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{"created":"2022-01-31T16:47:15.001793+00:00","id":"lit33610","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Jerchel, W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 47: 1-33","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"1\nInwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit\u201c beeinflufst ?\nVon\nW. Jerchel, Medizinalpraktikant.\nInhalt.\nI.\tM\u00f6glichkeiten des \u00e4sthetischen Farbengenusses beim Farbenblinden.\nII.\tFarbensinnst\u00f6rung und Beruf.\n1.\tAllgemeines \u00fcber Berufsst\u00f6rung durch pathologische Farbenempfindung; erworbene Farbensinnst\u00f6rungen.\n2.\tAngeborene Farbensinnst\u00f6rungen und Malerei.\n3.\tFarbensinn und Eisenbahn, Marine.\n4.\t\u201e\t\u201e\tMilit\u00e4r.\n5.\t\u201e\t\u201e\tBotanik, Chemie.\n6.\t\u201e\t\u201e\tMedizin.\nIII.\tN\u00e4here Daten \u00fcber die eigene Farbensinnst\u00f6rung.\nIV.\tAnalytische Untersuchungen in einzelnen Disziplinen\nder Medizin.\n1.\tPathologie.\n2.\tBakteriologie.\n3.\tInnere Medizin.\n4.\tDermatologie.\n5.\tChirurgie.\n6.\tAugenheilkunde.\nI. M\u00f6glichkeiten des \u00e4sthetischen Farbengenusses heim\nFarbenblinden.\nWelche Freude, welchen Genufs hat der Farbenblinde an den farbenpr\u00e4chtigen Reizen der Natur, an dem Farbenkleid der Tier- und Pflanzenwelt?\nHier\u00fcber urteilt Collin1 mit Ber\u00fccksichtigung von Goethes \u201e\u00c4sthetischer Wirkung der warmen und kalten Farben.\u201c\n\u201eDer Farbenblinde, der \u201eRot\u201c und \u201eGelb\u201c gleichfarbig sieht, aus dessen Farbensystem also ein Teil der warmen Farben stets ausf\u00e4llt, mufs durch die dadurch bedingte Beeintr\u00e4chtigung der Mannigfaltigkeit seiner Farbenempfindung auch in seinem \u00e4sthe-\nZeitsehr. f. Sinnesphysiol. 47.\t^","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nW. Jerchel.\ntischen Empfinden bez\u00fcglich der Farbeneindr\u00fccke gegen\u00fcber dem Farbent\u00fcchtigen benachteiligt sein ; er sieht im wahren Sinne des Wortes die Welt mit anderen Angen an, er lebt in einer anderen Welt; der Anblick der Natur mit ihren farbigen Reizen und Wundern kann ihm nie und nimmer den Genufs bieten, den sie dem Farbent\u00fcchtigen gew\u00e4hrt; er wird in dieser Beziehung ebenso dastehen, wie der unmusikalische, der ebenfalls nicht den hohen idealen Genufs kennt, den die Musik mit ihrer Wirkung auf Seele und Gem\u00fct dem im Reich der T\u00f6ne Wandelnden in so reichem Mafse spendet.\u201c\nII. Farbensiniist\u00f6rung und Beruf.\n1. Allgemeines \u00fcber Berufsst\u00f6rung durch pathologische Farbenempfindung; erworbene Farbensinnst\u00f6rung.\nEine Behinderung bedeutet Farbenunt\u00fcchtigkeit f\u00fcr eine grofse Anzahl Handwerker und Fabrikarbeiter, f\u00fcr Kopisten, Farbendrucker, Lithographen, Schneider, Maler, F\u00e4rber, Weber, Goldarbeiter, Mosaikarbeiter, Teppichkn\u00fcpfer. Eine Frau, die \u201erot-gr\u00fcnblind\u201c ist, wird auch nur eine den anzuwendenden Farben nach beschr\u00e4nkte Zahl von Handarbeiten ausf\u00fchren k\u00f6nnen.\nGanz besonders st\u00f6rend tritt die Rot-Gr\u00fcnblindheit bei der Malerei, Eisenbahn, Marine, Milit\u00e4r sowie den Berufen des Chemikers, Pharmazeuten, Botanikers und z. T. auch des Arztes hervor, weshalb ich die speziellen St\u00f6rungen in diesen Berufen ausf\u00fchrlicher er\u00f6rtern will.\nVon den erworbenen Farbensinnst\u00f6rungen ist, wie Liebeeich 2, Hess 3, K\u00f6lleee 4 er\u00f6rtern, vor allem die im Alter zunehmende Gelbf\u00e4rbung der Linse in der Malkunst ein Hindernis. H\u00e4ufig kann man bei \u00e4lteren Malern die Wirkung der Linsenabsorption an ihren Werken beobachten, die dann oft zu viel Blau enthalten. Liebeeich erw\u00e4hnt Muleeady, der im Alter zuviel Blau bei seinen Arbeiten brauchte. In einer Abhandlung \u00fcber Tizian bei Besprechung von dessen im 70. Lebensjahr gemalten Mater dolorosa (im Prado) urteilt Knackeuss : es sei merkw\u00fcrdig, dafs der Meister, der sonst gerade mit der blauen Farbe wahre Wunder wirken konnte, durch eine das Auge verletzende Anwendung dieser Farbe das erste Anzeichen einer Abnahme seiner k\u00fcnst-","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit11 beeinflufst? 3\nlerischen Kraft g\u00e4be. Dafs bei seinen sp\u00e4teren Werken das \u201efurchtbare\u201c Blau nicht mehr auftritt, f\u00fchrt Hess3 darauf zur\u00fcck, dafs der K\u00fcnstler im Alter bei der Ausf\u00fchrung seiner Bilder sich vielfach von j\u00fcngeren K\u00fcnstlern unterst\u00fctzen liefs, und dafs andere Bilder wie jene Piet\u00e0 in Venedig von sp\u00e4teren K\u00fcnstlern \u00fcbermalt worden seien.\nDie K\u00fcnstler k\u00f6nnen (nach Hess 3) diesen Fehler vermeiden, wenn sie durch ein der Ver\u00e4nderung ihrer Linse entsprechendes blaues Glas sehen w\u00fcrden. Hess 3 berichtet weiter, dafs einer unserer ersten Maler bei sehr hellem Bogenlicht gemalt und dabei die gleiche Wirkung erzielt habe, wie durch Vorsetzen eines blauen Glases.\nIn gleicher Weise tritt bei F\u00e4rbern eine Berufsst\u00f6rung auf, die von ihrem 60. Lebensjahr an \u00fcberhaupt auf feinere F\u00e4rbungen verzichten m\u00fcssen, da sie zu wenig Gelb zu den Mischungen nehmen und das Blau zu intensiv machen. Diese Erscheinungen fallen nach einer Entfernung der getr\u00fcbten Linse wieder weg.\n2. Angeborene Farbenfehler und Malerei.\nUnter der grofsen Anzahl der Berufe, f\u00fcr die die Farbenunt\u00fcchtigkeit hinderlich im Wege steht, steht die Malerei im Vordergrund des Interesses. Guttmanns kommt aus seinen eingehenden Studien \u00fcber die Beziehungen zwischen Farbensinn und Malerei zu folgendem Resultat:\nDie Farbenblinden (Dichromaten) k\u00f6nnen als Maler nichts leisten, weil der unendliche Reichtum der Naturfarben f\u00fcr sie auf eine zweifache Mannigfaltigkeit der Farbenunterscheidung (warme und kalte Farben) reduziert ist, innerhalb derer sie alle Farben ausschliefslich durch Helligkeitsunterschiede wiedergeben k\u00f6nnen. Die Behauptung, dafs es farbenblinde Maler g\u00e4be, entbehrt jedes exakten Beweises. Guttmann hat sehr viele Berufsmaler untersucht, darunter auch solche die wegen ihrer durchaus von der Norm abweichenden Farbengebung oft als \u201efarbenblind\u201c angeschuldigt werden, aber stets normalen resp. feinen Farbensinn gefunden. Wenn es sich in \u00e4hnlichen F\u00e4llen \u00fcberhaupt um Anomalien des Farbensinns gehandelt hat, so lag vermutlich eine diagnostische Verwechslung mit \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c vor. Letztere findet sich in der Tat bei Berufsmalern; w\u00e4hrend sie jedoch in vielen Berufen eine Minderwertigkeit bedeutet, spielt\nsie in der Malerei beinahe gar keine Rolle. Gewisse Abweichungen,\nl*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nW. Jerchel.\ndie mit dieser Anomalie verbunden sind, verschwinden v\u00f6llig neben den grofsen Abweichungen, die auf dem komplizierten Umsetzungsmechanismus bei der Malerei beruhen, der seinerseits auf die spr\u00f6de und schwierige Technik der Malkunst und den individuellen Geschmack sich gr\u00fcndet.\nDie Empfindlichkeit der Anomalen f\u00fcr Helligkeitsdifferenzen im Zusammenhang mit der Steigerung der Kontrastempfindung l\u00e4fst sie aber gerade der Malerei gegen\u00fcber vielfach h\u00f6herwertig erscheinen als sonst. \u00c4hnlich wfie eine Person mit einer starken Refraktionsanomalie in der Landschaft die Farben um so intensiver geniefst, als ihr die Formen verschwinden (Impressionierten !), kann hier die Unterwertigkeit des Farbensinns f\u00fcr gewisse Nuancen andere Schattierungen um so mehr hervortreten lassen, so dafs man mit einem gewissen Recht wenigstens in \u00e4sthetischer Hinsicht die Farbenschw\u00e4che negieren k\u00f6nnte. Auch K\u00f6nig vertritt diese Ansicht. Er findet bei anomalen Triehromaten \u201eein fein entwickeltes Verst\u00e4ndnis f\u00fcr Malerei, insbesondere f\u00fcr landschaftliche Stimmungsbilder.\u201c Er erkl\u00e4rt das mit der vielfachen Verwendung von \u201eGr\u00fcn\u201c und \u201eRotorange\u201c in der Malerei. Autoren, die zum entgegengesetzten Resultat gekommen sind (wie R\u00e4hlmann, Heine, Lenz), wenden nach Guttmanns Ansicht eine verkehrte Untersuchungsmethodik an, die meist auf der falschen Fragestellung beruht: \u201eWie sehen (resp. benennen) die Maler die Farben?\u201c Das wesentliche einer malerischen Individualit\u00e4t liege aber aus-\nschliefslich in der auf h\u00f6heren psychologischen Funktionen be-\n\u2022 \u2022\nruhenden fl\u00e4chenhaften \u00dcbertragung der im Raum gesehenen Farben und Formen.\n\u00dcber die Rolle, die der Farbensinn des Betrachters spielt, urteilt Guttmann; dafs der Farbenblinde nicht \u00fcber Malerei urteilen darf, versteht sich von selbst. Die Farbenschwachen sind als Betrachter von Gem\u00e4lden insofern etwas gegen die Normalen im Nachteil, als sie gewisse vom Maler intendierte Feinheiten der Farbengebung \u00fcbersehen, andere Farbenzusammenstellungen (Farbenharmonieen) infolge ihres gesteigerten Kontrastes als zu krafs \u201eschreiend\u201c empfinden, im ganzen aber vollkommen imstande sind, die Malerei zugeniefsen. Ihre Anomalie tritt dagegen in Erscheinung, wenn sie Farben benennen sollen.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit11 beeinflufst?\nr*\n0\n3. Farbensinn und Eisenbahn, Marine. (1, 7.)\nDirekt gef\u00e4hrlich kann die Farbenblindheit f\u00fcr die Interessen des Eisenbahn- und Marinedienstes werden, wenn es sich nm die Erkennung und Unterscheidung bestimmter farbiger Signale handelt. Und in der Tat h\u00e4ngt ja oft von dem zuverl\u00e4ssigen Funktionieren des Farbensinns eines einzigen Eisenbahn- oder Marinebeamten die Sicherheit ganzer Eisenbahnz\u00fcge oder Schifte und das Leben zahlreicher Personen ab.\nDen ersten Hinweis hierauf verdanken wir dem Engl\u00e4nder Wilson (1855). In weitere Kreise drang das Interesse f\u00fcr die Gefahren der Farbensinnst\u00f6rungen jedoch erst, als i. J. 1875 der schwedische Physiologe Frithjof Holmgren nachwies, dafs das Eisenbahnungl\u00fcck bei Lagerlunda in Schweden, bei dem neun Personen ihren Tod fanden, durch die Farbenblindheit des Lokomotivf\u00fchrers herbeigef\u00fchrt worden war. Bei einer Anzahl fr\u00fcherer Eisenbahn- und Schiffsunf\u00e4lle, die unaufgekl\u00e4rt geblieben waren, konnte man in mehreren F\u00e4llen Farbensinnst\u00f6rungen mit mehr oder weniger Sicherheit als Ursache nachweisen. Aus neuerer Zeit sind die verh\u00e4ngnisvolle Kollision der Dampfer \u201ePrimus\u201c und \u201eHansa\u201c bei Nienstetten auf der Unterelbe, das Eisenbahnungl\u00fcck bei Oberkotzau in Bayern, bei Ruderatshofen und andere Eisenbahn- und Schiffskatastrophen auf diese Ursache zur\u00fcckzuf\u00fchren. In vielen F\u00e4llen w\u00e4re auch sicher Farbenunt\u00fcchtigkeit als Ursache derartiger Ungl\u00fccke nachgewiesen worden, wenn nicht das verantwortliche Personal, wie es meistens der Fall ist, zuerst oder mit verungl\u00fcckt w\u00e4re. Man kennt auch eine Reihe von F\u00e4llen, in denen ein Farbenblinder ein Schiffsungl\u00fcck sicher herbeigef\u00fchrt h\u00e4tte, wenn nicht farbent\u00fcchtige Personen die Ausf\u00fchrung des auf Farbenverwechslungen beruhenden irrigen\nKommandos noch rechtzeitig verhindert h\u00e4tten.