer bestimmten extensiven Form an. Johannes M\u00fcllek weist dem Geschmack die Ausbreitungsempfindung zu, eine Eigenschaft, die man ebenso auf den W\u00e4rme- und Schmerzeindruck ausdehnen kann. Bei genauerer Untersuchung des Vorganges mufs man aber annehmen, dafs diese Empfindungen ausschliefslich intensiv, wie die akustischen und die des Geruches sind, und die Stelle, an der sie gegeben sind, leitet sich","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n381\nim Verstand von der gereizten Ber\u00fchrungsregion her. Die klinische Erfahrung belehrt uns, dafs, wenn das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl aufgehoben ist, auch die Schmerz- und Temperaturempfindlichkeit nur sehr ungenau lokalisiert werden und wie die Einge weidesensibilit\u00e4t im pathologischen Zustand dunkel und unbestimmt sein k\u00f6nnen.\nMit diesen Auseinandersetzungen wollen wir nur das Element zum Verst\u00e4ndnis bringen, das uns zum Glauben an die Existenz einer \u00e4ufseren Ursache veranlafst und niemals aus der Empfindung selbst, sondern aus dem sie bestimmenden motorischen Antrieb entsteht. Ein Farben- oder K\u00e4lteeindruck wird in seinem Ursprung nach aufsen oder innen verlegt, je nachdem er eine Bewegungserinnerung gleichzeitig mit dem Ber\u00fchrungsgef\u00fchl hervorruft. Ein durch Druck erregter Schmerzpunkt erweist sich als ein \u00e4ufserer, weil dieser Druck im Bewufstsein mit dem die Ber\u00fchrungspunkte als mechanische Angriftsstellen der Bewegung auffassenden Antrieb verbunden ist. Entsteht aber der Schmerz spontan oder unabh\u00e4ngig von jedem motorischen Einflufs, so h\u00e4lt man ihn auch nicht f\u00fcr \u00e4ufseren Ursprungs, weil nicht die Erkenntnis dessen besteht, was ihn hervorgerufen haben k\u00f6nnte.\nDie Tiere urteilen denn auch wirklich nur dann, dafs ein Eindruck ein \u00e4ufserer ist, wenn sie die motorische Voraussicht erworben haben, dafs er nicht spontan erscheint oder erscheinen kann. Es gibt eine Menge unklarer vager Empfindungen, die im Bewufstsein ohne die Kenntnis auf treten, wann und wie sie sich angezeigt haben. Unter pathologischen Bedingungen werden alle diese lebhaft und in mehr oder weniger scharf er Weise nach\n*v\nder Stelle ihres Ursprungs projiziert. Unter normalen Bedingungen kommen sie als Euphorie, als die Empfindung der eigenen Existenz, wTie es Henle genannt hat, zum Bewufstsein. Ihre Variationen und M\u00f6glichkeiten k\u00fcndigen sich unvorhergesehen in \u00fcberraschenderweise an. Einer merkt dafs er Hunger hat, dafs der Geschlechtstrieb ihm zusetzt, dafs seine Blase entlehnt oder sein Muskelsystem ge\u00fcbt werden mufs und alle diese organischen Erfordernisse bilden sich im Bewufstsein gebieterisch, ohne dafs man die Ursache dieser Folge kennte. Zweifellos existiert eine Summe von Eindr\u00fccken, die uns nie \u00fcberraschen, weil wir sie voraussehen. Die Eigenschaft des zu untersuchenden Eindruckes kann uns \u00fcberraschen, sofern er uns unbekannt ist, nicht aber das Auftreten des Ph\u00e4nomens. Tauchen wir die","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nM. Turr\u00f4.\nHand ins Wasser, so \u00fcberrascht uns weder der K\u00e4lteeindruck, noch die W\u00e4rme, wenn es dampft. Tauchen wir sie in ein mit Quecksilber gef\u00fclltes Gef\u00e4fs, so wTundern wir uns nicht \u00fcber das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl, wir wundern uns, wenn der Vorgang uns unbekannt ist \u00fcber den Widerstand beim Einf\u00fchren. So fest und tief ist unsere Sicherheit, dafs die Ber\u00fchrung einen Zustandswechsel hervorzurufen hat, dafs die Beobachtung einen uns\u00e4glichen Eindruck auf uns machen w\u00fcrde, sobald sich dieses durch eine pl\u00f6tzliche Unempfindlichkeit der Gef\u00fchle nicht abspielte. Die Leute suchen am Himmel den Kometen, von dem man mit Sicherheit erz\u00e4hlt, dafs man ihn finden wird. Die Voraussicht dieses Fundes stellt die logische Grundlage f\u00fcr die \u00c4ufserlichkeit\ndes Retinaeindruckes dar. Wir sind alle sicher, dafs wir beim\n\u2022 \u2022\nOffnen der Augen sehen werden. In der Annahme, dafs wir beim\n\u25a0 \u2022\nOffnen infolge einer uns nicht bekanten Retina- oder zentralen Apoplexie nicht sehen, so w\u00fcrden wir zun\u00e4chst nicht merken, dafs wir blind sind, sondern, dafs kein Licht da ist. Im Gegensatz zu den immer unvorhergesehen auftretenden inneren Empfindungen sind die \u00e4ufseren immer vorhergesehen und aus diesem Grunde gerade erachten wir sie als \u00e4ufsere. Warum das so ist? Weil wir es durch die Bewegung begr\u00fcndet haben. Die Kenntnis ihrer Lage in der Aufsenwelt entsteht aus einem inneren, die Empfindung an ihre Ursache anpassenden Vorgang und deswegen weifs man, wann und wie er erscheint.. Das heifst aber dasselbe, wie wissen, dafs er nicht spontan oder unvorhergesehen, wie die inneren Empfindungen, auftritt. Unterdr\u00fccken wir diese motorische Voraussicht, so werden das in der Retina entstehende Licht, wie der im Geh\u00f6r entstehende Ton ebenso innere Empfindungen sein, wie das der unerwartete in der Haut entstehende Juckreiz sein kann oder die Muskelkontraktion.\nSeit undenklichen Zeiten sagt man, dafs die in den Sinnesorganen entstehenden Bilder \u00e4ufsere sind und dafs es die nicht sind, die aus anderen zentripetalen, zum Bewufstsein kommenden Reizen entstehen, und wie wir im ersten Teil dieses Kapitels auseinandergesetzt haben, stellt diese Tatsache den Physiologen vor ein h\u00f6chst interessantes Problem ; da alle zentripetalen Nerven, so, wie sie sind, in gleicher Weise funktionieren und den Vorgang in abgeschlossenen H\u00f6hlen aufnehmen oder der Wirkung der Aufsenwelt offen liegen, so begreift man nicht, warum die einen uns von der \u00e4ufseren Umgebung Kenntnis geben und","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des D\u00fcngers.\n383\ndie anderen von den inneren. Fragen wir, wie und auf Grund\nwelches Organismus das geschieht und die Kenntnis von der \u2022 \u2022\nAufserlichkeit ersterer erworben wird, so merken w\u00fcr, dafs es dank dem motorischen Element so ist. Anstatt die Teilung der motorischen Empfindungen in \u00e4ufsere und innere, wie wir sie der Erfahrungen der experimentellen Methode entnehmen, als einen Glaubensartikel zu unterschreiben, m\u00fcssen wir unbedingt nachforschen, wie die inneren Empfindungen der Sinne nach aufsen verlegt werden k\u00f6nnen. Erst dann gelangen wir auf unserem Wege zu den wirklichen Quellen der Erkenntnis, zu der Entdeckung, dafs wTir diese Empfindungen nicht als innere betrachten, weil wir sie als durch eine Ursache hervorgerufene betrachten k\u00f6nnen ; und wir beobachten sie so, wreil wTir ihr Entstehen festlegen, indem wir durch die motorische Erfahrung den Sinn der isolierten Handlung eines besonders ausgesuchten und bestimmten Reizes darbieten. Mit solchen Experimenten erreichen wir bei den sensorischen Eigenschaften so gut wie nichts. Der Nerv und das Empfangszentrum reagieren in gleicherweise auf die Reizung, mag diese nun eine isolierte sein oder nicht. Aber bei diesem Vorgehen besitzen wir die Erkenntnis, unter welchen Bedingungen die Reaktion erscheint und dann bilden wir die einfachsten Urteile, dafs das im Gaumen bitter empfundene Objekt das ist, was sich beim Ber\u00fchren rauh, beim Ansehen rot darstellt, alles Urteile, die einen unbeschreibbaren Wert f\u00fcr die Vorausbestimmung des Geruches, der Rauheit, der Farbe dieses und keines anderen Gegenstandes haben und die auf Grund der motorischen Erfahrungen seine Reiz Wirkung von allen anderen isoliert. W\u00fcrde diese innere, die Aufnahmebedingungen des Gef\u00fchls festlegende Grundlage nicht existieren, so w\u00e4ren wir unf\u00e4hig, zu versichern, dafs dieses und kein anderes Objekt solche Gef\u00fchle hervorruft.\nWenn wir ein Experiment der genannten Art ausf\u00fchren\nwollen, so nehmen wir uns vor, die Bedingungen des Ph\u00e4nomens\n\u2022 \u2022\nso festzulegen, dafs es uns nicht in \u00dcberraschung versetzt. Darin unterscheidet sich die rein passive Beobachtung des Experimentes. Aus diesem Grunde haben wir festzustellen, was sich vor unseren Sinnen abspielt, ohne uns \u00fcber seine Erscheinungsform Rechenschaft abzulegen und ohne die M\u00f6glichkeit vorauszusehen, wann es wiedererscheinen wird, indem wir diesen zuk\u00fcnftigen Erfolg beschleunigen. Generation auf Generation haben die Bildung","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nR. Tiirr\u00f4.\ndes Gr\u00fcnspans an den Knpfergegenst\u00e4nden auftreten sehen, ohne eine Ahnung von der Bildung des Kugfersalzes zu haben und ohne die F\u00e4higkeit zu erwerben, es nach Belieben herzustellen, weil sie nicht wufsten, wie sie das ausf\u00fchren sollten. Am Tage aber, als man seine Zusammensetzung und die Bedingungen ihrer Kombination kannte, konnte man das Erscheinen dieses Erfolges voraussehen. Dieser Vorgangsmodus, dessen Gebrauch wir uns f\u00fcr die schwierigsten wissenschaftlichen Fragen allein zu reservieren scheinen, ist im Grunde gleicher Natur, wde den die Tiere zur nach Aufsenverlegung der Sinneseindr\u00fccke vornehmen. Das Kind, von dem wir ja schon so oft gesprochen haben, das die Augen \u00f6ffnet und sich ihrer gar nicht zu bedienen weifs, wie die Blinde von Wardrop beim Bericht ihrer Eindr\u00fccke erz\u00e4hlte, als sie durch einen chirurgischen Eingriff sehend geworden war, hat die Eindr\u00fccke der weifsen und anderer Far* ben empfangen und als Kennzeichen zweier unterschiedlicher trophischer Effekte aufgefafst. Zu diesem Zweck war es aber mindestens unumg\u00e4nglich, dafs es die Augen auf sie heften konnte, denn so lange es diese in zitternder Bewegung h\u00e4lt, kann es weder das eine noch das andere Bild mit der Retina fixieren, weil es sich mit anderen zuf\u00e4llig \u00e4hnlichen oder folgenden vermischt. F\u00fcr unser eben beginnendes Sehen hat das Feststellen der Augen den gleichen Wert wie die M\u00f6glichkeit ein Bild sch\u00e4rfer aufzufassen, als es ohne Fixieren erreichbar ist, weil diese M\u00f6glicheit einer inneren Bedingung, die das Wesen selbst zur Sichtbarmachung des Bildes aufstellen mufs, entspringt. Schliefsen wir nach dieser Voraussetzung, dafs die Retina ohne ihren nat\u00fcrlichen Reiz weder scharf noch unscharf reagieren w\u00fcrde, und fragen wir uns dann, auf was die psychomotorische Innervation die Augen feststellt, so sehen wir tats\u00e4chlich, dafs die Augen so fixieren, dafs das Bild rein und in bestimmter Weise von allem Zuf\u00e4lligen, Supraponierten oder Folgenden, das es verwischt, isoliert fortbesteht, das heifst dasselbe, wie die Aufnahmebedingung des Sinnes festzustellen, damit die Ursache gerade dieses und kein anderes Bild reizt. Was ist die Erkenntnis dieses inneren Vorganges anderes, als die vorweggenommene Erkenntnis dessen, was zur Hervorrufung einer bestimmten Farbe im Emp-findungsorgan n\u00f6tig ist? Ist das nicht im Grunde genommen das gleiche Experiment, als wenn der Chemiker den Kupfersulfat genannten K\u00f6rper industriell herstellt?","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n385\nDas Wesen verh\u00e4lt sich diesem so einfachen und rudiment\u00e4ren Farbzeichen gegen\u00fcber also ebenso, wie bei den schwierigsten vorstellbaren Wahrnehmungen.\nWie wir in der Wissenschaft alle die Vorg\u00e4nge experimentelle nennen, die wir nach unserem Wunsch immer hervorrufen k\u00f6nnen, weil wir die Bedingungen ihres Wiedererscheinens kennen, so erachten wir in dieser niederen Stufe geistigen Lebens jede mit einer Bewegungsform verbundene Empfindung als \u00e4ufserlich, sofern sie uns \u00fcber die spezielle Ursache Aufschluls gegeben hat und wir den Sinn zu ihrer erneuten Hervorrufung f\u00fcr geeignet halten. Eine Empfindung, deren Ursache wir nicht kennen, ist nur deshalb eine innerliche, weil im Bewufstsein die Bewegungsform fehlt, durch die wir uns zu ihrem Wiederhervorrufen f\u00fcr f\u00e4hig halten.\nSo bildet sich dank einer immer vom Subjekt ausgehenden Initiative von innen nach aufsen eine Beziehung zwischen dem Empfindungsbild und der bedingenden Ursache. Der Vorgang, durch den sich diese Verbindung herstellt, ist in seinen Resultaten \u00e4ufserst klar und so unzweifelhaft, dafs sich aus ihnen die Sicherheit jener logischen Schl\u00fcsse herleitet, die uns die Versicherung erlauben, das Wasser sei kalt, die Umgebung leuchtend, das Brot wohlriechend. Wir versichern in jedem dieser Urteile, dafs die Reaktion des Sinnes durch eine \u00e4ufsere Ursache bedingt ist und ferner, dafs diese Reaktion ihr entspricht und wir sind dessen, dafs diese Erkenntnis aus experimentellen, unzweifelhaften Vorg\u00e4ngen entstehe, so sicher, dafs, wenn wir an der G\u00fcltigkeit unserer Ber\u00fchrungseindr\u00fccke zweifeln oder andere sensorische Stereognosien sch\u00e4rfer werden, alle geistigen Konstruktionen zusammenzubrechen scheinen und eine schwere Verwirrung, die sogenannte Demenz, auftritt. Unter normalen Umst\u00e4nden mufs im Bewufstsein ein sehr fest ausgearbeitetes Etwas bestehen, das uns veranlafst, dem Brot eine gewisse Farbe, dem Wasser den Eindruck der Frische, jeder Sache schliefslich die Qualit\u00e4t zuzulegen, durch die sie uns bekannt ist.\nDurch die selbstbeobachtende Analyse k\u00f6nnen wir die tiefgr\u00fcndigen Erfahrungen, aus denen diese Sicherheit sich gebieterisch herleitet, nicht durch neue Hervorrufung im Bewufstsein durchgehen, wie wir es mit einer Theorie tun, wenn wir im Geiste die Reihe vorhergegangener Theorien, Forderungen und sie st\u00fctzender Axiome reproduzieren. K\u00f6nnte man vielleicht daraus,","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nB. Turr\u00f4.\ndafs die selbstbeobachtende Analyse hier wie an so vielen Stellen unfruchtbar ist, ableiten, dafs diese logischen Vorg\u00e4nge gar nicht existieren und dafs die Sicherheit unserer elementaren Urteile nicht die Gesetzm\u00e4fsigkeit eines Theorems hat? Das hat das Menschengeschlecht immer geglaubt, und wird es auch weiter glauben, bis es von der Oberfl\u00e4che der Erde verschwindet. Das glauben auch alle Tiere der Sch\u00f6pfung. Die Vorg\u00e4nge, aus denen sich diese Sicherheit herleitet, sind in einem Lebensabschnitt entstanden, in dem die Gef\u00fchle nur mehr reine Aufnahmeapparate darstellen und in dem man erst lernen mufs, sie zu handhaben, um sich durch ihre Verwendung mit der Aufsenwelt in Verbindung zu setzen. Man kommt nicht sehend, h\u00f6rend, schmeckend, riechend oder f\u00fchlend zur Welt. Das geschickteste Sinnesorgan ist zun\u00e4chst nicht mehr wie ein Mikroskop in den H\u00e4nden eines Unerfahrenen, der die Beleuchtung nicht regulieren und auf den Brennpunkt einstellen kann. Dafs w\u00e4hrend dieser Zeitabschnitte Gelernte ist wirklich wunderbar und davon k\u00f6nnen wir uns durch die Selbstbeobachtung keine Rechenschaft ablegen, wenn wir mit l\u00e4cherlicher Selbst\u00fcberhebung beginnen, gerade in jenen einsamen Regionen der Erkenntnis herumzust\u00f6bern, aus der sich die Erkenntnis als ihren grundlegenden Elementen h e r 1 e i t et.\nDiesen urspr\u00fcnglichen Grundlagen, diese vorher bekannten, durch\n\u2022 \u2022\ndie \u00dcbung automatisch gewordenen, Vorg\u00e4nge k\u00f6nnen durch die innere Beobachtung nicht kundgetan werden. Wenn es vollst\u00e4ndig bewufste Prozesse gibt, wie die Erlernung der Schrift, das Klavierspielen usw., deren man sich durch den blinden Automatismus, der sie verkn\u00fcpft, unm\u00f6glich erinnern kann, wieso denkt man an die Unterweisung, aus der die Gesichtsakkomodation oder die Organisation des Gef\u00fchles sich herleitet. Wie k\u00f6nnte man von dem Wesen verlangen, dafs es eine Entscheidung \u00fcber dieses Subjekt oder dieses Ich abg\u00e4be, wenn diese nur in h\u00f6chst fragmentarischem Zustande existieren und sie nur die zusammensetzenden Bestandteile aufwiesen, aus denen sp\u00e4ter bei ihrer Zusammensetzung die Erkenntnis eines Organismus entsteht, der imstande ist, sich in der \u00e4ufseren Umgebung in der er lebt, zu bewegen. Wie aber der Schreib- oder Klavierlehrer beim Anblick der Schwierigkeiten, die seine Sch\u00fcler nur m\u00fchsam und langsam \u00fcberwinden, sich lebhaft vorstellt, wie ihm das gleiche unter denselben Bedingungen schon vorgekommen ist, so darf der Physiologe, getreu der Beobachtung, beim Anblick des Kindes,","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n387\ndes jungen Huhnes, des kleinen Hundes, vermuten, wie sie zu sehen, zu f\u00fchlen, zu riechen, zu h\u00f6ren und zu schmecken lernen, Prozesse, die f\u00fcr die Selbstbeobachtung in Vergessenheit getaucht sind, obwohl sie doch die Grundlage der weiteren geistigen Arbeit, der Ausgangspunkt der \u00e4ufseren Erfahrung bilden.