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{"created":"2022-01-31T16:52:27.640633+00:00","id":"lit33634","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Minkowski, Eugen","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 48: 211-228","fulltext":[{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"211\nDie Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.1\n(Ein Beitrag zur Kenntnis und Beurteilung der physiologischen\nFarbentheorien.)\nVon\nDr. Eugen Minkowski.\nI. Fragestellung und Ausgangspunkt.\n\u201eWie sollen wir uns die Unterscheidung der unendlich vielen\nverschiedenen Farben vorstellen?'* *2\nEs kommt demnach in der Theorie darauf an, eine physiologische Begr\u00fcndung f\u00fcr die Tatsache zu geben, dafs wir farbent\u00fcchtig sind; es ist dagegen zun\u00e4chst davon nicht die Rede, dafs wir s\u00e4mtliche Beziehungen der Farbenph\u00e4nomene zueinander auf physiologische Korrelate (etwa unter Zugrundelegung des Gedankens des psychophysischen Parallelismus) zur\u00fcckzuf\u00fchren h\u00e4tten. Die Theorie will vor allem eine physiologische Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Tatsache geben, dafs die verschiedenen physikalisch wohl definierten Lichtstrahlungen bei der Wirkung auf unser Auge (im weitesten Sinne des Wortes) von uns qualitativ verschieden empfunden werden und l\u00e4fst, wenigstens in ihrem Ausgangspunkte, solche Verh\u00e4ltnisse, wie Trichromasie, Kontrasterscheinungen, Existenz von komplement\u00e4ren Farben und von Grundfarben im nat\u00fcrlichen Farbensystem usw., Verh\u00e4ltnisse, die aufserhalb der physikalischen Auffassung der verschiedenen Lichtstrahlungen und aufserhalb ihrer elementarer Wirkung auf uns in Form von verschiedenen Farben liegen, ganz beiseite.\n1 W. Zenkeb. \u201eVersuch einer Theorie der Farbenperzeption.\u201c Arch, f. mikrosk. Anatomie B, S. 248\u2014261. J. 1867.\n* A. a. O. S. 250.","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nEugen Minkowski.\nVon der Tatsache ausgehend, dafs die verschiedenen Lichtstrahlungen von uns als Farben gesehen werden, macht die Theorie dann die Voraussetzung, dafs den verschiedenen Qualit\u00e4ten des Farbensinns verschiedene Prozesse im perzipierenden Organ (im weitesten Sinn) entsprechen m\u00fcssen, richtiger aus-gedr\u00fcckt, dafs die diesen Qualit\u00e4ten entsprechenden ad\u00e4quaten Reize irgendwie verschiedene Wirkungen im perzipierenden Organ hervorrufen m\u00fcssen, damit wir die Farben voneinander unterscheiden k\u00f6nnen.\nDies ist die minimale Vorausset zung, die jede physiologische Farbentheorie machen mufs; ohne sie ist eine solche \u00fcberhaupt unm\u00f6glich. Andererseits gen\u00fcgt diese Voraussetzung bereits um die am Anf\u00e4nge angef\u00fchrte Frage aufzuwerfen und eine physiologische Farbentheorie, die sie beantworten soll, aufzubauen; dies beweist die Existenz der weiter unten dargestellten ZENKERschen Farben theorie. Diese minimale Voraussetzung ist besonders in Anbetracht der M\u00f6glichkeit der Frage hervorzuheben, inwiefern \u00fcberhaupt eine physiologische Farbentheorie berechtigt ist, und, wenn ja, auf Grund welcher Tatsachen sie dies ist, bzw. welche Tatsachen sie notwendig machen. Es m\u00fcfste von diesem Gesichtspunkte aus vor allem die Berechtigung der minimalen Voraussetzung er\u00f6rtert werden. Der minimalen kann als maximale Voraussetzung, die eine physiologische Farbentheorie \u00fcberhaupt machen kann, die Annahme entgegengesetzt werden, dafs allen Beziehungen der Farbenph\u00e4nomene untereinander, sowohl im Bereiche des normalen wie des abnormen Farbensehens, physiologische Korrelate entsprechen m\u00fcssen, so dafs auf Grund jener weitgehende R\u00fcckschl\u00fcsse \u00fcber diese gemacht werden d\u00fcrfen.\nDie Fragestellung Zenkers und seine sich daran ankn\u00fcpfenden Gedanken stehen im engsten Zusammenh\u00e4nge mit dem Umstande, dafs er von praktischen und theoretischen physikalischen Untersuchungen \u00fcber die Farbenphotographie herkam, und nicht von Untersuchungen \u00fcber die Farbenerscheinungen als solche. Er war ja der erste, der in die Theorie der Photographie in nat\u00fcrlichen Farben den fruchtbaren Gedanken der stehenden Wellen einf\u00fchrte 1 und ihn dann, wie wir das im folgenden noch sehen\n1 W. Zenker. \u201eLehrbuch der Photochromie (Photographie in. nat\u00fcrlichen Farben).\u201c Berlin 1868. Selbstverlag. Neu herausgegeben von B. Schwalbe, Vieweg u. Sohn. 1900.