\n\u2022 \u2022\nDer Farbenblinde kann es durch \u00dcbung bis zu einem gewissen Grade dahin bringen, die f\u00fcr den Eisenbahndienst in Betracht kommenden gr\u00fcnen und weilsen (gelben) Signale auseinanderzuhalten. Jedoch handelt es sich nie um ein sicheres Erkennen auf Grund von drei spezifisch verschiedenen Empfindungen, sondern immer um ein Erraten und Vermuten, um ein Ber\u00fccksichtigen sekund\u00e4rer Hilfsmittel, z. B. Helligkeitsunterschiede oder der Lage des Signals an besonderen Signalmasten. Fehlen ihm diese Hilfsmittel oder ist nur einmal die Helligkeit","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nW. Jer ekel.\nder Laternen aus irgend einem Grunde beeintr\u00e4chtigt, z. B. wenn Rufs, Wasserdampf, Eis oder Schnee an dem farbigen Glas haftet, oder die Atmosph\u00e4re ist mit Rauch oder Nebel erf\u00fcllt, so dafs die S\u00e4ttigungsverh\u00e4ltnisse der Farben andere werden, so ist der farbenblinde Beamte tats\u00e4chlich aufserstande, zn entscheiden, ob das gegebene Signal \u201egr\u00fcn\u201c oder \u201erot\u201c ist, ob es \u201eBahn frei\u201c oder \u201eHalt\u201c bedeutet.\nAuf Grund der wissenschaftlich feststehenden Tatsache, dafs die anomalen Trichromaten farbige Objekte nur unter grofsem Gesichtswinkel erkennen k\u00f6nnen, dafs sie hierzu erheblich l\u00e4ngere Zeit brauchen als der Farbent\u00fcchtige, dafs sie ferner bei l\u00e4ngerem Beobachten eines farbigen Objektes schneller erm\u00fcden und dadurch unsicher in der Beurteilung von farbigen Lichtem werden und dafs sie schliefslich infolge ihres gesteigerten Farbenkontrastes gelegentlich auch direkten Farben Verwechslungen ausgesetzt sind, auf Grund aller dieser Tatsachen sind die anomalen Trichromaten im Eisenbahn- wie Marinedienst ebenso zu bewerten wie die Dichromaten : der Lokomotivf\u00fchrer auf der schnell dahinsausenden Maschine mufs auch ein unerwartet auftauchendes Lichtsignal blitzschnell ohne fede Unsicherheit erkennen k\u00f6nnen. Da gibt\u2019s kein \u00dcberlegen, kein Abw\u00e4gen sekund\u00e4rer Eigenschaften, wie S\u00e4ttigung und Helligkeit der Farben, die Warnungsfarbe mufs dem Mann gewissermafsen ins Auge springen, es mufs ihn wie ein Ruck durchfahren, wenn er gr\u00fcnes oder rotes Licht sieht, das ihn zum sofortigen Handeln zwingt. Aber nicht nur das\nLokomotivpersonal und die Weichensteller kommen f\u00fcr solche\n\u2022 \u2022\n\u00dcberlegungen in Betracht, sondern auch die Beamten, die an einem festen Punkt stationiert sind und f\u00fcr die Sicherung der Strecken und f\u00fcr die sichere Ein- und Durchfahrt der Z\u00fcge im Bahnhofe zu sorgen haben. Wehe dem W\u00e4rter an einer Schnellzugslinie oder dem Schrankenw\u00e4rter, der die gr\u00fcne Scheibe oder das gr\u00fcne Licht am Zuge \u00fcbersieht, das ihm signalisiert, dafs hinter dem durchfahrenden Zuge ein Nachzug folgt! Dabei ist noch zu bedenken : es handelt sich nicht um ein allt\u00e4gliches und zuweilen ganz unerwartetes Signal, das mit Blitzesschnelle auftaucht und wieder verschwindet. Die geringste Unempfindlichkeit f\u00fcr \u201eGr\u00fcn\u201c kann verh\u00e4ngnisvoll werden. Die Tagessignale sind hier fast noch gef\u00e4hrlicher als die n\u00e4chtlichen Laternensignale, weil namentlich die Farbe \u201eGr\u00fcn\u201c sich in Pigmenten nicht in hoher S\u00e4ttigung hersteilen l\u00e4fst, ohne sie sehr dunkel zu machen.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRoh Gr\u00fcnblindheit\u201c beeinftufst?\t7\nDazu kommt die Ausbleichung in Luft und Licht, die Beschmutzung durch Rauch und Staub.\nAuf See liegen die Dinge insofern etwas anders, als hier so schnell auftauchende Signale nicht ganz so h\u00e4ufig sind, wie bei der Bahn.\nDaf\u00fcr kommen hier wesentlich kleinere Gesichtswinkel in Betracht, die farbigen Laternen m\u00fcssen auf viel gr\u00f6fsere Entfernungen gesehen werden. Farbige Bojen m\u00fcssen erkannt werden (die Unterscheidung roter und schwarzer macht besonders dem Protanopen und Protanomalen grofse Schwierigkeiten), Blinkfeuer, bei denen Rot und Weifs wechselt, kommen vor und k\u00f6nnen von jedem Farbenblinden und Anomalen verkannt werden. Es kommt noch hinzu, dafs bei sehr viel Seeschiffen nicht blaugr\u00fcnes Glas f\u00fcr die Steuerbordlaternen verwendet wird, sondern ein \u201eGr\u00fcn,\u201c das f\u00fcr den Farbenblinden schon auf ganz m\u00e4fsige Entfernungen dem Rot vollkommen gleiehsieht.\nSolange nun unser jetziges farbiges Signalsystem, das auf ein sicheres und schnelles Farbenunterscheidungsverm\u00f6gen gegr\u00fcndet ist, nicht abgeschafft wird und anstatt der farbigen Signale weifses Licht in verschiedenen Gruppierungen benutzt wird, f\u00fcr Rot vielleicht drei, f\u00fcr Gr\u00fcn zwei, f\u00fcr Weifs ein Licht, ein Vorschlag, der schon 1878 von Holmoren9 in seiner epochemachenden Arbeit \u00fcber \u201edie Farbenblindheit in ihren Beziehungen zu den Eisenbahnen und zur Marine\u201c erw\u00e4hnt und auf dem Metzer Bahnarzttage 1904 von \u00dcLLERSBEROER-Strafsburg wieder angeschnitten und diskutiert wurde, solange haben auch die verantwortlichen Beh\u00f6rden im Interesse der Sicherheit des Betriebes wie des Lebens und der Gesundheit des Publikums die Pflicht, alle Ubelst\u00e4nde und Gefahren aus dem Wege zu r\u00e4umen, mit denen die Farbenblindheit den Verkehr bedroht, und das ist aus-schliefslich nur dadurch zu erreichen, dafs s\u00e4mtliche Farbenblinde ohne Ausnahme von solchen Stellungen ferngehalten werden, in denen sie mit dem Signaldienst irgendwie zu tun haben. Diese Erw\u00e4gungen haben denn auch die Beh\u00f6rden veranlafst, bei dei Kaiserl. Marine wie bei der Handelsmarine, bei unseren Eisenbahntruppen wie bei der Staatseisenbahnverwaltung unbedingte Farbent\u00fcchtigkeit f\u00fcr ihre Berufsangeh\u00f6rigen zur Bedingung f\u00fcr ihre Tauglichkeit zu machen.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nW. Jerchel.\n4. Farbensinn und Milit\u00e4r.\nVon den Truppengattungen des Milit\u00e4rs gilt zun\u00e4chst einmal f\u00fcr die Eisenbahntruppen die eben er\u00f6rterte Forderung, unbedingte Farbent\u00fcchtigkeit. Jedoch auch f\u00fcr die \u00fcbrigen Truppengattungen hat die Farbent\u00fcchtigkeit insofern eine Bedeutung, als es eine Menge farbiger Signale gibt, die in ihrer spezifischen Farbe erkannt werden m\u00fcssen, um richtig gedeutet zu werden. Zwar kommen folgenschwere Verwechslungen dabei selten vor, da diese Signale gew\u00f6hnlich von einer gr\u00f6fseren Anzahl von Leuten beobachtet und gedeutet werden und die Majorit\u00e4t im allgemeinen farbent\u00fcchtig ist. Allein bei Verwendung einzelner Farbenunt\u00fcchtiger zu besonderen Auftr\u00e4gen oder in Stellungen, in denen sie allein auf ihr eigenes Urteil angewiesen sind, kann zweifellos auch einmal ein verh\u00e4ngnisvolles Mifsverst\u00e4ndnis Vorkommen. Deshalb ist eine konsequente Farbensinnpr\u00fcfung auch f\u00fcr Offiziere und Mannschaften s\u00e4mtlicher Truppengattungen empfehlenswert, damit jeder einzelne \u00fcber seine Farbent\u00fcchtigkeit bezw. Unt\u00fcchtigkeit orientiert ist.\n5. Farbensinn und Botanik, Chemie, Pharmazie. (1, 7.)\nWeiterhin bedeutet Farbenunt\u00fcchtigkeit ein Hindernis f\u00fcr die Berufe des Botanikers, des Chemikers, des Pharmazeuten.\nGerade der Botaniker mufs f\u00fcr alle Farbennuancen in der Natur ein gutes Auge haben.\nAufserdem hat er im Mikroskop auf manche F\u00e4rbungen zu achten.\nDer Chemiker mufs bei Reaktionen feine Farbenumschl\u00e4ge wahrnehmen und bei Titrationen den Farbenumschlag bereits in der allerschw\u00e4chsten S\u00e4ttigungsstufe der Farbe empfinden.\nEs ist jedoch vor allen Dingen n\u00f6tig, dafs der Botaniker und besonders der Chemiker \u00fcber seinen Farbensinn orientiert ist. Dann werden die Farbenunt\u00fcchtigen stets die M\u00f6glichkeit eines Irrtums sich vor Augen halten, werden in entscheidenden F\u00e4llen vorsichtig sein und werden aus Vergleichen ihres Farbensehens mit dem des Normalen allm\u00e4hlich auf ihre Fehler auf-\n\u2022\nmerksam gemacht, dieselben auch bis zu einem gewissen Grade vermeiden lernen. Eine obligatorische Farbensinnuntersuchung, wie sie f\u00fcr die Zulassung zum pharmazeutischen Beruf bereits vorgeschrieben ist, d\u00fcrfte auch diese im verwandten Berufe von Nutzen sein.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch ,,Rot-Griinblindheitu heeinflufst? 9\n6. Farbensinn und Medizin.\nDafs auch der Farbensinn in der Medizin eine bedeutende Rolle spielt, hebt als erster Virchow10 in der Berliner Anthropolog. Gesellschaft in der Sitzung vom 20. Juli 1878 hervor:\nEr empfehle in jedem Semester von neuem praktische \u00dcbungen mit Farben, weil er wisse, das die Mehrzahl unserer jungen M\u00e4nner aufserstande sei, die feineren Nuancierungen der gew\u00f6hnlichen Farben mit Sicherheit zu bezeichnen. So ist es eine Ausnahme, dafs ein junger Mediziner sofort richtig angebe, ob \u201erot\u201c in \u201eblau,\u201c in \u201eschwarz\u201c oder in \u201ebraun\u201c ; \u201egelb\u201c in \u201egrau\u201c, \u201eweifs\u201c oder \u201egr\u00fcn\u201c schattiere. Diese optische Hilflosigkeit sei h\u00f6chst beklagenswert und der gr\u00f6fste Teil derselben\nberuhe keineswegs auf Farbenblindheit, sondern auf Farbenun-\n\u2022 \u2022\nkenntnis und Mangel an \u00dcbung, dem lasse sich durch Erziehung Vorbeugen.\nDer verstorbene Rostoker Physiologe W. Naoel berichtete von sich (m\u00fcndlicher Mitteilung an Dr. Lohmann): Sein Vater, selbst Augenarzt, habe ihn auf Grund seiner Farbensinnst\u00f6rung \u2014 Nagel war bekanntlich Dichromat \u2014 nicht Medizin studieren lassen wollen ; Nagel habe diesen seinen Lieblingswunsch doch durchgesetzt, habe sich aber dann der Physiologie widmen m\u00fcssen, die geringere Forderungen an den Farbensinn stelle als der Beruf des Arztes. \u2014 Nagel hat seine eigene Farbensinnst\u00f6rung zu mannigfachen Forschungen \u00fcber das Wesen der Dichromasie benutzt und dabei f\u00fcr deren Erkenntnis Erhebliches geleistet.