\nStehen wir von dieser Untersuchung ab, so nehmen wir an, dafs die Wahrnehmungsfunktionen uns in vorgebildeter Weise gegeben sind. Wie man die Aufmerksamkeit nicht darauf richtet, wieso die Wahrnehmung urspr\u00fcnglich aus einem inneren Experiment, aus einem Versuch entsteht, in dem die Bedingungen f\u00fcr das Erscheinen des Bildes in den Sinnesorganen vorbestehen, so h\u00e4lt man es auch f\u00fcr sicher, dafs dieses Bild an sich etwas darstellt, ohne sich mit der Erforschung seines Zustandekommens zu besch\u00e4ftigen. Haben wir diesen Standpunkt einmal angenommen mit der Harmlosigkeit des Kindes, das glaubt, was man ihm sagt, ohne dafs es ihm beik\u00e4me die Richtigkeit zu untersuchen, so m\u00fcssen nat\u00fcrlich auch wir, was uns unsere Sinne mit-teilen, ohne das Bed\u00fcrfnis nach irgend einer Sicherheit glauben. Ein Geruch wirkt auf unsere Nase und wir beziehen ihn auf seine Ursache, ohne uns \u00fcber diese geheimnisvolle Beziehung zu wundern oder uns \u00fcber die Grundlage der uns innewohnenden Sicherheit aufzuhalten. Wie wir sie finden, nehmen wir sie hin. Wenn wir eine Landschaft beobachten, fragen wTir uns nicht, woher wir wissen, dafs die Matten n\u00e4her sind als die Berge, und diese n\u00e4her als die Wolken, die in der Entfernung durch den Horizont begrenzt sind. Wir glauben es so, weil wir es so sehen und diese \u00dcberlegung uns so m\u00e4chtig erscheint, dafs sie gen\u00fcgt, dem Ungelehrigsten den Mund zu schliefsen. Die Menschen scheinen\n\u2022 \u2022\nseit undenklichen Zeiten durch ein schweigendes \u00dcbereinkommen verabredet zu haben, f\u00fcr diese unmittelbaren Wahrnehmungen keine Garantie zu fordern, wie wir solche bei anderen Dingen in der Voraussicht m\u00f6glicher T\u00e4uschungen und Irrt\u00fcmer verlangen. Wir nehmen an, dafs solche nicht n\u00f6tig sind, weil sie auf Veranlassung dessen entstehen, was so auf die Sinne wirkt. Beziehen wir den Geruch auf seine Ursache, das Tiefensehen auf in verschiedenen Raumebenen gelegene Punkte, so vertrauen wir der Stimme eines inneren Orakels, \u00fcber dessen Herkunft wir ebensowenig wissen, als auf Grund welcher Vorg\u00e4nge es seine Versicherung abgibt. Diese innere Stimme scheint auf physiologische Triebkr\u00e4fte zu antworten, indem sie den Glauben bildet,\nZeitsckr. f. Sinnesphysiol. 45.","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nB. Tiirr\u00f4.\ndafs das, was mit dem Gef\u00fchl ber\u00fchrt wird, die Augen durch eine \u00e4ufsere Anordnung sehen, die Ohren h\u00f6ren, der Geschmack und der Geruch schmecken und riechen. Den Urheber dieser \u00e4ufseren Anordnung nennen wir Erfahrung. In dieser unmittelbaren imagin\u00e4ren Wahrnehmung bestehen die Erfahrungen nicht durch das motorische Experiment, sie stellen sich als Tatsachen dar. Das alte Prinzip nihil est in tel-lectum, quod prius non fuerit in sensu findet bei der Annahme keine Auslegung, dafs die Sinne im Vorsaal des Verstandes die formlose Materie m\u00f6glicher Erkenntnis ansammeln. Sie h\u00e4ufen lebhafte Erfahrungen von unleugbarem Werte an, wirklich vorgebildete Erkenntnisse. Diese \u00e4ufseren Gegenst\u00e4nde rufen in ihrer Wirkung auf das Gef\u00fchl das Vorstellungsbild dieser Sachen hervor. Zu Anfang ist dieses Bild zugegebenermafsen tr\u00fcbe. Aber je mehr sich der \u00e4ufsere Vorgang festigt, desto sch\u00e4rfer und deutlicher wird es und durch ein undurchdringliches Geheimnis des inteile ctus agens oder durch das Auf-nehmen vorherbestehender Formen in der Tiefe des Verstandes birgt dieses Bild ein Vorgef\u00fchl seiner Ursache oder der Sache, die es darstellt. Hundert und einmal sagt man, eine \u00e4ufsere Sache, die wir Honig nennen, stellt sich uns in der Form einer bernsteinbraunen Farbe mit einem gewissen Ber\u00fchrungsgef\u00fchl, mit einem bestimmten Geruch oder Geschmack dar. Jeder einzelne dieser Eindr\u00fccke wird auf die Bedingung der \u00e4ufseren Ursache mit um so gr\u00f6fserer Deutlichkeit bezogen, als die \u00e4ufsere Handlung sie \u00f6fter bearbeitet und wenn man durch das assoziative Band merkt, dafs diese Sinnesqualit\u00e4ten alle auf eine gleiche Ursache bezogen werden, dann entsteht die gemeinsame Vorstellung derselben. Im Sinnesorgan macht sich das Bild von aufsen nach innen geltend und wird, entweder angeboren, oder infolge einer intuitiven Wirkung eines intellectus agens oder auch durch vorgebildete oder Vorg\u00e4nge der Aufsen-welt verlassende Prinzipien, die Licht auf diesen so dunklen und der Einsicht schwer zug\u00e4nglichen Punkt werfen, auf die Aufsen-welt bezogen. Das setzt die Erfahrung des Honigs zusammen oder vielmehr die der verschiedenen, sie jeweils bildenden, Eindr\u00fccke.\nDie Empiriker nehmen die in der angegebenen Weise im Geiste infolge der T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt unversehens formulierte Erfahrung als Ausgangspunkt jeder weiteren Erkenntnis.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n389\nDie spekulative Schule versucht, sich die Erfahrung selber durch Grundlagen zu erkl\u00e4ren, die sie von ihrem Standpunkte als notwendige Bedingung voraussetzt. Der einen wie der anderen gegen\u00fcber mufs man zuvor die Frage aufstellen: Was ist Erfahrung, was wollen wir mit diesem Worte sagen?\nNicht alles, was sich durch die unmittelbare Wahrnehmung, auch wrenn sie durch eine zentripetale Beizung hervorgerufen wird, anzeigt, hat den Wert einer Erfahrung. Es gen\u00fcgt nicht, zu sehen, um dem Gesehenen einen objektiven Wert zuteilen zu k\u00f6nnen. Das stereoskopische Sehen zeigt uns flache Gegenst\u00e4nde k\u00f6rperlich. Bei der Wahrnehmung der scheinbaren Bewegung sehen wir unbewegliche Gegenst\u00e4nde deutlich den Ort wechseln. Bei der einen wie der anderen Wahrnehmung reagiert die Sehleistung, wie sie es unter physiologischen Bedingungen mufs. Diese Bilder sind nicht krankhaft, sondern gesund. Wenn ihre Objektivierung sich als tr\u00fcgerisch erweist, so geschieht das, weil wir nicht in Bechnung ziehen, dafs der objektive Wert jeder Gesichtswahrnehmung von den urspr\u00fcnglichen motorischen Erfahrungen abh\u00e4ngt, die das Betinabild auf den entsprechenden \u00e4ufseren Punkt verlegt. In der Stereoskopen K\u00f6rperlichkeit erwacht die Erinnerung an alle motorischen Erfahrungen, aus denen auf die K\u00f6rperlichkeit der Natur geschlossen wrnrde. Bei der Wahrnehmung der scheinbaren Bewegung erwachen alle Erfahrungen , aus denen auf die wirkliche Bewegung Schl\u00fcsse gezogen wurden. Wie sollten diese Wahrnehmungen nicht tr\u00fcgerisch sein, wenn wir eine schlechte Verallgemeinerung fr\u00fcherer Schl\u00fcsse vornehmen. Diese empirischen Erfahrungen sind gerade deshalb falsch, weil sie nicht induktiv sind, sondern das Besultat einer visuellen \u00dcberlegung a priori.\nDie Ber\u00fchrungswahrnehmung scheint immer unfehlbar zu sein, weil sie sich aus einem aufserordentlich exakten Sinne bildet und zweifellos beobachten wir dennoch, dafs Amputierte in die fehlende Hand oder den Fufs Eindr\u00fccke verlegen, die sie im Stumpf empfinden. Wir haben es hier mit falschen Ortswahr-nehmungen zu tun, die trotz alledem so nat\u00fcrlich sind wie das stereoskopische Sehen. So lange wir uns vorstellen, dafs die die Tastendigungen affizierende Beizung auf eine Triebkraft wirkt, die in der Seele die Ortswahrnehmung erweckt, so m\u00fcssen wir erkennen, dafs bei Amputierten die Seele sich t\u00e4uscht. Lassen\nwir aber solche Phantastereien beiseite und nehmen die Tatsachen,\n25*","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nJR. Turr\u00f6.\nwie sie wirklich sind, so m\u00fcssen wir zugeben, dafs die Ber\u00fchrungsendigung ein Angriffspunkt der willk\u00fcrlichen ber\u00fchrenden Bewegung ist, und dafs diesem peripheren Punkt durch die Wiederholung dieser Vorg\u00e4nge ein zentraler Punkt als Erinnerungsbild zugeordnet ist und dafs zwischen beiden eine so feste Verbindung besteht, dafs wir mittels dieses Erinnerungsbildes wissen, welcher Punkt oder Stelle der \u00e4ufseren Haut gereizt werden wird, wenn wir das Glied gegen ein \u00e4ufseres Hindernis bewegen ; und durch dieses Erinnerungsbild wissen wir auch, welche Stelle oder Punkt der \u00e4ufseren Haut ber\u00fchrt worden ist, wrenn ein Hindernis einen Druck auf dasselbe aus\u00fcbt. Welches Erinnerungsbild sollte der auf einen Stumpf ausge\u00fcbte, zentripetale Druck anders hervorrufen, als das der fehlenden Hand, oder des Fufses ? Warum ist also diese Orts Wahrnehmung falsch? Weil sie infolge Fehlens oder Mangels der die wirkliche Ortswahrnehmung sicher stellenden motorischen Erfahrung keine induktive ist, und so nur die Ber\u00fchrungserinnerung der Hand und des jetzt fehlenden Fufses \u00fcbrig bleibt. Das Ber\u00fchrungsbewufstsein weifs nichts von den an den Gliedern vorgenommenen Operationen. Um zu dieser Kenntnis zu gelangen, mufs ein peripherer Vorgang die Erinnerungsspur des gedr\u00fcckten Punktes in den Ber\u00fchrungsneuronen eingraben und so kommt es, dafs, solange der Stumpf das Erinnerungsbild so weckt, wie es bestand, als Hand und Fufs noch existierten, man auch diese K\u00f6rperteile und nicht den Stumpf wahrnimmt. L\u00e4fst man aber willk\u00fcrliche Bewegungen auf die Ber\u00fchrungspunkte des Stumpfes wirken, bis sich im Empfangszentrum das Erinnerungsbild dieses k\u00fcnstlich geschaffenen K\u00f6rperteiles bildet, so erwirbt man induktiv auch die Erkenntnis dieser neuen Region durch wiederholte motorische Erfahrung; so verwdscht sich das Bild der Hand und des Fufses und statt dessen wird das Ber\u00fchrungsbewufstsein des Stumpfes mit solcher Sch\u00e4rfe und Feinheit erworben, dafs manche Amputierte mit der Handwurzel Guitarre spielen. Wann ist also nun die Wahrnehmung eine wirkliche Ortserfahrung? Wenn sie auf die motorische Erfahrung antwortet, die die Stelle des zu erwartenden Ber\u00fchrungseindruckes bestimmt und im Empfangszentrum das Erinnerungsbild dieser Stelle schafft und unl\u00f6slich mit ihm vereint aufrecht erh\u00e4lt. Geschieht das nicht, so erweist sich die Erfahrung als falsch, weil der Amputierte, ein Opfer seiner T\u00e4uschung, a priori und nicht wie in fernen Zeiten seines Lebens induktiv urteilt","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n391\nund so, wie er Vorgehen m\u00fcfste, wollte er das Ber\u00fchrungsgef\u00fchl des Stumpfes ebenso organisieren, wie das aller \u00fcbrigen K\u00f6rperteile.\nDiese Auseinandersetzung, die wir nicht weiter ausf\u00fchren k\u00f6nnen, ohne uns von dem von uns untersuchten Gegenst\u00e4nde zu weit zu entfernen, gen\u00fcge zum Beweise, dafs der logische Wert der unmittelbaren Wahrnehmungen nicht von der Wahrnehmung selbst abh\u00e4ngt, sondern von den genetischen Vorg\u00e4ngen, die jene im Verst\u00e4nde bilden. Ein zentripetaler Vorgang kann eine h\u00f6chst zusammengesetzte Summe elementarer Erinnerungsbilder erwecken, aus denen eine richtige Wahrnehmung folgt, wenn sie ein treues Abbild, eine falsche, wenn sie durch einen unrichtigen Schlufs gewonnen sind. Das nat\u00fcrliche und gew\u00f6hnlichste ist das erste und nicht das zweite ; in diesem Sinne haben wir keine vern\u00fcnftigen Gr\u00fcnde, an der Wahrhaftigkeit der Empfindungen unter dem leichtfertigen Vorw\u00e4nde, sie k\u00f6nnten t\u00e4uschen, zu zweifeln, da ja gew\u00f6hnlich die Reizung nur experimentell aufgestellte, elementare Erinnerungsbilder weckt, und es ist eine logische Forderung, dafs die Summe, aus der sich die Wahrnehmung herleitet, aus den Summanden berechnet wird oder der Ausdruck jedes von ihnen ist. Aus alledem ist zu entnehmen, dafs nicht alles, was zentripetale Vorg\u00e4nge im Bewufstsein her-vorrufen, eine Erfahrung ist. Sie kann es sein, braucht es aber nicht zu sein; es h\u00e4ngt alles von den Bedingungen ab, unter denen das Sinnesorgan gereizt wird. Der Ausgangspunkt des intellektiven Vorganges leitet sich gem\u00e4fs dem Fundamentalgesetz des Empirismus aller Zeiten, der immer der Lehrstuhl der richtigen Einsicht gewesen ist, aus der \u00e4ufseren Erfahrung her. Aber wo beginnt die \u00e4ufsere Erfahrung?\nDie Erfahrung ist nicht zugleich anfangs mit dem intuitiven Bild gegeben. Im intuitiven Bild kann eine T\u00e4uschung liegen, in der Erfahrung darf dies nicht Vorkommen. Wir fassen dieses Wort derart auf, dafs wir nicht verstehen, wie die Erfahrung berichtigt wTerden k\u00f6nnte. Mufs sie das doch, so sagen wir, dafs sie falsch ist, d. h. keine Erfahrung war. Der Vorgang, auf Grund dessen sich im Geist eine \u00e4ufsere Erfahrung bildet, ist einwandfrei. Alle Tiere sind eins darin, die Bilder unserer Sinne auf die entsprechenden Gegenst\u00e4nde zu beziehen und dabei so vorzugehen, dafs keine T\u00e4uschungen auftreten. Dieser Akt wird von manchen als angeboren oder spontan nach Art einer primitiven Anordnung angesehen, \u00fcber die auch die Analyse nicht","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nB. Turro.\nhinauskommen kann, weil es kein Weiter gibt und sie nicht auf ihre Zusammensetzung erkl\u00e4rende genetische Elemente zur\u00fcck-fiihrbar ist. In diesem Falle vertrauen wir auf die Erfahrung durch einen inneren Glauben, und nicht, weil wir wissen, dafs die die Vorg\u00e4nge der Gef\u00fchle bestimmenden Intuitionen auch logisch der wirklich sie veranlassenden Ursache entsprechen. F\u00fcr gew\u00f6hnlich glauben wir das nicht. Unserem Empfinden entsprechend ist das intuitive Bild nicht eine Erfahrung, sondern das Resultat oder die Folge eines motorischen Experimentes, das uns zeigt, dafs dieses Bild durch die auf dasselbe bezogene Ursache bedingt gewesen ist. Es wird angenommen, dafs die intuitiven Bilder, oder die unmittelbaren Wahrnehmungen den Ausgangspunkt jeder m\u00f6glichen Induktion bilden. In der Regel glaubt man im Gegenteil, dafs diese Intuitionen schon das Resultat eines elementaren Schlusses sind, und so begreifen wir ebenso, wie wir ein Verh\u00e4ltnis zwischen zwei Vorg\u00e4ngen als Ursache und Wirkung auf stellen, vermittels des Experimentes, das uns zeigt, wie die Wirkung nicht auftritt und niemals auftreten kann, ohne durch eine Ursache bedingt zu werden, auch, dafs die sensorische Qualit\u00e4t im Sinnesorgan nur erscheinen kann, wenn die Ursache durch ein lebendiges Experiment, das uns dar\u00fcber Aufschlufs gibt, auf dasselbe wirkt. Daher glauben wir an die intuitive Erfahrung wie durch ein inneres Zutrauen, ja\nwie mit logischer Sicherheit infolge einer sich aus den pr\u00e4exi-\n\u2022 \u2022\nstierenden Daten herleitenden \u00dcberlegung. Tats\u00e4chlich versichert uns das Bewufstsein, dafs das intuitive Bild nicht tr\u00fcgerisch ist, aber es tut das nicht in Form eines Orakels, sondern so, wie es uns versichert, dafs 5 m l\u00e4nger ist wie 3, oder die Richtigkeit des archimedischen Prinzipes und des Hebelgesetzes, d. h. auf Grund logischer Vorg\u00e4nge, die uns zu dieser \u00dcberlegung und keiner anderen zwingen. Die Erfahrung ist nicht urspr\u00fcnglich im Geiste gegeben. Bei der Beziehung des einfachsten Eindruckes auf seine Ursache schliefsen wir, dafs diese sensorische Wirkung durch diese Ursache bedingt ist. Die Frage ist, wie dieser Schlufs gezogen wird. Damit versichern wir das Bestehen einer Beziehung zwischen dem Sinneseindruck und der ihn bestimmenden \u00e4ufseren Sache und wir versichern es auf Grund unserer Kenntnis. Zu erforschen ist, wie wir das wissen und warum wir dieser Erkenntnis den Wert einer \u00e4ufseren Erfahrung beilegen.","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n393\nStellen wir eine Erfahrung auf und sagen : der Zinnober ist rot. Womit begr\u00fcnden wir das ? Man sagt, dafs mehrmals eine bestimmte Sache auf die Retina eingewirkt und im Verstand eine deutliche Spur der Farbe genannten Sache hinterlassen hat und das, so f\u00fcgt man hinzu, bildet die Erfahrung der Zinnoberfarbe. F\u00fcr uns besteht die Erfahrung der Zinnoberfarbe sonst nicht in ihrer Wirkung auf das Sehorgan, sondern nur in der Erkenntnis der Wirkung, die eine gewisse Sache, die bei genauer Betrachtung durch das motorische Experiment eine rote Farbe von besonderer Nuance hervorruft. Mehrmals wurde die Retina mit einem bestimmten Vorgang, dessen physiologische Wirkung in ihr und durch sie entsteht, beeinflufst und doch erhielten wir keine Kenntnis, wreil dieser von aufsen nach innen ablaufende Vorgang keine Erfahrung war, die uns die Anwesenheit seiner Ursache anzeigt. Der Kreis dieser Erfahrungen wird erst er\u00f6ffnet, w^enn wir von innen nach aufsen durch die Gesichtsakkomodation den Standpunkt der das Gef\u00fchl so beeinflussenden Sache festgelegt haben und in diesem Augenblick bildet sich im Geiste die Voraussicht, dafs jedesmal, -wenn sich die Retina unter der Wirkung dieser Ursache befindet, in ihr eine rote Farbe besonderer Nuance auftauchen wird. Das nennen wdr Erfahrung, weil es uns erlaubt, die in der Retina zu erwartenden Vorg\u00e4nge jedesmal vorauszusehen, wenn dieser \u00e4ufsere Vorgang auf sie wirkt, ebenso wie die hydrostatische Erfahrung des Archimedes voraussehen l\u00e4fst, was mit dem in eine Fl\u00fcssigkeit eingetauchten K\u00f6rper werden wird. Selbstverst\u00e4ndlich w\u00e4re es uns niemals eingefallen, wenn die sensorische Wirkung nicht hervorgetreten w\u00e4re, diese bedingende Ursache genau zu betrachten. Nachdem wir dies aber einmal getan haben, hat sich im Geiste die Voraussicht eines m\u00f6glichen Effektes gebidet, weil wir die Wirkung als ein Mittel zur Erkenntnis ihrer Ursache aufgefafst haben. Nachdem diese Kenntnis einmal erworben worden ist, erweckt ein vollkommen unvorhergesehener Farbeneindruck auf der Retina, das, was wir mit dem lebendigen Erinnerungszeichen dieser Ursache Zinnober nennen. Besteht nun die Erfahrung in der Auffassung dieser sensorischen Eigenschaft, in diesem auf die Sinne wirkenden besonderen Eindruck? Nein. Die Erfahrung besteht in dem pers\u00f6nlichen Vorgang, der im Geiste die Folge voraussieht und in seinem Erscheinen das Signal oder das Zeichen seiner Anwesenheit erblickt. Wie wir beim Entdecken einer","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nR. Turr\u00f4.