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{"created":"2022-01-31T14:30:57.521938+00:00","id":"lit33591","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Sternberg, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 45: 433-459","fulltext":[{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"433\nDer Appetit in der exakten Medizin.\nVon\nDr. Wilhelm Steknbekg-, Berlin.\nDie exakte moderne Medizin strebt danach, in ihre Disziplinen die exakteste aller Geisteswissenschaften einzuf\u00fchren, die Mathematik, gem\u00e4fs dem Urteil von Kaxt x, der in den metaphysischen Anfangsgr\u00fcnden der Naturwissenschaften angibt, dafs \u201ein jeder besonderen Naturlehre nur soviel eigentliche Wissenschaft anzutreffen ist, als darin Mathematik angetroffen werden k\u00f6nne\u201c. Allein die exakte moderne Medizin beschr\u00e4nkt sich doch blofs auf die eine Disziplin der Mathematik. Das ist die Arithmetik. Die tiefere Begr\u00fcndung hierf\u00fcr liegt in einer einseitigen Bevorzugung der Chemie. So wird die Zahl zum Ausdrucksmittel der exakten Klinik. Und schon hierin begeht die klinische Algebra zwei weitere Fehler. Denn einmal \u00fcbersieht sie die kleine Zahl, und sodann vergifst die Klinik zumeist den negativen Wert.\nWas den einen Fehler angeht, so habe ich 1 2 wiederholt darauf hingewiesen, dafs die klinische Di\u00e4tetik zumeist all die feineren minuti\u00f6seren Reizwirkungen \u00fcbergeht und lediglich die gr\u00f6beren Effekte ins Auge fafst. In recht auff\u00e4lliger Weise zeigt sich dieser Gegensatz bei der Beurteilung der Wirkung der Gew\u00fcrze, deren hom\u00f6opathische Dosen f\u00fcr die Kochkunst schon ausreichen zur Herstellung der Schmackhaftigkeit und Abwechselung, um\n1\t\u201eMetaphysische Anfangsgr\u00fcnde der Naturwissenschaft.\u201c Neu hrsg. von A. H\u00f6fler in: Ver\u00f6ffentl. d. Philos. Ges. an der Universit\u00e4t Wien, o. Vorrede S. 6. Leipzig 1900.\n2\t\u201eErn\u00e4hrungslehre und Ern\u00e4hrungstechnik\u201c. Ztschr. f. phys. u. di\u00e4t. Ther. 1909. \u2014 \u201eGrunds\u00e4tze f\u00fcr den Genufs der Genufsmittel\u201c. Vier. d. Geyenw. Juni 1909. \u2014 \u201eAppetit und Appetitlichkeit in der Hygiene und in der K\u00fcche\u201c. Ztschr. f. phys. u. di\u00e4t. Ther. 13. \u2014 \u201eZur Physiologie des Kitzelgef\u00fchls\u201c, Fortsch. d. Med. 1911. Nr. 29.","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nWilhelm Sternberg.\nden Appetit zn reizen. Ein weiterer Fall der Vernachl\u00e4ssigung\n\u2022 \u2022\nder arithmetisch kleinen Werte ist das Ubersehen der Kitzelgef\u00fchle in der Physiologie. Und dieser Fehler tritt wiederum in der Ern\u00e4hrungslehre besonders hervor, in der die Kitzelgef\u00fchle berufen sind, eine hervorragende Bedeutung zu erlangen.\nZu diesem einen mathematischen Fehler der \u201eexakten\" Klinik tritt der zweite auf dem Gebiet des Appetitproblems.\nZufolge seiner Tierexperimente sieht Pawlow 1 als das Wesen des Appetits die Saftsekretion an: \u201eApj:>etit ist Saft\". Dafs Saftsekretion infolge des Appetits eintritt, das hatten ja bereits lange vor Pawlow die verschiedensten Forscher erkannt, wie Beaumont -, Bidder und Schmidt1 2 3 4, Voit 4 u. a, m. Aber kein Autor hatte sich vor Pawlow zu der Schlufsfolgerung hinreifsen lassen, dafs der Saft das einzige Ph\u00e4nomen oder auch nur das wesentlichste des Appetits sei. Zudem begehen Pawlow und die gesamte \u201eexakte\u201c Schule mit der modernen Annahme, dafs Appetit Saft w\u00e4re, den logischen Fehler, dafs sie zwei vollkommen heterogene Dinge in urs\u00e4chlichen Zusammenhang bringen wollen. Denn die Saftsekretion, auch die des Mundes, ist doch \u2014 in der Hauptsache wenigstens \u2014 erst eine Funktion der zeitlich zweiten Phase der Ern\u00e4hrung, der Verdauung; hingegen der Appetit hat \u2014 direkt und unmittelbar \u2014 gar nichts mit der Verdauung gemein, sondern bedeutet die Lust, etwas \u201ezu sich zu nehmen\u201c, die Liebe, das Verlangen, die Gier, die Begierde, das Begehren, die Neigung, den Willen zur Nahrungsaufnahme, und bezeichnet somit die zeitlich allerersten Vorg\u00e4nge der Ern\u00e4hrung im engeren Sinne, der Nahrungsaufnahme und der Mundverpflegung. Mag der Appetit auch die Verdauung beeinflussen, so ist dies doch immer blofs das Sekund\u00e4re und mehr Nebens\u00e4chliche gegen\u00fcber der prim\u00e4ren und haupts\u00e4chlichen Einwirkung des Appetits auf die erste Phase der Er\u00f6ffnung und Austreibung innerhalb der Mundh\u00f6hle. Indem j\u00fcngst\n1\t\u201eDie Arbeit der Verdauungsdr\u00fcsen\u201c, Wiesbaden 1897, S. 106.\n2\t\u201eExperiments and observations on the gastric juice and the Physiology of digestions\u201c, Boston 1834, Exp. 32, S. 153. \u2014 Vgl. \u201eGeschmack und Appetit\u201c Ztschr. f. Sinnesphysiol. 43, S. 319. 1908.\n3\t\u201eDie Verdauungss\u00e4fte und der Stoffwechsel. Eine physiologischchemische Untersuchung\u201c. Mitau u. Leipzig 1852. S. 35.\n4\t\u201e\u00dcber die Kost in \u00f6ffentlichen Anstalten\u201c. M\u00fcnchen 1876, S. 18. \u2014 Hermanns Handb. der Physiol., 1881, Bd. VI, S. 422.","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n435\nHaudek und Stigler 1 dies \u00fcbersehen, wiederholen sie die Fehler von Pawlow bez\u00fcglich des Wesens vom Appetit; und ebenso Brugsch1 2 3, da er den Appetit als den \u201em\u00e4chtigen Faktor der Verdauung\u201c ansieht. Aber auch abgesehen davon, ergibt sich aus der Hypothese der PAWLOwschen Schule f\u00fcr die exakte mathematische Auffassung vom eigentlichen Wesen des Appetits zweierlei :\n1.\tDer Wert .des Appetits wird hierbei als arithmetische Gr\u00f6fse angesehen. Denn es h\u00e4tte keinen Sinn, etwa von einer geometrischen Gr\u00f6fse der Safterregung zu reden, von einem planimetrischen oder gar stereogeometrischen Wert der Saftabscheidung.\n2.\tDer Wert des Appetits wird als positive Zahl angegeben. Denn es h\u00e4tte keinen Sinn, etwa von einer negativen Gr\u00f6fse der Safterregung zu reden. Der niedrigste Wert ist der Nullpunkt, die Anazidit\u00e4t. So ist der FTmfang und Bereich des Wertes vom Appetit in der klinischen Algebra: die Anazidit\u00e4t, die Hypazidi-t\u00e4t oder Subazidit\u00e4t und die Hyperazidit\u00e4t. Zwar hat man aufser der Reizung auch schon das Gegenteil, die Hemmung der Sekretion, durch die Appetitlosigkeit gleichfalls in Rechnung gezogen. So untersucht Molnar 3 im experimentell-biologischen Institut den Hemmungsmechanismus der Magen- und Darmdr\u00fcsen und K. Grandauer4 den hemmenden Einflufs der Psyche auf die Sekretion des menschlichen Magens. Schon ber\u00fccksichtigen Grandauer und Oskar Fischer5 nicht blofs die Einwirkung der Psyche auf den Appetitsaft, sondern sie ziehen sogar die Konse-\n1\tMartin Haudek und .Robert Stigler, \u201eRadiologische Untersuchungen \u00fcber den Zusammenhang zwischen der Austreibungszeit des normalen Magens und Hungergef\u00fchl\u201c. Pfl\u00fcgers Arch. 133, 1910, S. 145.\n2\t\u201eDi\u00e4tetik innerer Erkrankungen zum praktischen Gebrauche f\u00fcr \u00c4rzte und Studierende\u201c, Berlin 1911, S. 35 u. S. 15.\n3\t\u201eZur Analyse des Erregungs- und Hemmungsmechanismus der Magendr\u00fcsen\u201c. Dtsch. med. Wochenschr. 1909, Nr. 17, S. 754. Verein f. inn. Med. 22. M\u00e4rz 1909. \u2014 \u201eZur Analyse des Erregungs- und Hemmungsmechanismus der Darmsaftsekretion\u201c. Dtsch. med. Wochenschr. 1909, Nr. 32.\n4\t\u201eDer hemmende Einflufs der Psyche auf die Sekretion des mensch-\nlichen Magens und seine Bedeutung f\u00fcr die diagnostische Verwertbarkeit des Probefr\u00fchst\u00fccks.\u201c Dtsch. Arch. f. Min. Med. 101.\t1910.\n5\t\u201eDer Einflufs des Appetits auf die Magent\u00e4tigkeit und seine Bedeutung f\u00fcr die funktionelle Magendiagnostik.\u201c M\u00fcnch, med. Wochenschr., 1911, Nr. 7.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.\n28","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nWilhelm Sternberg.\nquenzen daraus f\u00fcr die Praxis, indem sie den psychischen Faktor des Appetits zur Verwertung der funktionellen Diagnose auch bei Verabreichung des Probefr\u00fchst\u00fccks mit in Rechnung ziehen. Jedenfalls kommt aber stets die Safterregung einzig und allein in Frage. Und dieses Objekt der exakten Forschung, die Safterregung, hat doch immer nur eine Ausdehnung.\nNun sind aber jene beiden durch das Tierexperiment scheinbar so exakt fundierten mathematischen Werte des Appetits in Wirklichkeit doch unrichtig :\n1.\tDer Appetit ist nicht eine positive Zahl.\n2.\tDer Appetit ist nicht eine arithmetische Gr\u00f6fse.\n\u2022 \u2022\nA)\tWie Erfahrung und \u00dcberlegung lehren, ist der Appetit eine polare Gr\u00f6fse, nicht eine positive.