\nVon den gleichen Erw\u00e4gungen, dafs die Farbenblindheit den Studiengang des Mediziners sowie die Aus\u00fcbung des \u00e4rztlichen Berufs wesentlich beeinflussen und erschweren m\u00fcsse, ist auch die Kaiser-Wilhelmsakademie zu Berlin ausgegangen bei ihrem Beschlufs, Farbenblinde von dem Studium daselbst auszu-schliefsen.\nWie hoch Dichromasie einerseits und anomale Trichromasie andererseits als Hindernis f\u00fcr den \u00e4rztlichen Beruf zu bewerten sind, er\u00f6rtert Collin :\n\u201eBesonders f\u00fcr den praktischen Arzt bedeutet die Farbenblindheit zweifellos eine Erschwerung, unter Umst\u00e4nden sogar eine wesentliche Beeintr\u00e4chtigung seines diagnostischen und damit auch seines therapeutischen K\u00f6nnens, denn unsere ganze medi-","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nTF. Jerchd.\nzinische Diagnostik gr\u00fcndet sich ja zum grofsen Teil auf die Wahrnehmung von Farbenunterschieden. Wenn er auch durch \u00dcbung und Sch\u00e4rfung seiner Beobachtungsgabe, durch Heranziehung und Ber\u00fccksichtigung aller m\u00f6glichen sekund\u00e4ren Kriterien vorausgesetzt, dafs er seine St\u00f6rung ihrem Wesen nach \u00fcberhaupt kennt \u2014 imstande ist, das Manko bis zu einem gewissen Grade zu ersetzen, so kann er doch nie lernen alles zu sehen, was die Majorit\u00e4t sieht und wird daher bei der dia-nostischen Beurteilung aller jener vielgestaltiger Farbenver\u00e4nde-rungen, denen wir in der praktischen Medizin auf Schritt und Tritt begegnen, mehr oder weniger unsicher gehen; dies gilt namentlich f\u00fcr alle diejenigen F\u00e4lle, in denen es darauf ankommt, besonders seine Farbennuancierungen auseinander zu halten, oder wo die Farbent\u00f6ne wenig ges\u00e4ttigt, also stark mit Weifs oder Grau vermischt sind. Manche Exantheme der Haut und Schleimhaut k\u00f6nnen auf diese Weise der Diagnose erhebliche Schwierigkeiten bereiten. Wesentlich ung\u00fcnstiger ist der Farbenblinde schon dann gestellt, wenn es sich darum handelt, Farbenver\u00e4nderungen nicht nur an und f\u00fcr sich, sondern in ihrer spezifischen Farbigkeit heraus zu erkennen, wie es z. B. bei der chemischen (quantitativen und qualitativen) Untersuchung des Urins, Magensaftes desusw. unbedingt verlangt wird ; die GMELixsche Probe, die Blutprobe, die Diazoreaktion, die Salzs\u00e4urebestimmung mittels Phenolphtalem und viele andere Reaktionen werden vom farbenblinden Mediziner falsch bewertet oder \u00fcberhaupt verkannt; bei der Deutung verschieden gef\u00e4rbter mikroskopischer Pr\u00e4parate und Schnitte wird er grofsen Irrt\u00fcmern ausgesetzt sein ; rotgef\u00e4rbte Tuberkelbazillen wird er in ihrer charakteristischen F\u00e4rbung nie sehen k\u00f6nnen, sie werden ihm schwarz oder grau erscheinen. Durchaus ungeeignet ist der farbenblinde Arzt zur spezialistischen Ausbildung in der Augenheilkunde, in der die sichere Erkennung und Deutung der feinsten Farbenver\u00e4nderungen das t\u00e4gliche Brot des untersuchenden Arztes bilden. Alle jenen feinen pathologischen Ver\u00e4nderungen des Augenhintergrundes, welche mit einer gelblichen oder r\u00f6tlichen Verf\u00e4rbung einzelner umschriebener Stellen einhergehen und welche in der grofsen Mehrzahl der F\u00e4lle die Diagnose ohne weiteres entscheiden, bleiben f\u00fcr den farbenblinden Untersucher unsichtbar, ebenso einzelne nicht minder wichtige pathologische Prozesse am \u00e4ufseren Auge, unter denen besonders die beginnende Ziliar-","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieiueit wird das Medizinstadium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit11 heein\u00dfufst? H\ninjektion erw\u00e4hnt sei, deren Diagnose f\u00fcr den Farbenblinden so gut wie unm\u00f6glich ist. Dafs unter diesen Umst\u00e4nden die Farbenblindbeit den Studiengang des Mediziners, sowie seine \u00e4rztliche Ausbildung wesentlich beeinflussen und erschweren mufs, liegt auf der Hand und es w\u00e4re daher vielleicht das beste, Farbenblinde vom Studium der Medizin \u00fcberhaupt auszuschliefsen. Zum mindesten aber mufs verlangt werden, dafs es der Mediziner von Beginn seines Studiums an weifs, wenn er farbenblind ist, und diese Tatsache nicht erst rein zuf\u00e4llig in den h\u00f6heren Semestern erf\u00e4hrt, wie es bei der Mehrzahl aller Farbenblinden der Fall ist. Wenn er \u00fcber die Eigenart seines Farbensinns orientiert ist, wenn er weifs, welche Farben ihm anders als dem Normalen erscheinen, so wird er naturgem\u00e4fs sein eigenes Interesse an dieser St\u00f6rung ein wesentlich lebhafteres werden und er wird jede Gelegenheit benutzen, Vergleiche zwischen seinem Farbensehen und dem des Normalen anzustellen; er wird es dann allm\u00e4hlich merken, wrelche Fehler er im einzelnen macht und wird es bis zu einem gewissen Grade lernen, sie zu vermeiden. Die Universit\u00e4ten sollten daher f\u00fcr die Immatrikulation bei der medizinischen Fakult\u00e4t die Beibringung einer \u00e4rztlichen Bescheinigung obligatorisch machen, aus der hervorgeht, dafs der Betreffende auf Farbent\u00fcchtigkeit \u00e4rztlich untersucht ist und mit welchem Ergebnis.\u201c\nDie anomale Trichromasie hingegen betreffend urteilt Collin 1 : \u201eBei allen feineren Untersuchungen, wie sie die wissenschaftliche T\u00e4tigkeit mit sich bringt, kann und wdrd die Unsicherheit der Anomalen im Farbenerkennen- und Unterscheiden zutage treten. Der Mediziner irrt sich leicht \u2014 wie das h\u00e4ufig beobachtet worden ist \u2014 bei gef\u00e4rbten mikroskopischen Pr\u00e4paraten ; vereinzelte rotgef\u00e4rbte Tuberkelbazillen \u00fcbersieht er \u00fcberhaupt oder wird sie, darauf aufmerksam gemacht, nur als schwTarze St\u00e4bchen erkennen k\u00f6nnen. Bei verschieden gef\u00e4rbten Blutpr\u00e4paraten oder mikroskopischen Schnitten sieht er infolge seines gesteigerten Farbenkontrastes andere Farben, als zur F\u00e4rbung verwandt worden sind; ebenso wird er gelegentlich auch leichte und wrenig ausgepr\u00e4gte Verf\u00e4rbung der Haut und der Schleimhaut \u00fcbersehen k\u00f6nnen. Er wie der Physiker sind unsicher bei spektralanalytischen Untersuchungen, am Polarisationsapparat ; der Chemiker irrt sich beim Titrieren, wo der Umschlag der Farbe, und zwTar das Erkennen ihrer allerschw\u00e4chsten S\u00e4ttigungsstufe die Ent-","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nW. Jerchel.\nScheidung bringt. Trotzdem aber wird man, glaube ich, sowohl den farbenanomalen Mediziner, wie den Chemiker und Physiker unbedenklich zu diesen Studienf\u00e4chern zulassen k\u00f6nnen, da es ihnen durch Heranziehung gewisser Hilfsmittel (Verl\u00e4ngerung der Beobachtungszeit, Vergr\u00f6fserung des Gesichtswinkels f\u00fcr das fixierte farbige Objekt, Benutzung anderer Farbl\u00f6sungen) immerhin gelingt, das Manko ihres Farbensinns auszugleichen; selbstverst\u00e4ndlich ist hierf\u00fcr Voraussetzung, dafs die Betreffenden \u00fcber die Eigenart ihrer Farbenst\u00f6rung beim Beginn ihres Studiums orientiert und belehrt werden, und das liefse sich durch die von mir vorgeschlagene obligatorische Einf\u00fchrung der Farbensinnpr\u00fcfung seitens der Universit\u00e4ten leicht erreichen.\u201c\nIII. N\u00e4here Baten \u00fcber die eigene Farbensinnst\u00f6rung.\nSchon in meiner fr\u00fcheren Kindheit fiel es meiner Mutter auf, dafs ich trotz ihrer M\u00fche um mich in dieser Hinsicht die Farbenbezeichnungen so schwer erlernte und das mir so h\u00e4ufig h\u00e4ufig Farbenverwechslungen passierten. So konnte ich, besonders bei Lampenbeleuchtung, die roten und gr\u00fcnen Figuren des Halmaspiels nicht unterscheiden. Einen roten Tennisball oder einen rotbraunen Handschuh auf einer Wiese, der durch seine Kontrastfarbe allen schon weithin entgegenleuchtete, konnte ich auch in seiner unmittelbaren N\u00e4he trotz eifrigen Suchens nicht finden. Und wenn ich in den Wald mir Erdbeeren suchen ging, war meine Beute immer wesentlich kleiner als die meiner Spielkameraden. In meinem Malkasten, waren gew\u00f6hnlich alle Farben rasch aufgebraucht, nur die gr\u00fcne Farbe wurde von mir nie benutzt. Wiesen und B\u00e4ume wurden eben auf meinen Malereien \u201erot\u201c gemalt. Auf Grund dieser Wahrnehmungen nahm mein Schwager, ein praktischer Arzt, in meinem neunten Lebensjahr bei mir mittels der HoLMGEENschen Wollprobe eine Farbensinnpr\u00fcfung vor und stellte die Diagnose einer \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit\u201c.\nUm so mehr bem\u00fchte ich mich in den kommenden Jahren, meinen Farbensinn durch \u00dcbung zu verbessern, jedoch ohne Erfolg. Das deutsche Infanterierot, von dem ich die deutliche Empfindung eines \u201eRot\u201c habe, nahm ich als Mafsstab f\u00fcr die Bezeichnung \u201eRot\u201c an und pr\u00e4gte sie mir ein. Alle Gegenst\u00e4nde, die nur wenig heller oder dunkler als dieses mein \u201eRot\u201c waren, sprach ich f\u00fcr unbedingt \u201eRot\u201c an. Alle anderen wesentlich","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eBot-Gr\u00fcnblindheit\u201c beeinflufst? 13\ndunkler und heller roten F\u00e4rbungen standen meiner Empfindung nach dem \u201eRot\u201c ferner als manche mir \u201eGr\u00fcn\u201c genannte F\u00e4rbung. Ebenso gelang es mir nie eine deutliche Empfindung f\u00fcr die Farben \u201eBraun\u201c, \u201eOrange\u201c, \u201ePurpur\u201c, \u201eViolett\u201c zu gewinnen. \u201eBraun\u201c, \u201eOrange\u201c, \u201ePurpur\u201c empfand ich als ein dunkleres oder auch helleres, vielleicht etwas schmutziges \u201eRot.\u201c \u201eViolett\u201c als ein helleres etwas schmutziges \u201eBlau.\u201c Am unklarsten war mir die Farbe \u201eGr\u00fcn.\u201c Denn als Gr\u00fcn wurden eine Anzahl mir vollkommen verschieden erscheinender, meiner Empfindung nach ohne irgendwelche Beziehung zueinander stehender F\u00e4rbungen bezeichnet, und heutigen Tages noch ist mir die Vorstellung von dem \u201eGr\u00fcn\u201c des Normalen ein R\u00e4tsel.