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n213\nwerden, auch f\u00fcr die Theorie der Farbenperzeption verwertete. Bei seiner Farbentheorie leitete ihn in erster Linie die Theorie der Wirkung des Lichtes auf lichtempfindliche Stoffe \u00fcberhaupt, und er versuchte die bei der Untersuchung des Zustandekommens der nat\u00fcrlichen Farben auf lichtempfindlichen Stoffen gewonnenen Daten auf die physiologische Farbentheorie zu \u00fcbertragen.\nII. Sinnesphysiologische Grundvorstellungen und der Weg, auf dem die Antwort gegeben werden soll.\nAls Vorbild f\u00fcr seine Farbentheorie dient Zenker die HELMHOLTZsche H\u00f6rtheorie.\n\u201eDurch Helmholtzs Theorie des Mitschwingens der CoRTischen Fasern bei den ihrer Schwingungszahl entsprechenden T\u00f6nen wurde mit einem Schlage verst\u00e4ndlich, wie die St\u00f6fse der Schallwellen so unterscheidbare Wirkungen hervorbringen konnten je nach der Schnelligkeit ihrer Aufeinanderfolge; so wurde der Ton in Nervenreiz, in den Reiz eines bestimmten Nerven umgesetzt. Der Vorgang der Perzeption wurde um ein wesentliches St\u00fcck\nklarer.\u201c 1\nBei der nach diesem Vorbilde nun aufzustellenden Theorie der Farbenempfindungen wird folgender Gedanke verfolgt:\n\u201eWie k\u00f6nnen innerhalb der perzipierenden Elemente die molekularen Wirkungen der Lichtwellen so verschiedene Effekte, wie 3 Farben sind2, hervorbringen? Soll der nerv\u00f6se Apparat unterscheiden k\u00f6nnen, ob in einer Sekunde 667 Billionen Wellen (Violett) ihn passieren oder nur 456 Billionen (Rot)? Ich glaube bei solchen Zahlen h\u00f6rt alle Sch\u00e4tzung, alle Unterscheidung auf. Diese Unterscheidung ist ebenso undenkbar, wie die Unterscheidung der T\u00f6ne es w\u00e4re, wenn der Nerv die Zahl der St\u00f6fse z\u00e4hlen sollte.\n1\t\u201eVersuch einer Theorie der Farbenperzeption\u201c. S. 249.\n2\tEs wird hier der g\u00fcnstige Fall genommen, data wir uns die Mannigfaltigkeit der Farben auf drei Grundfarben reduziert denken d\u00fcrfen. Die eventuelle Existenz von Grundfarben ist aber keineswegs grundlegend fur die folgenden Betrachtungen.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 48.","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nEugen Minkowski.\nDie Einrichtung des Ohres ist darum weiser. Ein an sich nicht nerv\u00f6ser K\u00f6rper ger\u00e4t in Mitschwingungen, weil er abgestimmt ist, und das Erzittern dieses K\u00f6rpers reizt den in ihm endigenden Nerv. Der Nerv empfindet also nur, dafs der K\u00f6rper erzittert, auch wie stark er erzittert, aber nicht wie oft in einer Sekunde er erzittert. So auch vermag das perzipierende Element der Netzhaut nicht die Anzahl der St\u00f6fse zu sch\u00e4tzen, und ist darauf nicht eingerichtet. Es wird die hindurcheilenden Wellen des Lichtes immer nur als Lichtreiz empfinden, nicht aber unterscheiden k\u00f6nnen, welcher Farbe sie angeh\u00f6ren. Es bringt daher auch hier, wie beim Geh\u00f6rorgan, eine gr\u00f6fsere Klarheit in den Vorgang der nerv\u00f6sen Erregung, sobald Einrichtungen gefunden werden, dieselbe st\u00e4tig zu machen, und die Empfindung gewisser Lichtarten (Farben) auf bestimmte nerv\u00f6se Molek\u00fcle zu beschr\u00e4nken\u201c.1 Zenker sieht dementsprechend als einen wesentlichen Vorzug seiner Theorie, \u201edafs in ihr die Farbenperzeption nicht mehr als Funktion der Zeit, sondern als eine Funktion des Ortes betrachtet wird\u201c.2\nEs kommt bei Zenker, wie wir aus dem Gesagten sehen, in der Frage nach den physiologischen Grundlagen der Qualit\u00e4tenunterscheidung innerhalb des Geh\u00f6rs- und Gesichtssinnes im wesentlichen auf folgendes an :\n1.\tEinzelne physiologische (nicht unbedingt auch morphologische) Nerveneinheiten, in letzter Linie einzelne Nervenmolek\u00fcle werden durch entsprechende anatomisch - physiologische Vorrichtungen nur f\u00fcr einzelne ganz bestimmte Reize zug\u00e4nglich gemacht.\n2.\tDieser Einrichtung verdankt der Nerv, bzw. das Nerven-molek\u00fcl die F\u00e4higkeit, den Reiz auch als bestimmte Qualit\u00e4t (Farbe) zu empfinden. Dem Nerv selbst wird nicht zugetraut, dafs er die den verschiedenen Qualit\u00e4ten entsprechenden Reizunterschiede, wie die Zahl der St\u00f6fse in einer Sekunde, voneinander ohne weiteres zu unterscheiden imstande w\u00e4re; ohne spezielle Vorrichtungen empfindet der Sehnerv \u201edie hindurcheilenden Wellen des Lichtes immer nur als Lichtreiz\u201c.\n1\ta. a. O. S. 251.\n2\ta. a. 0. S. 261.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenker sehe Theorie der Farbenperzeption.