\nB)\tWie die Beobachtung lehrt, ist der Appetit eine geometrische Gr\u00f6fse, nicht eine arithmetische.\nA) Im Begriff und in der Empfindung hat der Appetit ein polares Gegengewicht. Ebenso wie die Anziehungskr\u00e4fte, die physikalischen, die chemischen, die elektrischen, in den Abstofsungs-kr\u00e4ften ihre polaren Gegenst\u00fccke haben, die sich wie positiv zu negativ verhalten und als Summation den Nullpunkt geben, ebenso hat auch der Appetit sein polares Gegenst\u00fcck. Die klinische Erfahrung zeigt, dafs die Verringerung des Appetits in dem Nullpunkt der Appetitlosigkeit durchaus noch nicht ihre Grenze erreicht, sondern \u00fcber die Appetitlosigkeit weit hinausreicht und bis zu einem negativen Wert hinuntergeht.\nDabei ist aber der Begriff des Negativen nicht etwa blofs in dem Sinne aufzufassen, wie er f\u00e4lschlich in der Nomenklatur der Klinik benutzt wird. Denn die \u201eexakte\u201c Medizin sagt einer Reaktion, die \u201enicht positiv\u201c ausf\u00e4llt, stets nach, sie sei \u201enegativ\u201c. Ebenso behauptet Bickel1: \u201eDie Psyche beherrscht die Magen-saftsekretion in positivem und negativem Sinn.\u201c In diesen F\u00e4llen heifst negativ blofs =0, so viel wie \u201eNull\u201c, \u201enicht positiv\u201c. Aber tats\u00e4chlich ist der negative Wert der Appetitlosigkeit in mathematischem Sinne als negativ aufzufassen und bedeutet <C 0, d. h. \u201ekleiner als Null\u201c. Der negative Wert geht, genau so wie in der Mathematik, als Verringerung \u00fcber den Nullpunkt hinaus und bedeutet den Gegensatz von positiv, der mit der-\nll \u201eExperimentelle Untersuchungen \u00fcber die Magensaftsekretion beim Menschen.\u201c Dtsch. med. Wochenschr., 16. August 1906.","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n437\nselben Gr\u00f6fse von entgegengesetztem Vorzeichen als Summe den Nullpunkt ergibt. So geht der positive Wert des Appetits, des\n+\to\t\u2014\nI-------------1-------------1\nWille\tUnwille\tWider-\nWillenlosigkeit wille\nWillens zur Nahrungsaufnahme, \u00fcber den Nullpunkt der Willenlosigkeit oder des Unwillens hinaus zum Widerwillen, von der Neigung oder Zuneigung \u00fcber die Gleichg\u00fcltigkeit hinaus zur Abneigung, zur Aversion, von der Sympathie \u00fcber den Nullpunkt der Apathie hinaus zur Antipathie. Widerwillen, Willenlosigkeit und Willen verhalten sich wie Mifsbehagen, Unbehagen und Wohlbehagen oder wie Mifsklang, Klanglosigkeit und Wohlklang u. a. m. Die griechische Sprache bezeichnet den Gegensatz einerseits mit \u00f4v\u00e7 oder xax\u00f6g und andererseits mit ev, wie wir ja auch\nin der Klinik \u201eDystrophie44, \u201eKachexie44 und \u201eEuphorie44 sagen, oder\n\u2022 \u2022\t\u2022 \u2022\nWohlwollen und Ubelwollen, Wohltat und \u00dcbeltat. Die franz\u00f6sische Sprache bezeichnet den Gegensatz mit go\u00fbt und d\u00e9-go\u00fbt. Es kommen also zwei entgegengesetzte Pole in Betracht. Es handelt sich also um das, was die deutsche Sprache mit \u201eF\u00fcr44 und \u201eWider44 bezeichnet. So sagt Alba im Egmont1 2: \u201eund jetzt, da es zu tun ist, wehr\u2019 ich mir kaum, dafs nicht das F\u00fcr und Wider mir aufs neue durch die Seele schwankt44. Es handelt sich um den Begriff des Kontr\u00e4ren und Kontradiktorischen , den bereits Aristoteles 2 so oft hervorhebt. Es ist der Gegensatz von Gift und Gegengift, in deren Mitte der Begriff der Heilmittel und Genufsmittel steht. Die Klinik bezeichnet den Gegensatz mit dem Pr\u00e4fix Per-, Para-, Anti-, w\u00e4hrend der Nullpunkt mit dem Pr\u00e4fix A- gekennzeichnet wird. So verwendet die Klinik die technischen Ausdr\u00fccke : Aversion und Perversion, An\u00e4sthesie und Par\u00e4sthesie, Aphasie und Paraphasie, Phimosis und Paraphimosis, Antik\u00f6rper = Plemmungsk\u00f6rper = Abwehrstoffe u. a. m.\nJeder Praktiker hat wohl schon gelegentlich der un\u00fcberwindlichen Appetitlosigkeit des Kranken diesen polaren Gegensatz beim Patienten unbewufst hervorgehoben. Wenn n\u00e4mlich der\n1\tVierter Aufzug.\n2\t\u201e\u00dcber die Kategorien\u201c Kap. 6 u. 10. \u201e\u00dcber die Auslegung\u201c. Metaphysik. Buch V, Kap. 9 u. 10. Buch X, Kap. 3 u. 4.\n28*","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nWilhelm Sternberg.\nwillenlose, unwillige oder widerwillige Patient auf die \u00e4rztliche Zurede zu essen, beharrlich entgegnet, er kann nicht essen ohne Appetit, es ist ihm eine Unm\u00f6glichkeit, so mahnt ihn wohl der Praktiker, ohne Appetit zu essen oder gar gegen den Appetit. Und tats\u00e4chlich bildet der Widerwille und die Abneigung, der h\u00f6chste Grad der Appetitlosigkeit, denselben Gegensatz zu dem Willen, zu der Neigung gegen\u00fcber der Nahrungsaufnahme, also zum Appetit, in der Klinik, denselben Gegensatz, den in der Physik und in der Kristallographie die enantiomorphen Antipoden oder wie in der Chemie die stereogeometrischen Isomeren der organischen Verbindungen mit einem asymmetrischen Kohlenstoffatom zueinander bieten. In der Anatomie sind solche erg\u00e4nzenden Gegenst\u00fccke und Spiegelbilder die beiden symmetrischen H\u00e4lften des K\u00f6rpers, in der Physiologie die das stereoskopische Sehen erm\u00f6glichenden symmetrischen Gesichtsbilder. In der Klinik sind solche polaren Gegens\u00e4tze gleichfalls bekannt und ihre Anwendungsformen \u00fcblich: Indikation und Kontraindikation, Infektion und Immunit\u00e4t, Sepsis und Antisepsis, Infektion und Desinfektion, Dot und Antidot u. a. m.\nDer Appetit, die Liebe zum Essen, verh\u00e4lt sich zum Widerwillen, zur Abscheu, geradezu wie die Liebe zum Hafs, zur Scheu, zur Furcht. Und tats\u00e4chlich spricht man ja auch in der Chemie von Liebe und Hafs, von Avidit\u00e4t und Affinit\u00e4t, von positiv und negativ, wie man fr\u00fcher vom corpusculum masculinum und feminimum sprach. Sogar auch in der Klinik spricht man von Liebe und Hafs oder Scheu und Furcht, z. B. von H\u00e4mophilie, Spasmophilie, eosinophilen Zellen, basophilen Zellen, andererseits von Misogynie, Misop\u00e4die, Misandrie, Misanthropie Menschenscheu oder von Phobien : Photophobie. Sogar von der Ffslust, also vom Appetit selber, spricht Plato 1 in diesem Sinne : Tbv a\u00e7a\nTCEQL TCt fACtxHjflCCTCt \u00d6vG/EQaLVOVTa .... L\u00fcGTtEQ TOV TtEQ\u00cf Ta OLT ta \u00d6v(J%\u00a3Qfj OVTE TtELVjjV CpatlEV OV TE \u00a3 Tt L & V (.1 E\u00ceV OLTLCOV OU\u00d6E Cp lI 6 G LT O V ,\nalla xax 6 o lto v sivaL. \u201eVon dem, der mit Widerwillen an das Lernen geht, kann man gewifs nicht sagen, er sei begierig oder er liebe die Weisheit, so wie wir auch von jenem, der einen Widerwillen gegen Speisen hat, nicht sagen, dafs er hungere oder dafs er Speisen begehre oder dafs er efslustig sei, sondern eben, dafs er appetitlos ist.\u201c\n1 Republ. V, 475c. \u2014 Pfl\u00fcgers Arch. 134. S. 116. \u201eDas Krankheitsgef\u00fchl.\u201c","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n439\nSo popul\u00e4r und allt\u00e4glich ist einmal die Erfahrung \u00fcber den Widerwillen der Nahrungsaufnahme gegen\u00fcber, der den Nullpunkt der Appetitlosigkeit \u00fcberschreitet, und zweitens die Beobachtung, dafs diese Erscheinung gerade bei den Kranken zutrifft. Diese beiden Tatsachen sind aber der modernen, exakten Medizin vollkommen fremd geblieben. Um so auffallender ist die Tatsache, dafs diese Beobachtung auch noch von einem anderen Philosophen ausdr\u00fccklich wiederholt wird. Spinoza1 ist es, der sich folgendermafsen ausdr\u00fcckt: \u201eComedit aeger id, quod aversatur, timor\u00e9 mortis ; sanus autem cibo gaudet et vita sic melius fruitur, quam si mortem timeret eamque directe vitare cuperet.\u201c \u201eDer Kranke ifst, was ihm zuwider ist, aus Besorgnis vor dem Tode. Der Gesunde aber erfreut sich an der Speise und geniefst sein Leben besser, als wenn er den Tod f\u00fcrchtete und ihn unmittelbar zu vermeiden sucht. \u201c\nW\u00e4re also wirklich die Saft-Sekretion die einzige k\u00f6rperliche Erscheinung des Appetits oder auch nur die haupts\u00e4chlichste, dann m\u00fcfste der S\u00e4ure-Sekretion bei Appetit eine Alkali-Sekretion im h\u00f6chsten Falle von Appetitlosigkeit entgegenstehen, wie ich diese Forderung bereits aufgestellt habe, und nicht blofs der Nullpunkt der Anazidit\u00e4t. Dieser Fortschritt der Erkenntnis in der inneren Medizin gleicht dem in der \u00e4ufseren von der Antisepsis zur Asepsis. Seltsam ist dabei der historische Entwicklungsgang der Erkenntnis in beiden Disziplinen. Denn er hat hier den gegenteilige^ Weg genommen. In der \u00e4ufseren Medizin gelangte man zun\u00e4chst zur Antisepsis und zur Desinfektion, \u00fcber der Desinfektion und der Antisepsis erst zur Asepsis. Der Weg f\u00fchrte gewdssermafsen \u00fcber dem polaren Gegensatz der Sepsis zum Nullpunkt der Asepsis zur\u00fcck.