\nFlagge an einer Barke auf hoher See sagen: diese Barke ist spanisch, so sagen wir beim Wiedererscheinen einer gewissen Farbe vor unseren Augen : das ist Zinnober. Mit dem Pronomen das bezeichnen wir nicht das Bild, sondern seine Bedingung, die Ursache, die uns ja schon durch dieses Zeichen bekannt ist. Nun k\u00f6nnte man sagen, dafs der eine Fall nicht dem anderen gleicht, weil die Farben der spanischen Flagge auf einem \u00dcbereinkommen beruhen, w\u00e4hrend der Zinnober, ohne die Notwendigkeit eines vorhergehenden Konsensus auf uns wirkt. Wir erkennen diesen K\u00f6rper nicht als eine rote Farbe, bis wir diese Farbe als das Kennzeichen seiner \u00e4ufseren Wirklichkeit aufge-fafst haben. Der Rotblinde, der ihn in einem dunklen Gelb sieht, erkennt ihn ebenso, wie wir, obwohl sein Kennzeichen f\u00fcr ihn qualitativ von dem unsrigen verschieden ist. Es gen\u00fcgt f\u00fcr ihn das Erinnerungsbild, dafs er das, was wir rot sehen, gelb sieht, um es uns auf unsere Bitten ohne Schwanken und T\u00e4uschung zu bringen, weil es eben keine Farbe ist. Von Wichtigkeit ist, was diese Farbe f\u00fcr ihn und uns darstellt. Es ist sehr wohl m\u00f6glich, dafs die Farbe, unter der wir uns den Zinnober vorstellen, nicht von zwei Leuten gleich gesehen wird. Es ist sehr wohl m\u00f6glich, dafs wir, wenn wir unsere Retina mit der anderer vertauschen k\u00f6nnten, wir grofse \u00dcberraschungen erleben w\u00fcrden. Aber setzen wir auch das voraus, was k\u00f6nnte das f\u00fcr einen Ein-flufs aus\u00fcben? So lange die von den \u00e4ufseren Gegenst\u00e4nden auf der Retina bedingten Farben die gleichen geblieben wT\u00e4ren, w\u00fcrden wir doch die Anwesenheit der gleichen K\u00f6rper durch die intellektiv \u00fcbereinstimmenden, wenn auch in ihrer Eigenschaft variierenden Zeichen erkennen. Was heifst das anders, als wenn man im Deutschen \u201eMensch\u201c sagt und im Spanischen \u201ehombre\u201c, wenn nur die Absicht die gleiche ist, das was wir mit diesem Worte ausdr\u00fccken wollen.\nBei der Auseinandersetzung der Urspr\u00fcnge der Erkenntnis vom Wirklichen haben wir den Mechanismus beschrieben, mittels dessen die Empfindungsbilder als das Symbol des zu erwartenden trophischen Effektes angesehen werden und durch den die Kenntnis des kommenden Erfolges vorweggenommen wird. Die Wurzeln dieser Voraussicht sind empirische unter der Voraussetzung, dafs, wenn der trophische Sinn sich erinnert, dafs das Bed\u00fcrfnis nach Wasser durch Einf\u00fchrung dieser Fl\u00fcssigkeit gedeckt wird, dies durch eine hundertf\u00e4ltige Erfahrung vor sich geht, und","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n395\nwenn man erkennt, dafs das den Durst Stillende von uns unter der Form des Wassers vorgestellt wird, so geschieht das, weil wir diese Empfindungsformen als Zeichen des Fehlenden auffassen. In der \u00e4ufseren Erfahrung haben wir versucht, mit Hilfe der psychomotorischen Innervation der Ursache des Bildes nachzugehen und, nachdem wir dies erforscht haben, wissen wir, wann es wiedererscheinen wird, und wenn es unerwartet erscheint, so wissen wir doch, was es hervorgerufen hat. Ebenso wie also die Bilder, mit denen man die Anwesenheit der Nahrung entdeckt, nicht diese selbst, sondern leere Zeichen sind, so ist in der \u00e4ufseren Erfahrung das Bild nicht die Repr\u00e4sentation der Ursache, sondern das Zeichen, durch das uns ihre An- oder Abwesenheit angezeigt wird.\nDas ist nicht der \u00fcbliche Sinn des Wortes Erfahrung. Zu hunderten Malen hat der Zinnober auf die Retina gewirkt und dieser \u00e4ufsere Vorgang, so sagt man, bildet die Erfahrung seiner Farbe. Jedesmal, wenn man einen \u00e4hnlichen Eindruck empf\u00e4ngt, wiederholt sich die gleiche empirische Erfahrung und aus diesem Grunde schliefsen wir, dafs alle diese Farben dem Zinnober eigent\u00fcmlich sind. In der eben auseinandergesetzten Auffassung vom Ursprung der Erfahrung besteht diese schon angeboren im Verstand und das Wesen kann sie als ein urspr\u00fcngliches, durch eine \u00e4ufsere Sache veranlafstes, Ph\u00e4nomen hinnehmen. Der logische Wert dieser Erfahrung beruht nur auf den gesehenen F\u00e4llen. Und wenn wir uns vorstellen, dafs sie auf neue sich darbietende F\u00e4lle ausgedehnt werden kann, so geschieht das aus-sehliefslich, weil wir empfinden, dafs wir, immer wenn sie uns in gleicher Weise beeinflussen, auch die gleichen Erfahrungsschl\u00fcsse ziehen m\u00fcssen. Auf diese Weise entsteht im Geiste die Vorstellung, und diese Repr\u00e4sentation geh\u00f6rt zu der dargestellten Sache, da eine vollst\u00e4ndige \u00dcbereinstimmung zwischen beiden existiert. Lange Zeit war man der Ansicht, dafs diese \u00dcbereinstimmung die gleiche w\u00e4re, wie die zwischen Bild und Abbild, zwischen Echo und Ton, eine Meinung, die noch heute in vielen grofsen Geistern spukt. Heute pflegen wir diese \u00dcbereinstimmung als eine Repr\u00e4sentation in Parallele zum dargesellten Gegenst\u00e4nde aufzufassen, als ob in der Aufsenwelt ebensoviele Sachen wie Obj ekte existierten, wenn wir diesem letzten Wort einen rein darstellenden Sinn geben.\nSehen wir von der Beobachtung ab, die uns lehrt, dafs das","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nR. Turr\u00f4.\nintuitive Bild nicht durch die Tatsache seines Bestehens eine wirkliche Erfahrung formt (ein Vorschlag, den ich nie unterschreiben w\u00fcrde, weil wir unter diesen Bedingungen allen Sinnest\u00e4uschungen objektiven Wert zuerkennen m\u00fcfsten), und abgesehen auch von dem, was uns lehrt, dafs die Erfahrung nicht entsteht, sondern besteht, m\u00fcssen wir bei der Erforschung der Natur der \u00e4ufseren Erfahrung erkennen, dafs es nicht sicher ist, ob sie uns als die einfache Wiederholung der gleichen Eindr\u00fccke gegeben ist. Wenn wir versichern, dafs der Zinnober auf die Retina immer in gleicher Weise wirkt und dafs wir aus diesem Grunde die Farbe erkennen, so merken wir nicht, dafs wdr dieser Farbe einen Wert beilegen, der den von uns einer rein empirischen Erfahrung beigelegten Wert weit \u00fcbersteigt. Alle Menschen sind sich dar\u00fcber einig, dafs wir den Zinnober nicht wegen eines wiederholten Eindrucks auf die Retina erkennen, sondern wegen der Zwangsl\u00e4ufigkeit dieses Eindruckes. Seine Farbe hat f\u00fcr uns den Wert eines Wortes; so wie wir mit dem Wort \u201eMensch\u201c nicht diesen oder jenen, sondern alle in der Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft m\u00f6glichen Menschen bezeichnen wollen, so bezeichnen wir mit dieser Farbe nicht die Wirkung dieses Zinnobers, sondern alle m\u00f6glichen Zinnober, weil im Geiste die Voraussicht der Wirkung besteht, die den jenen bedingenden Vorgang hervorruft, und diese Voraussicht ist eine generelle, weil sie als die Erkenntnis dieses Vorganges, d. h. als ein Kennzeichen auftritt. Das Kind, das Wasser nur bei sich zu Hause gesehen hat, erkennt es auch im Nachbarhaus, in der Quelle, in seinem Vaterlande wie in China. Beim Eintauchen der Hand entsteht das Gef\u00fchl seiner Durchdringlichkeit, beim Ansehen sein Gesichtsbild, und diese Durchdringlichkeit und das Gesichtsbild waren wie der Ton beim Draufschlagen, sein W\u00e4rmezustand usw. Zeichen, aus denen sich die Erfahrung des Wassers bildet und zwar nicht die dessen in seinem Hause allein, sondern die jeden Wassers, das die gleichen Eindr\u00fccke hervorrufen kann. So m\u00fcssen wir auf die Frage, was das Kind unter Wasser versteht, sagen, dafs diese Erkenntnis sich aus dem Gef\u00fchls-, W\u00e4rme-, Gesichtsbild usw. zusammensetzt, d. h. aus einer Vorstellung, oder vielmehr aus der Erkenntnis der Wirkung, die eine bestimmte Sache hervorzurufen hat, welche bei dynamischer Ber\u00fchrung sich als leicht durchdringlich, im W\u00e4rmesinn als frisch, vor den Augen mit einem bestimmten Gesichtsbild zeigt. Die","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n397\nlebhafte Voraussicht der gleichzeitig oder aufeinanderfolgend in den Sinnen zu verursachenden Wirkungen, das nennen wir Wasser. Daran erkennen wir es, wenn wir es zu finden w\u00fcnschen, weil wir wissen, dafs jedes einzelne dieser Bilder das Kennzeichen eines \u00e4ufseren Vorganges ist. Wir sagen also nicht, dafs die Kenntnis des Wassers eine innere Vorstellung ist, die einer \u00e4ufseren Sache parallel geht. Ein solcher Parallelismus zwischen innen und aufsen hat nur den formellen und unbestimmten Wert eines Traumes. Die Verbindung zwischen innen und aufsen ist fester und tiefer. Jedes einzelne der Vorstellungsbilder des Wassers ist das Zeichen, durch das wir uns innerlich den \u00e4ufseren Vorgang \u00fcbersetzen und aus diesem Grunde betrachten wir den Gegenstand als die M\u00f6glichkeit, immer die gleichen Wirkungen auf die Sinnesorgane hervorzurufen. Hieraus sieht man, dafs f\u00fcr uns das Wasser nicht eine Vielheit von Bildern darstellt, sondern das, was wir als die Ursache derselben betrachten, da die Grundlagen dieser Bezeichnung so fest verkn\u00fcpft sind, dafs im Falle dieses Band reifst, die Darstellung nur als ein im Leeren schwankender Schatten \u00fcbrig bleibt.\nDer Chemiker, der \u00fcber einen K\u00f6rper Experimente anstellt, und der Physiker, der die Bedingungen eines Vorganges festlegt, verfahren ebenso wie das Kind, wenn es das Wasser erkennt. Keiner von beiden ist der Meinung, dafs das, was sie beim Zerlegen des Salzes, oder beim Brechen des Lichtes entdecken, sich einzig und ausschliefslich auf das in Arbeit befindliche Salz oder Licht bezieht. Die Bilder, unter denen sie sich diese K\u00f6rper vorstellen oder die Ablenkung des Lichtes, besitzen f\u00fcr sie nicht einen empirischen, sondern einen universellen Wert, den logischen Wert des Zeichens einer \u00e4ufseren Handlung. Sie glauben nicht, dafs das Salz oder die Ablenkung des Lichtes die einfache innere Vorstellung einer ihr parallelen \u00e4ufseren Wirklichkeit ist. Sie besitzen vielmehr eine klare Intuition, dafs die Sinnesorgane immer bei der Wirkung auf diese \u00e4ufsere Realit\u00e4t in anderer Weise Eindr\u00fccke erhalten und aus diesem Grunde besch\u00e4ftigen\nsie sich mit der Erforschung der Kennzeichen der Salzkompo-\n\u2022 \u2022\nnenten und des Lichtdurchganges durch gew\u00f6hnliches Ol, Baum-woll\u00f6l usw., weil sie ihr Ideal darin suchen, die in den Sinnesorganen zu erwartenden Wirkungen immer vorauszusehen und so den Sprachschatz ihres Inneren, durch den sie die Vorg\u00e4nge oder \u00e4ufseren Ursachen erkennen, zu bereichern.","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nR. Turn).\nWir unterliegen einer subjektiven T\u00e4uschung, wenn wir annehmen, dafs unsere Vorstellungen von der Aufsenwelt zu den Gegenst\u00e4nden, die wir uns an ihrer Statt vorstellen, parallel gehen. Das Objekt, so wie es unser Geist auffafst, ist nur die Voraussicht der zu verursachenden sensorischen Wirkung. Sagt man, der Honig ist die gemeinsame Darstellung einer bestimmten Farbe, Geruchs und Geschmackes, so ist das nicht genau. Der Honig ist f\u00fcr uns die Voraussicht oder die notwendige M\u00f6glichkeit dessen, was in den Augen, im Munde, im Geruchssinn solche und keine anderen Eindr\u00fccke hervorzurufen hat. W\u00fcrde es diese nicht hervorrufen, m\u00fcfsten wir sagen, es w\u00e4re kein Honig. Worauf gr\u00fcndet sich dieses so abgeschlossene und absolute Urteil? Auf die motorische Erfahrung, die durch die Gesichtsrichtungen einen bestimmten Farbeneindruck, im Munde einen gewissen Geschmack, in der Nase einen Geruch durch anderweitige Bewegungen hervorgerufen hat, \u00fcber die wir willk\u00fcrlich verf\u00fcgen. Diese Eindr\u00fccke w\u00e4ren nicht erschienen, h\u00e4tte nicht etwas auf unsere Sinne gewirkt. Aber wir w\u00fcrden nicht wissen, dafs dieses etwTas aus den Wirkungen hervorgegangen ist, h\u00e4tten wir nicht durch die Erfahrung seinen Standpunkt vorher fixiert. Tritt die Wirkung ein? Dann sagen wir, das ist das Zeichen dessen, was sie hervorruft. Wenn sie nun aber nicht eintritt? Dann war es auch nicht das, wTas sie hervorrief. Was stellt nun f\u00fcr uns dieser Honig genannte Gegenstand dar? Eine reine M\u00f6glichkeit. Wir kennen ihn durch drei Erfahrungen. Nehmen wir an, dafs eine von ihnen das Gesicht uns die Anwesenheit dieses K\u00f6rpers verr\u00e4t, so haben wir nicht mehr n\u00f6tig, ihn an den Mund zu bringen oder uns durch den Geruch zu versichern, welchen Eindruck er auf uns hervorbringen mufs, ja nicht einmal die Notwendigkeit, uns ihrer in actu zu erinnern. Im Geiste besteht das feste Erinnerungsbild, das uns klar die in diesen Sinnen auftretenden Erscheinungen anzeigt, bevor sie in Wirklichkeit folgen, und dieses in der motorischen Sensibilit\u00e4t schwingende Erinnerungsbild ist als eine Voraussicht gegeben.\nEbenso haben wir gleichzeitig mit dem Anblick eines Tisches auch die Kenntnis seiner Widerstandsf\u00e4higkeit und der Temperatur, ohne ihn ber\u00fchren zu m\u00fcssen, seines Klanges, ohne ihn durch Klopfen zum T\u00f6nen bringen zu m\u00fcssen. Jene Hennen, von denen wir vorher gesprochen haben, die mit flatternden","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n399\nFl\u00fcgeln auf den t\u00f6nenden Topf zurennen, stellen sich in actu nicht die Bilder vor, die sie in diesem Raumabschnitt hervorzubringen haben. In ihrer Intelligenz, wie in der unserigen ist der Gegenstand als die Voraussicht der m\u00f6glichen Eindr\u00fccke gegeben, und in dem Augenblick ihres Wiedererscheinens erkennt man auch am Kennzeichen ihre Anwesenheit, als ob das Sinnesorgan das Stichwort ausgesprochen h\u00e4tte. Diese Voraussicht bringt den Eindruck hervor, obwohl es in diesem Augenblick oder an der Stelle, auf die das Bild projiziert wird, nicht liegt. So ist der im Horizont versinkende Stern oder besser, um das Gleichnis des Cenon zu benutzen, der vor den Augen vor\u00fcberfliegende Pfeil nicht wirklich an der Stelle, wo wir sie sehen; aber durch diese Bilder wissen wir, dafs ein Stern oder ein Pfeil vor\u00fcbergezogen sind, und diese Erfahrung ist eine sichere. W\u00fcrde die Erfahrung in der Vorstellung beruhen, so m\u00fcfsten wir mit dem griechischen Philosophen zugeben, dafs diese Erfahrungen falsch sind. Da wir aber mit dem AVorte nicht dieses bezeichnen wollen, sondern ausschliefslich die Voraussicht des EmpfindungsVorganges, so wissen wir aus dieser Erfahrung nicht nur, dafs eine Ursache bei unseren Augen vorbeigekommen ist, sondern auch, dafs diese Ursache nicht an der Stelle sich befindet, wo wir sie sehen. Dasselbe ist bei einer grofsen Anzahl astronomischer Erfahrungen der Fall. Das Auftreten eines Abganges zu berechnen in dem Augenblick, in dem er einzutreten hat, ist nicht das gleiche, wie den Augenblick festzulegen, in dem die Vorstellung gegeben sein mufs. Denn es kann leicht Vorkommen, dafs sie auf tritt, wenn die sie bedingende Ursache noch nicht auf den Sinn ein wirkt, obwohl unzweifelhaft in ihm\nbereits eine Spur davon gegeben ist.\nDas Objekt, oder die Aufsenwelt, die uns umgibt, ist f\u00fcr unsere Wahrnehmungsfunktionen dasselbe, wie das Ortsgef\u00fchl. Stellen wir uns einen in seinem Zimmer eingeschlossenen Blinden vor. Er besitzt das deutliche Bewufstsein des Raumes, in dem er sich befindet und in dem er sich fiei und ungezwungen bewegt, weil er weifs, wo das Bett, der Tisch, der AVaschtisch, die St\u00fchle, das Fenster, leere und besetzte Stellen sich befinden. Wenn er das Fenster zum L\u00fcften des Zimmers aufmachen will, so geht er auf dasselbe mit der gleichen Sicherheit zu, als wenn er es s\u00e4he, und wenn er rauchen will, so geht er ohne Schwanken an den Tisch, auf dem er seine Zigarren-","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nR. Turr\u00f4.