\n215\nDas perzipierende Element kann f\u00fcr sich allein alle Licht* wellen nur als Licht perzipieren; es wird erst dann farbent\u00fcchtig, wenn zu ihm nur ein ganz bestimmter Reiz zugelassen wird. Zu einem perzipierenden Element kann nur ein bestimmter Reiz gelangen, und erst dadurch erlangt es die F\u00e4higkeit eine Qualit\u00e4t, aber auch nur eine einzelne, zu empfinden. Die Empfindung jeder Qualit\u00e4t wird in dieser Weise als Leistung eines besonderen perzipierenden Elementes aufgefafst, ganz im Sinne der allgemeinen Postulate der M\u00dcLLEEschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien.1 Eine^wesent-liche Abweichung von dieser Lehre besteht aber m. E. daiin, dafs das perzipierende Element die F\u00e4higkeit diese Leistung zu vollbringen nur dann erlangen soll, wenn gewisse physiologische Bedingungen realisiert werden, n\u00e4mlich wenn es nur f\u00fcr den entsprechenden Reiz zug\u00e4nglich wird.\nSolche Ausdr\u00fccke Zenkees, wie \u201eder Nerv empfindet\u201c und andere diesem \u00e4hnliche erinnern an die Ausdrucksweise Johannes M\u00fcllee, der von \u201esich selbst leuchtendem, sich selbst t\u00f6nendem Nervenmark\u201c spricht, von \u201eSinnessubstanzen, die sich selbst ihre Affektionen zur Empfindung bringen\u201c. Ein derartiger Anthropomorphismus der Sinnesnerven \u00e4ufsert sich bei Zenkee dann nicht blofs in solchen Ausdr\u00fccken, sondern auch in der Begr\u00fcndung der Ablehnung der M\u00f6glichkeit, dafs das perzipierende Element Billionen von Schwingungen in einer Sekunde auseinander halten k\u00f6nnte; hier wird das menschliche Mats auf den Nerven \u00fcbertragen. Betrachten wir dagegen die Vorg\u00e4nge im Nerven blofs als notwendige Bedingungen daf\u00fcr, dafs wir bei Wirkung bestimmter Reize Farben empfinden und voneinander unterscheiden, so enth\u00e4lt die Vorstellung einer derartigen Unterscheidungsm\u00f6glichkeit des Nerven gar keine Schwierigkeiten in sich und k\u00f6nnte, falls sie auch von anderen hier in Betracht kommenden Gesichtspunkten stichhaltig sein sollte, eine vollst\u00e4ndig befriedigende Antwort auf die am Anf\u00e4nge\n1 Wie M\u00fcller selbst die Frage der Farben- und Tonperzeption physiologisch zn l\u00f6sen versucht hat, vor allem durch Inanspruchnahme der physikalisch chemischen Eigenschaften der als ad\u00e4quat geltenden Reize, und inwiefern dieser Versuch mit dem allgemeinen Sinn seiner Lehre sich vertr\u00e4gt, habe ich fr\u00fcher auseinandergesetzt. \u201eZur M\u00dcLLEEschen Lehre von den spezifischen Sinnesenergien\u201c, diese Zeitschr. 45, S. 136\u2014143.\n14*","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nEugen Minkowski.\ndes I. Kapitels wiedergegebene Frage abgeben.1 Allerdings ist dazu die Vorstellung notwendig, dafs die einzelnen \u201eSt\u00f6fse\u201c des Reizes in der Wirkung auf die perzipierenden Elemente als solche erhalten bleiben, denn im entgegengesetzten Falle wird der der Qualit\u00e4t entsprechende und hier durch die Zahl der \u201eSt\u00f6fse\u201c in einer Sekunde repr\u00e4sentierte Charakter des Reizes bei der Wirkung eingeb\u00fcfst. Die Ablehnung der Unterscheidungsm\u00f6glichkeit der den einzelnen Farben entsprechenden Zahlen von \u201eSt\u00f6fsen\u201c speziell durch den Sehnerven k\u00f6nnte dementsprechend bei Zenker aus dem Grunde erfolgen, dafs er (in seiner Theorie der Farbenphotographie) die Ansicht vertritt2, dafs die Wirkung des Lichtes auf eine lichtempfindliche Schicht allein \u201enach dem Rhythmus der mitgeteilten Bewegung nicht wechsle\u201c.3\nNoch ein weiterer Umstand k\u00e4me m. E. f\u00fcr diese Ablehnung in Betracht. Denken wir uns die Wirkung des Lichtes im perzipierenden Element der Netzhaut analog seinen chemischen Wirkungen, so haben wir die M\u00f6glichkeit in der durch das Zustandekommen stehender Wellen dargestellten speziellen Gestalt dieser Wirkung eine kompliziertere, \u201eh\u00f6here\u201c Stufe derselben zu sehen. Sofern keine Vorrichtungen zur Erzeugung stehender Wellen vorhanden sind, wirken alle qualitativ verschiedenen Lichtwellen qualitativ gleich, indem sie bei dieser Wirkung ihre qualitative Spezifit\u00e4t einb\u00fcfsen; erst wenn bestimmte Vorrichtungen vorhanden sind, kommt diese Spezifit\u00e4t auch in der Wirkung zum Ausdruck, als eine kompliziertere Gestalt der allgemeinen qualitativ indifferenten Wirkung der Lichtwellen auf die lichtempfindlichen Elemente. Es sei zur Erl\u00e4uterung hier auf die gew\u00f6hnliche und die Farbenphotographie mittels stehender Wellen hingewiesen, bei der, wie die mikroskopische Untersuchung der Platten gezeigt hat, die Wirkung in Schichten erfolgt, die sich in einem durch die Wellenl\u00e4nge bestimmten Abstand befinden. Gehen wir dagegen von der Zahl\n1\tEs kommt \u00fcbrigens gar nicht auf die absoluten Zahlenwerte an, sondern auf ihre Verh\u00e4ltnisse, auch nicht auf die Zahl der \u201eSt\u00f6fse\u201c in einer Sekunde, sondern auf die charakteristischen zeitlichen Beziehungen zweier oder mehrerer benachbarten \u201eSt\u00f6fse\u201c zueinander.