\nNullpunkt\n0\t\u2014\n\u2014I\u2014---------\u25a0\u2014|\nA-\tAnti-\nSepsis\tSepsis\nGerade umgekehrt ist der Fortschritt der Erkenntnis in der inneren Medizin. Denn er f\u00fchrt in ein und derselben Richtung\n4-\ni-\nSepsis\n1 Ethiees pars III. De affectibus IV, 63, De servitute humana seu de affectuum viribus.","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nWilhelm Sternberg.\n\u00fcber dem Nullpunkt der Appetitlosigkeit zum polaren Gegensatz des Appetits, zum Begriff des Widerwillens.\nAppetit Appetitlosigkeit Ekel\nDer polare Gegensatz von Appetit, der sich zum Appetit verh\u00e4lt wie positiv zu negativ, wie S\u00e4ure zu Alkali, wie die stereogeometrischen Antipoden, ist das Ekelgef\u00fchl.\nDer Ekel, abominatio, der Abscheu, die Scheu ist das zur\u00fcckdr\u00e4ngende Gef\u00fchl, das scheu macht. Der Ekel ist die nat\u00fcrliche Abwehr, die uns abst\u00f6fst. Ekel und Appetit verhalten sich wie zwei entgegengesetzte Pole. Und dieser Ekel, die h\u00f6chste Steigerung der Appetitlosigkeit, ist ein Gef\u00fchlston der meisten Sinne, der physikalischen und vorzugsweise der chemischen Sinne, die ja den gr\u00f6fsten Einflufs auf den Appetit aus\u00fcben. Spricht man doch sogar von \u201eEkelgeschmack\u201c, und bezeichnet die franz\u00f6sische Sprache ja bis auf den heutigen Tag den Ekel geradezu mit \u201ed\u00e9go\u00fbt\u201c. Daher darf der, der das Problem des Appetits l\u00f6sen will, die Einwirkung der Sinne auf den Appetit nicht vergessen. Und damit gewinnt die Physiologie der Sinne und zumal der niederen Sinne eine besonders hohe, bisher kaum geahnte Bedeutung.\nMan darf das Studium der den Appetit beeinflussenden Faktoren nicht etwa blofs auf die Wirkung der Psyche beschr\u00e4nken. Denn erstlich hat die Psyche, allein und unmittelbar, nur negativen Einflufs auf den Appetit, indem sie blofs den Appetit verlegt, aber nie erregt. Diese Tatsache, in der modernen Medizin stets \u00fcbersehen, findet sich sehr h\u00e4ufig in der sch\u00f6nen Literatur. Sie ist ja die einzige Zufluchtsst\u00e4tte f\u00fcr die Wiedergabe von allt\u00e4glichen Beobachtungen der in der modernen Medizin fremden latsachen und darum eine wahre Fundgrube f\u00fcr die Erforschung dieser dem Experiment weniger zug\u00e4nglichen Fragen. Lessino1 hebt jene Beobachtung zweimal in \u201eMinna von Barnhelm\u201c hervor:\nFranz.: Sie k\u00f6nnen unm\u00f6glich satt sein, gn\u00e4diges Fr\u00e4ulein.\nDas Fr\u00e4ulein: Meinst du, Franziska? Vielleicht, dafs ich mich nicht hungrig niedersetzte.\nFranz.: Wir hatten ausgemacht, seiner w\u00e4hrend der Mahl-\n1 Vierter Aufzug, erster Auftritt.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n441\nzeit nicht zu erw\u00e4hnen. Aber wir h\u00e4tten uns auch vornehmen sollen, an ihn nicht zu denken.\nDas Fr\u00e4ulein: Wirklich, ich habe an nichts als an ihn gedacht. \u2014\nAn anderer Stelle sagt Franziska1 zu v. Tellheim : \u201eWir wollen uns gleich auch putzen und sodann essen. Wir behielten Sie gern zum Essen, aber Ihre Gegenwart m\u00f6chte uns an dem Essen hindern ; und sehen Sie, so gar verliebt sind wir nicht, dafs uns nicht hungerte.\u201c\nDieselbe Beobachtung macht Goethe 2 3, indem er Kl\u00e4rchen die Worte in den Mund legt:\n\u201eUnd dann denk ich: Wenn er bei mir ist, hab? ich gar keinen Hunger; so sollte er auch keinen grofsen Appetit haben, wenn ich bei ihm bin.\u201c\nDas ist es, wTas die \u201eexakten\u201c Forscher vergessen. Die gr\u00f6fste psychische Erregung ist nicht einmal im st\u00e4nde, den Appetit hervorzurufen. Vielmehr ist das gerade Gegenteil der Fall. Auch die aus den verschiedensten Anl\u00e4ssen hervorgerufene, selbst freudigste Stimmung ist blofs dazu geeignet, den Gegensatz von Appetit zu bewirken, Appetitlosigkeit zu erzeugen, den Appetit zu verlegen und Ekel vor dem Essen zu erregen.\nWas sodann den positiven Einflufs der Psyche auf den Appetit anlangt, so ist dieser nur sekund\u00e4r, indirekt und mittelbar durch die Sinne. Und da konnten Meyer und Gottlieb 3 sogar auch bei Klistieren von einer psychisch-appetitreizenden Wirkung sprechen, indem sie dem Einflufs der Schmackhaftigkeit die Wirkung von der Afterschleimhaut aus gleich setzen!\nBedeutungsvoller aber als alle psychischen Reflexe und psychischen Einwirkungen auf den Appetit sind die sensuellen. Dabei sind jedoch die sensiblen Reflexe sicherlich nicht h\u00f6her einzusch\u00e4tzen als der Appetit selber. Krehl4 nimmt dies freilich an. Und von den sensuellen Reflexen auf die Allgemeingef\u00fchle der Ern\u00e4hrung, auf das Allgemeingef\u00fchl des Appetits und auf das Allgemeingef\u00fchl des Ekels, kommen am meisten in Betracht die seitens der chemischen Sinne. Die Empfindungen der chemischen Sinne bilden geradezu\n1\tDritter Aufzug, zehnter Auftritt.\n2\tDritter Aufzug.\n3\t\u201eDie experimentelle Pharmakologie als Grundlage der Arzneibehandlung.\u201c S. 143. 1910.\n1 \u201ePathologische Physiologie.\u201c Leipzig 1910. Aufl. 6. S. 332.","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nWilhelm Sternberg.\nden \u00dcbergang von blofser Sinnesempfindung zum Allgemeingef\u00fchl, wie ich1 2 3 hervorgehoben habe. Geschmack und Geruch sind die sinnlichsten Gef\u00fchlsempfindungen. Viel mehr als alle anderen Sinne ist der chemische Sinn mit psychischen Gef\u00fchlen verkn\u00fcpft. Die Gef\u00fchlsbetonung der chemischen Sinnesqualit\u00e4ten ist so hochgradig, dafs man diese niederen Sinne als die subjektiven affektiven den physikalischen objektiven gegen\u00fcber stellt.\nDabei ist die Beeinflussung der polaren Allgemeingef\u00fchle durch die Sinne so hochgradig, dafs man sogar von polaren Sinnesqualit\u00e4ten reden kann. Und diese polare Eigenschaft bezieht sich nicht etwa blofs auf die Intensit\u00e4t der Sinnesempfindungen, sondern sogar auf die Qualit\u00e4t.\nSchon auf dem Gebiete des Geh\u00f6rsinnes wirken die Dur- und Moll-Tonarten unbestritten in entgegengesetztem Sinne auf die psychische Stimmung. E. E. Becker 2 legt soeben die Bedeutung von Dur- und Moll f\u00fcr den musikalischen Ausdruck dar. Die minimale objektiv-sinnliche \u00c4nderung, nichts weiter als der blofse\nWechsel eines halben Tones, der Eintritt der kleinen Terz statt\n\u2022 \u2022\nder grofsen gen\u00fcgt, eine so erstaunliche \u00c4nderung der psychischen Beeinflussung herbeizuf\u00fchren. Obersteiner 3 meint sogar, dafs derartige scharfe Distinktionen auf keinem anderen Sinnesgebiete in dieser Allgemeinheit wiederzutreffen seien, eine Ansicht, die ich 4 5 versucht habe, einzuschr\u00e4nken.\nEinen \u00e4hnlichen Gegensatz bieten die Qualit\u00e4ten des Gesichtssinnes. An Farben unterschied Goethe 5 geradezu \u201eaktive\u201c, \u201epositive\u201c auf der \u201ePlus-Seite\u201c und \u201epassive\u201c, \u201enegative\u201c auf der \u201eMinus-Seite\u201c. Die \u201enegativen\u201c Farben, z. B. Blau, sollen Sehnsucht erregen. Dagegen sollen Gelb und Rot lebhaft wirken. Und in der Tat wird Rot allgemein angenehm empfunden, so sehr, dafs, wie6 bemerkt, die russische Sprache in der Mundart des Volkes und in der alten Poesie die Bezeichnung f\u00fcr die rote\n1\t\u201eDas Krankheitsgef\u00fchl,\u201c Pfl\u00fcgers Arch. 134, S. 10o.\t1910.\n2\tZeitschr. f. \u00c4sthetik 1910. \u2014 Diss. W\u00fcrzburg 1909.\n3\t\u201eZur vergleichenden Psychologie der verschiedenen Sinnesqualit\u00e4ten.\u201c Grenzfragen des Nerven- und Seelenlebens. Heft 39. S. 29. 1908\n4\t\u201eGeschmack u. Sprache\u201c. Ztschr. f. Psychol. 56, S. 104.\t1910.\n5\t\u201eZur Farbenlehre.\u201c Didaktischer Teil. 6. Abt. Sinnlich sittliche Wir kung der Farbe. \u00c4sthetische Wirkung.\n6\t\u201eDas Krankheitsgef\u00fchl.\u201c Pfl\u00fcgers Archiv 134, S. 106. 1910.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n443\nFarbe der f\u00fcr die Sch\u00f6nheit gleichsetzt. Ganz besonders ist die weifse Farbe in ihrer Einwirkung auf die Lebhaftigkeit ausgezeichnet. Dieselben Tiere von weifser Farbe, M\u00e4use, H\u00fchner, wirken ganz anders auf uns als die von dunkler Farbe. Die Ursache, warum die Maus und die Ratte uns in so \u00fcberaus auffallender Allgemeinheit Ekel und Abscheu vor dem Verzehren ihres Fleisches erregen, ist zu einem Teil auch auf ihre Farbe zur\u00fcckzuf\u00fchren. Schwarz war von je her die Farbe der Trauer. So sagt Plutarch1: \u201eWie Demades den Athenern vorwarf, schlossen sieden Frieden nie anders als in schwarzen Gew\u00e4ndern.\u201c Diese trug man n\u00e4mlich zur Zeit \u00f6ffentlicher Trauer nach erlittenen Niederlagen und Verlusten. Etc\u00f9 <f coottbo o Arjfnadrjg rco-ABinxovg \u00e2xcd\u00e7ajg jovg \u2019A&rjvatovg ovrag eXeye\t(e) %blqo-\nrovtlv eioijv^v \u00e4vev /ntXavojv lucaitov.