\ntasche liegen gelassen hat. Wie erwirbt er die Kenntnis dieser kleinen Welt? Als man ihn eingesperrt hat, wufste er noch nichts von ihr. Er mufste es durch die Erfahrung lernen. Bei seinen Bewegungen stiefs er beispielsweise gegen die Wand und nahm diese nun als Ausgangspunkt, als ihm beim Seitw\u00e4rtsgehen nach rechts um zwei Schritte ein Hindernis in den Weg kam. Hier liegt eine erste Erkenntnis. Zu ihrer Aufstellung mufste er einen Ausgangspunkt nehmen und von ihm aus die Voraussicht erwerben, dafs es zwei Schritte nach rechts machen m\u00fcfste, um einen Ber\u00fchrungseindruck am Unterk\u00f6rper zu empfinden. Eine solche Voraussicht ist nur die Kenntnis einer Bewegung und des Zeitmafses, das zwischen ihrer Ausf\u00fchrung und dem Erscheinen der Ber\u00fchrungsempfindung zu verlaufen hat. Diese innerliche Messung wird \u00e4ufserlich als Entfernung \u00fcbertragen. Wo leitet sich diese erste Kenntnis her? Aus der motorischen Erfahrung. Die Voraussicht des \u00e4ufseren Punktes zu erwerben, wo in aufrechter Lage der Unterk\u00f6rper ber\u00fchrt wird, heifst zu wissen, dafs zum Wiedererscheinen des Ber\u00fchrungsbildes ein solcher Weg in solcher Richtung ausgef\u00fchrt werden mufs. Vermehren wir jetzt diese Erfahrung nach allen Richtungen hin, so wird durch diese langweilige Arbeit der genannte Blinde mit solcher Genauigkeit zu der Kenntnis kommen, wo der Tisch, das Fenster, die St\u00fchle usw. stehen, dafs er sich bewegen kann, wie er will und doch immer weifs, wo er sich befindet. Wissen, wo etwas ist, heifst, die Richtung und die Stelle kennen, an der die ihn umgebenden Gegenst\u00e4nde sich befinden. Aber die Richtung und die Stelle, an der sich diese Gegenst\u00e4nde befinden, heifst nicht, das Vorstellungsbild derselben besitzen, sondern die richtige Erkenntnis, wie man sich bewegen mufs, um allm\u00e4hlich ihr Bild in den Gef\u00fchlen entstehen zu lassen. Das Fenster, das Waschbecken, die St\u00fchle und das Bett sind f\u00fcr den Blinden keine tats\u00e4chlichen Vorstellungen, sondern einfach die dauernde M\u00f6glichkeit, den Ber\u00fchrungseindruck an dieser Stelle vorauszuwissen. Trennen wir diesen Eindruck von der motorischen Erfahrung, so ber\u00fchrt der Blinde das Fenster, ohne zu wissen, wo es sich befindet, wreil ihm die Voraussicht des Ortes fehlt. Setzen wir aber voraus, dafs diese Erinnerung im Bewufstsein existiert, so gen\u00fcgt die Ber\u00fchrung des Fensters zu seiner Wiedererkennung und damit auch zur sukzessiven Anordnung der \u00fcbrigen K\u00f6rper, aus denen sich seine kleine Welt zusammensetzt. Stellt man ihn in die","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n401\nMitte des Zimmers, so besitzt er, obwohl er von der Aufsenwelt nur die von seiner Fufssohle ausgehenden Eindr\u00fccke erh\u00e4lt, das volle Bewufstsein der eingenommenen \u00d6rtlichkeit, weil dieser Ort mit seiner Umgebung in Beziehung steht. W\u00e4re er pl\u00f6tzlich, w\u00e4hrend er auf seinen F\u00fcfsen steht, von einer Amnesie f\u00fcr die Aufstellung der Gegenst\u00e4nde befallen, so h\u00e4tte er die Kenntnis, dafs er sich irgendwo befindet, ohne zu wissen, wo, weil ein Punkt im Raume immer eine unbekannte und erst zu kl\u00e4rende Angelegenheit ist, solange man ihn noch nicht mit anderen Punkten in Verbindung gebracht hat. Fragen wir uns also, warum diese Punkte uns unbekannt sind, so erkennen wir, dafs das an unserer Unkenntnis der Vorg\u00e4nge liegt, damit in ihnen der Sinneseindruck auftritt. Die F\u00e4higkeit, ihn hervorzurufen, setzt die Erkenntnis der Gegenst\u00e4nde zusammen. Aus alledem kann man ableiten, dafs der Blinde das d\u00fcrftige Gef\u00e4ngnis, in das man ihn gesetzt hat, nicht insoweit erkennt, als er sich es vorstellt, sondern, soweit er sich f\u00e4hig f\u00fchlt, es sich vorzustellen.\nSo liegt im Verstand die Erkenntnis des Gegenstandes. Im Gef\u00fchl der Gesichts-, Geh\u00f6rs- und Geruchsrichtungen ist das Bild nicht gegeben. Gegeben ist die motorische Bedingung, durch die wir wissen, dafs in dem Punkte, wo das Bild entsteht, die bedingende Ursache liegt. Wir suchen am Himmel einen Stern, und wenn wir klarstellen wollen, was wir mit diesem Worte zu bezeichnen w\u00fcnschen, merken wir, dafs Suchen einen Situationsplan entwerfen bedeutet. Die Stelle dieses Ortes festlegen, heifst seinerseits eine direkte Beziehung zwischen dem Stern und der Retina, auf die er zu wirken hat, aufstellen. Nach Festlegung dieser Beziehung werden wir nicht mehr sagen, dafs die Erkenntnis des Sternes sich aus dem Vorstellungsbilde herleitet und dieses die Erfahrung zusammensetzt, weil die Erfahrung sich offenkundig aus diesem inneren eine Beziehung zwischen den Stern und dem Gesichtseindruck festsetzenden Vorgang herleitet. Unterdr\u00fccken wir diesen Vorgang, so wissen wir auch nicht, wo er ist, und nicht wissen, wo er ist, heifst die Unkenntnis, dafs am Firmament ein K\u00f6rper strahlt, den wir nicht unterschiedlich kennen. Geben wir aber dem Worte Erfahrung seinen logischen Wert, so w\u00fcnschen wir offenbar damit die F\u00e4higkeit der Person auszudr\u00fccken, einen schon gekannten Gesichtseindruck zu bestimmen. Ebenso zieht den Hund auf der F\u00e4hrte die verlorene","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nB. Turr\u00f4.\nSpur an. Findet er sie, so h\u00e4lt er an dem Geruchseindruck fest und bestimmt die Richtung, aus der der Geruch herkommt, in der festen \u00dcberzeugung, dafs er in ihr auf das Kaninchen stofsen wird, das diesen Weg entlanggelaufen ist. Was ist diese Richtung oder Linie, die kreuz und quer, gerade, unterbrochen oder bogenf\u00f6rmig durch den Raum zieht, mehr, als die motorische Voraussicht des Ortes, an dem der Eindruck gegeben ist. Der Hund weifs, dafs der Eindruck in dieser Linie und keiner anderen entsteht, ebenso wie wir wissen, wo der Stern sich befindet. Kraft vieler motorischer Versuche hat er den Plan der Spur festgelegt und die Erinnerung an diese lebhaften Erfahrungen orientiert ihn nach der Ursache hin, bis er das in der Luft oder im Boden an seiner Fufsspur gewitterte Kaninchen findet. Zwischen der eindrucksf\u00e4higen Ursache und dem empfangenen Eindruck eine Beziehung aufstellen, heifst \u00e4ufsere Erfahrung sammeln und aus diesem Grunde weifs der Hund nicht, dafs das Kaninchen existiert, indem er es sich am Geruch vorstellt. Ganz im Gegenteil, er benutzt diesen Geruch als Mittel, um in der \u00e4ufseren Welt das, w^as den Geruchssinn so beein-flufst, festzustellen.\nFassen wir zusammen : Von dem Moment an, wo wir die Erfahrung als das Resultat einer Reaktion des Wesens auf die seine Gef\u00fchle beeinflussende Ursache auffassen und zwischen dieser und jener eine Beziehung experimenteller Natur auf stellen, ist die Vorstellung, die wir uns von dem Gegenstand bilden, verschieden von der, die wir uns mittels der sogenannten empirischen, rein repr\u00e4sentativen, Erfahrung gebildet haben. Nach unserer Fragestellung lehren uns die Sinne gar nichts. Ihre Reaktionen sind den photochemischen Reaktionen der lichtempfindlichen Platte vergleichbar. Die Funktionen der sensorischen Zentren w\u00fcrden ewig unwissend bleiben, blieben sie von dem Gebiete der psychomotorischen Innervation isoliert. Aber diese Isolierung existiert nicht. Beide Funktionen h\u00e4ngen zusammen und kr\u00e4ftigen sich gegenseitig und von diesem Augenblick an erwirbt man die F\u00e4higkeit, sichere und bestimmte Eindr\u00fccke hervorzurufen. Diese Eindr\u00fccke sind gleicher Art, wie die fr\u00fcher erschienenen, als sie noch nicht hervorgerufen wurden. Daher ist es begreiflich, dafs die F\u00e4higkeit, den Sinn seiner nat\u00fcrlichen Erregung anzupassen, die psychologischen Eigenschaften der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4ten nicht \u00e4ndert. Auch wenn das der Fall","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n403\nw\u00e4re, w\u00fcrde blofs durch die Anpassung der Sinne an seinen Reizk\u00f6rper ein oder der andere Eindruck je nach der Ursache, an die adaptiert wird, erscheinen und dann bildet sich eben die Erfahrung. Bei ihrer Auffassung verf\u00e4hrt das Wesen, als wenn es folgendermafsen \u00fcberlegte : \u201eIch habe w\u00e4hrend einer grofsen Anzahl Versuche einen s\u00fcfsen Geschmack im Munde versp\u00fcrt, wenn ich einen bestimmten K\u00f6rper herangebracht habe, ohne dafs ich diesen K\u00f6rper, der auf den Mund seine Erfolge \u00fcbertrug als die Ursache dieses Geschmackes erkannt h\u00e4tte. Nachdem ich aber festgestellt hatte, dafs dieser Geschmack nicht von selbst erscheint und dafs zur Befriedigung meiner W\u00fcnsche derselbe Vorgang n\u00f6tig ist, der beim Zustandekommen des Geschmackes vorlag, ohne dafs ich geahnt h\u00e4tte wie, sage ich, dafs zur Wiederhervorrufung dieser Empfindung der betreffende K\u00f6rper an den Mund gebracht werden mufs.\u201c Mit der Wiederholung der gleichen Vorg\u00e4nge sieht sich die Person einem unterschiedlichen Bild rein innerer Natur gegen\u00fcber, von dem sie bis zum gegebenen Augenblick nicht geahnt hat, dafs es durch ein \u00e4ufseres Agens bestimmt w\u00fcrde. Wenn aber der Wunsch auf-tritt, das wiedererscheinen zu lassen (wir sehen jetzt davon ab, trophische oder andere Antezedentien f\u00fcr das Hervorrufen zu suchen), so verf\u00fcgt es zu diesem Zweck \u00fcber kein anderes Hilfsmittel als die Bewegung, und in dem trophischen Zentren formen sich aus diesem Grunde Antriebe, als deren Resultat das, was jenen hervorzurufen hat, an den Mund gebracht wird. Das, was diese sensorische Reaktion bedingt, heifst Objekt. Die Reaktion, die die Anwesenheit dieses Objektes anzeigt, heifst Bild. Durch diese (schematische oder alle \u00e4ufseren m\u00f6glichen Erfahrungen darstellende) Erfahrung wird das Objekt als die Ursache des Bildes bis zu dem Grade angesehen, dafs man sein Bestehen unabh\u00e4ngig vom Bilde selbst auffafst und aus diesem Grunde jedesmal, wenn man es hervorzubringen w\u00fcnscht, keines anderen Hilfsmittels bedarf, als es zum Munde zu bringen. Es hat also dieses Objekt keinen anderen logischen Wert, als die F\u00e4higkeit, eine rein innere Wirkung wieder hervorzubringen, d. h. den einer M\u00f6glichkeit. Legen wir jetzt den logischen Wert eines sensorischen Effektes klar. Dieser Effekt ist die Folge einer Ursache , das was auf diese Handlung eintritt. Solange er im Sinne gegeben war, ohne dafs durch die Bewegung die Erkenntnis erworben worden war, was ihn hervorbrachte, wufste die\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t26","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nR. Turr\u00f4.\nPerson nicht, was ein Effekt ist. Er erschien und verschwand, ohne dafs sie ahnte wie. Sowie sie aber merkte, dafs er nicht spontan auftrat, sondern, dafs sein Erscheinen die Gegenwart eines Vorganges in sich schlofs, begriff sie, dafs dieser Effekt das Signal f\u00fcr die Anwesenheit dieses Vorganges war. Dieses Signal, das der Person die Wirkung eines Vorganges auf seine Sinne kundtut, besitzt den logischen Wert eines Zeichens. Ebenso, wie uns das Erklingen der T\u00fcrglocke die Ankunft eines Besuches anzeigt, so k\u00fcndigt uns der Empfindungseindruck die Gegenwart eines \u00e4ufseren Vorganges an. Wie uns aber die Glocke nichts verk\u00fcndet, solange nicht zwischen diesem Klang und der an ihr ziehenden Person eine Verbindung hergestellt worden ist, so sagt uns auch das Empfindungsbild nichts, so lange zwischen ihm und der bedingenden \u00e4ufseren Ursache die Beziehung fehlt. Ein Zeichen ist nach Helmholtz, wohl\u00fcberlegtem Ausspruch nur dann ein solches, wenn man es auszulegen versteht.\nMan sieht hieraus, welcher Natur die wahrnehmende Erkenntnis in Wirklichkeit ist. Wir leben inmitten der Wirklichkeit. Das Wirkliche beeinflufst uns und verursacht Wirkungen in unserem Organismus, ohne dafs wir von ihnen etwas w\u00fcfsten, wenn wir sie nicht voraussehen k\u00f6nnten. Wir w\u00e4ren dann wie der Fufs des Berges, den der Regen peitscht und der die Hitze wiederstrahlt, wenn dieser Fufs den Druck und die K\u00e4lte des Regens und die Wirkung der Hitze f\u00fchlte. Zweifellos ist uns die Bewegung so gegeben, dafs wir ihre Wirkungen voraussehen k\u00f6nnen, wie sie von der uns umgebenden Wirklichkeit in den Sinnen ausge\u00fcbt wird und diese Voraussicht dessen, was zu folgen hat, ist das, was wir Ursache nennen, w\u00e4hrend wir die vorausgesehenen Effekte als innere Bilder bezeichnen. Wir brauchen nur die Ursache mit ihrer Wirkung zusammenzuwerfen. Die Ursache besteht als die ewige M\u00f6glichkeit des sensorischen Effektes fort, und diese M\u00f6glichkeit nennen wir Objekt, weil uns durch ein System von Signalen und Zeichen, die durch eine innere Sprache in m\u00fchsamer Arbeit ausgebildet sind, das bekannt ist, was uns unvermittelt die Kenntnis des uns Beeinflussenden gew\u00e4hrt, und so k\u00f6nnen wir sagen, diese S\u00fcfsigkeit ist Honig, diese Farbe ist eine Eigenschaft des Zinnobers, dieser Ton eine der Glocke. Wenn wir so sprechen, begreifen wir, dafs diese Bilder innere Worte sind, welche uns die jeweilige Handlung dessen,","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n405\nwas sie verursacht, \u00fcbermitteln, und wie jedes von ihnen diesen Vorgang kundtut, so spricht die Wirklichkeit mit lauter Stimme zu uns, sobald sie auf unsere Sinne einwirkt und die Zeichen hervorruft, mit denen wir unsere Kenntnis erwerben. Daher kommt es, dafs die wahrnehmende Erkenntnis, statt formaler Natur zu sein, den Ausdruck des von der Wirklichkeit auf die Sinne ausge\u00fcbten Vorganges darstellt und, wenn alle Tiere der Sch\u00f6pfung reflexiv oder irreflexiv dies glauben, so geschieht das nicht, weil die motorische Untersuchung dem zustimmt oder niemand an diesem Punkte zweifelt. Aus dieser Untersuchung entsteht jene innere Stimme (wie aus der akustischen Schwingung der Ton kommt), die uns einredet, dafs das Bild immer nach unserem Willen wiedererscheinen k\u00f6nne, wenn der Sinn der bedingenden Ursache angepafst und im Bewufstsein diese Voraussicht vorhanden ist, aus der das Bild als Zeichen des erwarteten Vorganges abgeleitet wird.\nWir verstehen nicht die Natur der pr\u00e4formiert wahrnehmenden Erkenntnis in dieser Weise. Trotzdem l\u00e4fst jene Theorie den \u00e4ufseren Vorgang als Ursache des Bildes zu. Aber dieses Bild entsteht in exzentrischer oder intuitiver Weise aus seiner Ursache im Bewufstsein. Das Ph\u00e4nomen erkl\u00e4rt sich metaphysisch entweder durch das Dazwischentreten eines Dinges, das kein Ph\u00e4nomen ist, oder einer Bedingung. Aber der Empirismus versucht in weiser M\u00e4fsigung nicht, es zu erkl\u00e4ren, sondern nimmt es als Ausgangspunkt von der Art einer nicht zur\u00fcck-f\u00fchrbaren Tatsache. Nehmen wir diese Tatsache hin, so wissen wir nicht gewifs, was der logische Wert der sensiblen Intuition sein kann, d. h. wir wissen nicht, was wir durch sie von der Aufsen-welt begreifen, weil wir von dem induktiven Vorgang absehen, aus dem sich die Einsicht herleitet. Wir stellen uns dann vor, dafs das Bild die Repr\u00e4sentation des \u00e4ufseren Dinges ist. Wir urteilen, dafs die Person auf die \u00e4ufseren Dinge in paralleler Weise durch Bilder antwortet und nehmen an, ohne uns um die Erkl\u00e4rung dieser Annahme zu k\u00fcmmern, dafs sie diesen Sachen entsprechen. Entsprechen sie ihnen gut, so sagen wir, dafs zwischen dem Bilde und seinem Objekt eine \u00dcbereinstimmung besteht (Adaequatio rei) und wenn sie ihm schlecht entsprechen, so schliefsen wir, dafs die Erfahrung falsch war. So versteht man unter Wahrnehmungsfunktion die F\u00e4higkeit, die uns zur Vorstellung der \u00e4ufseren Dinge gegeben ist.\n26*","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nJJ. Turr\u00e2.