\n2\tOb mit Recht, ist eine Frage f\u00fcr sich. Siehe in der Neuauflage der Photochromie Zenkees den Aufsatz von Tonn \u201eWeiterentwicklung der Photochromie auf Grundlage der ZENKERschen Theorie\u201c.\n8 Neuauflage der Photochromie. S. 114 ff.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n217\nder \u201eSt\u00f6fse\u201c in einer Sekunde aus und nehmen an, dafs sie in der Wirkung als solche von vornherein zum Ausdruck kommt und die eigentliche physiologische Bedingung f\u00fcr das Zustandekommen der entsprechenden Empfindungsqualit\u00e4t ist, so ist uns keine M\u00f6glichkeit gegeben, in gleich einfacher Weise eine Vorstellung zu entwickeln, bei der wir zweierlei stufenartig gegliederte Wirkungsarten unterscheiden k\u00f6nnten. Dieser Umstand ist aber, wie ich glaube, wohl zu beachten, wenn es sich um einen Sinn handelt, im Bereiche dessen zwei innig miteinander verbundene und verwandte Prinzipien mit einem unverkennbaren s t u f e n a r t igen Rangunterschied vertreten sind, in der Weise wie es der einfache Lichtsinn und der Farbensinn im Auge sind.\nIII. Die spezielle Ausgestaltung der Zenkerschen\nF\u00e4rb enthe orie.\n1. Das reflektierte Licht und die stehenden Wellen im Auge. Zenker weist zuerst auf die Abhandlung Max Schultzes hin \u201eZur Anatomie und Physiologie der Retina\u201c [Arch. f. mikrosk. Anatomie 2, 1866). Von der Vermutung ausgehend, dafs die Aufsenglieder der St\u00e4bchen und Zapfen nicht ohne besonderen Zweck eine gr\u00f6fsere lichtbrechende Kraft, als die vor ihnen liegenden Teile der Netzhaut, besitzen, spricht in ihr Schttltze die Meinung aus, dafs gerade das infolge dieses Unterschiedes der Brechungsindexe kr\u00e4ftig reflektierte Licht zur Perzeption kommt. Zenker hebt das Bestreben Schultzes hervor, das reflektierte Licht f\u00fcr die Perzeption in Anspruch zu nehmen.\nDiesen Gedanken nimmt dann Zenker auf. \u201eWir k\u00f6nnen also die Elemente der Netzhaut als Systeme von Fl\u00e4chen betrachten, an welche die kommenden Lichtwellen nahezu senkrecht anbranden, und von denen sie daher auch nahezu senkrecht zur\u00fcckgeworfen werden. Hierbei m\u00fcssen stehende Wellen auf treten, diejenige besondere Form von Interferenz, welche von einander begegnenden Wellensystemen hervorgebracht wird.\u201c1\n1 \u201eVersuch einer Theorie der Farbenperzeption.\u201c S. 252.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nEugen Minkowski.\nWir finden hier zum erstenmal in der Physiologie des Auges den Gedanken der Entstehung stehender Wellen in der lichtempfindlichen Schicht der Retina,\nZenker begn\u00fcgte sich nicht mit der blofsen Vermutung, sondern suchte mittels des N\u00f6rrembergsehen Polarisationsapparats zu zeigen, dafs im Auge tats\u00e4chlich stehende Wellen entstehen m\u00fcssen; beim Einfall von polarisiertem Licht ins Auge besitzt der gr\u00f6fste Teil des reflektierten Lichtes dieselbe Polarisationsebene, wie das einfallende Licht, und nur ein ganz kleiner Teil desselben ist depolarisiert.1 \u201eIch glaube aus dem obigen zu dem Schl\u00fcsse berechtigt zu sein, dafs ein sehr grofserTeil des ins Auge fallenden Lichtes in derselben Beschaffenheit, d. h. in derselben Ebene schwingend wieder zur\u00fcckkehrt. In diesem F all ist aber die Bildung stehender Wellen eine Notwendigkeit.\u201c2\nZur Erzeugung stehender Wellen ist eine vollst\u00e4ndige Reflexion nicht notwendig; sie kommen auch dann zustande, wenn der einfallende Strahl den reflektierten an Intensit\u00e4t wesentlich \u00fcberwiegt. Allerdings ist dann weifses Licht beigemischt und die Wellenform keine \u201eganz stehende\u201c. Die Wellenl\u00e4nge kommt aber auch dabei zum Ausdruck, was hier wesentlich ist.\nDie Entstehung stehender Wellen in der lichtempfindlichen Schicht der Netzhaut l\u00f6st das Problem der Farbenperzeption: \u201eDie Wellenl\u00e4nge ist nur abh\u00e4ngig von der Farbe des Strahles und von dem Refraktionsindex der Substanz, in welcher sich der Lichtstrahl bewegt. Der letztere also vorl\u00e4ufig als konstant angenommen, sehen wir wie die Maximumpunkte der roten Strahlen nicht mit denen der blauen zusammenfallen k\u00f6nnen, wie daher die Empfindung des roten Lichts an anderen Stellen stattfinden mufs, als die des blauen. Hiermit ist im wesentlichen die Frage von der Farbenperzeption gel\u00f6st.3 Es kommt nur auf die besondere Einrichtung des dazu bestimmten Apparates an.\u201c 4\nWir sehen, dafs bei Zenker das Hauptgewicht bei dem Zustandekommen stehender Wellen im Auge im Sinne der im\n1\tSo war es bei allen untersuchten Augen mit einer einzigen Ausnahme.\n2\ta. a. O. S. 255 f.