\nDer psychischen Einwirkung aller Sinnesempfindungen weit \u00fcberlegen ist aber der chemische Sinn.\nDer Geruch als der Fernsinn par excellence erregt am ehesten Ekel und Appetit aus weitester Ferne. Dabei ist die Einwirkung auf den Appetit eine doppelte. Denn sie beschr\u00e4nkt sich nicht blofs auf die Liebe zur Nahrungsaufnahme, auf den eigentlichen Appetit, sondern dehnt sich auch auf die Liebe schlechthin aus, auf den sexuellen Appetit, den appetitus coeundi. Ist es doch der Geruch, der aus weitester Ferne die Anziehungskraft der einzelnen Geschlechter im Tierreich zueinander aus\u00fcbt. Die nasalen Reflexe beschr\u00e4nken sich nicht blofs auf das Organsystem, dem der Geruchssinn vorgesetzt ist, auf das Respirationssystem, wie dies Joal 2, Gourewitsch 3, Beyer4 u. a. m. berichten, sondern sie dehnen sich auch auf das Genitalsystem aus, wie dies Fliess 5,\n1\t\u201eGesundheitsvorschriften\u201c. De tuenda sanitate praeeepta IX, 126d u. e.\n2\t\u201eEpistaxis dues aux odeurs.\u201c Revue heptomadaire d\u2019oto\u00ee. et de rhinol. 1877 No. 26.\n3\t\u201e\u00dcber Reflexe vom Olfactorius auf Atmung und Kreislauf.\u201c Inaug. Diss. 1883.\n4\tBeyer, \u201eAtemreflexe auf Olfactoriusreiz.\u201c Arch. f. Physiol. S. 201. 1901.\n5\t\u201e\u00dcber den urs\u00e4chlichen Zusammenhang von Nase und Geschlechtsorgan. Zugleich ein Beitrag zur Nervenphysiologie.\u201c Halle 1902. \u2014 \u00bbDie Beziehungen zwischen Nase und weiblichen Geschlechtsorganen.\u201c Leipzig und Wien 1897.","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nWilhelm Sternberg.\nKoblanck 1i A. Kuttnee 1 2, Hagen 3 beweisen. Ich 4 habe darauf bereits hingewiesen.\nDer Unterschied in der Wirkung des angenehmen und unangenehmen Geruchs ist so grofs, dafs man diese Reizwirkung der wirklichen Anziehung und Abstofsung an die Seite setzen m\u00f6chte. Es dr\u00e4ngt sich dieser Vergleich f\u00f6rmlich auf mit der anziehenden Kraft und mit der abstofsenden Kraft im anorganischen Reich, in der Physik, Elektrizit\u00e4t und in der Chemie. Selbst die moderne Sinnesphysiologie des Geruchssinnes kann nicht einmal f\u00fcr ihre Einteilung der Geruchsqualit\u00e4ten auf die Beeinflussung des Ekelgef\u00fchls durch die Ger\u00fcche verzichten, wie ich5 ausgef\u00fchrt habe. Denn sie benutzt diese psychische Einwirkung des Geruchs geradezu als Qualit\u00e4t des Geruchssinnes selber zur Klassifikation der Ger\u00fcche, vollends in doppeltem Mafse. Nicht allein, dafs die moderne Einteilung der Qualit\u00e4ten des Geruchs nach Linn\u00e9 und Zwaaedemakee eine Gruppe von den neun Qualit\u00e4ten der Ger\u00fcche als odores tetri = \u201ewiderliche\u201c Ger\u00fcche auff\u00fchrt \u2014 der Ausdruck teter soll mit taedium Zusammenh\u00e4ngen \u2014 , ist sie sogar darauf angewiesen, noch eine zweite, von dieser getrennte Gruppe als odores nauseosi = \u201eekelhafte\u201c Ger\u00fcche \u2014 auch nausea vavala = taedium ! \u2014 anzunehmen. Und in der Tat ist der Geruch der Sinn, der am leichtesten Ekel zu erregen vermag. Das hat bereits Plutaech 6 konstatiert: 3H oti (.idhoza vaiziav yavel twv a\u00eeofhjoEtov fj bocpgr^tg.\nDer Geschmack schliefslich, der chemische Nahsinn, ist der Sinn, der wie kein anderer auf den Appetit wirkt. Das, was den Appetit nun einmal am meisten beeinflufst, im positiven und im negativen Sinn, ist der Geschmack mittels der oralen Reflexe. Der Wohlgeschmack erregt den Appetit. Schon Geschmacklosigkeit, Ungeschmack oder gar Ekelgeschmack bewirken Ekel. S\u00fcfs schmeckt allen Lebewesen \u201enach mehr\u201c. S\u00fcfs ist allgemein angenehm und zieht an. Bitter ist unangenehm und st\u00f6fst ab.\n1\t\u201e\u00dcber nasale Reflexe.\u201c Dtsch. med. Wchschr. Nr. 24.\t1908.\n2\t\u201eDie nasale Dysmennorrhoe.\u201c Dtsch. med. Wchschr. Nr. 24.\t1908.\n3\t\u201eDie sexuelle Osphr\u00e9siologie. Die Beziehungen des Geruchsinns und des Geruchs zur menschlichen Geschlechtst\u00e4tigkeit.\u201c 2. Aufl. Berlin 1906.\n4\t\u201eDer Appetit in der experimentellen Physiologie und in der klini-\nschen Pathologie.\u201c Ztbl. f. Physiologie 23, Nr. 10, S. 17.\n,Das Krankheitsgef\u00fchl\u201c. Pfl\u00fcgers Arch. 134, S. 111.\t1910.\n\n6 Mor. 914 e. A\u00cfticl yvoir.\u00e2. IA'. Jh\u00e0\nTtX\u00e9oVTES T] TOV\u00a3 TZOTCIUOVS, Y.\u00e2v 8V ya\u00c2tfvr] Tt\u00ce\u00c9COOL ;\nTL ua/./.ov ravTicooi rt]v\n0~ \u00ab/.\nau ai'","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n445\nSchon Plato 1 f\u00fchrt darum die beiden Sinnesqualit\u00e4ten von S\u00fcfs und Bitter als polare Gegens\u00e4tze auf. Im \u201eThe\u00e4tet\u201c spricht er von der S\u00fcfsigkeit, die dem Kranken als das Gegenteil, als Bitterkeit, erscheint. Diese Beobachtung wiederholt er hier sogar noch ein zweites Mal. Im \u201eGastmahl\u201c 1 2 legt er \u00fcberdies dem Arzt Eryximachos die Worte in den Mund : (Tavccvricbiaxa) am ey&iOTa %a evavTii\u00fcTcacc, xpvyQov &\u00a3Qj.iCp, 7tr/.Qov ykvxe\u00ef, \u00a7rj\u00e7ov vyQ(p, 7tccvia xa xoiavxa. \u201eDas Feindlichste ist das Entgegengesetzteste, das Kalte dem Warmen, das Bittere dem S\u00fcfsen, das Trockene dem Nassen.\u201c\nIn gleicher Weise fafst auch Ciceeo3 den Gegensatz von S\u00fcfs und Bitter auf und stellt ihm den Gegensatz von Warm und Kalt an die Seite: \u201eomne enim animal sensus habet; sentit igitur et calida et frigida et dulcia et amara nec potest ullo sensu iucunda accipere non accipere contraria\u201c.\nIn \u00e4hnlicher Weise hat sogar der bedeutendste Mathematiker des vorigen Jahrhunderts die Geschmacksqualit\u00e4ten S\u00fcfs und Bitter als entgegengesetzt im mathematischen Sinne, als symmetrische Gegenst\u00fccke wie Rechts und Links aufgefafst. Es war am 8. Februar 1846, als Gauss4 an Schumachek ein Schreiben richtete, aus dem klar hervorgeht, dafs Gauss dank einer wirklich genialen Intuition schon geahnt hatte, dafs die L\u00f6sung des Raumproblems nur eine physiologische sein k\u00f6nne : ,,Auf welche Weise ich in meinen dem usw. Pieper gehaltenen Vortr\u00e4gen den Unterschied zwischen Nord- und S\u00fcdpol ausgesprochen habe, ist mir selbst nicht mehr erinnerlich. Der Unterschied zwischen rechts und links l\u00e4fst sich aber nicht definieren, sondern nur vorzeigen, so dafs es damit eine \u00e4hnliche Bewandtnis hat wie mit S\u00fcfs und Bitter, Omne simile claudicat aber; das letztere gilt nur f\u00fcr Wesen, die Geschmacksorgane haben, das erstere f\u00fcr alle Geister, denen die materielle Welt apprehensibel ist, zwei solche Geister aber k\u00f6nnen sich \u00fcber rechts und links nicht anders un-\n1\tThe\u00e4tet XIV, 159 d. \u2014 XX, 166 e. (Pfl\u00fcgers Arch. 131, S. 433 und S. 434. 1910.)\n2\tXII, 186 d.\n3\tDe nat. deorum lib. Ill, cap. 13, \u00a7 32.\n4\tC. A. F. Peters, Briefwechsel zwischen C. F. Gauss und H. C. Schumacher (1860\u20141865: 5 B\u00e4nde). Altona 1863. 5. Band Xr. 1048 (448 des Briefs) S. 126. (Pfl\u00fcgers Arch. 131 S. 435. 1910 und \u201eKochkunst und Heilkunst\u201c 1906. S. 63.)","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\nWilhelm Sternberg.\nmittelbar verst\u00e4ndigen, als indem ein und dasselbe materielle individuelle Ding eine Br\u00fccke zwischen ihnen schl\u00e4gt . . . Welche Geltung diese Sache in der Metaphysik hat, und dafs ich darin die schlagendste Widerlegung von Kants Einbildung finde, der Raum sei blots die Form unserer \u00e4ufseren Anschauung, habe ich succinct in den G\u00f6ttingischen Gelehrten Anzeigen 1831, S. 635 ausgesprochen.**\nUnd in der Tat stehen sich beide Sinnesqualit\u00e4ten : S\u00fcfs und Bitter objektiv und subjektiv, in physiologischer und in psychologischer Hinsicht diametral gegen\u00fcber, um so mehr, als sie sich gegenseitig beeinflussen und aufheben, gleichsam als w\u00e4ren sie wirklich polare Eigenschaften wie positiv und negativ, wie rechts und links, wde corpusculum masculinum und femininum, wie S\u00e4ure und Alkali, wde die chemischen, physikalischen und elektrischen Pole. Das zeigt sich bereits in der Einwirkung der Geschmacksqualit\u00e4ten auf die Mimik und auf die Bewegung des Kopfes. Denn das Kopfnicken als Zusage, als Wollen, als Begier, und das Kopfsch\u00fctteln als Absage sind gleichfalls entgegengesetzte Gegenst\u00fccke, gewissermafsen als polare Gegens\u00e4tze aufzufassen. Das hat bereits Plato1 erkannt: \u201eWirst du also das Nicken mit dem Kopf e dem Kopf sch\u00fctteln und das Verlangen, etwras zu bekommen, dem Zur\u00fcckweisen und das Ansich-ziehen dem Von sich st of sen und ebenso alles derartige einander als entgegengesetzt bezeichnen? \u2014 Aber gewdfs, sagte er, als Entgegengesetztes. \u2014 Das D\u00fcrsten und das Hungern und \u00fcberhaupt die Begierden und hinwiederum das W\u00fcnschen und das Wollen, w\u00fcrdest Du nicht all dieses unter jene erste hier erw\u00e4hnte Art rechnen; wie z. B. wirst Du nicht behaupten, dafs immer die Seele des Begehrenden entweder jenes verlange, wTas sie begehre oder an sich ziehe, wovon sie will, dafs es ihr werde oder hinwiederum, soweit sie w\u00fcnscht, dafs ihr etwas verschafft wTerde, sie hierbei in sich selbst mit dem Kopfe nicke, wie wrenn sie jemand gefragt h\u00e4tte, da sie ja danach sich sehnt, dafs jenes aus ihr werde?