\nUntersuchen wir nach Festlegung dieser Grundbegriffe die Frage ruhig, so m\u00fcssen wir zugeben, dafs wir nicht wissen, was wir mit dem Wort Repr\u00e4sentation sagen wollen. Dieser Ausdruck ist ein rein formeller und inhaltloser. Wenn ich eine Figur zeichne oder male, so kann ich das Abbild mit dem Original vergleichen und feststellen, ob es mit ihm \u00fcbereinstimmt, oder nicht. Nur unter diesen Bedingungen kann man versichern, ob es eine gute oder schlechte Darstellung des Originales ist. Ebenso kann man die \u00dcbereinstimmung oder Unstimmigkeit zweier T\u00f6ne vergleichen, zweier Farben oder zweier Geschmacks-Empfindungen. Aber welche \u00dcbereinstimmung oder Unstimmigkeit kann zwischen dem Gesichtsbild und der Ursache bestehen, wenn die Ursache weder Licht noch Form ist, welcher Vergleich kann zwischen dem Geschmack des Salzes und dem Salz selbst aufgestellt werden, wenn das Salz nicht salzig ist? Was will man also mit dem Wort \u201eVorstellung\u201c sagen? Niemand hat versucht, das auseinanderzusetzen, niemand hat sich bem\u00fcht, diesen Begriff zu kl\u00e4ren. Man bezeichnet mit ihm eine unzweifelhafte Tatsache, und dafs eine Beziehung zwischen dem Bild und seiner Ursache besteht. Welcher Natur ist diese Beziehung? Gerade dieser Punkt ist nicht erforscht, und gerade weil man das unterlassen hat, so verf\u00fchrt uns der Glaube zu der Annahme, wir k\u00f6nnten die Aufsenwelt durch Vorstellungen erkennen, die in paralleler Weise im Sakrament des Bewufstseins die intellektive Kraft aufblitzen l\u00e4fst. Die \u00e4ufsere Welt erkennen heifst, sie sich vorstellen k\u00f6nnen, und um sie sich vorstellen zu k\u00f6nnen, haben wir den Verstand . . . Stellen wir aber das Problem in seinen wirklichen experimentellen Ausdr\u00fccken wieder auf, so vermuten wir, dafs dieser Begriffsmodus der Erkenntnis tr\u00fcgerisch ist. Der Verstand ist uns nicht gegeben, um die \u00e4ufseren Dinge durch die innere und parallele Vorstellung zu erkennen. Der Verstand ist uns Tieren ausschliefslich als Mittel zur Voraussicht der Vorg\u00e4nge, die diese \u00e4ufseren Dinge auf die Gef\u00fchle aus\u00fcben sollen, gegeben und zu nichts anderem. Wir tr\u00e4umen, wenn wir uns vorstellen, wir kennten die \u00e4ufseren Dinge durch die Vorstellung, die wir uns von ihnen im Geiste machen. Wir tr\u00e4umen, wenn wir glauben, dafs die Dinge der \u00e4ufseren Welt Gegenst\u00fccke zu unseren Vorstellungen sind. Wir tr\u00e4umen, wenn wir die Natur des Verstandes so unterschiedlich von der Wirklichkeit auf fassen. \u00dcberlassen wir uns diesen","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n407\nTr\u00e4umereien, so stellen wir uns auch vor, dafs die Ursache als etwas der Aufsenwelt und der Idee, die wir uns von ihr machen, Entsprechendes aufgefafst werden kann und in der Geschichte des menschlichen Denkens t\u00f6nt dieses Wort hoch und hehr. Man hat es wie einen einzigen weltenschaftenden Vorgang aufgefafst, als das Prinzip jeder Erneuerung, als die T\u00e4tigkeit, die schafft, so oft sie erscheint, als die Richtungskraft, die alles verkettet . . . Fragen wir aber, was wir tats\u00e4chlich mit dem Worte Ursache bezeichnen wollen, so werden wir ohne Z\u00f6gern finden, dafs aus der trophischen Erfahrung die Erkenntnis des uns fehlenden Wirklichen entspringt und aus der motorischen Erfahrung die Erkenntnis, dafs das uns fehlende Wirkliche in der Aufsenwelt liegt. Das uns fehlende Wirkliche wird durch Empfindungszeichen erkannt. Das \u00e4ufserlich Wirkliche wird ebenso durch diese Zeichen erkannt, wenn wir durch die Bewegung merken, dafs dasselbe, was den Hunger stillt, diese Zeichen hervorruft, und so bildet sich urspr\u00fcnglich im Geiste die Erkenntnis von etwas auf die Sinne Wirkenden. Dieses Etwas nennen wir Ursache. Was wollen wir mit diesem Wort bezeichnen? Nur eine Beziehung des Wirklichen zu unseren Sinnen. Abgesehen von dieser Beziehung entbehrt das Wort der Bedeutung. Wie ein Explosivk\u00f6rper nicht losgeht, solange nicht sein molekulares Gleichgewicht gest\u00f6rt wird, so schlafen die \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4ten, solange nichts sie erweckt. Was sie aber reizt und die Erscheinung des Ph\u00e4nomens hervorruft, das ist die Voraussicht ihrer Wirkung; und das verstehen wir unter einer \u00e4ufseren Ursache. Unabh\u00e4ngig von ihrer sensorischen Wirkung kann die Ursache nur als die M\u00f6glichkeit sie hervorzurufen angesehen werden, und wenn wir sie absolut von diesem Ph\u00e4nomen trennen und sie nur an sich betrachten, so ist sie keine Ursache mehr. Sie ist ein Wort, mit dem im Konkreten nichts bezeichnet wTird. Man kann nicht einmal zugeben, dafs die Ursache an sich un-fafsbar w\u00e4re. Sicherlich finden wir in der Tiefe des Geistes einen Entwurf der \u00e4ufseren Wirklichkeit, unabh\u00e4ngig vom Begriff der Ursache, oder wde in einem letzterer vorangehenden Augenblick gegeben, in dem das Wirkliche sich uns schon als Wirkung zeigt, ein Punkt, in dem die Metaphysik \u00e4ufserst feine Ausarbeitungen vorgenommen hat. F\u00fcr uns, die wir objektiven Wert nur den aus der Erfahrung hergeleiteten Begriffen zuerkennen, ist es unzul\u00e4ssig, die \u00e4ufsere Wirklichkeit, die aus der","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nR. Turr\u00f4.\ntrophischen Erfahrung hergeleitet wird, an sich als etwas T\u00e4tiges oder Unt\u00e4tiges anzusehen. Diese F\u00e4higkeit oder T\u00e4tigkeit, die der Existenz beigelegt wird, oder der Substanz, kurz der Wirklichkeit ist eine wirkliche Vorstellung. Wir wdssen, dafs die Wirklichkeit tats\u00e4chlich existiert, weil sie uns n\u00e4hrt. Wir wissen, dafs etwas in der Aufsenwelt liegt, weil wir durch die motorische Erfahrung merken, dafs es unsere Sinne mit Eindr\u00fccken versieht. \u00c4hnliche Erkenntnisse werden aus den im Organismus hervorgebrachten Wirkungen geschlossen. Daraus ergibt sich, dafs die \u00e4ufsere Wirklichkeit an sich kein Gegenstand der Erkenntnis ist, wie es auch die Ursache nicht ist, weil sie keinen Eindruck auf uns hervorbringt. Erkennen heifst eine Beziehung zwischen einem organischen, sensorischen oder trophischen Effekt und seiner Ursache aufstellen und so wissen wir, dafs die \u00e4ufsere Wirklichkeit existiert und als Ursache t\u00e4tig ist. Sehen wir aber von dieser Beziehung ab und fragen wir uns, was die Wirklichkeit, unabh\u00e4ngig von ihren Effekten oder m\u00f6glichen Wirkungen auf uns ist, so stellen wir eine Frage auf, die zwar die Grenzen der Erkenntnis nicht \u00fcberschreitet, aber die mit der Natur der Erkenntnis selbst in Widerspruch steht. Nehmen wir an, man k\u00f6nnte niemals erforschen, ob auf dem Planeten Mars Bewohner leben oder nicht, so werfen wir damit eine unl\u00f6sbare, d. h. der Einsicht nicht zug\u00e4ngliche Frage auf. Fragen wir aber, was die Bewohner dieses Planeten mit einem uns abgehenden Sinne wahrnehmen, so formulieren wir eine absurde und unbegreifliche Frage, weil das das gleiche ist, wie der Vorsatz, die Wirkung dessen zu erforschen, was gar keine Wirkung hervorbringt. Das ist der Fall bei der Wirklichkeit und der \u00e4ufseren Ursache an sich betrachtet. Von der sie einenden Beziehung losgel\u00f6st, sind sie nicht mehr Gegenstand der Erkenntnis. Geben wir dem Wort Erkenntnis nicht diese scharfe und klare Bedeutung und stellen wir uns vor, dafs wir die \u00e4ufseren Dinge durch die im Geiste auftretende parallele Vorstellung erkennen k\u00f6nnten, so begreifen wir die Wirklichkeit als ein bestehendes Ding, die Ursache einer T\u00e4tigkeit an sich, oder eine nicht vorstellbare Kraft, und wenn wir uns diesen geistigen Operationen \u00fcberlassen, glauben wir etwas Neues, bisher Unbekanntes, zu erkennen, ohne zu merken, dafs wir unaufh\u00f6rlich im Kreise um das gleiche Thema herumgegangen sind, ohne von dem Fundamentalsatz abzukommen: das Wirkliche ist","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\t4Q9\ndie M\u00f6glichkeit, trophische oder sensorische Wirkungen auszu\u00fcben, und nichts anderes.\nSeit alten Zeiten hat man erbittert dar\u00fcber gestritten und die Forscher haben sich in entgegengesetzte Lager verteilt, je nachdem sie die Erkenntnis der Ursache als Voraussetzung der Erfahrung aufgestellt haben oder es f\u00fcr zul\u00e4ssig erachteten, die Ursache aus der Erfahrung selbst herzuleiten. Nachdem man die Begriffe der Frage festgestellt hat, kann man erkennen, dafs die Spekulation in dem Streit einen enormen Vorteil \u00fcber den Empirismus davongetragen hat. Wir glauben, dafs diese Frage ewig fortbestehen wird, weil sie schlecht formuliert ist, indem sie dem Wort Erfahrung eine ihm in Wirklichkeit nicht innewohnende Bedeutung gibt. Solange wir zugeben, dafs die Erfahrung von Anfang an in der sensiblen Intuition besteht, sind die induktiven Urspr\u00fcnge der Kausalit\u00e4t nicht verfolgbar, weil das Bewufstsein der Kausalit\u00e4t bei der Beziehung des Bildes auf sein Objekt schon vorausgesetzt ist, ebenso, wie der Trieb, der die Erfahrung exzentrisch auf seine Ursache verlegt. Die Spekulation stellt sich vor, dafs der Trieb aus einer Grundlage oder einer vorher bestehenden Kategorie entsteht, die Kant als Funktion des Geistes aufgefafst hat. Denen f\u00fcr die die \u00dcberlegung a priori Beweiskraft hat, scheint damit diese Frage endg\u00fcltig gel\u00f6st. Uns unerbittlichen Experimentalforschern, die nur das als sicher annehmen, was sich uns zwangsweise darstellt, scheint diese Erkl\u00e4rung einer Tatsache dann richtig zu sein, wenn man bewiesen hat, dafs positiv im Geiste diese Funktion bestehe. Da das nicht der Fall ist, so glauben wir, dafs es eine angenommene Funktion, d. h. eine Hypothese ist. Von diesem Standpunkt aus besteht der Vorgang der sensorischen Exzentrizit\u00e4t als ein experimentell unangreifbares Ph\u00e4nomen, da die ihn verursachenden Bedingungen, das was wir unter dem Ausdruck Erkl\u00e4rung verstehen, nicht auseinandergesetzt wTorden sind.\nDer von Stuaet Mill bearbeitete Satz bezieht sich ausschliefs-lich auf die kausale Verkettung im Raume sich folgender Vorg\u00e4nge, wovon wir sp\u00e4ter sj)rechen und wTomit wdr unsere Arbeit beschliefsen wollen und nicht auf diesen primitiven Vorgang, kraft dessen wir die Empfindungsbilder auf die sie veranlassende \u00e4ufsere Bedingung beziehen. Dieser Satz erkl\u00e4rt uns nicht die logische oder zwangsl\u00e4ufige Folge und ebensowenig verm\u00f6gen das die rein empirischen Gesetze der Assoziation. Die Kritik","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nR. Turr\u00f4.\nHoffdings ist unwiderstehlich. Hume sah in diesem Punkte klarer als sein Nachfolger. Augenblicklich gibt es verschiedene Gelehrte, die die empirische oder rein deskriptive Verkn\u00fcpfung nat\u00fcrlicher Vorg\u00e4nge f\u00fcr gleicher Natur halten, als ihre logische Verkn\u00fcpfung. Ohne diese Versuche hier besprechen zu wollen, halten wir es f\u00fcr sicher, dafs sie mit ihnen keinen Mechaniker oder Physiker davon \u00fcberzeugen werden, dafs die Ph\u00e4nomene, deren Folge sie bedingen und die sie im Raume und der Zeit als notwendig voraussehen, untereinander durch den gleichen Kausalnexus verkn\u00fcpft sind wie die ph\u00e4nomenalen Reihen, die uns die Naturforscher bei der Darstellung der Entwicklungsstadien des Tier- und Pflanzenreiches beschreiben. Erstere sind einer h\u00f6heren Kategorie angeh\u00f6rig als letztere und diese Wahrheit sieht man sehr klar, wenn der Physiologe, statt den lebendigen Vorgang zu beschreiben, die Bedingungen oder den sein Auftreten veranlassenden Mechanismus festsetzt.\nStellen wir das Problem der Kausalit\u00e4t mit diesen Begriffen auf, so stellen wir es nur bruchst\u00fcckweise auf und lassen den grundlegendsten Teil im Dunkeln. Zweifellos verkettet der Mensch diese und jene Ph\u00e4nomene durch einen urs\u00e4chlichen Zusammenhang. Aber bevor diese Vorg\u00e4nge zustande kommen, verkn\u00fcpft er wie die \u00fcbrigen Tiere seine Empfindungseindr\u00fccke mit der \u00e4ufseren Ursache und es ist klar, dafs die Erkenntnis der Ursache hier anzufangen hat, denn, w\u00e4re es m\u00f6glich, die logische Folge der ph\u00e4nomenalen Reihen durch empirische Schl\u00fcsse zu erkl\u00e4ren, so w\u00fcrde dieses grofse Problem immer offen bleiben. So wie wir diesen empirischen Schlufs eben aufgefafst haben, ist es nicht m\u00f6glich an seine L\u00f6sung heranzugehen. Wenn das exzentrische Bild schon an sich die Erfahrung bildet, so ist es offenbar unm\u00f6glich, aus der Erfahrung auf die Kausalit\u00e4t zu schliefsen. Diese Voraussetzung ist zweifellos falsch. Was wir empirische Erfahrung nennen, leitet sich aus dem Experiment her und wenn wir uns fragen, wie sie entsteht, so merken wir, dafs in den Sinnesorganen die sensorischen Effekte gegeben sind, ohne dafs wir wissen wie oder auch nur im entferntesten ahnen, dafs es begr\u00fcndete Vorg\u00e4nge, d. h. Wirkungen sind. Wir merken dann auch, dafs dieser Organismus sich dank innerer Reize bewegt und bei dieser Bewegung mit der Unwissenheit einer nichts von der umgebenden Aufsenwelt wissenden Masse Eindr\u00fccke in den Sinnesorganen hervorruft und dafs der anf\u00e4nglich zuf\u00e4llige","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n411\nEindruck schliefslich beabsichtigt wird, weil die Bewegung als der Wunsch sie hervorzurufen auftritt. Hier sehen wir das empirische Entstehen der \u00e4ufseren Ursache. In fr\u00fcheren Zeiten wufste man nicht, dafs die Bilder bedingt sind, sp\u00e4ter erriet man dies, und das ist durchaus logisch. Vom Subjekt geht der Antrieb zur Wiederhervorrufung des Bildes aus, und dieser Antrieb ist ohnm\u00e4chtig, solange er sich den Sinnen nicht unter der Form etwas sie Erweckenden darbietet. So lernt er durch einen ununterbrochenen Versuch und so geht er vor, w7enn er es gelernt hat. Diese psychophysiologische Operation nennen wir Erfahrung und der erste Schlufs, den wir aus dieser Erfahrung ziehen, ist dafs etwas auf unsere Sinne einwirkt und das nennen wir Erfahrung. Die Wiederholung der gleichen Vorg\u00e4nge lehrt uns dann, dafs das, was auferhalb unserer Sinne wie etwas Gleichg\u00fcltiges und f\u00fcr unsere heftigsten W\u00fcnsche Fremdes bleibt, immer dieselben Wirkungen hervorrufen kann, und wenn wir durch eine pers\u00f6nliche Initiative, durch eine innere, dem wahren Grund dessen, was wir Pers\u00f6nlichkeit nennen, bildende Handlung es den Sinnen mit demselben Vorgang darbieten, so gelangen wir zu dem Verst\u00e4ndnis, dafs das uns Beeinflussende an der Stelle im Raume liegen bleibt, wo wir es das letzte Mal verlassen haben, als die dauernde M\u00f6glichkeit, die gleichen Wirkungen hervorzurufen. So haben wir durch die Erfahrung die Ursache entdeckt, und gleichzeitig haben wir auch durch die Erfahrung den Sinn, den wir mit dem Worte Ursache verbinden, ausfindig gemacht. Kurz vorher wufsten wir ihn noch nicht. Jetzt wissen wir, dafs wir die motorische Voraussicht des sensorischen Effektes Ursache nennen. In der spekulativen Hypothese, wenn wir sie als eine Kategorie oder eine geistige Funktion verstehen, wissen wir nicht tats\u00e4chlich, was wir mit diesem Worte bezeichnen wollen. Und darum verstehen die einen darunter eine ex nihilo schaffende Kraft, andere den die Bewegung erzeugenden Vorgang, andere die erneuernde Energie, andere den Willen, der die Ver\u00e4nderungen hervorruft . . . Vom experimentellen Gesichtspunkte aber kann die Ursache keine andere Bedeutung haben, als die sich aus den sie bedingenden Elementen herleitet, und aus diesem Grunde ist es uns nicht m\u00f6glich, sie anders als die ewige M\u00f6glichkeit, uns zu beeinflussen, aufzufassen. Alle \u00fcber sie gemachten Erkenntnisse sind auf das gleiche Problem zur\u00fcckf\u00fchrbar : welche Bedingungen kann sie unter","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nit. Turr\u00f4.\ndiesen oder jenen Umst\u00e4nden auf unsere Sinne aus\u00fcben? Alle aufserhalb dieser experimentellen Grenzen gelegenen Auffassungen \u00fcber die Natur der Aufsenwelt an sich sind, so grofs und genial sie auch und so verf\u00fchrerisch und verlockend sie auch sein m\u00f6gen, logisch immer unzul\u00e4ssig, d. h. sie sind der Berichtigung, Ver\u00e4nderung und Umwandlung unterworfen. Dagegen besteht die experimentelle Wahrheit, die in ihren Bedingungen vorher festgelegte Tatsache als die unwiderlegliche Voraussicht des uns in Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft vorhergehenden sensorischen Ph\u00e4nomens.\nHiermit haben wir die Frage aufgestellt, worauf ist der Streit dar\u00fcber, ob die Erkenntnis der Ursache der Erfahrung vorangeht, oder ob diese aus der Erfahrung selbst hergeleitet werden kann, zur\u00fcckf\u00fchrbar? Auf nichts. Denn, dieses Problem k\u00f6nnen wir nur aufstellen, wenn wir dem Wort Erfahrung nicht seinen Wert geben. Nach dieser Berichtigung existiert die Frage nicht mehr.\nGeben wir zu, dafs die Erfahrung im Verstand wie ein \u00e4ufserer Eindruck gegeben ist, so haben wir damit eine nur zur H\u00e4lfte wahre Tatsache verk\u00fcndet. Nichts ist sicherer, als dafs die \u00e4ufsere Sensibilit\u00e4t ausschliefslich auf einen \u00e4ufseren Reiz reagiert. Aber physiologisch gesprochen ist diese Sensibilit\u00e4t nicht ein von der psychomotorischen unterst\u00fctztes autonomes Zentrum, das in vollst\u00e4ndiger Unabh\u00e4ngigkeit vom Gehirn funktionieren und im Bewufstsein das geistige Ph\u00e4nomen hervorrufen kann. Ebensowenig bildet die psychomotorische Sensibilit\u00e4t eine eigene Abteilung dieser Masse. Die Bewegungsantriebe entstehen hier nicht spontan, sondern aus organischen Reizen. Man hat das Tier als Torso aufgefafst, indem man die untereinander funktionell verbundenen Elemente getrennt hat und anstatt die Empfindungszentren als das aufzufassen, was sie sind, als Aufnahmeorgane, hat man geglaubt, dafs der Ausgangspunkt der Wahrnehmungsvorg\u00e4nge in dem auf diese Zentren wirkenden und ihre T\u00e4tigkeit antreibenden Gegenstand gesucht werden mufs. Aber die Wahrnehmungsvorg\u00e4nge k\u00f6nnen trotz ihrer relativen Einfachheit so, wie sie zum Bewufstsein kommen, nicht recht durch die T\u00e4tigkeit der \u00e4ufseren Welt erkl\u00e4rt werden, und daher kommt das Dazwischentreten der metaphysischen Hypothese, um so dunkle Punkte, wie die der Existenz, der Wirklichkeit und der Ursache, sowie einige andere hier nicht erw\u00e4hnte, aufzukl\u00e4ren.