\nAuf alle diese heute in gleichem Grade noch bestehenden M\u00e4ngel meines Farbensinns wurde ich schon in meiner Knabenzeit aufmerksam, wenn mir auch damals das Verst\u00e4ndnis f\u00fcr\neine daraus zu folgernde Farbensinnst\u00f6rung von meinen Ange-\n\u2022 \u2022\nh\u00f6rigen auch oft mangelhafter \u00dcbung und desgl. zur Last gelegt wurden. Da ich auf dem Lande aufwuchs, hatte ich viel Gelegenheit, die mannigfachen F\u00e4rbungen in der Natur zu betrachten; meine \u00e4lteren farbent\u00fcchtigen Geschwister, die meine \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c kannten, machten mich auf viele Farben aufmerksam und ich erinnere mich noch deutlich an meine Verwunderung, die ich \u00fcber ihre Farbenbezeichnungen mitunter empfand. Vor allen Dingen wollte es mir nie einleuchten, wie die F\u00e4rbung des Grases, die der F\u00f6rsteruniform und die der Steuerbeamtenuniform bezw. Gensdarmuniform einheitlich als \u201eGr\u00fcn\u201c bezeichnet werden konnten, die ich doch als drei grundverschiedene Farben empfand. Die Grasfarbe empfand ich als dem \u201eRot\u201c sehr nahestehend, als ein etwas verwaschenes \u201eRot\u201c; meistenteils, namentlich wenn es junges Gras war, etwas heller als der \u201ebraune\u201c Handschuh und der \u201erote\u201c Tennisball; war es altes Gras, so nmpfand ich es, ebenso wie z. B. Eichen- und Buchenbl\u00e4tter, dunkler als rote Gegenst\u00e4nde. Jedoch fand ich nie einen deutlichen Farbenunterschied zwischen der Grasfarbe einerseits und dem \u201eRot\u201c, \u201eOrange\u201c oder \u201eBraun\u201c andererseits wie beispielsweise zwischen der Grasfarbe und dem \u201eBlau\u201c oder \u201eGelb\u201c. Auch zu der erw\u00e4hnten gr\u00fcnen Farbe des Malkastens schien mir die gr\u00fcne Farbe, die ich in der Natur wahrnahm, in keiner Beziehung zu stehen. Die Farbe der F\u00f6rsteruniform mufste meinem Empfinden nach dem \u201eBlau\u201c oder \u201eGrau\u201c zugerechnet","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nW. Jerchel.\nwerden. Zwischen diesem \u201eGr\u00fcn\u201c und dem \u201eGrasgr\u00fcn\u201c (bezw. auch Rot) fand ich keinerlei Beziehungen, ja ich empfand diese gr\u00fcne Farbe sogar als Kontrast gewissermafsen zu der gr\u00fcnen Grasfarbe. Eine Definition meiner Farbenempfindung von einem Steueruniformgr\u00fcn zu geben ist mir unm\u00f6glich. Ich empfand diese Farbe vielleicht als einen \u00dcbergang zwischen \u201eRot\u201c und \u201eSchwarz.\u201c Schon bei einbrechender Dunkelheit oder Lampenbeleuchtung empfand ich die Farbe als \u201eSchwarz\u201c. Jedenfalls erschien sie mir ganz erheblich dunkler als das \u201eGrasgr\u00fcn\u201c und grundverschieden von dem \u201eF\u00f6rstergr\u00fcn\u201c. Weiterhin erregte es meine Verwunderung, dafs beispielsweise zwischen dem erw\u00e4hnten roten Tennisball und der gr\u00fcnen Wiese so ein deutlicher Kontrast da sein sollte, desgl. zwischen der von mir \u201eRot\u201c gemalten Wiese und der wirklichen Farbe derselben, zwischen den roten Walderdbeeren und den gr\u00fcnen Bl\u00e4tern; mich verwunderte die F\u00e4higkeit anderer, mir \u201eRot\u201c erscheinende Farben als \u201eBraun\u201c oder \u201eOrange\u201c bezeichnen zu k\u00f6nnen, ihre Schilderung von der Farbenpracht und Farbenmannigfaltigkeit in einem Regenbogen, den ich als einen dem Abendrot vergleichbaren nur etwas verschwommenen gelbrot leuchtenden Streifen empfand. Im Laufe der Jahre verlor sich bei mir wie bei meinen Angeh\u00f6rigen das Interesse an meiner Farbensinnst\u00f6rung. Denn, ohne zwar eine deutliche Farbenempfindung zu haben, pr\u00e4gte ich mir f\u00fcr die im t\u00e4glichen Leben und in der Natur begegnenden Gegenst\u00e4nde die Farbenbezeichnungen ein und lernte es allm\u00e4hlich auf Grund von Beachtung von Helligkeits- und S\u00e4ttigkeitsunterschieden und weiteren sekund\u00e4ren Hilfsmitteln auf die Farben richtig zu schliefsen. Ich brachte es darin soweit, dafs Fehler in meinen Farbenbezeichnungen immer seltener wurden, infolgedessen mir und meiner Umgebung meine Farbenst\u00f6rung immer weniger auffiel und ich mir dann einbildete, auch mein Farbensinn habe sich durch \u00dcbung wesentlich gebessert und sei ann\u00e4hernd normal. Es ging mir zun\u00e4chst einmal in Fleisch und Blut \u00fcber, dafs das Gras, die Bl\u00e4tter der B\u00e4ume, das Obst besonders das junge \u2014 es wurde ja \u201egr\u00fcnes Obst\u201c genannt, \u2014 die unreifen Erdbeeren \u201egr\u00fcn\u201c zu bezeichnen seien, und ich vergafs dabei zu beachten, dafs ich beispielsweise das gr\u00fcne Obst als \u201egelb\u201c oder \u201egelbgrau\u201c, die gr\u00fcnen Erdbeeren als \u201eweifs\u201c oder \u201eweifsgrau\u201c empfand. Ich lernte, dafs die reifen Erdbeeren \u201erot\u201c seien und achtete nicht mehr darauf, dafs ich zwischen den roten Erdbeeren und","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit\u201c beeinflufst? 15\ndem gr\u00fcnen Grase keinen Farbenunterschied wahrnahm. Ich lernte ferner, dafs der Apfel, wenn er die Farbe oder Reife erhalten hatte nicht mehr als \u201egr\u00fcn\u201c sondern als \u201erotb\u00e4ckiger\u201c Apfel bezeichnet wurde, dafs im Herbst das gedunkelte Weinlaub und die gedunkelten eigent\u00fcmlich gl\u00e4nzenden Bl\u00e4tter im Walde als \u201eRot\u201c zu bezeichnen seien. Dafs die Mohnblumen \u201erot\u201c seien, das sagte mir ja mein Empfinden, dafs aber so manche Blumen und Rosen, die ich nicht mehr als \u201erot\u201c empfand, auch als \u201erot\u201c oder \u201erosa\u201c bezeichnet werden mufsten, andere als \u201egr\u00fcn\u201c, \u201egelbgr\u00fcn\u201c usw., das lernte ich und pr\u00e4gte mir Helligkeits- und S\u00e4ttigungsunterschiede ein und schlofs unter Ber\u00fccksichtigung derselben meist richtig auf die Farbenbezeichnung, ohne den Unterschied zu f\u00fchlen, dafs der Normale auf Grund einer spezifischen Farbenempfindung, ich aber auf Grund anderer Kriterien die Farbe angab. Noch leichter als in der Pflanzenwelt wurde mir die Farbenbezeichnung f\u00fcr die Tiere. Hier kommen f\u00fcr alle die Arten und Rassen nur bestimmte Farbenbezeichnungen in Betracht. Den Leonberger, der auf der Wiese herumsprang, bezeichnete ich nat\u00fcrlich, wenn seine Farbe mir auch nur heller erschien als das Gras mit einer gelben Schattierung und wenn ich seine Farbe auch der Grasfarbe n\u00e4herstehend fand als der Farbe des \u201ebraunen\u201c Biers, niemals als \u201egelbgr\u00fcn\u201c, \u2014 denn Hunde konnten ja, wie ich lernte, niemals \u201egr\u00fcn\u201c sein, \u2014 sondern als \u201egelbbraun\u201c. In gleicher Weise lernte ich, ohne die richtige Farbenempfindung zu haben, dafs die K\u00fche und Pferde als \u201erot\u201c oder \u201ebraun\u201c zu bezeichnen seien; \u201egr\u00fcn\u201c dagegen sei der Laubfrosch, der von mir wieder eher als \u201egelb\u201c empfunden wurde. Die Dogge, die eine dunkle schmutzige F\u00e4rbung hatte, die ich an einer anderen Stelle vielleicht als \u201egr\u00fcn\u201c gedeutet h\u00e4tte, bezeiehnete ich aber unter Ber\u00fccksichtigung des Tr\u00e4gers der Farbe stets richtig als \u201egrau\u201c. Schwieriger wurde mir die Farbenbezeichnung f\u00fcr Gegenst\u00e4nde, die \u201erot\u201c wie \u201egr\u00fcn\u201c, \u201ebraun\u201c usw. sein konnten und in so mannigfachen S\u00e4ttigungsgraden gehalten waren, wie Kleiderstoffe, Tapeten, Teppiche, M\u00f6bel, Lampen, Wandmalereien u. a. m. Aber auch hier gelang* es mir meist aus den S\u00e4ttigungsunterschieden und mit Ber\u00fccksichtigung mancher \u00c4ufserlichkeiten die richtige Farbenbezeichnung zu erraten. Da Schlafzimmer gew\u00f6hnlich \u201egr\u00fcn\u201c gehalten zu sein pflegen, so bezeichnete ich die Tapeten, Portieren usw. derselben, wenn ich keine sichere Farbenempfin-","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nW. Jerchel.\ndung davon hatte, gern als \u201egr\u00fcn\u201c, Theaterdekorationen dagegen als \u201erot\u201c oder \u201erotbraun\u201c, weil \u201erot\u201c mir als anregend wirkende Farbe geschildert wurde; T\u00fcrpfosten sowie M\u00f6bel bezeichnete ich meist als \u201ebraun\u201c, als \u201egr\u00fcn\u201c nur dann, wenn ich die Empfindung einer grauen Milchfarbe von ihnen hatte. Sah ich zwei Lampen am Bahnhof, von denen ich die eine als \u201erot\u201c richtig empfand, so bezeichnete ich die andere mir heller oder dunkler erscheinende als \u201egr\u00fcn\u201c, Ja es gelang mir sogar bis zu einem gewissen Grade durch immerw\u00e4hrende \u00dcbung die farbigen Lampen der Strafsenbahnwagen auseinanderzuhalten \u2014 die Unterscheidung der am Tage die Fahrtrichtung bezeichnenden Tafeln, die in der gleichen Farbe gehalten waren, aus Ber\u00fccksichtigung von S\u00e4ttigungsunterschieden, war mir allerdings bedeutend leichter. \u2014 So unterschied ich durch \u00dcbung schliefslich \u201eviolett\u201c als heller von \u201eblau\u201c, ebenso \u201egelb\u201c, \u201eorange\u201c, \u201egr\u00fcn\u201c und \u201erot\u201c in aufsteigender Helligkeit meist richtig auf eine Entfernung von ca. 25 m. Jedoch wurde diese Beurteilung bei schwachem Nebel undurchf\u00fchrbar. Kam ich in eine andere Stadt und sah Lampen von gleicher Farbe, jedoch von anderer Glasform, Glasdicke S\u00e4ttigung der Farbe und Helligkeit, so mufste ich mir die neuen Bezeichnungen wieder einlernen. In gleicher Weise erging es mir bei der Farbenunterscheidung bei farbigen Weingl\u00e4sern. Die hellgr\u00fcnen Gl\u00e4ser im elterlichen Haushalt erschienen mir \u201egelb\u201c, die roten in einer \u201edunkleren\u201c F\u00e4rbung, die ich sowohl \u201erot\u201c wie \u201egr\u00fcn\u201c bezeichnen k\u00f6nnte, und ich k\u00f6nnte sie leicht unterscheiden. Dagegen gleichfarbige, jedoch anders geformte und in anderer Farbens\u00e4ttigung gehaltene Gl\u00e4ser in anderen Haushalten verwechselte ich oft wieder, weil ich dort auch die dunkleren immer f\u00fcr die roten zu halten pflegte.\nWesentlich erschwert wurde mir jede Farbenbezeichnung durch D\u00e4mmerlicht und k\u00fcnstliche Beleuchtung. Uniformen, die ich am Tage deutlich erkannte, konnte ich am Abend nicht mehr unterscheiden, und oftmals habe ich als Einj\u00e4hrig-Freiwilliger einem Steuerbeamten eine milit\u00e4rische Ehrenbezeugung erwiesen. M\u00fctzen von Korporationsstudenten, die ich am Tage nie verwechselte, konnte ich des Abends nicht mehr unterscheiden ; so erschienen mir bei Strafsenbeleuchtung die hellblauen und hellgrauen M\u00fctzen, die schwarzen, dunkelblauen, dunkelroten,","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gronblindheit\u201c beeinflufst? 17\ndunkelgr\u00fcnen M\u00fctzen in gleicher Farbe, die ersteren grau, die zweiten gelbr\u00f6tlich, die letzteren schwarz.