\u201c\n'Aq olv, fjv \u00f63 eyco, to emveveiv tco avccveveiv neu to ecpleoS'cU Tivog Xa\u00dfelv tCo \u00e0jtcxQve\u00efo^ai yml to TtQOo\u00e2yeod'ca tCo \u00e0rccod'e\u00efo&ai, Ttccvia tcc TOtavTcc tCov \u00e8vavTuov alXrjXoig d'etre ehe Ttoir^idTcov site 7Zcc&rj[.iaTcov; ov\u00f4ev y\u00e0\u00e7 TcivTrj dioloei. AX/A ft \u00d4* og, twv evavTiwv.\n1 Republ. IV, 437 b. XIII.","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n447\nTL ovv; fjv d\u2019iyc\u00fc, \u00f4npf\u00eev xal netvfiv xal olcog rag ETttd'Vf.uag, xal av to e&\u00e9Xelv xal to \u00dfovleo&ai, ov nccvza taura eig EXE\u00efvd not av i\u00efsLrjg Ta e\u00ef\u00f4t] Ta vvv d\u00efj Xeyt&\u00e9vT a; oiov \u00e2el ttjv t ov ETCL&v[iovvTog ipvyrjv ovyl fpcot icpleo&ai cprjOEtg exelvov, ov av Ertt&vpfj, ?} nQOoayEoS'at tovto, b av \u00dfovhfjTat oi ysv\u00e9od'at, fj av xa&\u2019ooov eS'sXel tL ol tcoql-odfjvat eruvevEtv tovto rcqbg avTrjv cootcsq ttvbg EQtoTwvTog ETCOQeyoiievrjv avTov tfjg yevEGEwg ;\nDie Mimik ist gerade bei Geschmacks- und Geruchsreizen eine so auffallende, dafs man aus ihr sogar bei Tieren auf das Wohlbehagen, Unbehagen oder Mifsbehagen des Geschmacks und Geruchs R\u00fcckschl\u00fcsse ziehen kann. Bei der Pr\u00fcfung des bitteren Geschmacks war es mir 1 aufgefallen, dafs die Individuen, zumal Kinder, so wenig auch von dem gasf\u00f6rmigen, leicht sich verfl\u00fcchtigenden Bitterstoff auf die Zunge gebracht wurde, so sehr sich auch die Betreffenden selber schon davon \u00fcberzeugt hatten, dafs auf die Zunge gar kein materieller K\u00f6rper gebracht war, sich doch nicht enthalten konnten, mit lebhafter, unverkennbarer Gesichtsmimik sogar auszuspeien. Mitunter mufsten die verschiedenen Individuen sich f\u00f6rmlich sch\u00fctteln. Dieser nerv\u00f6se Sch\u00fcttelfrost ist etwa vergleichbar dem Sch\u00fcttelfrost bei der Ejakulation der letzten Tropfen Harns. Auch die Tiere sch\u00fctteln sich bei den unangenehmen Empfindungen. Das Kopfsch\u00fctteln als Verneinung und das Kopfnicken als Bejahung d\u00fcrfte, wie ich 2 bereits hervorgehoben habe, auf diese Reflext\u00e4tigkeit durch den Geschmack zur\u00fcckzuf\u00fchren sein. Im Falle von Widerwillen und Abscheu beobachtet man selbst beim Tier die k\u00f6rperliche Abneigung, zumal des Kopfes, ganz besonders des Mundes, den man nicht einmal mit Gewalt der Nahrung zu n\u00e4hern vermag.\nDie Bewegung des Kopfes im Falle von Appetit, n\u00e4mlich das Kopfnicken, als Zusage, ist als Anziehung dem gegen\u00fcber aufzufassen, was den Appetit erregt. Die gegenteilige Bewegung des Kopfes beim h\u00f6chsten Grad der Appetitlosigkeit, das Kopfsch\u00fctteln als Absage ist als Abstofsung oder als Abwehr dem gegen\u00fcber aufzufassen, was den Appetit verlegt.\n\u00dcberhaupt kann der psychische Ekel wie der Schreck und die Furcht zur abstofsenden Abwehr f\u00fchren und zwar zu Ab weh r-\n1\t\u201eUnterscheidungsf\u00e4higkeit im Gebiete des Geschmacks und Geruchs.\u201c Pfl\u00fcgers Arch f. Physiol. 131, S. 443. 1910.\n2\t\u201eGeschmack und Appetit\u201c. Ztschr. f. phys. u. dicit. Ther., 11, S. 8.","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\nWilhelm Sternberg.\nbewegungen, nicht blofs des Kopfes, sondern des ganzen K\u00f6rpers. Diese Beobachtung, in der \u201eexakten\u201c Medizin unbekannt, ist so allt\u00e4glich und so popul\u00e4r, dafs sie sich in der klassischen Literatur h\u00e4ufig findet. So \u00fcbersetzt Hugo yon Hofmannsthal 1 die Worte von Sophokles im Oedipus:\nIO. Y.ccl fnijV \u00d6yvoj per, \u00e4 d* av sqtj f.ia&ova1 2 3 Iqco folgendermafsen :\nIocaste: Mich sch\u00fcttelt solche Furcht.\nGerhart Hauptmann 2 legt Hoffmann folgende Worte in den Mund: \u201eMilch \u2014 brrr \u2014 ! mich sch\u00fcttel t\u2019s\u201c.\nTats\u00e4chlich kommen selbst auf entlegenen D\u00f6rfern die ungebildetsten Bauern mit der einen einzigen Klage \u00fcber Appetitlosigkeit zum Arzt und kleiden sie in folgende Worte: \u201eDer Betreffende sch\u00fcttelt sich vor dem Essen\u201c, oder gar \u201ees sch\u00fcttelt ihn, wenn er essen soll oder andere essen sieht.\u201c Bemerkenswert ist dabei die Sprachform des Impersonale. Die Zahl dieser Impersonalien ist aufserordentlich beschr\u00e4nkt. Zudem sind diese Impersonalien in den meisten Sprachen dieselben. Schliefslich beziehen sie sich fast ausnahmslos auf dieselben somatischen Vorg\u00e4nge des Desideriums aus inneren Ursachen, des Deside-riums der Abgabe oder Aufnahme fremden Materials aus unseren Leibes\u00f6ffnungen oder in diese hinein. Dieses Desiderium, dieses Wollen, diesen Appetit, bezeichnen die Verba \u201edesiderativa\u201c im Lateinischen und Griechischen mit der Endigung urire bzw. idw und eito.\nSo hat der Ekel, der Antipode des Appetits, tiefgehende und weitreichende Einfl\u00fcsse auf den Gesamtorganismus.\nAus diesen Betrachtungen ergibt sich jedenfalls die Tatsache, dafs der Appetit eine polare Gr\u00f6fse ist.\nB) Der Appetit ist aber auch eine geometrische Gr\u00f6fse und nicht eine arithmetische. Denn Appetit ist Bewegung, wie ich 3 wiederholt bewiesen habe, und nicht blofs Saftsekretion. Der Appetit ist ein Gef\u00fchl, beruhend auf Muskelbewegung, somit ist der Appetit ein Muskelgef\u00fchl. Schon die Sprache wTeist darauf hin,\n1\tOIJinOE TYPANNOY 749 (976) \u00dcbers. 1911. Berlin, S. Fischer. S. 53.\n2\t\u201eVor Sonnenaufgang.\u201c 3. Akt. 1902. Berlin, S. Fischer. 9. Aufl. S. 78.\n3\t\u201eDer Appetit.\u201c Deutsch.Med. Wochenschr. 1908 Nr. 52. \u2014 \u201eDie Appetitlosigkeit.\u201c Zentralbl. f. Phys. 22, Nr. 8. \u2014 \u201eDer Appetit in der Theorie und in der Praxis.\u201c Zentralbl. f. Phys. 22, Nr. 11. \u2014 \u201eDer Appetit in der experimentellen Physiologie und in der klinischen Pathologie.\u201c Zentralbl. f. Phys. 23, Nr. 10.","page":448},{"file":"p0449.txt","language":"de","ocr_de":"449\nDer Appetit in der exakten Medizin.\nindem sie von Gem\u00fcts-\u201eBewegung\u201c, \u201emotus\u201c spricht. Auch hebt bereits Aristoteles 1 hervor, dafs Appetit Bewegung ist : f] \u00f4 q sxt txbv\nTO \u00c7(pOV, TCCVTf] aVTOV XLVTJTIXOV.\nEbenso sagt er1 2:\nael xiv el [ihv to \u00f4 q ext tx 6 v.\nDas, was den Appetit verlegt, st\u00f6fst die Tiere ab, und das, was den Appetit erregt, zieht die Lebewesen tats\u00e4chlich an. Daher kommt es auch, dafs man bei allen tierischen Lebewesen ohne Ausnahme von Appetit reden kann, dagegen nicht bei den Pflanzen. Die Pflanzen, die mit den Tieren sonst alle andern Vorg\u00e4nge der Erhaltung und Ern\u00e4hrung teilen, wie den \u201etierischen\u201c Stoffwechsel, die Atmung, selbst die Nahrungsaufnahme und vollends die Verdauung, sind bodenst\u00e4ndig. Tierische Bewegung und Empfindung geht den Pflanzen ab und damit auch der Appetit. Appetit ist Bewegung im Baum. Daher d\u00fcrfte sich dieser geometrische Gesichtspunkt f\u00fcr die Klinik des Appetits ebenso nutzbringend erweisen k\u00f6nnen, wie die Chemie des Baumes \u2014 Chimie de l\u2019Espace nannte van t\u2019Hoee sein Werk\u2014 durch diesen Gesichtspunkt gef\u00f6rdert wurde, van t\u2019Hoef wies nach, dafs die bisherige hypothetische Vorstellung vom C-Atom deshalb eine falsche sein m\u00fcsse, weil sie sich auf eine Ebene, also nur auf z w e i Dimensionen bezieht und somit keine k\u00f6rperliche sei. In Wirklichkeit ist das Atom doch aber k\u00f6rperlich, dreidimensional. Ebenso ist der Appetit nicht ein zweidimensionaler Vorgang, wie es die Hypothese der Saft-Sekretion annimmt, sondern ein r\u00e4umlicher, dreidimensionaler.\nWenn es aber richtig ist, dafs der Appetit eine geometrische Gr\u00f6fse ist, und wenn es ferner richtig ist, dafs er zugleich eine polare Gr\u00f6fse darstellt, dann mufs der Appetit eine gerichtete Bewegung oder gerichtete Gr\u00f6fse bedeuten, genau ebenso wie die Drehkraft des Polarisationsstrahls. Und das trifft auch in Wirklichkeit zu, und zwar in doppeltem Sinne. Denn einmal bewirkt der Appetit die Er\u00f6ffnung der ersten Wege des Ern\u00e4hrungsschlauches, w\u00e4hrend der h\u00f6chste Grad der Appetitlosigkeit in entgegengesetzter Bich tung die gegenteilige Schliefsung bewirkt. Sodann beeinflufst der Appetit noch die Peristaltik, w\u00e4hrend die\n1\tDe anima III, 10, 433 b, 27.