\n3\tDer gesperrte Druck in diesem Zitat geh\u00f6rt mir.\n* a. a. O. S. 252.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n219\nKapitel II er\u00f6rterten Gedanken darauf gelegt wird, dafs bei Wellen von verschiedener L\u00e4nge die Maximumpunkte an verschiedenen Stellen zu liegen kommen und daher auf verschiedene nerv\u00f6se Molek\u00fcle einwirken.\n2. Die Pl\u00e4ttchenstruktur der Aussenglieder und ihre Rolle beim Sehen der Farben. \u201eAnfangs glaubten M. Schultze und ich die Innenglieder der St\u00e4bchen und Zapfen als den Ort annehmen zu m\u00fcssen, wo die von den stehenden Wellen erregbaren Nervenmolek\u00fcle sich bef\u00e4nden. Dann waren die Aufsenglieder eben nur Spiegelapparate.\u201c 1\nNun entdeckte aber Schultze die Pl\u00e4ttchenstruktur der Aufsenglieder der St\u00e4bchen und Zapfen. Diese Entdeckung ver-anlafste Zenker die eben angef\u00fchrte Meinung zu verlassen; er suchte jetzt diese anatomischen Daten, nachdem er sich von ihrer Richtigkeit \u00fcberzeugt hatte, f\u00fcr seine Farbentheorie zu verwerten.\nDie optische Wirkung eines solchen Systems von Pl\u00e4ttchen besteht vor allem in einer viel intensiveren Spiegelung des auffallenden Lichtes im Vergleich zu einer einzigen reflektierenden Fl\u00e4che; diese Verst\u00e4rkung des reflektierten Lichtes erstreckt sich aber nur, in Abh\u00e4ngigkeit von der Dicke der Pl\u00e4ttchen, auf Strahlen von bestimmter Wellenl\u00e4nge; bei Strahlen von anderer Wellenl\u00e4nge werden sich die an den einzelnen Pl\u00e4ttchen reflektierten Strahlen gegenseitig ausl\u00f6schen.\nGleichzeitig erm\u00f6glichte die Kenntnis der Pl\u00e4ttchenstruktur die Annahme des Zustandekommens stehender Wellen bereits in den Aufsengliedern, im Gegensatz zu der fr\u00fcheren Auffassung, die blofs mit der M\u00f6glichkeit der Spiegelung an der Grenze der Aufsen- und Innenglieder rechnen konnte. \u201eSo ist die optische Wirkung der Pl\u00e4ttchenstruktur zun\u00e4chst also eine verst\u00e4rkte Reflexion f\u00fcr Lichtstrahlen von bestimmter oder doch ann\u00e4hernd bestimmter Weilenl\u00e4nge. Aber mit dieser Reflexion tritt auch sogleich die Bildung von stehenden Wellen ein: nicht erst im Innengliede der St\u00e4bchen und Zapfen, auch in den Aufsengliedern ebenso wie auf dem ganzen Wege, auf welchem die Strahlen zur\u00fcckkehren.\u201c 2\n1\ta. a. O. S. 252 f.\n2\ta. a. 0. S. 257.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nEugen MinkoivsM.\n\u201eIn welchem Punkt auf diesem ganzen Wege kann nun aber mit der meisten Wahrscheinlichkeit die Empfindung der stehenden Wellen verlegt werden? Ich sage: in die Aufsenglieder. Schon H. M\u00fcllers Versuche mit der Aderfigur weisen auf die Aufsenglieder hin. Ferner ist, da die Spiegelung in ihnen selbst geschieht, das zur\u00fcckkehrende Licht also noch durch keine Absorption geschw\u00e4cht ist, das Gleichgewicht zwischen einfallendem und zur\u00fcckkehrendem Licht in ihnen genauer als irgendwo sonst. Die Pl\u00e4ttchenstruktur bildet einen Reichtum von Fl\u00e4chen, auf denen die Erregung der nerv\u00f6sen Molek\u00fcle stattfinden kann. Und endlich f\u00fchrt die Analogie des Cephalopoden-Auges, will man der Analogie \u00fcberhaupt Beweiskraft einr\u00e4umen, zu einem direkten Beweis daf\u00fcr.\u201c1 Beim Tintenfisch sind die St\u00e4bchen nicht nach aufsen sondern nach innen gerichtet; es gelangt deswegen zu den den menschlichen Innengliedern entsprechenden Teilen nur durchgehendes Licht, und es k\u00f6nnen daher in ihnen keine stehenden Wellen entstehen. Es erscheint aber wohl berechtigt den Tintenfisch auf Grund seiner F\u00e4higkeit, die Farbe seiner Haut fortw\u00e4hrend zu wechseln, f\u00fcr farbent\u00fcchtig zu halten; so bleibt es nichts \u00fcbrig als anzunehmen, dafs hier die den Aufsengliedern entsprechenden Teile, die beim Tintenfisch nach innen liegen, der Farbenperzeption dienen. \u201eSo best\u00e4rkt uns diese Analogie darin, die Aufsen-glieder f\u00fcr die perzipierenden Organe zu halten.\u201c2\nAus den fr\u00fcheren Auseinandersetzungen \u00fcber die Wirkung der Pl\u00e4ttchenstruktur \u201eergibt sich, dafs ein Retinaelement mit konstantem Abstand der spiegelnden Fl\u00e4chen eigentlich nur durch Lichtstrahlen von genau entsprechender Wellenl\u00e4nge in seiner ganzen L\u00e4nge affiziert werden kann. Welches sind nun die m\u00f6glichen und welches die wirklich vorhandenen Anordnungen, das Problem der Empfindung verschiedener Farben zu l\u00f6sen?\u201c3\nDer erste Gedanke Zenkers geht, wie leicht bei seiner Einstellung (als Vorbild dient die HELMHOLTzsche H\u00f6rtheorie) vorauszusehen ist, dahin, nach St\u00e4bchen von verschiedener Pl\u00e4ttchendicke zu suchen, die dann infolge ihrer physikalischen Eigenschaften nur f\u00fcr ganz bestimmte Strahlen und deswegen auch\n1\ta. a. O. S. 257.