\nW\u00e4hrend ich es also am Tage durch genaueste Ber\u00fccksichtigung von Helligkeits- und S\u00e4ttigungsunterschieden u. a. sekund\u00e4ren Hilfsmitteln zu einer in den weitaus meisten F\u00e4llen zutreffenden Richtigkeit meiner Farbenbezeichnungen brachte, liefsen mich am Abend alle diese Hilfsmittel im Stich. Die Folge davon war, dafs ich \u2014 ohne zu empfinden, dafs ich die Farbenunterscheidungen- und benennungen auch am Tage nicht aus Wahrnehmung spezifischer Farbeneindr\u00fccke, sondern aus anderen Unterscheidungsmerkmalen traf \u2014, die Schuld an meinen Farbenverwechslungen in der Regel schlechter Beleuchtung, in anderen F\u00e4llen weiteren ung\u00fcnstigen Bedingungen, mangelhafter \u00dcbung usw., und nicht einer Farbensinnst\u00f6rung zuschob, dafs es mir nicht zum Bewufstsein kam, dafs ich keine spezifische Empfindung f\u00fcr \u201eGr\u00fcn\u201c, schwach ges\u00e4ttigtes \u201eRot\u201c, \u201eViolett\u201c, \u201eBraun\u201c, \u201eOrange,\u201c \u201ePurpur\u201c usw. besitze, sondern mir einbildete, ich bes\u00e4fse eine am Abend auftretende \u201eFarbenschw\u00e4che\u201c, aber am Tage eine normale Farbenempfindung.\nWesentliche Schwierigkeiten oder Unannehmlichkeiten hat mir meine Farbensinnst\u00f6rung eigentlich nie bereitet. Dafs mein Zeichenlehrer auf Grund h\u00e4ufiger grober Fehler mich als Gymnasiasten bald davon abbrachte, Malerei zu betreiben, konnte ich leicht verschmerzen. Die Schwierigkeit der Unterscheidung von Kupfer- und Nickelgeldst\u00fccken in dunklen oder schlecht beleuchteten Gesch\u00e4ften f\u00fchrt mich mitunter in die peinliche Situation, ein Zweipfennigst\u00fcck als Zehnpfennig-, ein Pfennigst\u00fcck als F\u00fcnfpfennig ausgegeben zu haben. Schwierigkeiten macht mir der Einkauf von Kleidern und Kravatten, wobei ich mich auf das Urteil der Verk\u00e4ufer verlassen mufs und manches selbstgekaufte Kleidungsst\u00fcck erregt infolgedessen durch seine h\u00e4fsliche und schreiende Farbe den Spott _ \u2022 \u2022\nmeiner Freunde und Arger meiner Verwandten.\nW\u00e4hrend meiner halbj\u00e4hrigen Dienstzeit als Einj\u00e4hrig-Freiwilliger hat meine Farbensinnst\u00f6rung niemals zu irgendwelchen Konsequenzen gef\u00fchrt. Da ich abends oft nicht imstande war, eine milit\u00e4rische Uniform von einer Beamtenuniform zu unterscheiden, so machte ich lieber einmal eine Ehrenbezeugung zuviel als zu wenig. Schwer fiel es mir oft, rote Scheunend\u00e4cher,\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 47.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nW. Jerchel.\ndie als Zielpunkte bezeichnet wurden, zu entdecken, w\u00e4hrend mir beispielsweise die Kirchen durch die Bauform weithin auffielen. Mit dem Flaggdienst kam ich nie in Ber\u00fchrung.\nAls ich vor die Frage der Berufswahl gestellt wurde und meinem Lieblings w\u00fcnsch nach den Beruf des Arztes w\u00e4hlte, wurde von meinen Beratern, \u2014 darunter auch ein Arzt wohl erwogen, ob mir meine Farbensinnst\u00f6rung, die als unwesentlich betrachtet und als Farbenschw\u00e4che gedeutet wurde, in diesem Beruf nicht hinderlich sein w\u00fcrde. Aber man kam zu dem Resultat, dafs gewisse Spezialberufe, wie der des Ophthalmologen und des Dermatologen, des Marinearztes und des Bahnarztes f\u00fcr mich wohl verschlossen sein w\u00fcrden, dafs mich die Farbensinnst\u00f6rung aber f\u00fcr die Mehrzahl der Spezialf\u00e4chei sowie f\u00fcr den Beruf des praktischen Arztes nicht untauglich mache, zumal ja ein nachweisbar farbenblinder Onkel von mir ein vielgesuchter prakt. Arzt war, dem seine Farbenblindheit in der Aus\u00fcbung seines Berufs niemals st\u00f6rend auf gef allen war.\nAls \u00c4tiologie meiner Farbensinnst\u00f6rung ist wohl Vererbung mit Sicherheit zu bezeichnen. Hinsichtlich der Vererbung der typischen partiellen Farbenblindheit wird im allgemeinen gelehrt, dafs sie unter \u00dcberspringung einer Generation vor sich gehe und zwar in der Weise, dafs die Tochter eines Dichromaten die Anomalie auf ihren Sohn vererbt ohne selbst farbenblind zu sein. Diese Theorie findet auch in meiner Familie Best\u00e4tigung: Mein Grofsvater m\u00fctterlicherseits war farbenblind. Unter seinen Kindern, \u2014 von denen nur eins ein Sohn war und dieser starb kinderlos, \u2014 ist die Anomalie niemals bemerkt worden. Dagegen hat sich die Anomalie in mehreren F\u00e4llen durch die T\u00f6chter auf die S\u00f6hne (3. Generation) vererbt. In meinem Stamme, in dem die f\u00e4rb en t\u00fcchtige \u00dcbertr\u00e4gerin mit einem farbenblinden Manne verheiratet war, befinden sich ein farbenblinder Sohn und eine farbenblinde Frau! \u2014 vielleicht eine Summation vererblicher Anlagen. \u2014 In der 4. Generation ist wiederum durch eine farbent\u00fcchtige Tochter als \u00dcbertr\u00e4gerin, also hier unter \u00dcberspringung von zwei Generationen und zwei selbst farbent\u00fcchtigen \u00dcbertr\u00e4gerinnenein Fall der Anomalie auf getreten. Ob es sich in allen F\u00e4llen um Dichromasie oder z. T. um anomale Trichromasie handelt, vermag ich nicht zu entscheiden.\n\u00dcber die Verbreitung der Farbenunt\u00fcchtigkeit in meiner Familie, gibt nachfolgender Stammbaum Aufschlufs :","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eIlot-Gr\u00fcnblindheitu beeinfbifst? 19\n\ttt O*\tX m o + \"o 0 + \u2022 + 'o\tNachkommen normal farbenf\u00fcchtiq\n\t0 +\tX \u2022 \\ m o + o + o + b b o + b\tNachkommen , siehe unten\no+\tO +\tb o + o + o + \\ o\tNachkommen normal farbenf\u00fcchtiq\n\to +\t\\ \u2022 \\0 + o o + -\u00a7*\tco \u2022\n\tsr o kinderlos\t\t\n\to\tX \u2022 o + \\ o\tNachkommen normal farbenf\u00fccht/q\n\t\nX m\t1\n\\ \u2022\t1 !\no+\tI\n0 +\t0 + V b\n04-\to + X \u2022\n\"\u00f6\t0 4- O 4-\nb\tb b\n04-\t!\no\tX O Ko X O\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nW. Jerchel.\nIch selbst bin typischer Dichromat (und zwar Deuteranop), wie sich aus genauen Untersuchungen, auch mit spektralen Farben, ergeben hat.\nIch habe systematisch in den einzelnen Disziplinen der Medizin Untersuchungen \u00fcber die Eigenart meiner Farbenempfindung vorgenommen, die ich in Folgendem wiedergebe.\nIT. Analytische Untersuchungen in den einzelnen Disziplinen\nder Medizin.\n1. Pathologie.\nIn der Pathologie habe ich bei der Diagnostik makroskopischer Pr\u00e4parate meine Farbensinnst\u00f6rung niemals st\u00f6rend empfunden. Dies kommt wohl daher, weil ich dabei die Farben in grofsem Gesichtswinkel sehe und, soweit ich keinen deutlichen Farbeneindruck erhalte, es gelernt habe ebenso wie in der Natur und bei Gegenst\u00e4nden des allt\u00e4glichen Lebens \u2014 die pathologischen F\u00e4rbungen in diagnostischer Hinsicht aus Hellig-keitsunterschieden, S\u00e4ttigungsunterschieden und anderen sekund\u00e4ren Hilfsmitteln richtig zu beurteilen. So nehme ich beispielsweise an der hellen Intima eines Blutgef\u00e4fses, an der Trachea, im Larynx, an den Herzklappen eine R\u00f6tung in noch so geringem S\u00e4ttigungsgrade deutlich als R\u00f6tung wahr. Von einer R\u00f6tung in einem dunkleren Organ z. B. der Darmschleimhaut habe ich zwar keine deutliche Rotempfindung, jedoch beurteile ich sie stets richtig und weifs sie mittels Beachtung der Helligkeitsunterschiede und der allgemeinen morphologischen Beschaffenheit genau von anderen dunkleren Verf\u00e4rbungen z. B. der gr\u00fcnen Verf\u00e4rbung infolge von Selbstverdauung zu unterscheiden. Eine braune F\u00e4rbung eines Organs z. B. bei einer braunen Atrophie oder der sogen. H\u00e4mochromatose der Darmserosa nehme ich wohl kaum als \u201ebraun\u201c wahr, da ich die sichere spezifische Braunempfindung des Trichromaten nicht kenne, sondern ich empfinde an dem Organ nur einen dunkleren Farbenton. Trotzdem gelingt es mir, auch schon eine beginnende braune Atrophie richtig zu diagnostizieren. Eine schwach ges\u00e4ttigte gelbe F\u00e4rbung z. B. bei beginnender Fettdegeneration der Leber empfinde ich eigentlich nicht als \u201egelb\u201c sondern als gelblich- oder r\u00f6tlich-grau, erkenne dadurch aber die beginnende Ver\u00e4nderung. Bei einer","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Iniuieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit\u201c beeinflufst? 21\ntuberkul\u00f6sen Meningitis nehme ich die gelbgraue F\u00e4rbung der Leptomeninx nur als \u201emilchig-grau wahr, vermag die Ver\u00e4nderung selbst aber richtig zu diagnostizieren.\nGr\u00fcnen Eiter sehe ich wohl nicht in der gleichen Farbe wie der Trichromat \u2014 ich m\u00f6chte meine Farbenempfindung davon als \u201eGrau\u201c bezeichnen. \u2014 Trotzdem erkenne ich aus der Beschaffenheit und Helligkeit des Eiters denselben seiner Qualit\u00e4t nach richtig.\nMit dieser meiner Beurteilungsweise glaube ich also vollkommen die Farbenbeurteilung des Trichromaten bei der Diagnostik ersetzen zu k\u00f6nnen. In Verlegenheit komme ich mitunter, wenn ich eine Organf\u00e4rbung beschreiben soll. Im allgemeinen habe ich mir ja alle die bei den einzelnen Ver\u00e4nderungen vom Trichromaten empfundenen und in Kursen wie B\u00fcchern vielfach angegebenen Farbenbezeichnungen eingepr\u00e4gt. Jedoch kommt es h\u00e4ufig vor, dafs ich eine derselbe vergesse oder verwechsle und dann f\u00fcr die richtig als normale Farbe erkannte Organf\u00e4rbung oder die richtig erkannte Organver\u00e4nderung eine v\u00f6llig falsche mitunter die Heiterkeit der Zuh\u00f6rer erregende Farbenbezeichnung angebe. Als ich k\u00fcrzlich beispielsweise bei einer Sektion nach der F\u00e4rbung der Gallenblase oder Gallenfl\u00fcssigkeit gefragt wurde, geriet ich in diese Verlegenheit und riet: rot, organe und so fort, erst sp\u00e4t kam ich auf die richtige Bezeichnung gr\u00fcn.\nSchwierigkeiten begegnen mir dagegen bisweilen bei der Beurteilung und Diagnostik mit Kontrastf\u00e4rbungen behandelter pathologisch-histologischer Pr\u00e4parate. \u2014 Bei den mikroskopischen Pr\u00e4paraten versagt mir \u00fcberall der Farbensinn (siehe Bakteriologie, Innere Medizin). Einmal spielt dabei wohl der kleine Gesichtswinkel, in dem ich die Farben sehe, eine Rolle; dann sind die F\u00e4rbungen meistenteils so unges\u00e4ttigt, dafs ich \u00fcberhaupt keine deutliche richtige Farbenempfindung und erst recht keine Farbenkontrastempfindung erhalte. Infolgedessen suche ich hier erst recht die Farbenbeurteilung durch Helligkeitsbeurteilung zu ersetzen, was mir auch in vielen F\u00e4llen dank meiner durch \u00dcbung erworbenen gesteigerten Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede (cf. Bakteriologie) gelingt. So kommt es mir bei van Giesonf\u00e4rbung beispielsweise, besonders bei mangelhaft gef\u00e4rbten Pr\u00e4paraten vor, dafs ich das \u201eGelb\u201c der Muskulatur mit dem schwachen \u201eBlafs-Rot\u201c","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nW. Jerchel.