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n413\nEs versteht sich von selbst, dafs bei diesem Vorgang die Glieder des zu l\u00f6senden Problems umgestellt werden. Durch \u00e4ufsere Daten k\u00f6nnen wir keine inneren Vorg\u00e4nge erkl\u00e4ren. Der Gegenstand kann nicht ein Glied in der Auseinandersetzung des Wesens ausmachen, sondern umgekehrt: durch die dem Wesen innewohnenden Funktionen m\u00fcssen wir uns den Gegenstand erkl\u00e4ren. Wir beziehen unsere Eindr\u00fccke nicht auf die Ursache, weil diese sie bedingt, sondern wenn wir das Bestehen ihrer Bedingung erforschen, dann schreiten wir zu ihrer Beziehung oder Projektion fort. Wir projizieren nicht die Ber\u00fchrungs- oder Baumpunkte, weil wir wissen, dafs sie diesen Punkten entsprechen, vielmehr hat, wie Lotze gezeigt hat, nicht der \u00e4ufsere Raum den inneren zu erkl\u00e4ren, sondern umgekehrt. Diese Umstellung der Glieder des Problems h\u00e4ngt von dem eingenommenen Standpunkte ab. Nichts ist weniger diskutabel, als dafs die Aufsen-welt eine konstante Wirkung auf unseren Organismus und unsere Sinnesapparate aus\u00fcbt. Aber das geistige Leben f\u00e4ngt nicht mit diesem Vorgang an; es beginnt in dem gleichen Augenblick, in dem auf dieses Medium durch das trophische Verlangen und die blinden Antriebe zur Bewegung Eindr\u00fccke hervorgerufen werden. Dann bilden sich h\u00f6chst zusammengesetzte Anpassungsprozesse an dieses Medium und auf Grund dieser Anpassungen erwerben wir die Kenntnis von der Wirklichkeit der Ursache und dem Raume. Wir suchen unn\u00fctz den Ursprung dieser grundlegenden Erkenntnis in den isolierten Zentren der \u00e4ufseren Sensibilit\u00e4t. Das ganze von organischen Trieben bewegte Bewufstsein nimmt an der Ausarbeitung dieser Erfahrungen teil, aus denen sich jene weitschweifigen und festen Erfahrungen ableiten, auf denen das ganze geistige Leben sich aufbaut. Die Intelligenz des Menschen oder der Tiere von einem rein \u00e4ufseren Standpunkte studieren, heifst sie zerst\u00fcckeln und zu ihrem vollst\u00e4ndigen Verst\u00e4ndnis absolut unerl\u00e4fslicher Urteilselemente berauben. Die im Grunde des geistigen Prozesses wiedergespiegelte Einheit entspricht der sie bestimmenden strukturellen und physiologischen Einheit der Nervenelemente.\nSetzen wir unsere Bilder in die Wirlichkeit um, so leben wir in der \u00dcberzeugung, dafs sie durch einen Gegenstand bedingt sind, den wir als ihre Ursache ansehen und die Vorg\u00e4nge, auf die sich unsere Sicherheit st\u00fctzt, sind so fest und gut begr\u00fcndet, dafs uns alles st\u00f6rt, was die Beweiskraft dieser eie-","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nR. Turro.\nmentaren Urteile in Zweifel stellt. Wenn die Wahrnehmungs-funktionen einmal ausgebildet sind, so projizieren wir auch die Bilder klar und deutlich in die Aufsenwelt, von der wir nicht wissen, dafs sie sie hervorgerufen hat, weil sie wie willk\u00fcrliche oder Ph\u00e4nomene ohne Ursache auftreten. Das ereignet sich so, wenn ein Vorgang einem anderen derart folgt, dafs der zweite nicht ohne den ersten auftritt, als wenn diese Folge nicht an die sie bedingende \u00e4ufsere Ursache gekn\u00fcpft w\u00e4re, sondern ausschliefslich davon abhinge, in welcher Form die Ph\u00e4nomene im Subjekte gegeben sind.\nDer Hirt, der seine Schafherde weidet, erhebt zum ersten Mal in einer Schlucht seine Stimme und vernimmt das Echo. Er kann ja anfangs glauben, dafs dieses Echo ein Ton ist, wie der des Flusses, des rauschenden Waldes oder des mit dem Hirtenstab angeschlagenen Felsens. Merkt er aber, dafs seine eigene Stimme im Echo ert\u00f6nt, so wundert er sich aufserordent-lich \u00fcber diesen ungewohnten Erfolg. Durch die Erfahrung weifs er, dafs seine Stimme da ert\u00f6nen mufs, wo er sich befindet, weil sie das Zeichen einer Ursache ist, und wenn er nun beobachtet, dafs dieses Echo weitab liegt, so wundert er sich, weil er nicht weifs, das Zeichen welcher Ursache diese unerwartete Empfindung ist. Wenn er nachdenkt, so kommt er vielleicht zu der Vermutung, dafs jemand seine Simme anderswo nachahmt oder eine geheimnisvolle Gottheit ihm antwortet und in diesem Falle erfindet er eine Ursache, weil er der direkten Erfahrung entbehrt. \u00dcberlegt er nicht, sondern wiederholt den Vorgang mehrere Male, so h\u00f6rt er, infolge der Gewohnheit an diese Folge, auf, sich zu wundern, weil er durch die Erfahrung die Folge voraussieht und lacht nun jedesmal, wenn er das Echo von neuem antworten h\u00f6rt. Er h\u00e4lt diese Folge f\u00fcr eine empirische, weil er sie 3, 4, 8mal so beobachtet hat und glaubt, dafs sich der Vorgang auch beim 9. oder 10. Versuch in gleicher Weise abspielen wird, und falls er sich nicht wiederholt, weil er seinen Standpunkt gewechselt hat oder die Bedingungen der reflektierenden Oberfl\u00e4che sich ge\u00e4ndert haben, so wird er glauben, dafs die Gottheit jetzt stumm bleibt, oder dafs das Echo nicht erscheint, einfach weil es nicht erscheint. Eine solche Voraussicht ist sehr bestimmter Natur, sofern sie sich auf seine eigene Stimme, das Tosen des Stromes, das Rauschen des Waldes bezieht, weil er, wenn er die Stimme erhebt und sie nicht h\u00f6rt, wenn er das","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n415\nWasser den Abgrund herabrieseln sieht und den Strom nicht in die Tiefe st\u00fcrzen h\u00f6rt, oder den Felsen mit dem Stab anschl\u00e4gt, ohne dafs er t\u00f6nt, mit dem kleinen Finger den Geh\u00f6rgang ausputzen w\u00fcrde in der Meinung, dafs er taub ist. Das glaubt er nicht, wenn das Echo nicht antwortet. Ohne sich \u00fcber die Ursache dieser Meinung Rechenschaft zu geben, vermutet er, dafs zwischen dem erwarteten Geh\u00f6rseindruck und der veranlassenden Ursache eine zwangsm\u00e4fsige Folge besteht, eine pr\u00e4existierende Beziehung, die nicht zwischen dem Echo und dem Ton vorhanden ist. Ebenso tr\u00fcbt es unsere Erfahrung, wenn wir, die wir gewohnt sind, Gesichtsbilder auf die Objektpunkte zu verlegen, in denen der einfallende Strahl reflektiert wird, dieses Bild seinen Platz wechseln sehen, wenn das Licht, statt von einem Gegenstand reflektiert zu werden, durch ihn hindurchgeht und gebrochen wird. Solange wir die Notwendigkeit dieses Vorganges nicht verstehen, meinen wir, dafs der in durchsichtiges Wasser eingetauchte Stab als geradliniges Bild des Gegenstandes, wie wir ihn in der Luft sehen, widergespiegelt werden mufs. Beobachten wir nun, dafs das nicht der Fall ist, so ziehen wir den Stock aus dem Wasser zur\u00fcck in dem Glauben, dafs er zerbrochen sei. Haben wir uns an diese beiden aufeinanderfolgenden Bilder gew\u00f6hnt, so wundern wir uns nicht mehr, weil wir schon wissen, was zu folgen hat, da der Vorgang sich immer wiederholt. Wiederholt er sich aber nicht, so bleiben wir so un-ber\u00fcht wie der Hirt, der das Echo nicht h\u00f6rt. Sehen wir andererseits den Stock nicht, so glauben wir, er w\u00e4re pl\u00f6tzlich verschwunden, weil uns etwas sagt, dafs wir ihn unbedingt sehen m\u00fcfsten.\nIn den beiden beschriebenen F\u00e4llen unterscheiden wir abweichende Urteile. Im ersten wird das Bild als das Zeichen eines \u00e4ufseren Vorganges angesehen. Ebenso, wie wir glauben, dafs die S\u00fcfsigkeit, die bernsteingelbe Farbe, die teigige Konsistenz die Bilder sind, die notwendig ein Gegenstand in den Sinnen hervorzubringen hat, so glauben wir, dafs das Bild des Stabes die notwendig im Geiste ausge\u00fcbte Wirkung ist, wie der Hirt glaubt, dafs der vom Winde bewegte Wald oder der sich in die Tiefe st\u00fcrzende Strom in seinem Ohr bestimmte Eindr\u00fccke hervorzurufen hat. Beim zweiten neigen wir der Meinung zu, dafs nach einem wegen seiner Beziehung zu einer Ursache notwendigen Bild ein anderes auftreten wird, das wir nicht als not-","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nB. Turr\u00f4.\nwendig erachten, und das nur subjektiv m\u00f6glich ist, weil wir diese Folge eine bestimmte Anzahl von Malen beobachtet haben. Wir sagen, das wir dies nur als subjektiv m\u00f6glich erachten, weil es sich nicht aus einer vorherbestehenden Beziehung des Subjektes und Objektes, d. h. einer Erfahrung herleiteR sondern aus einer nur im Subjekt vorherbestehenden Folgebeziehung. So besitzt der Hirt, wenn er seine eigene Stimme h\u00f6rt,, das klare Bewufstsein, dafs dieser sensorische Effekt durch den seiner Kehle entschl\u00fcpften Ton veranlafst ist. Ebenso besitzt er beim H\u00f6ren des rauschenden Stromes die Erkenntnis, dafs dieser L\u00e4rm an der bestimmten Stelle im Raume auftritt, wo die ihn veranlassende Ursache sich befindet. H\u00f6rt er aber die Wiederholung seiner eigenen Stimme in einer gewissen Entfernung, so weifs er nicht, was sie bedingt, sondern dieses in seiner Ursache unbekannte Wahrnehmungsph\u00e4nomen erscheint das eine und andere Mal und so bilden sich zu zwei Zeiten zwei durch die Assoziation vereinte Zustandsbilder, von denen nur das eine aufzutreten braucht, um ihn glauben zu machen, dafs auch das andere erscheinen wird. Erscheint nun B nach A und erscheint es als ein Vorgang ohne Ursache, so erzeugt es> da keine Erfahrung dem Wesen gezeigt hat, dafs es durch eine Ursache veranlafst und diese ihm unbekannt war, nat\u00fcrlich nicht das Bewufstsein seiner Notwendigkeit in gleicher Weise wie beim ersten. Dann entbehrt diese Folge des objektiven Wertes.\nVon allen empirischen Folgen kann man dasselbe sagen. Alle, das Tier und der ungebildete Mensch (der sich unter gleichen Bedingungen wie das Tier befindet), haben die Sonne immer aufgehen sehen und haben das Zutrauen, dafs sie auch weiter aufgehen wfird, ohne zu wissen, dafs sie aus bestimmten Gr\u00fcnden notwendigerweise aufgehen mufs. Wenn sie diese Bedingungen, in denen die Voraussicht dieses Morgenr\u00f6te genannten Vorganges enthalten ist, kennen gelernt haben, dann sind sie imstande, die Bedingungen vorauszusehen, unter denen die Sonne nicht aufgeht. Wer an dreit\u00e4gigem Wechselfieber leidet, erwartet am dritten Tage einen neuen Anfall, der aber auch ausbleiben kann. Erst, wenn er die Ursache des Fiebers und die M\u00f6glichkeit, ihm entgegenzutreten, kennt, kann er mit um so grofserer Sicherheit den Erfolg voraussehen, je besser ihm die verwickelten Bedingungen beim Auftreten dieses Vorganges bekannt sind.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n417\nWie man sieht, ist es also nicht notwendig, bis in die h\u00f6heren Sph\u00e4ren der Intelligenz sich zu erheben, um logischen und notwendigen Schl\u00fcssen zu begegnen und Urteilen, die nicht mehr Wert haben, als den einer rein empirischen Erfahrung. Wir finden sie in gleicher Weise auch in den niederen. Wir haben beim Studium der Natur der trophischen Voraussicht gesehen, dafs der Glaube an die aus dem Nahrungsmittel hervorgehende Wirkung sich nicht auf die logische Notwendigkeit gr\u00fcndet, sondern auf die Erinnerung an das, was in mehr oder weniger vielen F\u00e4llen gefolgt ist. Beim Studium der Natur der \u00e4ufseren Erfahrung haben wir im Gegenteil gesehen, dafs sie sich nicht, wie man wohl sagt, auf die blofse Wiederholung eines sensorischen Vorganges st\u00fctzt, sondern auf eine innere Handlung, die eine notwendige Beziehung zwischen dem als Voraussicht der zu verursachenden sensorischen Wirkung definierten Gegenstand und dem diese Ursache oder diesen Gegenstand anzeigenden Empfindungszeichen bildet, und infolge dieser \u00dcberlegung sind wir so sicher, dafs die bernsteingelbe Farbe und die S\u00fcfsigkeit dem Honig angeh\u00f6ren, wie wir es bei dem Gewichtsverlust eines K\u00f6rpers durch Eintauchen in eine Fl\u00fcssigkeit sein k\u00f6nnen. Die eine wie die audere Voraussicht ist unerforschlich, wenn wir uns darauf beschr\u00e4nken, das zu beobachten, was vorgeht, statt dessen, was wir experimentell als das unter gleichen Bedingungen immer Auftretende festgelegt haben. Eine solche Versicherung liegt unbegreiflicherweise in der herrschenden Theorie der pr\u00e4-formierten Wahrnehmungen oder des intuitiven Bildes einer Ursache, da wir an ihr nicht die grofse Differenz zwischen dem experimentell auf seine Ursache bezogenen Bilde und diesem anderen, aus anderen vorgebildeten Prozessen im Geiste ohne Kenntnis einer Ursache auftretenden Bild beobachten. Danach sind das eine wie das andere Bild gleicher Natur und Kategorie. Alle entstehen so exzentrisch und beziehen sich auf ihre Ursache und ihren Gegenstand. Aus den auseinandergesetzten Gr\u00fcnden bleiben wir bei unserer Meinung, dafs dieses Urteil nicht richtig ist. Zweifellos besitzt der Hirt eine logische Sicherheit f\u00fcr die Ursache, der er seine Stimme und den von den umgebenden K\u00f6rpen ausgehenden Ton zu weist, die er nicht f\u00fcr die Ursache des Echos besitzt. Diesem Bilde gegen\u00fcber stellt er sich eine zu l\u00f6sende Frage, die bei den anderen nicht auftritt. Worin besteht diese Frage? Sie besteht darin, dafs er die ewige Bedingung","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nB. Turr\u00f4.\ndes Echos nicht kennt, eine Unsicherheit, die ihn sicherlich nicht bei seiner eigenen Stimme oder den umgebenden t\u00f6nenden Gegenst\u00e4nden bef\u00e4llt. Offenbar ist dieses Bild in unterschiedlicher Weise von den anderen gegeben und aus diesem Grunde meint man, dafs es etwas Willk\u00fcrliches enth\u00e4lt, das bei den \u00fcbrigen nicht angeschuldigt werden kann. Sowie er aber die das Echo veranlassende physikalische Bedingung kennt, erachtet er es als ebenso nat\u00fcrlich und logisch, wie fr\u00fcher jene.\nDas gleiche tritt mit dem gebrochenen Licht ein. Durch ganz pers\u00f6nliche Erfahrungen hat man die Erkenntnis der Lichtrichtung erworben und wenn jedes Retinazeichen auf den \u00e4ufseren Beziehungspunkt projiziert wird, so geschieht das aus der logischen Sicherheit, dafs dieser Punkt hier und nicht wo anders liegt. Jetzt begegnet des Wesen einer fremden Gesichtswahrnehmung, da es ja das Bild nicht nach der Stelle projiziert, wo sich tats\u00e4chlich der veranlassende Gegenstand befindet. Es kann das Bild auch nicht als T\u00e4uschung bezeichnen, da es ja da ist, so wie das Echo t\u00f6nt, und zweifellos erhebt sich in der Tiefe unseres Bewufstseins eine Stimme, die uns dar\u00fcber aufkl\u00e4rt, dafs dieses Echo ebenso, wie das umgestellte Bild, einer wirklichen uns unbekannten Ursache entsprechen, derart, dafs wir falsch projizieren, nur wissen wir nicht, warum wir so projizieren. Sowie wir die \u00e4ufsere Ursache f\u00fcr die Ablenkung des Lichtes oder die Umstellung des Bildes kennen, wird es uns nat\u00fcrlich und logisch erscheinen, dafs wir es so sehen.\nStudieren wir den physikalischen Vorgang, wieso in dem neuen Falle das Licht, statt von der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rprs, auf den es auf f\u00e4llt, zur\u00fcckzustrahlen, sich bricht, so merken wir, dafs dieser K\u00f6rper das Licht durchfallen l\u00e4fst und sich als durchscheinend erweist und von einer seiner Dichtigkeit entsprechenden Resistenz ist. Man begreift klar, dafs das als mehr oder weniger dichtes Medium Aufgefafste etwas Wirklichem entspricht, das im Auge sich als gebrochenes Licht darstellt, und wenn man sich bem\u00fcht, die urs\u00e4chliche Bedingung dieses inneren Vorganges zu finden, um wie ein Prophet Voraussagen zu k\u00f6nnen, wann dieser Vorgang von neuem eintreten wird und wieso er zustande kommt, so wird man bald mit dem veranlassenden Vorgang Bekanntschaft machen, da sich schon bei seiner Erkenntnis die Voraussicht der Folge im Gef\u00fchl gebildet hat. Um diese Voraussicht formen zu k\u00f6nnen, m\u00fcssen wir die Dichtigkeit des","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n419\nvom Licht zu durchdringenden K\u00f6rpers kennen und dies verm\u00f6gen wir nicht durch den Anblick, sondern durch die Muskelkraft, die einen bestimmten Druck auf die Nervenendigungen aus\u00fcbt. So begegnen wir K\u00f6rpern, die wie die Luft sich mit Leichtigkeit spalten lassen, andere, die wie das Wasser einen gr\u00f6fseren Widerstand entgegenstellen, wieder andere, wie die festen K\u00f6rper, bei denen wir un\u00fcberwindliche Schwierigkeiten finden. Durch diese Experimente bildet sich genetisch im Verstand die Vorstellung der Dichtigkeit und diese Dichtigkeit ist, wie wir gesehen haben, nur die Voraussicht des Druckes, den die Ber\u00fchrungsnervenendigungen zu erfahren haben, wenn man sie der T\u00e4tigkeit der Aufsenwelt mittels einer Kraft aussetzt und diesen Vorgang nennen wir Widerstand. Besitzt man aber die Zeichen, die die von den einzelnen Stellen gebotenen verschiedenen Grade der Durchdringlichkeit abzusch\u00e4tzen erlauben, die man in die Aufsenwelt verlegt und nach denen man die K\u00f6rper als mehr oder weniger dicht bezeichnet, so merkt man daraus, dafs das Licht abgelenkt wird und dann stellt man folgende \u00dcberlegung experimenteller Natur an. Das, was sich in der takto-motorischen Wahrnehmung als eine Resistenz dar-geboten, ist das gleiche, was das Licht beim Durchtreten ablenkt. Von diesem Augenblick an ist die von den Augen mitgeteilte Refraktion nicht mehr ein Ph\u00e4nomen ohne Ursache, weil man schon die Veranlassung kennt und es als Zeichen eines vorher nicht wahrgenommenen Vorganges ansieht, auch wenn man damals den Effekt wahrgenommen h\u00e4tte. Das geht so weit, dafs es gen\u00fcgt, die Ablenkung des Lichtes zu beobachten, um die mehr oder weniger grofse Dichtigkeit des zu passierenden im Verh\u00e4ltnis zu dem im vorhergehenden Augenblick passierten Medium vorauszusagen und ebenso um zu beobachten, dafs die Dichtigkeit eines K\u00f6rpers sich ge\u00e4ndert hat, die Ank\u00fcndigung, dafs die Brechung, vorausgesetzt, dafs der K\u00f6rper lichtdurchl\u00e4ssig ist, eine ver\u00e4nderte sein wird. Es hat sich durch die Erfahrung eine innere Beziehung zwischen den bei der dynamischen Ber\u00fchrung die Anwesenheit einer besonderen \u00e4ufse-ren Ursache ank\u00fcndigenden Zeichen und den ihn im Auge kundgebenden gebildet, und schon hat man erkannt, dafs ein gleicher Vorgang im Gef\u00fchl als Dichtigkeit und in den Augen als Brechung zur Erkenntnis kam, und da sich der Physiker nicht mit der sensorischen Form besch\u00e4ftigt, in der sich uns die\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\t27","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nR. Turr\u00f4.