\n2\ta. a. O. S. 258.\n3\ta. a. O. S. 258.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n221\nnur f\u00fcr ganz bestimmte Farbenempfindungen zug\u00e4nglich w\u00e4ren. Seine Erwartung wird aber nicht erf\u00fcllt, indem die Pl\u00e4ttchendicke bei derselben Tierart in allen St\u00e4bchen dieselbe zu sein scheint.\nNun sucht Zenker das Problem der Farbenperzeption in einer anderen Weise, seinen Prinzipien aber dabei treu bleibend, zu l\u00f6sen. Es zeigt sich n\u00e4mlich beim Versuch den Brechungsindex der Aufsenglieder der St\u00e4bchen zu bestimmen, dafs er in verschiedenen Teilen eines Aufsengliedes verschieden ist: in der Achse ist er am geringsten und nimmt in der Richtung zur Mantelfl\u00e4che allm\u00e4hlich zu. Da die Wellenl\u00e4nge in irgendeinem\nMedium durch die Formel \u2014 bestimmt wird, wol die Wellenl\u00e4nge\nin der Luft und n der Brechungsindex des Mediums ist, beides f\u00fcr die betreffende Farbe, so werden die Aufsenglieder in verschiedenen (konzentrischen) Schichten, je nach ihrem Abstande von der Achse, bei gleicher Pl\u00e4ttchendicke auf Lichtstrahlen von verschiedener Wellenl\u00e4nge eingestellt sein.\n\u201eZugleich zeigt dies ein Verfahren, dessen sich die Natur bedient hat, um mehrere Farben in demselben Retinaelement wahrnehmbar zu machen. Wenn bei konstantem Index die St\u00e4bchen, und dasselbe gilt f\u00fcr die Zapfen, nur f\u00fcr eine Farbe oder einen sehr beschr\u00e4nkten Kreis derselben perzeptionsf\u00e4hig erschienen, so sind sie es jetzt f\u00fcr alle diejenigen Farben, bei\n73 fl\t7) 71\t7)\ndenen l zwischen \u2014 und -\u2014 liegt, wo \u2014 die Distanz der spiegeln-\na\tci\ta\nden\tFl\u00e4chen oder einen aliquoten Teil\tderselben\tbezeichnet,\nw\u00e4hrend n und n die Grenzwerte der Brechungsindices sind. Hiernach w\u00fcrde also eine Farbe von gr\u00f6fserer Wellenl\u00e4nge mehr am Rande des St\u00e4bchens oder Z\u00e4pfchens, eine Farbe von k\u00fcrzerer Wellenl\u00e4nge in den mehr axialen Teilen derselben empfunden. Mag man auch nur ungern Organen von so minuti\u00f6ser Kleinheit so komplizierte Auffassungen Zutrauen, so ist doch offenbar das\tOrgan\tmit seinen Pl\u00e4ttchen\tschon\tanatomisch ein\tsehr\nkompliziertes. Und andererseits die Verschiedenheit der Wellenl\u00e4nge in Medien von verschiedenem Index eine Notwendigkeit.\u201c 1 Dieses\tVerfahren der Natur\tl\u00e4uft\tganz im\tSinne\tder\nZENKERschen Auffassung dahin hinaus, die Wirkung be*\n1 a. a. O. S. 259 f.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nEugen Minkowski.\nstimmter Reize auf bestimmte ihnen zugeordnete Teile des perzipierenden Organs zu beschr\u00e4nken.\nSollte diese Anordnung zur Erkl\u00e4rung der Perzeptionsm\u00f6glichkeit der Glieder der ganzen Farbenskala gen\u00fcgen, so m\u00fcfsten sich die Brechungsindexe in der Achse und in der \u00e4ufsersten Schicht jedes Aufsengliedes ungef\u00e4hr wie 1:2 verhalten. Dies ist aber nicht der Fall ; bei ann\u00e4herender Sch\u00e4tzung ist dieses Verh\u00e4ltnis nur gleich 8:9, \u201eso dafs sich die durch dasselbe St\u00e4bchen gesehenen Wellen sich alsdann h\u00f6chstens verhalten w\u00fcrden wie 8 : 9 Immerhin ist dies ein gewifs bedeutungswertes Mittel, dessen sich die Natur zur Erreichung ihres Zweckes bedient hat.\u201c 1\nEs kommt aber nun noch ein anderer Umstand in Betracht, der geeignet erscheint \u201edie Pl\u00e4ttchen zur Perzeption mehrerer und im Spektrum weit getrennter Farben zu bef\u00e4higen\u201c.2 Die Pl\u00e4ttchen haben n\u00e4mlich eine Dicke, welche der L\u00e4nge von nicht einer, sondern von mehreren stehenden Wellen entspricht. Unter Ber\u00fccksichtigung eines Durchschnittsbrechungsindex von 1,5 und einer Durchschnittsdicke eines Pl\u00e4ttchens von 0,00065 mm l\u00e4fst sich sagen, dafs in der Dicke eines jeden Pl\u00e4ttchens 3 stehende Wellen des Strahles C an der Grenze von Rot und Orange (laufende Wellen = 0,0006564), 4 des Strahles F im Cyanblau (laufende Wellen = 0,0004843) und 5 des Strahles H an der Grenze des Violett (laufende Wellen = 0,0003929) Platz haben.\nEs w\u00fcrde hier f\u00fcr die Unterscheidung dieser drei Farben auf den Umstand wesentlich ankommen, dafs die Maximumpunkte der entsprechenden Strahlen an verschiedenen Orten der lichtempfindlichen Schicht zu liegen k\u00e4men (siehe das Ende des \u00a7 1 dieses Kapitels). Dieser Umstand liefse sich dann mit der Verschiedenheit des Brechungsindex in den verschiedenen Schichten der Aufsenglieder kombinieren.