\n2\tDe anima III, 10, 433 a, 27 u. 18.","page":449},{"file":"p0450.txt","language":"de","ocr_de":"450\nWilhelm Sternberg.\nAppetitlosigkeit in entgegengesetzter Richtung die antagonistische Antiperistaltik anzuregen vermag.\nWas zun\u00e4chst die Er\u00f6ffnung anlangt, so kommt f\u00fcr die Einwirkung des Appetits der Mund und nur der Mund in Betracht. Denn der Appetit bedeutet die Lust, etwas, was aufser-halb des K\u00f6rpers ist, zu sich zu nehmen, und zwar auf nat\u00fcrlichem Wege in den Mund. Die Mundh\u00f6hle hat aber wie jede K\u00f6rperh\u00f6hle einen sphincterartigen Verschlufs und zwar am Eingang und am Ausgang.\nEs ist merkw\u00fcrdig, welchen Gang die historische Entwicklung der Forschung \u00fcber den Verschlufs der verschiedenen Ringsysteme des Intestinalschlauches genommen hat. Nicht das erste Ringsystem, das zu allererst bei der Nahrungsaufnahme in Funktion tritt, nicht die Rachenenge, nicht des Ern\u00e4hrungskanals erste im Gesicht schon gelegene M\u00fcndung, der Mund und die Mundh\u00f6hle, wurden zuerst untersucht, sondern zu allerletzt, Zuerst wurde der Verschlufs der gewissermafsen letzten Station der ersten Nahrungswege zum Gegenstand der Forschung gemacht, der Verschlufs des Pylorus, der \u201eSphincter\u201c pylori, die \u201eValvula\u201c pylori. Erst dann wurde auf ihre Funktion die zeitlich und \u00f6rtlich \u00fcberragende \u00d6ffnung betrachtet, die Cardia, der Magen-\u201eMund\u201c. Der Weg der wissenschaftlichen Erkenntnis geht also in retrograder Richtung. Der Grund f\u00fcr die Vernachl\u00e4ssigung des Studiums der ersten M\u00fcndung liegt darin, dafs die innere Klinik der Physiologie der Mundh\u00f6hle \u00fcberhaupt weniger Aufmerksamkeit entgegengebracht hat.\nDie erste unmittelbarste Einwirkung des Appetits ist jedesmal die Er\u00f6ffnung des ersten Verschlusses, der ersten M\u00fcndung im Munde, des Sphincter oris. Im Falle des Appetits \u201esperren\u201c, \u201eschnappen\u201c auch die neugeborenen Tiere alle von jeher in jedem Fall die Mund\u00f6ffnung auf und f\u00fchren die Nahrung in die gesperrte M\u00fcndung. Das ist die unter dem Namen \u201eSperr-Reflex\u201c \u201eSchnapp-Reflex\u201c den Zoologen l\u00e4ngst bekannte Erscheinung. Auf diesem Reflex beruht die M\u00f6glichkeit des passiven \u00c4tzens der hungerigen Neugeborenen durch die atzenden Alten. So kommt es, dafs selbst die eben erst geborenen Tiere die Nahrung doch niemals in andere \u00d6ffnungen, etwa in die Nase oder ins Ohr einf\u00fchren, sondern stets in den Mund und nur in den Mund. Noch niemals hat es sich ereignet in der ganzen Weltgeschichte, dafs auch nur ein einziges Mal irgendwo irgend ein","page":450},{"file":"p0451.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n451\nLebewesen die Nahrung im Fall von Hunger oder Appetit in eine andere nat\u00fcrliche \u00d6ffnung, etwa in den After, eingef\u00fchrt h\u00e4tte. Das ist ja gerade das Unbegreifliche, dafs die eben erst geborenen Jungen so sicher und so regelm\u00e4fsig die nat\u00fcrliche M\u00fcndung des Mundes \u00f6ffnen wie die Erwachsenen, ja wie die Menschen. Daher hat ja Aristoteles die Instinkthandlungen der Tiere iiu(.\u00fc][j.ccTcc \u00e0vxt'QOJTtivvfi \u00c7cofj\u00e7 genannt. Sie k\u00f6nnen also nicht erst erworben sein im individuellen Leben, sondern sie m\u00fcssen angeboren sein. Tats\u00e4chlich ist dieser Reflex der zeitlich und wesentlich erste zur Erhaltung des Individuums. Er geh\u00f6rt zu den itQGivcu \u00e9galai, den primi Impetus, primi conatus, wie Cicero 1, Seneca 2 3, Hobbes 3 sagen. Damit mufs die Erforschung der eigentlichen Natur des Appetits auch Licht in den Begriff des Instinktes bringen, dessen Wesen Ziegler4 in einer Studie \u00fcber den Begriff des Instinktes einst und jetzt zusammengefafst hat.\nWas den Yerschlufs, bzw. die Er\u00f6ffnung des Ausganges der Mundh\u00f6hle betrifft oder des Einganges in die Rachenh\u00f6hle, so mufs man sich vergegenw\u00e4rtigen, dafs der Pharynx nicht etwa ein offener, starrer r\u00f6hrenf\u00f6rmiger Schlauch ist, und zumal der Eingang in den Pharynx nicht blofs eine freie \u00d6ffnung ist, wie es die Anatomie zu didaktischen Zwecken gew\u00f6hnlich darstellt. Vielmehr ist der Pharynx im normalen Zustand geschlossen, und der Eingang bildet, wenigstens in physiologischem Sinne, einen sphincterartigen Yerschlufs. Daher kommt es, dafs die Klinik eine Luftfigur, wie es die anatomischen Bilder zeigen, in physiologischem Sinne nicht annehmen darf. Demselben Fehler war man in der ersten Zeit der klinischen Gyn\u00e4kologie unteilegen, da man sich gleichfalls zufolge der anatomischen Didaktik eine Luftfigur des Genitale vorgestellt hat. Diesen Irrtum hat\ndann W. A. Freund5 klargestellt.\nIst aber in Wirklichkeit der Pharynx verschlossen in normalen Verh\u00e4ltnissen, und der Aditus pharyngis unter physiologischen Bedingungen durch einen wie ein Ventil oder eine Klappe wirkenden Sphincter versperrt, so tritt f\u00fcr die Beeinflussung der\n1\tDe offic. I, 4, 101.\n2\tEp. 108, 23; 113, 118.\n3\tDe corp. 35, 13.\n4\t\u201eDer Begriff des Instinktes einst und jetzt. Eine Studie \u00fcber die Geschichte und die Grundlagen der Tierpsychologie.\u201c 2. Aufl. Jena 1910.\n5\tJahresber. d. Schles. Ges. 7. Februar 1873.\n29\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 45.","page":451},{"file":"p0452.txt","language":"de","ocr_de":"452\nWilhelm Sternberg.\nEr\u00f6ffnung bzw. Schliefsung durch den Appetit bzw. die Appetitlosigkeit ein neuer Gesichtspunkt in den Vordergrund. Dieser ist der mathematische, und zwar der geometrische. So richtet sich die Untersuchung zun\u00e4chst auf die mathematische Disziplin der Geometrie. Und dieser mathematische Gedanke kann zu einem allgemein fruchtbaren Prinzip der klinischen Untersuchung\nf\u00fchren. Denn die geometrische Betrachtung d\u00fcrfte geeignet sein, _ \u2022 \u2022\ndie klinische Medizin von der heute \u00fcblichen \u00dcbersch\u00e4tzung der\n_\u2022 \u2022\nChemie und von der durch diese \u00dcbersch\u00e4tzung bedingten Bevorzugung der Arithmetik bei den exakten Untersuchungen der Klinik \u00fcber den Appetit zu einer anderen Naturwissenschaft zur\u00fcckzuf\u00fchren. Das ist die Physik. Die Geometrie f\u00fchrt zur Physik, wie zur Arithmetik die Chemie geleitet hat. Sind ja Physik und Geometrie G\u00f6tterschwestern, wie Goethe sie in dem Dialog zwischen Gnomon, Geod\u00e4sie und Technik nennt.\nDie organischen Instrumente der Physik f\u00fcr die physiologische Geometrie der Lagever\u00e4nderung in unserem K\u00f6rper sind die Muskeln, wie die Organe f\u00fcr die arithmetische Chemie die sezernierenden Dr\u00fcsen sind. So f\u00fchrt die mathematische Betrachtung von den dr\u00fcsigen Organen zum Muskelsystem. Und die entgegengesetzte Richtung der geometrischen Lagever\u00e4nderung wird durch die Antagonisten gegeben. Diese sind die Flexoren und Extensoren, die Pronatoren und die Supinatoren, die Adduktoren und Abduktoren, die Inspiratoren und Exspiratoren, die Levatoren und Depressoren, sowie schliefslich die Sphincteren und Dilatatoren.\nDie Sphincteren sind in diesem Falle die Constrictores pharyngis, der Dilatator ist der Stylopharyngeus, der den Schlundkopf in entgegengesetzter Richtung erweitert. Aus der allt\u00e4glichen Erfahrung ist nun l\u00e4ngst bekannt, dafs im Fall von Appetitlosigkeit der Kranke das Gef\u00fchl hat, als schn\u00fcren die Schlundmuskeln ihm die Kehle krampfartig zusammen, so dafs es ihm zur mechanischen Unm\u00f6glichkeit wird, den Bissen aus dem Ausgang der Mundh\u00f6hle in den Eingang der Rachenh\u00f6hle zu transportieren. Das ist auch die Art, wie sich der appetitlose Kranke ausdr\u00fcckt. So schildert er die mechanische Unm\u00f6glichkeit der Appetitlosigkeit, etwas herunterzubringen. In der gesamten medizinischen Literatur hat man es bisher unterlassen, auf diese Erscheinung hinzuweisen. Ein einziges Mal macht Ad. Schusteb1 hierauf auf-\n1 \u201eUntersuchung der Kost in zwei Gef\u00e4ngnissen.\u201c S. 137.","page":452},{"file":"p0453.