\ndes Bindegewebes verwechsle, w\u00e4hrend ich bei intensiv gef\u00e4rbten Pr\u00e4paraten ans Helligkeitsunterschieden deutlich Bindegewebe und Muskulatur unterscheide. Bei der Amyloidf\u00e4rbung mit Methylviolett gelingt es mir nie, das rotviolette (von mir ebenfalls als \u201eblau\u201c empfundene) Amyloid in dem blauen Gewebe wahrzunehmen. Jedoch lassen sich diese F\u00e4rbemethoden durch gleichwertige andere Methoden ersetzen, bei denen auch ich deutlich, wenn auch nicht immer einen Farbenkontrast, so doch einen Helligkeitskontrast empfinde, z. B. Braunf\u00e4rbung des Amyloids mit Jodl\u00f6sung.\n2. Bakteriologie.\nDas Gebiet der Medizin, auf dem mir vor allem diagnostische Schwierigkeiten begegnen, ist die mikroskopische Bakteriologie. Jedoch beschr\u00e4nken sich dieselben auf die mit Kontrastf\u00e4rbungen behandelten mikroskopischen Pr\u00e4parate. Bei der Betrachtung ungef\u00e4rbter oder mit einer einfachen F\u00e4rbung behandelter Pr\u00e4parate steht mir meine Farbensinnst\u00f6rung bei der Diagnostik keineswegs hinderlich im Wege, im Gegenteil kommt mir meine stets ge\u00fcbte Betrachtungsweise nach Helligkeitsunterschieden und dadurch erworbene erh\u00f6hte Aufmerksamkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede zugute, so dafs ich weit schw\u00e4chere Helligkeits- und S\u00e4ttigungsunterschiede noch deutlich wahrzunehmen vermag als der Trichromat. Bei den \u00fcblichen Kontrastf\u00e4rbungen gen\u00fcgt jedoch die Beachtung von Helligkeitsunterschieden nicht immer, um zu einer sicheren Diagnose zu kommen, dabei macht sich der Mangel der Farbenempfindung geltend. Einmal sind die diffusen Gewebs-und Protoplasmaf\u00e4rbungen in der Regel so unges\u00e4ttigt, dafs ich entweder von ihnen gar keine oder eine falsche Farbenempfindung habe. So empfinde ich nur bei intensiver F\u00e4rbung mit Methylenblau Gewebe und Protoplasma grofser Parasiten als \u201eblau\u201c, bei schwacher F\u00e4rbung erscheint es mir \u201eblaugrau\u201c oder \u201egrau\u201c ; eine intensive Gr\u00fcnf\u00e4rbung (Malachitgr\u00fcn) bezeichne ich meist als \u201eblaurot\u201c, eine schwache als \u201egraurot\u201c oder \u201egraublau\u201c; eine intensive Violettf\u00e4rbung (Gentianaviolett) empfinde ich als \u201edunkelblau\u201c , eine schwache als \u201ehellblau\u201c ; \u201eblaugrau\u201c oder \u201egrau\u201c ; \u201erot\u201c und \u201erosa\u201c (Fuchsin) gef\u00e4rbte Leukocyten nehme ich als \u201eblaugrau\u201c oder \u201eblaurot\u201c oder \u201egrau\u201c wahr und schwanke ob ich sie \u201erosa\u201c oder \u201eviolett\u201c bezeichnen soll u. s. f. (Trotzdem gelingt es mir, sobald ich mich nur kurze Zeit mit einigen der-","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit11 beeinflufst? 23\nartigen Pr\u00e4paraten besch\u00e4ftigt habe, aus Helligkeits- und S\u00e4ttigungsunterschieden diese Farben genau zu unterscheiden und richtig zu bezeichnen.) Die Folge davon ist, das ich beispielsweise bei Giemsaf\u00e4rbung hellblaue Parasiten von den \u201erosa\u201c gef\u00e4rbten Blutk\u00f6rperchen der Farbe nach nicht zu unterscheiden vermag.\nAndererseits empfinde ich die schon bei der \u00fcblichen F\u00e4rbung von 2 bis 3 Minuten durchweg intensiv gef\u00e4rbten kleinen Gebilde wie Kokken, St\u00e4bchen, Zellkerne, ebenso wie Geifself\u00e4den von Trypanosomen als deutlich \u201eschwarz\u201c, ganz gleich, ob sie \u201eblau\u201c (Methylenblau), \u201eviolett\u201c (Gentiana), \u201erot\u201c (Fuchsin, Safranin), \u201ebraun\u201c (Bismarekbraun) oder \u201egr\u00fcn\u201c (Malachitgr\u00fcn) gef\u00e4rbt sind. F\u00e4rben sich diese Gebilde nur k\u00fcrzere Zeit ohne Erw\u00e4rmen, dann sind sie f\u00fcr meine Empfindung nicht durchweg \u201eschwarz\u201c gef\u00e4rbt, sondern erscheinen mir z. T. in der Farbe der Gewebs-f\u00e4rbung, z. T. immer dunkler als dieselbe bis zum \u201eSchwarz\u201c. Die Folge davon ist, dafs ich bei den \u00fcblichen F\u00e4rbemethoden diese in der Vorf\u00e4rbung behandelten von den in der Nachf\u00e4rbung behandelten intensiv gef\u00e4rbten Gebilden weder durch den Farbenkontrast, wie der Trichromat, noch aus Helligkeitsunterschieden, durch die ich sonst den Mangel der Farbenempfindung zu ersetzen suche, sicher unterscheiden kann.\nAlle die mit Kontrastf\u00e4rbungen behandelten bakteriologischen Pr\u00e4parate empfinde ich demnach mehr oder weniger als einfach gef\u00e4rbte Pr\u00e4parate und zwar in der Farbe der Nachf\u00e4rbung mit deutlichem Hervortreten des intensiv gef\u00e4rbten schwarzen Chromatins. Infolgedessen beurteile ich sie ebenso wie die ungef\u00e4rbten oder mit einfacher F\u00e4rbung behandelten Pr\u00e4parate allein nach Helligkeitsunterschieden.\nWelche Konsequenzen erheben sich daraus f\u00fcr meine Diagnostik ? Die Diagnostik gr\u00f6fserer mit Kontrastfarbe behandelter Parasiten wie Trypanosomen, Malariaplasmodien, Proteosomen ist nicht beeintr\u00e4chtigt. Wenn mir beispielsweise bei Giemsaf\u00e4rbung hier auch nicht wie dem Trichromaten die himmelblauen Parasiten mit den roten Kernen, Geifself\u00e4den und dem schwarzen Pigment unter den rosa gef\u00e4rbten Blutk\u00f6rperchen entgegenleuchten, so fallen mir doch bald die schwarzen kleinen Gebilde, Kerne usw. deutlich ins Auge und bei genauer Einstellung dieser \u201everd\u00e4chtigen\u201c Stellen gelingt es mir leicht, den Parasiten als \u201eheller oder dunkler\u201c gef\u00e4rbt wie die Umgebung von derselben abzu-","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nW. Jerchel.\ngrenzen. Hierbei brauche ich also keinen Farbenkontrast zur Diagnose, sondern die anderen H\u00fclfsmittel, wie ihre Gr\u00f6fse, ihr komplizierter Ban, die intensiv gef\u00e4rbten typischen Kerne, Geifsel-f\u00e4den nsw. gen\u00fcgen, nm differentialdiagnostische Verwechslungen auszuschliefsen. Der einzige sich hierbei geltend machende Mangel, dafs ich das schwarze Pigment von den mir ebenfalls schwarz erscheinenden Kernen nicht zu unterscheiden vermag, spielt in der Diagnostik des Parasiten keine Holle.\nErhebliche Irrt\u00fcmer kommen mir bei den \u00fcblichen F\u00e4rbemethoden bei der Diagnostik der Kokken und St\u00e4bchen vor, da bei diesen kleinen einfach gebauten Mikroorganismen die in der Vorf\u00e4rbung behandelten von den in der Nachf\u00e4rbung behandelten allein durch den Farbenkontrast unterschieden werden k\u00f6nnen. Dieselben durch ihre Form auseinander zu halten, ist in vielen F\u00e4llen nicht m\u00f6glich und, wie erw\u00e4hnt, sind bei den \u00fcblichen Farbenmethoden zu einer sicheren Unterscheidung f\u00fchrende Helligkeitsunterschiede dieser intensiv gef\u00e4rbten Gebilde nicht vorhanden. So verwechsle ich beispielsweise bei der Ziehl-NEELSONschen F\u00e4rbung (Karbolfuchsin-Methylenblau) die septiert gef\u00e4rbten roten Tuberkelbazillen mit den blauen Streptokokken, sobald dieselben in einer Reihe aneinandergelagert sind, ebenso bei den anderen gebr\u00e4uchlichen Methoden die violetten St\u00e4bchen (Gentiana) mit den braunen oder roten Kokken (Bismarckbraun, Fuchsin, Safranin) die violetten oder roten St\u00e4bchen (Gentiana, Karbolfuchsin) mit den gr\u00fcnen Kokken (Malachitgr\u00fcn).\nHierbei sei auch die merkw\u00fcrdige, allerdings bei meiner Unterscheidungsmethode selbstverst\u00e4ndliche Wahrnehmung erw\u00e4hnt, dafs mir bei einer F\u00e4rbung \u201eRot\u201c gegen \u201eRot\u201c (Karbolfuchsin gegen Safranin) die Kokken und St\u00e4bchen genau so deutlich ins Auge fallen, wie beisj)ielsweise bei der F\u00e4rbung \u201eBlau\u201c oder \u201eViolett\u201c gegen \u201eRot\u201c (Methylenblau, Gentiana gegen Safranin), w\u00e4hrend der Trichromat, der auf Farbenunterschiede zu achten gew\u00f6hnt ist, die \u201eroten\u201c Mikroorganismen nur mit gr\u00f6fster M\u00fche oder gar nicht in dem roten Gewrebe auffindet, ein Zeichen, dafs ich eine weit ge\u00fcbtere Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede besitze als der Trichromat.\nBei der GnAMschen F\u00e4rbung mit Nachf\u00e4rbung (z. B. Gentiana-violett gegen Fuchsin) empfinde ich die grampositiven wie die gramnegativen Kokken als \u201eschwarz\u201c bzw. \u201edunkel\u201c, die Leuko-cyten als \u201eblaurot\u201c. Aufserdem fallen mir unter den gramposi-","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fc?iblindheitu beeinflufst? 25\ntiven wie negativen Kokken, unter letzteren besonders bei schwacher Nachf\u00e4rbung Helligkeitsunterschiede auf. Infolgedessen bin ich bei dieser F\u00e4rbung mittels der \u00fcblichen Methoden ganz besonders differentialdiagnostischen Irrt\u00fcmern ausgesetzt.\nK\u00f6nnen nun nicht auch hier durch geeignete F\u00e4rbemethoden zwischen s\u00e4urefesten bzw. grampositiven Bakterien einerseits, nicht s\u00e4urefesten bzw. gramnegativen Bakterien andererseits Helligkeitsunterschiede erzeugt werden, die dem ge\u00fcbteren Dichromaten die Kontrastf\u00e4rbung des Trichromaten ersetzen?\nDie in der Nachf\u00e4rbung zu behandelnden Bakterien so schwach zu f\u00e4rben, dafs sie deutlich heller empfunden werden als die in der Vorf\u00e4rbung behandelten, dies ist mittels Verk\u00fcrzung der Nachf\u00e4rbungszeit nicht durchf\u00fchrbar, denn schon bei der k\u00fcrzesten Nachf\u00e4rbungszeit von ca. 10\" mit den \u00fcblichen Farbl\u00f6sungen ist ein Teil derselben bereits intensiv dunkel gef\u00e4rbt. Dagegen l\u00e4fst sich durch Verd\u00fcnnung dieser L\u00f6sungen oder Anwendung sehr heller Farbstoffe die geeignete Nachf\u00e4rbung erzielen:\nBei einer intensiven Vorf\u00e4rbung (mit Gentianaviolett, Karbolfuchsin) und Nachf\u00e4rbung mit Jodjodkaliuml\u00f6sung oder 1\u00b0/00 (statt der \u00fcblichen l\u00b0/0) Bismarckbraunl\u00f6sung ca. 10 bis 20\" (ohne Erw\u00e4rmen) gelingt es mir, die gew\u00fcnschten deutlichen Helligkeitsunterschiede zu erzielen, so dafs ich die s\u00e4urefesten bzw. grampositiven Bakterien deutlich als \u201eschwarz\u201c, die nicht s\u00e4urefesten bzw. gramnegativen immerhin noch leicht als \u201egelb\u201c in dem \u201egelben\u201c Pr\u00e4parat auflinde. Diese Methode empfiehlt sich jedoch nur f\u00fcr den Dichromaten zur Anwendung, der bei seiner st\u00e4ndig sch\u00e4rf stens ge\u00fcbten Beurteilungsweise nach Helligkeitsunterschieden bzw. nach Formen die kleinen gelben Mikroorganismen unter den gelben Zellen leicht und deutlich herausfindet, w\u00e4hrend der Trichromat, der sich auf Farbenunterschiede zu achten gew\u00f6hnt hat und eine geringere Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede (infolge mangelhafter \u00dcbung) besitzt als der Dichromat diese gelb gef\u00e4rbten kleinen Gebilde in der gelben Umgebung meist \u00fcbersieht.