\nZenker sucht nun das besprochene Verh\u00e4ltnis der Pl\u00e4ttchendicke zu der L\u00e4nge einzelner Wellen mit der Existenz von Grundfarben in Zusammenhang zu bringen:\n\u201eEine kleine Erh\u00f6hung des Brechungsindex oder der Pl\u00e4ttchendicke gen\u00fcgt, um diese einfachen Quotienten 3, 4 und 5 von stehenden Wellen solcher Farben zu erhalten, die den in der\n1\ta. a. O. S. 260.\n2\ta. a. O. S. 260.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n223\nYouNG-HELMHOLTZschen Theorie angenommenen 3 Grundfarben: Rot, Gr\u00fcn, Violett ziemlich gen\u00fcgend entsprechen.\nEs liegt nahe, hierin die physiologische Begr\u00fcndung daf\u00fcr zu suchen, dafs diese Farben als Grundfarben angesehen werden k\u00f6nnen. Werden wir nicht gerade diejenigen Farben am sch\u00e4rfsten unterscheiden, die mit so einfachen Verh\u00e4ltnissen sich dem Bau der nerv\u00f6sen Elemente anpassen? Werden nicht alle anderen Wellensysteme den Eindruck von Mischfarben machen, indem ihre komplizierteren Wellensysteme sich bald dem Systeme der einen Grundfarbe, bald dem einer anderen n\u00e4hern. Es wird daher k\u00fcnftig zu ermitteln sein, ob die Perzeption von Zwischenfarben mit dieser Annahme in Einklang gebracht werden kann.\u201c 1\n\u201eJedenfalls wird man sich eher in eine etwas schwierige Berechnung f\u00fcr die \u00d6rter der stehenden Wellen hineindenken als in die Unterscheidung zwischen Hunderten von Billionen Impulsen in einer Sekunde, die man bisher gen\u00f6tigt war am Orte der Perzeption anzunehmen. Ich betrachte es als das Hauptresultat dieser Theorie, dafs in ihr die Farbenperzeption nicht mehr als eine Funktion der Zeit, sondern als eine Funktion des Ortes betrachtet wird. Und zwar geschieht dies nicht auf Grund willk\u00fcrlicher Annahmen, sondern auf Grund von Betrachtungen \u00fcber die Vorg\u00e4nge, welche beim Eintritt des Lichtes in das Auge mit Notwendigkeit stattfinden m\u00fcssen.\u201c 2\n3. Wesentliche Merkmale der ZENKERschen Lehre, a) Wir haben bereits in Kapitel I das wesentliche der ZENKERschen Fragestellung hervorgehoben. Hier, nach der Schilderung seiner Lehre im einzelnen, k\u00f6nnen wir das dort Gesagte durch einen Hinweis auf die Erkl\u00e4rungsart der Trichromasie bei ihm erg\u00e4nzen. Die Existenz dreier Grundfarben wird keinesfalls zum Erkl\u00e4rungsgrund aller \u00fcbrigen ; sondern, nachdem das Problem der Farbenperzeption \u00fcberhaupt gel\u00f6st worden ist, wird diese Erscheinung mit gewissen speziellen Einrichtungen des perzipierenden Organs, welche im Sinne der allgemeinen L\u00f6sung des Problems gedeutet werden, in Zusammenhang gebracht. Fassen wir dieses Verfahren ganz allgemein, so\n1\ta. a. O. S. 261.\n2\ta. a. O. S. 261.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nEugen Minkowski.\nk\u00f6nnen wir sagen: den Ausgangspunkt der ZENKEEschen Lehre bildet die Existenz von Lichtwellen von verschiedener L\u00e4nge und die Annahme, dafs sie verschiedene Wirkungen auf unser lichtempfindliches Organ aus\u00fcben. Daraufhin wird eine physiologische Theorie der Farbenperzeption \u00fcberhaupt aufgestellt. Jede Erscheinung, die blofs eine Beziehung der Farbenph\u00e4nomene zueinander betrifft und aufserhalb der physikalischen Auffassung der Farben und ihrer allgemeinen Wirkungen liegt, wird nicht zur selbst\u00e4ndigen Grundlage f\u00fcr R\u00fcckschl\u00fcsse \u00fcber Vorg\u00e4nge oder Vorrichtungen im perzipierenden Organ, sondern kann eine physiologische Erkl\u00e4rung nur darin finden, dafs sie auf gewisse spezielle im Sinne der Theorie gedeutete Einrichtungen des perzipierenden Organs zur\u00fcckgef\u00fchrt wird, Einrichtungen, die dann keineswegs f\u00fcr die Farbenperzeption als solche notwendig sind, sondern nur gewisse spezielle Ausgestaltungen der allgemeinen der Farbenperzeption dienenden Vorrichtungen darstellen. Der Umstand, dafs die Pl\u00e4ttchendicke unter Ber\u00fccksichtigung des Brechungsindex der Aufsenglieder ein Mehrfaches der L\u00e4nge der Strahlen (7, F und II betr\u00e4gt, ist keineswegs eine notwendige Bedingung f\u00fcr das Sehen von Farben, sondern nur eine spezielle Gestalt der Vorrichtung, die durch Erzeugung stehender Wellen die Wirkung einzelner Strahlen auf einzelne nerv\u00f6se Molek\u00fcle einschr\u00e4nkt.\nDie Frage, ob alle Beziehungen der Farbenph\u00e4nomene zueinander in der angegebenen Weise erkl\u00e4rt werden m\u00fcssen und erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen, bleibt in dieser Weise offen und der fortschreitenden Kenntnis der anatomisch-physiologischen Vorrichtungen des Sinnesorgans (im weitesten Sinne) \u00fcberlassen. Sie steht sozusagen am Ende der Sinnesphysiologie.