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n453\nmerksam. Baee sagt nach Schusteb 1 hier\u00fcber sehr treffend : \u201eInfolge des steten Einerlei der Speisen k\u00f6nnen n\u00e4mlich sehr viele Leute auch beim besten Willen das Essen nicht geniefsen, sie versp\u00fcren selbst bei lebhaftem Hunger schon durch den Anblick und den Geruch der Speisen ein Gef\u00fchl der Brechneigung, von qu\u00e4lender W\u00fcrgbewegung. Andere f\u00fchlen beim Versuch, die ihnen zum \u00dcberdrufs bekannten Speisen hinunterzuschlucken, ein Zusammenschn\u00fcren derSchlundmuskeln, eine Art Krampf, der es ihnen unm\u00f6glich macht, einen Bissen hinunterzubekommen. Man sieht nicht selten, wie Str\u00e4flinge vor jedem L\u00f6ffel einer nicht beliebten Mittagskost ein ganz kleines St\u00fcckchen Brot voressen, damit es besser hinuntergehe, wie sie sagen, und gl\u00fccklich sch\u00e4tzen sich diejenigen, welche dies mit einer hom\u00f6opathischen Dosis Hering tun k\u00f6nnen, die sie sich von ihrem Anteil am Nebenverdienst erkaufen.\u201c Selbst ganz ungebildete Kranke machen bei der allm\u00e4hlichen Besserung ihrer Appetitlosigkeit die stereotype Angabe : \u201eDas Essen rutscht schon etwas besser und leichter herunter\u201c, gleichsam als w\u00e4re das mechanische Hindernis geringer geworden. Und tats\u00e4chlich ist der Grad der Appetitlosigkeit das Resultat des Mifsverh\u00e4ltnisses von zwei entgegengesetzten Kr\u00e4ften, der Kraft, die den Bissen aus der Mundh\u00f6hle in den Eingang der Rachenh\u00f6hle austreibt, und der Kraft, welche der ersten widersteht. Demnach ist die Appetitlosigkeit dem Mifsverh\u00e4ltnis der entgegengesetzt wirkenden Kr\u00e4fte bei der Wehenschw\u00e4che gleichzusetzen.\nDemnach verh\u00e4lt sich der Eingang in den eigentlichen Verdauungskanal, in den Aditus pharyngis, von wo aus die Weiterbef\u00f6rderung der Nahrung unserem freien Willen entzogen ist, wie ein Schlots, das ge\u00f6ffnet und fest verschlossen werden kann. Und der Schl\u00fcssel zu diesem Schlots des Eingangstors zum Verdauungskanal eines jeden Individuums ist der individuelle Geschmack. Der Ekelgeschmack ruft einen krampfartigen Ver-schlufs des Eingangs hervor ebenso, wie bei Lichtscheu Lidschlufs, also durch einen optischen Reiz ein Krampf des Eingangsteils des Auges erzeugt wird.\nDazu kommt ein weiteres. Mit der ersten Er\u00f6ffnung im Falle des Appetits bzw. Schliefsung im Fall von Appetitlosigkeit\n1 1877 in Voit, stalten\u201c. M\u00fcnchen.\n\u201eUntersuchung der Kost in S. 161.\neinigen \u00f6ffentlichen An-29*","page":453},{"file":"p0454.txt","language":"de","ocr_de":"454\nWilhelm Sternberg.\ninnerhalb der Mundh\u00f6hle mag auch die Er\u00f6ffnung innerhalb der Magenh\u00f6hle, n\u00e4mlich die Er\u00f6ffnung der Cardia- und der Pylorus-Schliefsmuskulatur im Fall von Appetit Zusammenh\u00e4ngen und das Gegenteil im Fall von Appetitlosigkeit. Steht doch offenbar die Oeffnung und Schliefsung von Cardia und Pylorus unter einem h\u00f6chst komplizierten nerv\u00f6sen Mechanismus, der dem Antagonismus in der Reizung und Hemmung der Sphincteren und der Dilatatoren vorsteht.\nSicher bedingen Appetit und Appetitlosigkeit aufserdem noch einen weiteren Antagonismus von Reflexbewegungen nach entgegengesetzten Richtungen.\nDerselbe Gegensatz n\u00e4mlich nach entgegengesetzten Richtungen, wie ihn die Bewegungen des Kopfes beim Appetit zeigen und beim h\u00f6chsten Grad der Appetitlosigkeit, wiederholt sich noch an einer anderen Stelle. Das ist der Kopf- oder Munddarm.\nDenn offenbar hat der Appetit etwas mit dem Schluckreflex zu\n\u2022 \u2022\ntun, und die \u00dcbelkeit, das Vorgef\u00fchl des Erbrechens, mit dem\nantagonistischen W\u00fcrgreflex. Das trifft sogar in doppeltem Sinne\nzu. Auch der gar nicht unterrichtete Kranke dr\u00fcckt sich oftmals\nso aus: \u201eDas Essen will wieder zur\u00fcckkommen, mir wird \u00fcbel.\u201c\nSchon jede mechanische intendierte Reizung des Eingangsteils\n\u2022 \u2022\nin den Pharynx erregt \u00dcbelkeit und l\u00f6st zugleich den W\u00fcrgreflex aus. Jedem Zahnarzt ist es aus der allt\u00e4glichen Erfahrung bekannt, dafs er bei seinen technischen Manipulationen innerhalb der Mundh\u00f6hle die Ber\u00fchrung des Ausganges der Mundh\u00f6hle und des Einganges in die Rachenh\u00f6hle \u00e4ufserst vorsichtig vermeiden mufs. Denn andernfalls l\u00f6st er erstlich den W\u00fcrgreflex aus ; und zweitens erregt er zugleich mit diesem Reflex das Ekelgef\u00fchl, die \u00dcbelkeit. Hiermit im Zusammenhang steht eine weitere Tatsache, die nicht einmal an sich in der medizinischen Literatur auch nur einer der zahlreichen Spezialdisziplinen erw\u00e4hnt ist, geschweige denn, dafs sie zum Wesen des Appetits in Beziehung gebracht w\u00e4re. Das ist folgende Beobachtung. Die Graviditas, die erfahrungsgem\u00e4fs den gr\u00f6fsten Einflufs nach den verschiedensten Richtungen hin auf den Appetit aus\u00fcbt, bringt es mit sich, dafs die Graviden zuerst gerade durch die Erh\u00f6hung der Empfindlichkeit im Pharynx aufmerksam gemacht werden. Gerade der \u00e4ufserst leichte Reiz beim Gurgeln des Morgens ist es,\n\u2022 \u2022\nder zuerst W\u00fcrgen hervorruft, Brechneigung und \u00dcbelkeit erregt. Daher sind es einzig und allein die Geburtshelfer, die in der","page":454},{"file":"p0455.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n455\ngesamten Literatur der exakten Medizin \u00fcberhaupt des Ekels \u2022 \u2022\nund der \u00dcbelkeit gedenken.\nDieser Umschlag in den antagonistischen Reflexen, dem Schluck- und W\u00fcrgreflex, nach den entgegengesetzten Richtungen, diese Inversion, diese Anastrophe, wie Galen 1 sagt, sie ist es, worauf es ankommt. Das ist das Ei des Kolumbus. Dieser paradoxe Umschlag des antagonistischen Reflexes ist etwa vergleichbar der Umkehrung des Reflexes von Babinski 2 oder etwa der Umkehr des Zuckungsgesetzes bei der Entartungsreaktion oder etwa der sogenannten \u201eparadoxen\u201c WAssERMANNschen Reaktion im Sinne des Umschlagens der Reaktionsf\u00e4higkeit des Serums von positiv zu negativ, von der Rasp und Sonntag 3 berichten. Dieser Umschlag ist auch das, was die Notwendigkeit der Abwechslung in der Nahrung bedingt. Nicht in der sinnlichen Erm\u00fcdung des Geschmacks liegt das Geheimnis, wie man bisher angenommen hat, sondern in der psychischen Erregung des dem Appetit paradoxen Ekelgef\u00fchls.\nHierzu kommt ferner die Beeinflussung der Peristaltik und der entgegengesetzt gerichteten Antiperistaltik durch den Appetit und die Appetitlosigkeit. So tritt der stereogeometrische Gesichtspunkt hier am deutlichsten zutage. Dieser stereogeometrische Standpunkt ist auch f\u00fcr den Chemismus in der Biologie von hoher Bedeutung. Denn die gew\u00f6hnlichsten biologischen Funktionen der Lebewesen, z. B. der Stoffwechsel, h\u00e4ngen mitunter mehr noch von der molekularen Geometrie als von der arithmetischen Zusammensetzung des N\u00e4hrmaterials ab. Die Hefe ist z. B. bei der Auswahl der stereoisomeren Zucker vortrefflich \u00fcber deren Geometrie orientiert. Und das mufs um so mehr auffallen, als sie algebraisch leicht betrogen werden kann.\nFreilich umgekehrt verh\u00e4lt es sieh mit dem Geschmack der Zunge. Denn die Stereogeometrie der isomeren Zucker ver\u00e4ndert deren S\u00fcfsgeschmack seltsamerweise gar nicht. Dagegen hat die arithmetische Reihe grofsen Einflufs auf die Intensit\u00e4t des S\u00fcfs-geschmacks.\nAber auch in bezug auf die Geometrie der Muskelbewegung beschr\u00e4nkt sich die \u201eexakte\u201c Medizin gleichfalls blofs auf die drei\n1\tIIooyvcoGTty.\u00f4v XVIII b, 286. \u201eDie \u00dcbertreibungen der Abstinenz.\u201c 1911, S. 52.\n2\tBullet, Mem. des h\u00f6p. 1910/11, Nr. 25.\n3\tCarl Rasp und Erich Sonntag, \u201e\u00dcber die sog. ,paradoxe* Wasser-MANNSche Reaktion.\u201c Dtsch. med. Wochenschr., 18. April 1911 S. 683.","page":455},{"file":"p0456.txt","language":"de","ocr_de":"456\nWilhelm Sternberg.\npositiven arithmetischen Gr\u00f6fsen, wie bei der Sekretion. Ist dort der Mafsstab die Hyper-, Hypo- und Anazidit\u00e4t, so sind es auch hier lediglich dieselben arithmetischen Gr\u00f6fsen:\n1.\tHyperkinesis, Hypermotilit\u00e4t, Spasmus.\n2.\tHypokinesis, Hypomotilit\u00e4t, Parese.\n3.\tAkinesis, Atonie, Paralyse, der Nullpunkt.\n\u00dcbersehen wird dabei auch hier wiederum der negative Wert. Der Grund hierf\u00fcr liegt; darin, dafs die \u201eexakte\u201c Medizin sich auch hier nicht auf die Stereogeometrie besonnen hat. Und das wiederum ist bedingt dadurch, dafs die Geometrie der r\u00f6hrenf\u00f6rmigen Gebilde bisher der eingehenden W\u00fcrdigung entgangen ist. Dafs aber diese r\u00f6hrenf\u00f6rmigen Kan\u00e4le etwas Eigenartiges in bezug auf die geometrischen Ver\u00e4nderungen bieten, ergibt schon eine Tatsache. Es k\u00f6nnen n\u00e4mlich zwei vollkommen verschiedene Zust\u00e4nde, die in physiologischem und pathologischem Sinne einen direkten Gegensatz zueinander bilden, n\u00e4mlich Spasmus und Atonie, doch ein und denselben klinischen Effekt haben. Daher spricht man von atonischer und spastischer Obstipation. So kommt es, dafs ein Mittel wie Opium, das die Darmmuskulatur l\u00e4hmt, klinisch als Laxans wirken kann, wenn es sich n\u00e4mlich um den Krampf z. B. in der Bleikolik handelt.