\nAufsenwelt zeigt, sondern mit der Ursache dieser Form, so versichert er, dafs das mit Hilfe des gebrochenen Lichtes erkannte das gleiche ist wie das mittels der Dichtigkeit Festgestellte, als zwei innere Ph\u00e4nomene, die ihm die Anwesenheit der gleichen Ursache anzeigen. Umgekehrt glaubt der Psychologe nicht wie der Physiker, dafs die Bilder ein System von Signalen vorstellen, durch das wir die diese oder jene Wirkung in den Sinnen hervorbringenden Handlungen voraussehen k\u00f6nnen, sondern er stellt sich vor, dafs der Geist uns diese Bilder parallel zu den \u00e4ufseren Dingen, deren Vorstellung sie sind, einfl\u00f6fst. Wie konnte der Psychologe zu der Vermutung kommen, dafs das gleiche sich durch das Gesichtsbild und die dynamische Ber\u00fchrung darstelle ? Diese beiden Gesichtspunkte sind so entgegengesetzt und unvereinbar, dafs wir uns nicht wundern k\u00f6nnen, wie, wr\u00e4hrend der erste nach Mafsgabe des Fortschrittes alles vereinfacht und die sensorische Vielheit auf das gleiche, d. h. eine einzige Ursache zur\u00fcckf\u00fchrt, der zweite sich damit besch\u00e4ftigt, die Unterschiede durch Markierung der empirischen Form, unter der die Ph\u00e4nomene gegeben sind, anzumerken, so, wie die innere F\u00fcllung den \u00e4ufseren Dingen entspricht. Der Physiker formuliert die Erfahrung \u00fcber das gebrochene Licht, wenn er entdeckt, dafs eine Eigenschaft des Mediums den Vorgang hervorruft. Der Psychologe glaubt, dafs diese schon durch das Gef\u00fchl selbst beim Auftreten des Bildes vorbesteht, wobei er sich vom richtigen Wege entfernt. Zweifellos k\u00fcndigt sich das Bild der Person als ein Ph\u00e4nomen ohne Ursache und voll Willk\u00fcr um so mehr, als ihm die \u00e4ufsere Begr\u00fcndung dieser Beziehung fehlt, an. W\u00e4hrend ersterer begreift, dafs die Erfahrung sich aus dem tats\u00e4chlichen Experiment herleitet, das den \u00e4ufseren Sitz des das sensorische Ph\u00e4nomen Bedingende klarstellt, begreift der zweite, dafs die Erfahrung aus der den Sitz der Ursache in der Aufsenwelt verk\u00fcndenden inneren Projektion sich derart herleitet, dafs nach dieser Theorie das Licht nur deshalb gebeugt wird, weil die Augen es uns so zeigen, wie der Honig nur deswegen s\u00fcfs ist, weil wir diesen Geschmack einem durch einen inneren Antrieb gegebenen K\u00f6rper verleihen. Wie der Physiker begreifen wir, dafs diese innere Projektion nicht die Erfahrung zusammensetzt. Die Augen k\u00f6nnen uns das Licht gebeugt zeigen, aber aus dieser einzigen inneren Tatsache k\u00f6nnen wir nicht ableiten, dafs sich das Licht tats\u00e4chlich bricht, ebenso wie wir aus dem stereoskopischen Sehen","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n421\nnicht schliefsen d\u00fcrfen, dafs ein Gegenstand eine gewisse Tiefe hat. Um diesen Schlufs voilkr\u00e4ftig zu gestalten, mufs eine Beziehung zwischen der Determinante und dem Determinierten hergestellt werden, zwischen der auf das Gef\u00fchl wirkenden Ursache und dem auftretenden Effekt, so wie ihn der Physiker auf stellt; und wenn man nicht so vorgeht, so stellt die Brechung des Lichtes einen von den Augen angezeigten Vorgang dar, ohne dafs man w\u00fcfste, ob das von den Augen Angezeigte einem \u00e4ufseren Vorgang oder einer reinen Ver\u00e4nderung der Sinnesorgane entspricht, Der Physiker geht ebenso vor wie das seine Gesichtseindr\u00fccke in die Wirklichkeit \u00fcbersetzende Kind, denn, wie jener weifs, dafs das Medium das Licht ablenkt, so weifs dieses durch das motorische Experiment, dafs dieser und kein anderer Gegenstand seine Retina beeinflufst. Tritt nun beim Eintauchen des Stockes in Wasser das Gegenteil des bisher Vorausgesehenen ein, und verschiebt sich das Bild, so liegt das daran, dafs man mit diesem Bilde nicht so vorgegangen ist, wie mit den anderen. In Wirklichkeit zeigt das Gef\u00fchl bei dieser Anomalie nicht eine Erfahruno-\no\nan, sondern das Fehlen einer Erfahrung, aus der man die zwangsm\u00e4fsige Folge dessen, was einzutreten hat, schliefsen kann.\nDer das Echo vernehmende Hirt befindet sich in der gleichen Lage wie der im Sehen Unge\u00fcbte, wenn er beobachtet, wie das geradlinige Bild des Stockes an einer Stelle sich ver\u00e4ndert. Er wird niemals begreifen k\u00f6nnen, wie der von hier ausgegangene Ton sich dort wiederholen kann. Durch seine motorischen Erfahrungen hat er schon fr\u00fcher jeder t\u00f6nenden Sache ihren bestimmten Klang oder ihre Klangfarbe zugeteilt und jetzt merkt er, dafs ein Ton nicht einer t\u00f6nenden Sache entsprechen mufs, sondern die einfache Wiederholung einer solchen sein kann. Zu welcher Ursache geh\u00f6rt dies Zeichen eines Tones? Er weifs es nicht, und daher kommt sein Erstaunen ; denn er hat sich sein ganzes Leben lang \u00fcber die Art, wie die K\u00f6rper klingen m\u00fcssen, eine Anschauung gebildet und so kannte er sie an ihrer Klangfarbe und wird nat\u00fcrlich von einem Ton verwirrt, der ihm nicht die Anwesenheit der diese Wirkung hervorbringenden Ursache anzeigt. F\u00fcr die akustische Wahrnehmung bleibt ihm das Echo immer ein Ph\u00e4nomen ohne Ursache. Er kann infolge der empirischen Gew\u00f6hnung hoffen, dafs es sich wiederholt.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nR. Turr\u00f4.\nAber er kann nicht mit der gleichen logischen Gewifsheit, mit der er den Klang des Glases beim Anschl\u00e4gen zu vernehmen sicher ist, auch sagen, dafs das Echo antworten wird, wenn er ruft und er weifs es nicht, weil er die Ursache der Wiederholung nicht kennt. Dieses Verst\u00e4ndnis erreicht er, wenn er durch Wahrnehmungen ganz anderer Natur als des Geh\u00f6rs entdeckt, dafs er sie auf die den Ton ausstrahlenden K\u00f6rper \u00fcbertr\u00e4gt. Beobachtet er, dafs die gespannte Saite oder der angeschlagene Glaskelch schwingen, wie ihm Gef\u00fchl und Gesicht bezeugen, beobachtet er, dafs mit dem Aufh\u00f6ren dieser Schwingung auch der Ton nachl\u00e4fst, dafs er st\u00e4rker wird, wenn jene sich vergr\u00f6fsern, und h\u00f6her, wenn sie schneller werden, so bildet er in seinem Geiste sich die Kenntnis, dafs das, was in seinem Ohr als Ton auftritt, sich im Gef\u00fchl und im Gesicht als Schwingung kenntlich macht. Wie das Geh\u00f6rsbild nicht die Vorstellung einer Ursache, sondern ihr Zeichen ist, so ist auch die Ber\u00fchrungs- und Gesichtswahrnehmung dieser Schwingung auch nur ein Zeichen der Wirkung, oder die Voraussicht ihrer Ursache. Sofern aber der Hirt \u00fcberlegt, dafs das in diesem Sinne als Schwingung Auf tretende das gleiche ist, wie das im Geh\u00f6r als Ton Vernommene, so braucht er sich nur noch vorzustellen, dafs diese Wellen durch ein elastisches Medium, wie die Luft, fortgepflanzt, beim Auf treffen auf eine reflektierende Oberfl\u00e4che gebeugt werden und das noch kurz vorher als ein Ph\u00e4nomen ohne Ursache erscheinende Echo tritt jetzt als ein Ph\u00e4nomen auf, das durch das gleiche verursacht wird, was sein Ber\u00fchrungsgef\u00fchl und seine Augen als Schwingung wahrnahmen. Die isolierte akustische Wahrnehmung vermag nicht die Ursache des akustischen Eindrucks klarzustellen und aus diesem Grund erscheint das Echo als ein nicht begr\u00fcndeter oder verursachter Vorgang, ebenso wie der Gesichtssinn nicht experimentell ergr\u00fcnden konnte, was das Licht brach. Es gen\u00fcgte aber die Entdeckung dieser Ursache durch eine andere experimentelle Wahrnehmung, um das Echo als das Zeichen desselben zu erachten, was jenes veranlafste. Ebenso wird der Physiker, wenn wir ihn fragen, ob die Schwingung der Ton ist, uns kurz entschlossen sagen, dafs das nicht der Fall ist, weil sie blofs die Bedingung seines Auftretens darstellt. Es kann also diese Bedingung, dieses Ding, diese Sache, die an sich ebensowenig eine Schwingung ist, nicht anders als durch die Hilfe anderer wahrnehmender Funktionen aufgefunden","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n423\nwerden; wenn sie aber einmal entdeckt ist, so w^eifs man auch, wof\u00fcr das Echo das Zeichen ist.\nWir sehen also, dafs wir, wenn ein Bild auf seine Ursache durch die trophische Erfahrung bezogen wird, erkennen, welches das Zeichen ist, durch das wir seine Gegenwart bemerken. Erscheint aber ein Bild und fehlt uns die Erfahrung f\u00fcr seine Ursache, so stellt es sich zun\u00e4chst f\u00fcr uns als willk\u00fcrlich dar, oder als nicht mit denselben Garantien aufgetreten, die wir bei dem f\u00fcr wahr erachteten vorfinden. So h\u00e4lt der Hirt die akustischen Bilder f\u00fcr wirklich, die ihm die Anwesenheit seiner Umgebung anzeigen und glaubt, wenn er das Echo trifft, nicht, dafs dieses Bild eine T\u00e4uschung ist, weil er nicht weifs, welcher realen Sache es entspricht, da ihm ja die Erfahrung f\u00fcr diese reale Sache abgeht. Zeigt ihm der Sinn dasselbe Bild zu wiederholten Malen, so bildet er sich schliefslich \u00fcber diese Erscheinung ein Urteil, indem er ihr einen rein empirischen Wert beilegt, weil er experimentell ihre Ursache nicht kennt und so l\u00e4fst er das Problem ihrer Verfolgung offen und geht bei ihrem Verst\u00e4ndnis so vor, wie er das bei der Zuweisung der Klangfarbe an jede Sache getan hat, weil er im Grunde genommen ja weifs, dafs an der Klangfarbe eines K\u00f6rpers den Glaskelch erkennen so viel heifst, wie durch die motorische Erfahrung die so unterschiedlich von allen anderen K\u00f6rpern der Umgebung t\u00f6nende Sache feststellen; und wissen, dafs das Echo uns das gleiche anzeigt, was f\u00fcr das Gesicht und das Gef\u00fchl schwingt, heifst, die Ursache des Echos feststellen. Von diesem Augenblick an wird das Echo nicht mehr als ein willk\u00fcrlicher Vorgang angesehen, weil im Geiste die Voraussicht dessen gegeben ist, was im Ohr eintreten mufs, wenn bestimmte Schwingungen sich in der Luft folgen.\nDas Problem der Kausalit\u00e4t ist f\u00fcr den Menschen immer in derselben Weise gegeben : Niemals erscheint das Empfindungsbild spontan, aber man weifs nicht, mit welchem \u00e4ufseren Vorg\u00e4nge es verkn\u00fcpft ist, und das mufs man eben feststellen. Zu diesem Zweck m\u00fcssen wir den Sinn dem Eindruck anpassen und bei der Aufstellung dieser Beziehung zwischen Subjekt und Objekt bemerken wir, dafs das Objekt immer in gleicher Weise auf uns wirkt. Die Voraussicht dessen, was uns immer in gleicher Weise zu beeinflussen hat, nennen wTir Ursache, den empfangenen Eindruck Wirkung, den inneren Vorgang, durch den sich eine","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nR. Turr\u00f4.\nBeziehung zwischen Ursache und Wirkung hergestellt hat, Erfahrung. Diese Beziehung erachten wir als logisch und notwendig, weil das, was zu folgen hat, nicht anders folgen kann, als jene es festgestellt hat. Versetzen wir beispielsweise einen K\u00f6rper, dessen Grundton von bestimmten harmonischen Obert\u00f6nen begleitet ist und der in der Klangfarbe des Kristalles t\u00f6nt, an eine bestimmte Stelle im Raum, so sagen wir, dafs dieser Ton ein unterschiedlicher ist und diesem K\u00f6rper eigent\u00fcmlich. Diese Erfahrung leitet sich von der Vereinigung zweier Elemente her. W\u00fcfsten wdr nicht, dafs dieser Klang von dem K\u00f6rper ausgeht, weil wir nicht durch die trophische Erfahrung seine Ursprungsstelle festgelegt haben, so w\u00fcrde d er Ton uns doch gleich klingen, aber wrir w\u00fcrden nicht wissen, was ihn im Gef\u00fchle hervorgerufen hat und er w\u00fcrde uns nichts zur Erkenntnis dessen n\u00fctzen, was in der Aufsenwelt unserem Ohr so t\u00f6nt. Weil wir aber eine Verbindung zwischen diesem t\u00f6nenden K\u00f6rper und seinem Sinneseindruck hergestellt haben, so haben wir auch die Voraussicht der von ihm hervorzubringenden Wirkung durch die Beobachtung erworben, dafs der K\u00f6rper immer den gleichen Effekt hervorruft. Ebenso bringt der das Echo zeitigende Ton zwei einander folgende Wirkungen hervor, ohne dafs wir wissen, dafs die eine die andere bedingt, weil wir zwischen dieser Ursache und dem sensorischen Effekt nicht die gleiche Beziehung hergestellt haben, wie zwischen ersterem und letzterem. Wir werden das erkennen, wenn das Geh\u00f6r die T\u00e4tigkeit der Schallwellen bei ihrer R\u00fcckkehr aufnimmt. Damit haben wir dann die Voraussicht des Echos, denn jetzt wie vorher verlegen wir das, was unser Geh\u00f6r zu beeinflussen hat, in die Aufsenwelt.\nSo sind wTir in einem wie dem anderen Fall der Meinung, dafs die Wirkung unbedingt dem Vorgang folgen mufs. Die Grundlage dieser Notwendigkeit ist gleicher Natur wie die Notwendigkeit einer mathematischen Wahrheit. Sobald wir sagen, wenn zwei Sachen einer dritten gleich sind, so sind sie einander gleich, so k\u00f6nnen wir mit der gleichen logischen Kraft auch sagen : wenn zwei Sachen einander gleich sind, und eine dritte ist diesen beiden gleich, so kann man unter ihnen keine Ungleichheit annehmen. Ebenso wenn wir sagen, dafs eine gleiche Ursache auch immer einen gleichen Effekt hervorzurufen","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n425\nhat, so nehmen wir damit an, dafs diese Ursache immer unver\u00e4ndert wie etw^as Dauerhaftes und keinem Wechsel Zug\u00e4ngliches bleibt, und dafs auch das Sinnesorgan ihr gegen\u00fcber in gleicher Weise reagieren wird. W\u00e4re die Aufsenwelt im Augenblick A nicht die gleiche wie im Augenblick B, oder reagierte das Sinnesorgan im Moment B nicht ebenso, wie im Moment A, so k\u00f6nnten wir auch nicht die Wirkungen voraussehen und Erfahrungen aufstellen. Aber das unsere Sinne Beeinflussende bleibt das gleiche heute, und auch in Zukunft. Die Gleichheit des Empfindungsvorganges zeigt uns, dafs das Sinnesorgan nicht willk\u00fcrlich oder eigenwillig vorgeht. Und gerade weil die Glieder, aus denen sich der Verstand zusammensetzt, in dieser Form gegeben sind, bilden sie die Erfahrung. Die Gleichm\u00e4fsigkeit der Funktion vorausgesetzt, zeigt uns die motorische Erfahrung, dafs immer die gleichen Effekte hervorgerufen werden, wenn wir die Sinne unter gleiche Bedingungen bringen und daraus schliefsen wir, dafs die Ursache die gleiche ist. Haben wir einmal diesen Schlufs gezogen, so wird auch die Kenntnis dieser Ursache klar und erweist sich als die Voraussicht dessen, was im Sinne zu folgen hat. Die M\u00f6glichkeit der Erfahrung gr\u00fcndet sich also auf die Voraussetzung, dafs die Glieder ihrer Zusammensetzung immer in gleicher Weise gegeben sind. An dem Tage, an dem das nicht mehr der Fall ist und das Glas dem Geh\u00f6r nicht mehr denselben Eindruck liefert wie bisher, oder der Honig nicht den gleichen Geschmack hervorruft, an dem Tage w\u00e4re die Erfahrung nicht m\u00f6glich. Da aber diese getr\u00e4umten Variationen nicht Vorkommen, so bleibt die Erfahrung immer als die Voraussicht einer begr\u00fcndeten sensorischen Wirkung bestehen. Wie der Mathematiker nicht folgern kann, dafs sein Axiom unzul\u00e4ssig ist, weil nicht zwei gleiche Dinge existieren, so kann der Physiker nicht folgern, dafs man aus dem Experiment nicht die notwendige Wahrheit ableiten k\u00f6nnte, blofs weil man die M\u00f6glichkeit zugeben kann, dafs ein gleicher sensorischer Vorgang nicht immer der gleichen Ursache folgt, sei es, dafs diese Ursache, sei es auch, dafs die Funktion sich ge\u00e4ndert hat. Dem Rechthaber, der die Gleichheit zweier Sachen nur deshalb nicht zugibt, weil sie eine Annahme ist, wird der Mathematiker antworten : Die Mathematik besteht gerade in dieser Voraussetzung. An dem Tage, wo es einem gut d\u00fcnkt, von diesen angenommenen Wahrheiten abzusehen, h\u00f6ren sie auf, solche zu sein. Das gleiche","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nR. Turr\u00f4.