\nVon Abbildungen mikroskopisch-bakteriologischer Pr\u00e4parate habe ich stets den richtigen Farbeneindruck. Hier erkenne ich beispielsweise bei ZiEHL-NEELSONscher F\u00e4rbung die mit Eosin gef\u00e4rbten Tuberkelbazillen als deutlich \u201erot\u201c, die mit Methylenblau gef\u00e4rbten Streptokokken als \u201eblau\u201c, bei GiEMSA-F\u00e4rbung die Trypanosomen als blau in blafsrotem Blutbild, ihre Kerne und","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nW. Jerchev.\nGeifself\u00e4den tiefrot, das Pigment schwarz etc., ein Zeichen, dafs die Farben auf den Abbildungen in h\u00f6heren S\u00e4ttigungsgraden gehalten sind.\nAuch in der makroskopischen Bakteriologie macht sich meine Farbensinnanomalie bisweilen als st\u00f6rend bemerkbar, besonders bei der Differentialdiagnose der Bakterien der Typhusgruppe. Ein durch Coli entf\u00e4rbtes R\u00f6hrchen Rotberoers Neutralrotagai erscheint mir heller und mehr gelb in deutlichem Gegensatz zu dem ungeimpften oder durch Typhus unver\u00e4ndert gelassenen als dunkler und \u201erot\u201c empfundenen R\u00f6hrchen; jedoch vermag ich die Fluoreszenz bei Eoli nicht wahrzunehmen. Bei Lackmusmolke empfinde ich den \u00dcbergang zwischen Violett und Rot einerseits und Violett und Blau andererseits nicht scharf, ebenso bei Drygalsgiplatten. Diese letzterw\u00e4hnten Differenzierungsmethoden lassen sich jedoch durch andere gleichwertige Methoden ersetzen, bei denen es nicht auf eine derartig genaue Farbenunterscheidung ankommt.\n3. Innere Medizin.\nBei den in der medizinischen Klinik in Anwendung kommenden chemischen Untersuchungsmethoden macht sich meine Farbensinnst\u00f6rung dann geltend, wenn es sich um Erkennung von nur schwach ges\u00e4ttigten F\u00e4rbungen handelt.\nBei der Harnuntersuchung ist zun\u00e4chst einmal die Beurteilung der Harnfarbe mit Schwierigkeiten verkn\u00fcpft. In diagnostischer Hinsicht machen sich dieselben dahin geltend, dafs ich einen rotgelben konzentrierten Harn vom \u201efleischwasserfarbenen\u201c d. h. \u201erot ins gr\u00fcnliche schimmernden\u201c Blutharn oder einen \u201egelb-bis braunroten\u201c Urobilinharn vom \u201erotweinfarbenen\u201c H\u00e4mato-porphyrinharn oder einen tief burgunderroten azetessigs\u00e4urehaltigen Harn von dem bei Anwesenheit von Antipyrin und anderen Arzneistoffen \u201ebraunrot\u201c gef\u00e4rbten Harn nicht in so genauer Weise zu unterscheiden vermag wie der Trichromat und infolgedessen von der Hinzuziehung der Harnfarbe zur Diagnostik meist ganz absehe. Es gelingt mir allerdings, den bei Gebrauch von Glutoidkapseln \u201egr\u00fcnbraun\u201c gef\u00e4rbten Harn bei gen\u00fcgender Ver ' d\u00fcnnung auf Grund seiner blassen dunklen F\u00e4rbung richtig zu diagnostizieren. Bei schwach sauer bzw. schwach alkalischer Reaktion ist es mir nicht m\u00f6glich, die Verf\u00e4rbung des Lackmuspapiers wahrzunehmen. Von den Harnreaktionen, bei denen es","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit11 beeinflufst? 27\nauf Verf\u00e4rbung des Harns (im Gegensatz zu F\u00fcllungs- bzw. Tr\u00fcbungsreaktionen) ankommt, erkenne ich alle deutlich positiven und deutlich negativen Ausf\u00e4lle richtig und zwar in der Regel aus Farbenunterschieden, wenn die Farbe stark ges\u00e4ttigt ist, aus Helligkeitsunterschieden bei schwacher S\u00e4ttigung. Alle die feineren Farbenunterschiede, beispielsweise kirschrot, karmoisin-rot, purpurrot, burgunderrot, braunrot usw. fasse ich dabei, wenn die Farbe ges\u00e4ttigt ist als \u201erot\u201c zusammen; ist sie wenig ges\u00e4ttigt, so habe ich keine deutliche Farbenempfindung und bei in ganz schwacher S\u00e4ttigung ausfallenden Reaktionen vermag ich mitunter den Umschlag gegen\u00fcber der vorangegangenen Farbe nicht wahrzunehmen. Dies gilt z. B. f\u00fcr den Azetonnachweis mittels LEGALscher Probe und f\u00fcr den Azetessigs\u00e4urenacli-weis mittels der GEEHARDschen Eisenchloridreaktion. Bei schwach positiver Indikanreaktion f\u00e4llt mir die dunkle Verf\u00e4rbung wohl auf, jedoch kann ich nicht entscheiden, ob es sich um Indigoblau, Indigorot oder Indigo violett handelt. Der Nachweis von Urobilin mittels ScHLEsiNGERschem Reagenz ist mir unm\u00f6glich, da ich die bei positivem Ausfall auftretende \u201egr\u00fcne Fluoreszenz\u201c nicht wahrnehme. Bei der GMELiNschen Probe auf Urobilin sehe ich nur zwei Farben, die obere als \u201eblafsrot\u201c, die untere als \u201egelb\u201c. Von meinem Farbenring von \u201egr\u00fcn\u201c durch \u201eviolett\u201c in \u201erot\u201c und \u201egelb\u201c emfinde ich nichts. Bei dem Bilirubinnachweis mittels H\u00fcPEERTscher Probe und mittels Jodjodkaliuml\u00f6sung nehme ich die gr\u00fcne Verf\u00e4rbung bei positivem Ausfall ebenfalls als ein schmutziges blasses \u201eRot\u201c wahr. Ob mir bei einem schwach positiven Ausfall dieser Reaktionen diagnostische Irr-t\u00fcmer begegnen, habe ich bisher nicht feststellen k\u00f6nnen. Bei der Diazoreaktion (Ehrlich) nehme ich die rote F\u00e4rbung der Fl\u00fcssigkeit bei stark positivem Ausfall noch als \u201erot\u201c, die des Schaums noch als \u201egraurot\u201c oder \u201egrau\u201c wahr; auch bei schwach positiver Reaktion vermag ich noch den \u201edunkler grauen\u201c Schaum im Gegensatz zu dem weifslichen Schaum bei negativem Ausfall richtig zu beurteilen.\nDer Nachweis von Blut im Harn und Stuhl ist f\u00fcr mich stets durchf\u00fchrbar, da ich sowTohl bei der Probe mit Guajaktinktur, besonders aber bei der Benzidinprobe die Verf\u00e4rbung, wenn auch nicht immer als \u201eblau\u201c, so doch stets deutlich als \u201edunkel\u201c erkenne.\nDie Bestimmung des Zuckerprozentgehaltes im Diabetesharn","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nW. Jerchel.\nmit dem Polarisationsapparat, bei dem es darauf ankommt, die beiden Halbkreise im Tubus in gleicher Helligkeit einzustellen, ist mir leicht durchf\u00fchrbar.\nBei der Untersuchung des Mageninhalts vermag ich die Anwesenheit von freier Salzs\u00e4ure (mittels G\u00fcnzburgs Reagenz) stets richtig zu diagnostizieren. Gew\u00f6hnlich habe ich von der auf dem Porzellansch\u00e4lchen auftretenden Verf\u00e4rbung eine deutliche Rotempfindung, in seltenen F\u00e4llen ist das Rot so wenig ges\u00e4ttigt, dafs ich es als \u00bbgrau\u201c empfinde. Der Nachweis der Milchs\u00e4ure mit Ueeelmanns Reagenz ist mir in der Regel durchf\u00fchrbar, da ich den Farbenumschlag vom \u201eamethystblau ins \u201egelbgrau\u201c al seinen Umschlag von blau in gelb wahrnehme.\nTitrationen zur quantitativen Bestimmung der freien Salzs\u00e4ure mit Phenolphthalein oder Rosols\u00e4ure als Indikator sind, wie \u00fcberhaupt alle Titrationen, wo es darauf ankommt, Farbenumschl\u00e4ge zur richtigen Zeit bzw. in der schw\u00e4chsten wahrnehmbaren S\u00e4ttigungsstufe zu erkennen, f\u00fcr mich mit Schwierigkeiten verkn\u00fcpft. Hierbei nehme ich den Farbenumschlag \u2014 d. h. Umschlag in eine dunkelgraue kaum r\u00f6tlich zu nennende Farbe von gewisser Helligkeit, von der ich durch Gew\u00f6hnung gelernt habe, dafs sie der Trichromat bereits \u201erot\u201c nennt. Die deutliche Empfindung eines Rot, das ich von einem Gr\u00fcn, Violett, Braun, Grau genau unterscheiden kann, erhalte ich erst bedeutend sp\u00e4ter \u2014 gew\u00f6hnlich erst in einer h\u00f6heren S\u00e4ttigungsstufe, also sp\u00e4ter wahr als der Trichromat, was zu Ungenauigkeiten von einigen Zehntelprozent f\u00fchrt.\nDie aus meiner Farbensinnst\u00f6rung bei diesen physikalisch-chemischen Untersuchungsmethoden erwachsenden M\u00e4ngel sind also folgende : Ich vermag bei gewissen Reaktionen den schwach positiven und schwach negativen Ausfall nicht zu diagnostizieren ; meine Titrationen gehen mit geringen Ungenauigkeiten einher. Ganz abgesehen von der Beurteilung des Harns nach der Farbe allein, wobei auch dem ge\u00fcbtesten Kliniker und Trichromaten Irrt\u00fcmer passieren, vermag auch bei den erw\u00e4hnten Reaktionen und Titrationen der unge\u00fcbtere Trichromat diese diagnostischen Feinheiten nicht zu eruieren, und ich glaube, dafs ich selbst es gerade hierbei durch \u00dcbung mittels Beachtung von Helligkeitsunterschieden noch zu weit genaueren Unterscheidungen zu bringen vermag. Das wesentliche Hindernis meiner Farbensinnst\u00f6rung bei diesen Untersuchungen liegt meiner Ansicht nach","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit1 ' beeinflufst? 29\ngerade darin, dafs ich gerade hierbei so aufserordentlich von der Beleuchtung abh\u00e4ngig bin, dafs ich bei k\u00fcnstlicher Beleuchtung wieder nach ganz anderen ungewohnten Helligkeitsunterschieden urteilen mufs und deshalb alle diese chemisch-physikalischen Untersuchungen nur bei hellem Tageslicht mit Genauigkeit auszuf\u00fchren vermag.\nIn der klinischen Mikroskopie f\u00e4llt mir meine Farbensinnanomalie nur bei den mit Kontrastf\u00e4rbungen behandelten Blutpr\u00e4paraten st\u00f6rend auf. So empfinde ich z. B. bei der Jenner-MAYschen F\u00e4rbung nicht die Blutk\u00f6rperchen als \u201erot\u201c und die Kerne als \u201eblau\u201c, sondern das Protoplasma der weifsen wie die roten Blutk\u00f6rperchen erscheinen mir \u201eblaugrau\u201c oder \u201egrau\u201c, die Kerne \u201eschw\u00e4rzlich grau\u201c, letztere jedoch deutlich von dem Protoplasma durch Helligkeitsunterschiede abgrenzbar. Die diagnostische Schwierigkeit hierbei liegt in der Erkennung der eosinophilen Leukocyten, da die Granula mitunter so schwach gef\u00e4rbt sind, dafs ich sie kaum von dem Protoplasma abzugrenzen vermag, mitunter jedoch mir so dunkel erscheinen, dafs ich eventuell die Granula f\u00fcr einen Kern halten und die eosinophilen Zellen als polynukle\u00e4re ansprechen oder die eosinophilen Granula, mit den von mir ebenfalls als \u201edunkel\u201c empfundenen Granula der Mastzellen verwechseln k\u00f6nnte.\nAuch diese diagnostischen Fehler glaube ich (cf. Bakteriologie) durch entsprechende F\u00e4rbung und Gew\u00f6hnung an die dabei vorkommenden Helligkeitsunterschiede vermeiden zu k\u00f6nnen.\n4. Dermatologie.\nGerade in der Dermatologie spielt der Farbensinn eine Hauptrolle. Der Dermatologe unterscheidet eine grofse Anzahl Farbennuancierungen, f\u00fcr welche technische Bezeichnungen existieren. Man spricht z. B. von dem \u201ehellroten\u201c Ekzem, \u201eweinroten\u201c Teleangiektasien, dem \u201eblafsroten\u201c Lichen ruber mit \u201ebl\u00e4ulichem\u201c Schimmer, den \u201ebr\u00e4unlich- oder kupferroten\u201c syphilitisch enEffloreszenzen, den \u201egelbbraunen wachs\u00e4hnlichen\u201c Kn\u00f6tchen des Lupus vulgaris usw. Ich nehme zwar alle diese Efflores-zenzen auch in der schw\u00e4chsten S\u00e4ttigungsstufe wahr, jedoch nicht immer als spezifische Farbeneindr\u00fccke, sondern meistenteils nur als dunklere Verf\u00e4rbungen gegen\u00fcber der normalen Haut. Infolgedessen gew\u00e4hren mir die Vergleiche mit rotem Wein, rotem Kupfer usw. durchaus keine die Diagnose erleichternden","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nW. Jerchel.