\nEbenso kann aber auch umgekehrt ein und dieselbe physiologische und pathologische Funktion in klinischem Sinne zwei vollkommen verschiedene und diametral entgegengesetzte Effekte haben. Das ist n\u00e4mlich da der Fall, wo die Richtung entgegengesetzt ist. Es ist nichts bekannter als die klinische Erfahrung, dafs ein und dieselbe Noxe z. B. bei Magen-Darmkatarrh sowohl Erbrechen als auch zugleich Diarrh\u00f6e, Entleerung nach oben und unten, nach vorn und hinten, erzeugt. Also mit der Antiperistaltik im Anfangsteil des Verdauungsschlauches verbindet sich zugleich das Gegenteil, die vermehrte Peristaltik des Darmes in der entgegengesetzten Richtung.\nDie Richtung ist es eben, die man bei den r\u00f6hrenf\u00f6rmigen Kan\u00e4len bisher nicht entsprechend gew\u00fcrdigt hat. Daher kommt zu den drei positiven arithmetischen Gr\u00f6fsen noch etwas Besonderes und etwas Einzigartiges hinzu, was man in diesem Zusammenhang bisher noch nicht bedacht hat. Und dieses Prinzip der entgegengesetzten Richtungen kommt gerade hier in Betracht beim r\u00f6hrenf\u00f6rmigen Schlauch des Pharynx. Deutet doch auch schon die Sprachbezeichnung \u201ewidrig\u201c, \u201ewiderw\u00e4rtig\u201c","page":456},{"file":"p0457.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n457\nden Gegensatz der Richtung an. Offenbar hat der Appetit mit der Peristaltik etwas zu tun und mit der Verh\u00fctung der Antiperistaltik. Ebenso hat die Appetitlosigkeit und der Ekel mit der Antiperistaltik etwas zu tun. Ist doch der Ekel das Gef\u00fchl der Brechneigung. Die Beobachtung des appetitlosen Kranken ist schon ganz richtig, wenn er selber behauptet, er f\u00fchle, dafs \u201ees ihm hoch kommt\u201c, dafs \u201ees sich hebt\u201c. Somit ist der Appetit: gerichtete Bewegung, Richtung und nicht blofs Sekretion; die Hilfswissenschaft zur Untersuchung : die Physik und nicht blofs die Chemie; die anatomischen Organe: die Muskeln und nicht blofs die Dr\u00fcsen.\nWie merkw\u00fcrdig, dafs das stereogeometrische Prinzip der Richtung, das in diesem Zusammenhang mit dem Appetit noch niemals betrachtet ist, gerade bei den mikroskopischen Gebilden doch schon bedacht ist ! Und wie merkw\u00fcrdig, dafs sich hier die Wissenschaft von den bewegungsrichtenden Wirkungen einseitiger Reizung niemals auf den Geschmack ausgedehnt hat, sondern sich auf die Reizung des Lichtes, des Chemismus u. a. m. beschr\u00e4nkt hat! Daher kommt es, dafs man bei diesem Ph\u00e4nomen, das man Chemotropismus, Phototropismus, Chemotaxis fr\u00fcher genannt hat, doch schon von \u201epositivem\u201c und \u201enegativem\u201c Tropismus redet.\nWenn man k\u00fcnftighin nicht die \u00dcbertragung dieser Prinzipien auf den Menschen unterl\u00e4fst und den stereognostischen Sinn ausbildet, dessen St\u00f6rung Gabriel 1 in anderer Bedeutung beklagt,\n\u2022 \u2022\ndann gelangt man zur L\u00f6sung des Appetitproblems. \u00dcberdies\nwird die L\u00f6sung dieser Frage zur Physiologie der Liebe f\u00fchren.\nDieser Weg ist vollends dazu berufen, eine Br\u00fccke zu schlagen\nzwischen der Physiologie der Ern\u00e4hrung und der Philosophie.\nDenn kein Ph\u00e4nomen ist so dankbar wie die Ergr\u00fcndung des\nEkelgef\u00fchls. In der Hand des modernen Physiologen wird das\nProblem des Ekels der Schl\u00fcssel zu einer Menge von bisher\n\u2022 \u2022\nunl\u00f6sbaren R\u00e4tseln aus Psychologie, \u00c4sthetik und Philosophie. So ist gerade das Appetitproblem dazu berufen, in die verschiedensten Wissenschaften die Fackel der Erleuchtung zu tragen.\nDie Erweiterung der Kenntnis, der Fortschritt in der Wissenschaft, die die \u201eexakte\u201c mathematische Experimentalphysiologie bis-\n\u2022 \u2022\n1 \u201eSt\u00f6rung des stereognostischen Sinns.\u201c Ges. d. Charit\u00e9-Arzte. 1. Dezember 1910. \u2014 \u201eStereognosis.\u201c Dtsch. med. Wochenschr. 1911, V. B., S. 1293.","page":457},{"file":"p0458.txt","language":"de","ocr_de":"458\nWilhelm Sternberg.\nher geliefert hat, zu der Einsicht, die die vermeintlich nicht exakte klinische Beobachtung ohne jedes Experiment zu verschaffen vermag, verh\u00e4lt sich mithin \u201ewie die Lehre von den Eigenschaften der geraden Linie zur ganzen Geometrie\u201c, um mit Kant1 2 zu reden, oder wie der Fortschritt der Geometrie von der Planimetrie zur Stereometrie, den bereits Plato hervorhebt, indem er die fr\u00fchere Vernachl\u00e4ssigung der Stereometrie aufs sch\u00e4rfste tadelt, oder wie die F\u00f6rderung der \u00e4lteren planimetrischen Atomlehre in der Chemie zur modernen stereogeometrischen Auffassung des Molek\u00fcls durch van\u2019t Hoff und Le Bel. Damit mufs auch die PAWLOWsche Lehre \u00fcber das Wesen des Appetits \u201evon dem Range einer eigentlich so zu nennenden Naturwissenschaft entfernt bleiben\u201c, wie Kant 2 sich ausdr\u00fcckt, mit derselben zwingenden Notwendigkeit, mit der selbst die Chemie zu Zeiten Kants von dem Range einer eigentlichen Wissenschaft ausgeschlossen wurde. Denn solange kein \u201eGesetz der Ann\u00e4herung oder Entfernung der Teile sich angeben l\u00e4fst, nach welchem etwa in Proportion ihrer Dichtigkeiten u. dergl. ihre Bewegungen sich im Raume anschaulich machen und darstellen lassen, solange kann die Chemie nichts mehr als systematische Kunst oder Experimentallehre, niemals aber eigentliche Wissenschaft werden\u201c.3 4 Danach h\u00e4tte Kant selbst die \u201eexakte\u201c Experimentalphysiologie des Appetits in ihrer modernen Anwendung der Mathematik blofs eine Experimentallehre, aber nicht eigentliche Wissenschaft genannt.\nJedenfalls gen\u00fcgt die einfache Anwendung der Arithmetik und der Algebra in der inneren Klinik keineswegs, so beliebt sie auch in der \u201eexakten\u201c Medizin ist. Neuerdings weisen London und Rabinowitzsch 4 im Laboratorium des Instituts f\u00fcr experimentelle Medizin nach, dafs gar die Quadratwurzelformel f\u00fcr die Verdauung richtig ist! Die Zahlenmystik und die \u00dcbersch\u00e4tzung\n1\t\u201eMetaphysische Anfangsgr\u00fcnde der Naturwissenschaft\u201c 1791. Neu herausgegeben yon A. H\u00f6fler in: Ver\u00f6ffentl. d. philos. Ges. an der Universit\u00e4t in Wien lila. Leipzig 1900, S. 6.\n2\tEbenda, S. 7.\n3\tEbenda, S. 6.\n4\tE. S. London und A. G. Rabinowitzsch, \u201eZur Kenntnis der Ver-dauungs- und Resorptionsgesetze.\u201c Ztschr. f. physiol. Chemie 1910, Bd. 65, Heft 3,. S. 194. Aus dem Pathol. Labor, d. k. Instituts f\u00fcr experimentelle Medizin St. Petersburg. .","page":458},{"file":"p0459.txt","language":"de","ocr_de":"Der Appetit in der exakten Medizin.\n459\nder Arithmetik seitens der exakten Medizin hat bereits Emil du Bois-Reymond 1 lebhaft bek\u00e4mpft, nach ihm W. A. Freund1 2 in seiner Arbeit \u201eDie Behandlung der Nachgeburtsperiode und die Macht der Zahlen\u201c. Wiederholt habe ich3 4 5 auf das Irrt\u00fcmliche in der Anwendung der Zahl hingewiesen. Ad. Schmidt 4 spricht geradezu von dem \u201eFetischismus der Zahl\u201c, Christen 5 vollends von der \u201emedizinischen Pseudomathematik\u201c. Die Arithmetik, die Plato als die der Philosophie am n\u00e4chsten stehende Wissenschaft preist, ist nach Arthur Schopenhauer \u201edie niedrigste aller Geistest\u00e4tigkeiten, die arithmetische, denn sie ist die einzige, welche auch durch eine Maschine ausgef\u00fchrt werden kann\u201c.\nAber auch das Experiment allein, Erfahrung und Beob^ achtung in der experimentellen Pathologie k\u00f6nnen niemals die einzigartige Gewifsheit besitzen wie die mathematischen S\u00e4tze. Jene sind, um mit Leibniz zu reden, blofs die zuf\u00e4lligen und verg\u00e4nglichen \u201ev\u00e9rit\u00e9s de fait\u201c, diese aber die stets und allgemein g\u00fcltigen \u201ev\u00e9rit\u00e9s de raison\u201c.\n1\t\u201e\u00dcber die Lebenskraft\u201c, Vorrede zu den \u201eUntersuchungen \u00fcber tierische Elektrizit\u00e4t\u201c, M\u00e4rz 1848, in \u201eReden\u201c, Veit & Co. Leipzig 1887. Zweite Folge, S. 5 ff.\n2\tFreund, Therapie der Gegenwart. 1900. August, S. 344.\n8 \u201eDie K\u00fcche in der modernen Heilanstalt\u201c 1909. S. XI u. 62. \u00bbDie Physiologie des Kitzelgef\u00fchls.\u201c Fortschr. d. Med. 1911, Nr. 29.\n4\tSchmidt, Zeitschr. f. experim. Pathol, u. Ther. 7, S. 273, 1909.\n5\tTh. CHRiSTEN-Bern, \u201eMedizinische Pseudomathematik\u201c. Med. Klin.\n1910, Nr. 43.","page":459}],"identifier":"lit33591","issued":"1911","language":"de","pages":"433-459","startpages":"433","title":"Der Appetit in der exakten Medizin","type":"Journal Article","volume":"45"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:30:57.521943+00:00"}