\nwird der Physiker antworten, wenn man ihm die metaphysische M\u00f6glichkeit vor Augen h\u00e4lt, dafs die zur\u00fcckkommenden Wellen nicht das Echo verursachten, dafs n\u00e4mlich an dem Tage, wto dies eintrifft, die Physik, die Experimental Wissenschaft und \u00fcberhaupt die M\u00f6glichkeit, irgendeine Wirkung der Aufsenwelt auf unsere Gef\u00fchle vorauszusehen, zu existieren aufh\u00f6rt. Solange aber noch die Vorg\u00e4nge so gegeben sind, wie sie es sind, ist auch noch das Entstehen der Intelligenz m\u00f6glich und mit ihr die Voraussicht der sensorischen Ph\u00e4nomene. Aus alledem geht hervor, dafs die Notwendigkeit des Wiedererscheinens eines sensorischen Vorganges, entsprechend der Voraussicht der Erfahrung, von der Natur dieser Einsicht selbst abh\u00e4ngt, derart, dafs, wenn ein Vorgang der gleichen Ursache gegen\u00fcber variieren w\u00fcrde, man nicht wissen k\u00f6nnte, f\u00fcr wTas er ein Zeichen ist und aus diesem Grunde ohne Einsicht w\u00e4re.\nWir begr\u00fcnden also die logische Notwendigkeit mit der Annahme, dafs der \u00e4ufsere Vorgang auf die Sinnesorgane immer in der gleichen Weise wirken wird, wie zur Zeit als wir die Erfahrung aufgestellt haben und mit der Annahme, dafs die sensorische Funktion immer in der gleichen Weise ablaufen wird, d. h. wir gr\u00fcnden sie auf die gleichen Elemente, die den Vorgang der Einsicht m\u00f6glich machen. Was wir Intelligenz nennen, ist weder eine Kraft, noch eine F\u00e4higkeit, noch eine die Einsicht hervorbringende Wirkung. Die Intelligenz ist ein Vorgang und leitet sich, wie jeder Vorgang, von den veranlassenden Bedingungen ab. In der gleichen Weise, wie das Licht nicht gebrochen ward, solange es nicht durch ein ablenkendes Medium hindurchgeht, so w\u00e4re es auch unm\u00f6glich, die Eindr\u00fccke ABC auf ihre Ursachen zu beziehen, wenn man die Sinne nicht durch die motorische Erfahrung denselben anpafste, ein Ph\u00e4nomen, das wir Einsicht nennen. Aber die Einsicht ist derart, dafs wir durch sie wissen, dafs der Sinn immer die gleichen Eindr\u00fccke empf\u00e4ngt, wenn man sie unter gleiche Bedingungen bringt, und das ver-anlafst uns zu glauben, dafs zu dieser Folge einerseits die Dauerhaftigkeit der Ursache, andererseits die Gleichheit der Funktion n\u00f6tig ist, weil wir bei der gegenteiligen Annahme nicht dasselbe folgen sehen k\u00f6nnten, was nach unserer Erfahrung immer folgt, und dann w\u00fcrde man die M\u00f6glichkeit des intellektiven Vorganges ebensowenig einsehen, wie man die M\u00f6glichkeit der Lichtbrechung","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n427\nohne die Existenz eines mehr oder minder dichten Mediums verstehen kann, durch das das Licht hindurchgehen mufs.\nDie Notwendigkeit, dafs der Honig genannte K\u00f6rper im Tastgef\u00fchl, im Auge und im Geschmack diese und keine anderen Eindr\u00fccke hervorruft, gr\u00fcndet sich in der gleichen Notwendigkeit, die uns zu der Erkenntnis zwingt, dafs das Dreieck eine von drei geraden Linien begrenzte Fl\u00e4che ist. Wie wir eine solche Fl\u00e4che als Dreieck erachten, so betrachten wir als Honig das, was die Sinne uns in bestimmten Eindrucksformen vorf\u00fchren, die wir im Geiste als Anzeichen seiner Gegenwart betrachtet haben. Das Glas klingt wie Glas, Bronze wie Bronze, nicht weil es sich in der Erfahrung, wie wir oben festgestellt haben, immer so wiederholt, sondern weil sie notwendigerweise immer so klingen m\u00fcssen. Denn wenn wir diese Klangfarbe als das Zeichen ihrer wechselseitigen \u00e4ufseren Vorg\u00e4nge erachten, so haben wir damit auch festgestellt, dafs sie mit zwingender Logik so klingen m\u00fcssen und werden, wenn das nicht eintritt, sagen, dafs das nicht Glas oder Bronze ist, was t\u00f6nt. Zur Objektivierung aller dieser elementaren Eindr\u00fccke gen\u00fcgt uns die Festsetzung ihrer Ursachen durch die motorische Erfahrung und damit erwerben wir die Voraussicht ihrer Wirkung auf uns und betrachten diese Wirkungen als notwendig und k\u00f6nnen wiederholen, dafs in diesem Punkte unser Urteil so beschr\u00e4nkt ist, dafs, wenn diese Wirkungen nicht in der vorausgesehenen Art erscheinen, wir nicht glauben k\u00f6nnen, dafs die Ursache so wirkt wie fr\u00fcher oder das Gef\u00fchl in gleicher Weise reagiert. Wir versichern entschlossen, dafs das, was jetzt auf uns wirkt, nicht der gleiche Gegenstand ist, wie vorher. Eine solche Willk\u00fcr erscheint uns, wenn einmal die einen geistigen Vorgang begr\u00fcndenden Bedingungen gegeben sind, unbegreiflich, weil mit ihr auch die Grundlage zerst\u00f6rt wird, aus der sie sich herleitet.\nHume sagt, dafs das Problem der Empfindungen (die wir AVahrnehmungen nennen) ein sehr dunkles ist und das veranlafste ihn zu dem Glauben, dafs es absolut nicht notwendig w\u00e4re, den kausalen Zusammenhang der Ph\u00e4nomene zu studieren. In Wirklichkeit kann man nicht zu der Erkenntnis gelangen, wTie ein Ph\u00e4nomen zustande kommt, solange man sich nicht dar\u00fcber Klarheit verschafft hat, wie ein einfacher Vorgang auf seine Ursache bezogen werden mufs. Hier gibt es nicht zwei Vorg\u00e4nge,","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nR. Turr\u00f4.\nes gibt nur einen von einem neuen Gesichtspunkte. Der Vorgang, auf Grund dessen der Physiker beispielsweise das Echo auf seine Ursache bezieht, ist im Grunde genommen gleicher Natur wie der, den der Hirt ausf\u00fchrt, um die verschiedenen wahrgenommenen T\u00f6ne auf Gegenst\u00e4nde seiner Umgebung zu beziehen. Sie unterscheiden sich ausschliefslich in der Art, die Ursache des Echos zu entdecken, einen Modus, den der Hirt nicht kennt.\nIn der Tat gen\u00fcgt es f\u00fcr den Hirten, um die T\u00f6ne seiner Umgebung auf Gegenst\u00e4nde, die sie aussenden, zu beziehen, das Bewufstsein des Ortes zu besitzen, den er einnimmt. Er hat gemerkt, dafs jeder Gegenstand in besonderer Weise t\u00f6nt, und da er die Lage dieser Gegenst\u00e4nde kennt, so projiziert er die akustischen Bilder in die Richtung, in der diese Gegenst\u00e4nde sich befinden. Mehr weifs er nicht, und wenn das Echo ert\u00f6nt, so verlegt er es in der klaren Erkenntnis seines Ursprungsortes in diese Richtung und bildet sich auch eine Vorstellung von der Entfernung, weifs aber nicht, von welchem Gegenstand oder welcher Ursache es herkommt. Was der Hirt nicht weifs, weifs der Physiker. Was f\u00fcr ersteren nur ein Mittel ist, um den einen Gegenstand von dem anderen unterscheiden zu k\u00f6nnen, ist f\u00fcr den zweiten ein Mittel, um zu erkennen, wie diese Gegenst\u00e4nde schwingen. Diese Erkenntnis ist eine visuelle, und wenn man entdeckt hat, dafs das Gleiche, was das Gesicht in bestimmter Form als schwingende Bewegung mit Eindr\u00fccken verriet, auf das Geh\u00f6r als Ton wirkt, so bildet sich in diesem Augenblick ein so enger Zusammenhang zwischen der Form der gesehenen Schwingungen und den Modalit\u00e4ten der akustischen Empfindung, dafs man mit ihrer Hilfe den Erfolg auf das Geh\u00f6r vor seinem wirklichen Eintreten voraussehen kann. Was hat der Physiker entdeckt, was der Hirt nicht gemerkt hat? Er hat durch ein Gesichtszeichen die Ursache des Tones gefunden. Der Hirt wufste, dafs dieser Gegenstand anders t\u00f6nte, wie jener, und beschr\u00e4nkte sich daher darauf, die T\u00f6ne als unterschiedliche Zeichen derselben anzusehen. Der Physiker aber hat beobachtet, dafs die t\u00f6nenden Gegenst\u00e4nde schwingen und sch\u00e4tzte diese Schwingung als das Zeichen einer besonderen, auf das Geh\u00f6r wirkenden T\u00e4tigkeit ein. Der Hirt kannte die Ursache des Tones, indem er sie auf die Gegenst\u00e4nde bezog, und wenn diese Gegenst\u00e4nde fehlten,","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n429\nso erschienen sie ihm, wie das Echo, unbegr\u00fcndet. Sowie man mit dem Gesichtssinn das auf das Geh\u00f6r Wirkende als einen Schwingungen aussendenden und durch den Raum fortpflanzenden K\u00f6rper erkannt hatte, begriff man auch deutlich, dafs das gleiche, was auf der Retina das Bild einer bestimmten Schwingungsbewegung, im Geh\u00f6r einen Ton hervorrief. So sieht man, wie das Echo zum Zeichen einer Ursache wird, wenn man deren Existenz ausfindig macht.\nWenn Hume meinte, dafs zur L\u00f6sung des Problems der sensorischen Objektivierung das Studium der Kausalit\u00e4t nicht in Angriff genommen zu werden brauchte, so war er auch nicht in der Lage, die Urspr\u00fcnge der logischen Notwendigkeit zu entdecken. Unzweifelhaft antwortet die Gesichtswahrnehmung der Schwingung auf einen wirklichen Vorgang. Wir glauben nicht, dafs die K\u00f6rper schwingen, weil sie sich dem Gesichtssinn so darbieten, sondern weil wir wissen, dafs dieser Vorgang durch eine \u00e4ufsere Handlung bedingt ist. Ebensowenig glauben wir, dafs die K\u00f6rper t\u00f6nen, nur weil es in unserem Ohr t\u00f6nt, sondern weil dies gereizt wird. Die Grundlagen dieser Sicherheit sind keine subjektiven und h\u00e4ngen nicht von der Gewohnheit oder den instinktiven Antrieben der niederen \u00dcberlegung ab. Diese Grundlagen sind objektiv, weil sie die Erfahrung als solche hinstellt. Wenn also zwei Vorg\u00e4nge sich folgen, von deren einem wir wissen, dafs eine \u00e4ufsere Ursache ihn hervorruft, w\u00e4hrend wir vom anderen nicht wissen, was ihn bestimmt, so k\u00f6nnen wir, so oft sich der Vorgang durch Generationen auch unver\u00e4nderlich wiederholen mag, weder durch den Instinkt, noch irgendeine subjektive Bedingung induktiv oder a priori zwischen ihnen jemals einen Kausalnexus auf stellen, solange die das Zweite begr\u00fcndende, objektive Bedingung unbekannt ist. In dem angef\u00fchrten Beispiel wirkt die Ursache auf unser Gef\u00fchl und unser Gesicht, Sinnesgebiete, aus denen sich urspr\u00fcnglich das Verst\u00e4ndnis der schwingenden, akustischen Bewegung ableitet. Wir haben die Ursache als die Voraussicht des sensorischen Vorganges definiert und begreifen deshalb, dafs das, was uns alle sensorischen Modalit\u00e4ten, die das Geh\u00f6r ank\u00fcndigt, vorauszusehen erlaubt, uns auch gleichzeitig das Verst\u00e4ndnis f\u00fcr die Verkettung dieser Ph\u00e4nomene er\u00f6ffnen wird. Durch ein System gl\u00fccklich ausgearbeiteter Gesichtszeichen haben wir die Kenntnis","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nR. Turro.\nerlangt, dafs mit der Ver\u00e4nderung der Schwingungsform auch der Klang sich \u00e4ndert, und so haben wir im voraus einen Gesichtseindruck gebildet, der uns die Erkenntnis dessen erlaubt, was im Ohre a priori vor sich gehen wird, oder doch bevor es eintritt. So sagen wir beispielsweise, dafs die H\u00f6he eines Tones von der Zahl der von einem K\u00f6rper in der Zeiteinheit ausgehenden Schwingungen abh\u00e4ngt, und diese Voraussicht ist logisch oder notwendig, weil uns das Experiment gezeigt hat, dafs die gleiche Ursache, die auf der Retina die Schwingungszahl bedingt hat, im Geh\u00f6r die H\u00f6he des Tones veranlafst.\nDie Grundlage dieser Notwendigkeit ist eine objektive, uns aufgezwungene, und aus diesem Grunde betrachten wir sie als notwendig. Wir wissen nicht, dafs die K\u00f6rper mit h\u00f6herem Ton schneller schwingen, aber wir nehmen es wahr, und so unterscheiden wir den Ton einer dicken und einer d\u00fcnnen Saite bei gleicher L\u00e4nge und Spannung ohne die Notwendigkeit, sie zu sehen. Wenn wir aber einige experimentelle Kunstgriffe ausf\u00fchren, so k\u00f6nnen wir uns auch durch das Gesicht \u00fcberzeugen, dafs sie in verschiedener Weise schwingen und werden uns leicht vorstellen, dafs das einen Einflufs auf den Ton hat. Sowie wir aber entdeckt haben, dafs das, was den Gesichtseindruck bedingte, auch seine akustische Eigenschaft hervorrief, so stellen wir eine innere Beziehung zwischen diesen beiden Wirkungen her, ein psychophysiologisches Band zwischen dem Gesichts- und Geh\u00f6rsvorgang, und von diesem Augenblick an f\u00fchlen wir, dafs diese die Schwingungsgeschwindigkeit anzeigenden Gesichtszeichen zugleich solche der akustischen Eigenschaft sind, und damit haben wir ihnen eine viel umfassendere Bedeutung gegeben, als sie vorher hatten. Vom empirischen Standpunkte aus scheint allerdings zwischen der Schwingungszahl und der H\u00f6he der akustischen Empfindung nichts Gemeinsames zu bestehen. Wenn wir aber \u00fcberlegen, dafs unsere Bilder nicht, wie man sagt, Vorstellungen von Dingen, sondern Zeichen \u00e4ufserer Vorg\u00e4nge sind, so ahnen wir, dafs das Gesichtszeichen eines Vorganges als derselbe Vorgang aufgefafst werden kann, wenn er auf das Geh\u00f6r zur\u00fcckf\u00e4llt, sofern wir nur glaubhaft machen, dafs dasselbe die eine oder andere Wirkung hervorbringt, und so formt sich die Voraussicht und vereinfacht sich die innere Ausdrucksweise, durch die wir die Wirkungen kennen, die wir zu probieren haben.","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Die physiologische Psychologie des Hungers.\n431\nWir sehen also, dafs die Grundlage der logischen Notwendigkeit immer objektiv ist. Wenn man sagt, die logische Notwendigkeit, so meint man \u00e4ufsere Veranlassung, d. h. das, was nicht vom Subjekt abh\u00e4ngt, was bleibt, und wie die ewige Bedingung des sensorischen Ph\u00e4nomens fortbesteht. Andererseits folgen sich alle Zust\u00e4nde, die im Subjekt gegeben sind, ohne feste, sie veranlassende \u00e4ufsere Bedingung im Bewufstsein, als ob sie durch die kausale Beziehung festgelegt w\u00e4ren. Aber wir betrachten ihre Folge nicht als notwendig, da uns nichts zu dem Glauben zwingt, dafs sie sich immer in gleicher Weise folgen m\u00fcssen. Die K\u00f6rper, die im Geh\u00f6r t\u00f6nen, schwingen vor den Augen und diese empirische Gleichzeitigkeit, die der eine und andere Sinn uns anzeigen, zwingt uns doch nicht zu der Meinung, dafs diese K\u00f6rper t\u00f6nen, weil sie schwingen. Um dieses notwendige Urteil abgeben zu k\u00f6nnen, fehlt uns die Erfahrung, die, ob wir wollen oder nicht, die kausale Verkn\u00fcpfung zwischen dieser Schwingung und den dadurch bedingten T\u00f6nen klar zu machen hat, obwohl das eine oder andere Ph\u00e4nomen uns isoliert klar ist. Ebenso sind die Phasen des Mondes, die Folgen der Jahreszeiten, die Wirkung eines Arzneimittels, alle jene Wahrheiten empirischer Natur uns in gleicher Weise gegeben, wie der Ton und die Schwingung, ohne dafs die Intelligenz den sie verkn\u00fcpfenden Kausalnexus auf gestellt hat. Unter diesen Umst\u00e4nden glauben wir, dafs die Reihe in k\u00fcnftigen Zeiten in gleicher Weise erscheinen wird, wie in der Vergangenheit, und bis wir die objektive Determinante dieser stetigen Reihe von Ph\u00e4nomenen entdeckt haben, k\u00f6nnen wir nicht urteilen, dafs ihre Folge eine zwangsl\u00e4ufige ist. Trotzdem sehen wir empirisch die Folge voraus, wenn wir das Kommende vorwegnehmen, und es kann uns nicht verwundern, dafs, wenn wir empirisch denken, die Intelligenz in gleicher Weise funktioniert, als wenn wir a priori denken. Denken heilst immer vorhersehen. Halten wir uns aber an die Resultate dieser Voraussicht, so besteht praktisch ein grofser Unterschied zwischen der notwendigen Voraussicht und der empirischen, da ja die erstere sicher weissagt, w\u00e4hrend die zweite sich t\u00e4uschen kann. Das auf dem Kausalnexus der Vorg\u00e4nge errichtete Verm\u00f6gen wird der Nachwelt in Ewigkeit vererbt. Aber das rein empirische Verm\u00f6gen, so sch\u00e4tzbar es an sich sein mag, kann nur zum Niefsbrauch vermacht werden. Zur empirischen Wahrheit fehlt ihm die","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nR. Turr\u00f4.\n\u00e4ulsere Erfahrung, die es zur H\u00f6he einer notwendigen Wahrheit erhebt, weil es aus vorher im Subjekt bestehenden Daten sch\u00f6pft, ohne dafs die Kenntnis erworben worden w\u00e4re, wie diese uns gegeben sind. Sowie die Bedingungen ihres Zustandekommens entdeckt sind, erwirbt man auch eine \u00e4ufserst klare Erkenntnis, wie sie sich immer zu wiederholen haben, und damit gehen sie in einen notwendigen Vorgang \u00fcber. Aus diesem Grund ist die empirische Beobachtung nur ein Vorl\u00e4ufer der logischen Wahrheit, und so bleibt es immer sehr schwer die Grenzen zu ziehen, wo die erste aufh\u00f6rt und die zweite anf\u00e4ngt.","page":432}],"identifier":"lit33588","issued":"1911","language":"de","pages":"217-306, 327-432","startpages":"217","title":"Die physiologische Psychologie des Hungers [Zweiter Teil und Schlu\u00df]","type":"Journal Article","volume":"45"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T17:01:10.536368+00:00"}

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