\nAnhaltspunkte, sondern sind f\u00fcr mich nur zwecklos angelernte Fachausdr\u00fccke. Eine deutliche Farbenempfindnng habe ich erst von einer gewissen S\u00e4ttigungsstufe an, z. B. bei einer ausgesprochenen gelben F\u00e4rbung bei I avus, einer starken ikterischen F\u00e4rbung der Kornea oder einer blassen Haut. Eine schwache ikterische Verf\u00e4rbung der Kornea nehme ich noch als \u201egelblichgrau auch in schw\u00e4chster S\u00e4ttigung wahr. Einen schwachen Ikterus auf hellbr\u00e4unlicher Haut vermag ich nur schwer zu erkennen. Die livide Verf\u00e4rbung z. B. der Scheide bei Gravidit\u00e4t und die cyanotische Verf\u00e4rbung z. B. der Lippen bei Pulmonalstenose empfinde ich deutlich als dunklere, letztere zugleich als bl\u00e4uliche F\u00e4rbung. Eine graue F\u00e4rbung z. B. bei Psoriasisschuppen vermag ich in den feinsten Nuancierungen zu unterscheiden. Auf Grund meiner Farbensinnst\u00f6rung mache ich also bei den meisten Effloreszenzen nur Helligkeitsunterschiede, habe dieselben jedoch bisher infolge mangelnder \u00dcbung in diesen feinen Unterscheidungen weniger zu differentialdiagnostischen Unterscheidungen verwendet, sondern stelle meine Diagnosen haupts\u00e4chlich aus anderen Kriterien: Gr\u00f6fse, Form, Konsistenz, Verbreitung, Lokalisation, Anordnung der Effloreszenzen sowie den weiteren Befunden der betreffenden Krankheit. Zu der Entscheidung, inwieweit ich durch Helligkeitsunterschiede allein die Farbenunterscheidung in der Dermatologie ersetzen k\u00f6nnte, d\u00fcrfte eine monate- vielleicht jahrelange spezialistische Ausbildung n\u00f6tig sein.\n5. Chirurgie.\nIn der Chirurgie handelt es sich um \u00e4hnliche Gesichtspunkte wie in der Pathologie und Dermathologie. In der kleinen Chirurgie, \u2014 in de rieh bisher nur Beobachtungen machen konnte, \u2014 sind mir diagnostische Schwierigkeiten nie auf gef allen. Die Farbenunterscheidung einer blauroten Phlegmone vom hellroten Erysipel habe ich durch Helligkeitsunterscheidung stets ersetzen k\u00f6nnen, ganz abgesehen davon, dafs dabei neben der Farbenunterscheidung noch andere diagnostische Kriterien ausschlaggebend sind. Einen gangr\u00e4n\u00f6sen Darm nehme ich als \u201edunkel\u201c verf\u00e4rbt deutlich war. Die genaue Abgrenzung schw\u00e4chster Verf\u00e4rbungen (s. Ophthalmologie) vermag ich oft nicht durchzuf\u00fchren, habe dieselben Fehler teilweise in h\u00f6herem Grade jedoch auch bei farbent\u00fcchtigen Kollegen bemerkt. Ich glaube, ebenso wie dieselben diese \u201eoptische Hilflosigkeit\u201c durch \u00dcbung ausgleichen und es","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudinm durch \u201eRot-Gr\u00fcnblindheit11 beeinflu\u00dft? S1\nzu einer \u201eFarben1\u201cerkennung bringen k\u00f6nnen, vermag ich es mittels meiner gesteigerten Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede zu einer deutlichen Wahrnehmung einer dunkleren Verf\u00e4rbung der betreffenden Partie zu bringen.\nDie chirurgische Praxis besitzt jedoch zwei f\u00fcr meine Farbensinnst\u00f6rung wesentlich ins Gewicht fallende Unterscheidungen von der Pathologie. Der Pathologe hat bei der Sektion stets ein gr\u00f6fseres Organgebiet zur Beurteilung vor Augen und er kann deshalb Vergleiche anstellen, was eine Beurteilung einer Organver\u00e4nderung nach Helligkeitsunterschieden ganz besonders erleichtert, der Chirurg kann oft nur ein kleineres Organgebiet freilegen, und wenig mehr als den pathologisch ver\u00e4nderten Bezirk \u00fcbersehen.\nAufserdem vermag der Pathologe in der Pegel die Sektionen bei guter Beleuchtung d. h. bei Tageslicht vorzunehmen. Der Chirurg dagegen mufs zu Tages- und Nachtzeit operative T\u00e4tigkeit aus\u00fcben und bei den verschiedensten Beleuchtungsarten; mit der Art des Lichtes wechseln, aber die Helligkeitsunterschiede, auf die der Dichromat zu achten sich gew\u00f6hnt hat. Inwieweit diese Punkte die Diagnostik beeinflussen k\u00f6nnten, vermag ich vorl\u00e4ufig nicht zu entscheiden.\n6. Ophthalmologie.\nIn der Augenheilkunde macht sich meine Farbensinnst\u00f6rung wieder mehr geltend. Dies kommt wohl daher, weil ich in dieser Disziplin wieder schwachges\u00e4ttigte F\u00e4rbungen in kleiner Ausdehnung, also in kleinem Gesichtswinkel wahrnehmen mufs. Vor allen Dingen tritt auch hier die St\u00f6rung hervor, wenn ich eine F\u00e4rbung benennen soll. Schon die Farbe einer Iris bezeichne ich oft falsch. Die Farbe der heterochromen Irisflecken, die ich aus Helligkeitsunterschieden als solche wohl wahrnehme, richtig zu benennen, ist mir stets unm\u00f6glich. Ein leichtes beginnendes Xanthelasma des Lides vermag ich wohl als dunklere Verf\u00e4rbung wahrzunehmen, jedoch nicht bez\u00fcglich des gelben Farbentons zu erkennen und richtig abzugrenzen. Bei einem Ecchymoma conjunktivae bezeichnete ich einmal das deutlich \u201edunkelrot\u201c der Blutaustritte als \u201ebraun\u201c oder \u201erot\u201c vielleicht auch \u201egr\u00fcn\u201c. \u201eDunkelrote\u201c Gef\u00e4fse in der Kornea bei einer Keratitis parenchymatosa empfinde ich nicht mehr als \u201erote\u201c, sondern als \u201edunkle\u201c Streifen. Die \u201egr\u00fcne\u201c F\u00e4rbung eines Kor-","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nW. Jerehel.\nneadefektes, mit Fluoreszinkalium gef\u00e4rbt, nehme ich deutlich\nwahr, bezeichne sie jedoch als \u201egelb\u201c.\nIn diagnostischer Hinsicht macht sich meine Farbensinnst\u00f6rung vor allen Dingen bei der Beurteilung der verschiedenen Injektionen hinderlich bemerkbar. So ist mir vor allem die Diagnose einer Scleritis bzw. Episcleritis erschwert, da ich die schiefrige Verf\u00e4rbung der Sklera oft nicht von einer konjunktivalen R\u00f6tung unterscheiden kann. Ebensowenig vermag ich in der Regel die blaurote ciliare von der hellroten konjunktivalen Injektion der Farbe nach zu unterscheiden. Infolgedessen ber\u00fccksichtige ich meistenteils die Farbe bei der Diagnostik \u00fcberhaupt nicht und suche mit Auslassung dieses wichtigen diagnostischen Hilfsmittels die Diagnose allein aus anderen Kriterien: Lokalisation, Ausdehnung, Verschieblichkeit der verf\u00e4rbten Partie usw. zu stellen.\nVor allen Dingen macht sich meine Farbensinnst\u00f6rung bei der ophthalmoskopischen Untersuchung bemerkbar : Eine R\u00f6tung der Papille z. B. bei Neuritis nehme ich nicht als \u201eR\u00f6te\u201c sondern als dunklere Verf\u00e4rbung wahr und treffe dabei allerdings noch feinere Helligkeitsunterscheidungen. Die weifse F\u00e4rbung einer atrophischen Pupille empfinde ich als heller gelb als das \u201eGelb\u201c der normalen Pupille. Bei einer Ruptur der Chorioiden erscheint mir das \u201eWeifs\u201c ebenfalls als sehr helles \u201eGelb\u201c. Pigment im Augenhintergrund sowie hellere Bezirke im Augenhintergrund z. B. bei retinitischen Prozessen, Secessus retinae vermag ich deutlich zu empfinden, ebenso wie sich die Gef\u00e4fse im Augenhintergrund f\u00fcr mich deutlich als dunklere Streifen von dem \u201eGelb\u201c der Pupille und dem \u201eRot\u201c der Peripherie abheben. Infolge dieses Ausfalls von Farbeneindr\u00fccken ist mir sachgem\u00e4fs die ophthalmoskopische Diagnostik erheblich erschwert.\nAus meinen Beobachtungen komme ich zu dem Ergebnis, dafs allerdings dem Dichromaten das Studium der Medizin erschwert ist. Die infolge des Ausfalls gewisser Farbeneindr\u00fccke entstehenden M\u00e4ngel in der Diagnostik lassen sich jedoch zum gr\u00f6fsten Teile wett machen durch \u00dcbung, durch die allm\u00e4hlich erworbene gesteigerte Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede, durch Herbeiziehung weiterer Kriterien etc. Zurzeit bezweifle ich, dafs sich aus der Farbensinnst\u00f6rung verh\u00e4ngnisvolle zu einer falschen","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \u201eBot-Gr\u00fcnblindheit1'- beeinflufst? S3\nTherapie verleitende Irrt\u00fcmer ergeben k\u00f6nnen. Was meinen eignen Wunsch, Chirurg zu werden, angeht, so bin ich zu einer endg\u00fcltigen Beantwortung der Frage, ob ich hinsichtlich meines Farbenfehlers dazu geeignet bin, noch nicht gelangt. W\u00e4hrend meines praktischen Jahres werde ich deshalb mit Fleifs auf diesen Punkt achten und erst am Ende des Jahres die Entscheidung tieffen, ob ich mich nicht besser einem Beruf widme, bei dem weniger Farbenunterschiede in Frage kommen d\u00fcrften z. B. Psychiatrie.\nLiteratur.\n1.\tCollin: \u201eZur Kenntnis und Diagnose der angeborenen Farbensinnst\u00f6rungen.\u201c (Ver\u00f6ffentlichungen aus dem Gebiete des Milit\u00e4rsanit\u00e4tswesens.)\n2.\tLiebreich: \u201eDie Fehler des Auges bei Malern.\u201c Der Naturforscher. Nr. 47, 1872 (zitiert nach Kareye, Physisch-ophthalmologische Grenzprobleme. Leipzig 1906.\n3.\tHess: \u201eMessende Untersuchungen \u00fcber die Gelbf\u00e4rbung der menschlichen Linse und ihren Einflufs auf das Sehen.\u201c Archiv f\u00fcr Auqenheil-kunde 63, S. 293. 1909.\n4.\tKoellner: \u201eDie St\u00f6rungen des Farbensinns, ihre klinische Bedeutung und ihre Diagnose.\u201c Verlag von Karger, Berlin 1912.\n5.\tGuttmann, A.: \u201eUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che.\u201c {Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 42. 1908.)\n6.\tGuttmann, A.: \u201eFarbensinn und Malerei.\u201c\n7.\tW. Nagel: \u201eEinf\u00fchrung in die Kenntnis der Farbensinnst\u00f6rungen und ihre Diagnose.\u201c (Verlag von Bergmann, 1908.)\n8.\tW. Nagel: \u201eEine Dichromatenfamilie.\u201c {Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 41.)\n9.\tF. Holmgren: \u201eDie Farbenblindheit in ihren Beziehungen zur Eisenbahn und zur Marine.\u201c 1878.\n10.\tVirchow: \u201eVortrag in der Berliner Anthropologischen Gesellschaft vom 20. VIII. 1878.\u201c\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 47.\n3","page":33}],"identifier":"lit33610","issued":"1913","language":"de","pages":"1-33","startpages":"1","title":"Inwieweit wird das Medizinstudium durch \"Rot-Gr\u00fcnblindheit\" beeinflu\u00dft?","type":"Journal Article","volume":"47"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:47:15.001799+00:00"}