\nb) Wenn wir jetzt zur Frage \u00fcbergehen, in wrelcher Weise in der ZENKEEschen Theorie einzelne physiologische Nerven-einheiten nur f\u00fcr einzelne Reizarten zug\u00e4nglich gemacht werden, um das in Kapitel II er\u00f6rterte Ziel zu erreichen, so m\u00fcssen wir vor allem hervorheben, dafs \u201edies nicht auf Grund willk\u00fcrlicher Annahmen geschieht, sondern auf Grund von Betrachtungen \u00fcber die Vorg\u00e4nge, welche beim Eintritt des Lichtes in das Auge mit Notwendigkeit stattfinden m\u00fcssen.\u201c Im Auge geschieht das in der Weise, dafs analog der flELMHOLTzschen H\u00f6r-theorie gezeigt wird, dafs der Aufnahmeapparat auch hier in seinen verschiedenen Teilen (sei es nur in den verschiedenen Schichten","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n225\neines jeden Aufsengliedes) auf die physikalischen Eigenschaften des Reizes, die der Qualit\u00e4t der Empfindung korrespondieren, in bestimmter Weise abgestimmt ist. Zu diesem Zwecke werden die Pl\u00e4ttchenstruktur und das Zustandekommen von stehenden Wellen und von Interferenzerscheinungen in Anspruch genommen.\nWir finden somit hier das Prinzip vertreten, dafs bekannte anatomisch-p h y s i o 1 o g i s c h e Eigenschaften des Sinnesorgans als notwendige Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen der Qualit\u00e4t der Empfindung1 in Anspruch genommen werden, und zwar diejenigen Eigenschaften, die mit der der Qualit\u00e4t der Empfindung entsprechenden physikalischen Seite des Reizes in Zusammenhang stehen und dazu dienen sie im Sinnesorgan zum Ausdruck zu bringen. So kommen bei Zenker in erster Linie diejenigen Vorrichtungen des Auges in Betracht, die sich auf die Wellenl\u00e4nge des einfallenden Lichtes beziehen, und die dazu dienen sie in Form von stehenden Wellen im Sinnesorgan zu fixieren.\nDieses ganz allgemeine Prinzip findet bei Zenker eine besondere F\u00e4rbung dadurch, dafs er im Sinne seiner Grundanschauungen bestrebt ist es dahin auszudeuten, dafs durch dasselbe die Empfindung verschiedener Qualit\u00e4ten auf \u00f6rtlich verschiedene Nervenelemente verteilt wird. Die Fixierung der L\u00e4nge der einfallenden Strahlen dient blols diesem Zwecke. Es kommt entweder darauf an, dafs die Maximumpunkte der stehenden Wellen bei verschiedener L\u00e4nge derselben an verschiedenen Orten zu liegen kommen, oder aber darauf, dafs infolge der Brechungsindexunterschiede Wellen verschiedener L\u00e4nge sich auf verschiedene Schichten der Aufsenglieder verteilen. In dieser Weise wird die Fixierung im Sinnesorgan der der Qualit\u00e4t der Empfindung korrespondierenden Seite des Reizes nur zu einer indirekten Bedingung f\u00fcr das Zustandekommen der Empfindung der Qualit\u00e4t. Das \u201ewie\u201c ist in letzter Linie nicht so wesentlich, wie das \u201ewo\u201c, wenn auch das \u201ewo\u201c nur durch das \u201ewie\u201c erreicht wird. Wir k\u00f6nnen, uns der ZENKERschen Ausdrucks weise bedienend, sagen, dafs das die Farbe empfindende\n1 Ich. habe hier die zwei h\u00f6heren Sinne im Auge und lege der Bezeichnung \u201eQualit\u00e4t\u201c die ihr in diesem Bereiche zukommende Bedeutung bei.","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nEugen Minkowski.\nNervenelement nur weifs, dafs es gereizt wird, nicht aber, dafs damit es gereizt wird stehende Wellen zustande kommen m\u00fcssen.\nEs ist hier nicht der Ort die Frage zu er\u00f6rtern, inwiefern diese Verwendung des oben hervorgehobenen allgemeinen Prinzips berechtigt ist. Es gen\u00fcgt, wenn wir hier darauf hinweisen, dafs es von dieser speziellen Ausdeutung ganz unabh\u00e4ngig ist, und die M\u00f6glichkeit jedenfalls besteht, es selbst als alleinige gen\u00fcgende physiologische Bedingung f\u00fcr das Zustandekommen der Qualit\u00e4t der Empfindung in Anspruch zu nehmen, auch wenn dabei ein einziges perzipierendes Element der Perzeption mehrerer Qualit\u00e4ten f\u00e4hig sein sollte. Andererseits ist es nicht ausgeschlossen, dafs die Einschr\u00e4nkung der Wirkung einzelner Reize auf \u00f6rtlich bestimmte Nervenelemente auch auf eine prinzipiell andere Weise erreicht werden k\u00f6nnte.\n4. Erg\u00e4nzende Bemerkungen, a) Als Vorbild dient der ZENKERschen Farbenlehre die HELMHOLTzsche H\u00f6rtheorie. Es wird dabei ein ganz wesentlicher Unterschied zwischen dem Geh\u00f6rs- und dem Gesichtssinn aufser acht gelassen, der gerade die von Zenker hervorgehobenen charakteristischen Momente der HELMHOLTZschen Theorie in einer wesentlich anderen Weise zu deuten erlaubt. Es handelt sich um die beim Ohr so hoch entwickelte F\u00e4higkeit, einen gegebenen Eindruck in dessen einzelne Komponenten zu zerlegen. Das Auge besitzt diese F\u00e4higkeit nicht; es analysiert nicht im Gegensatz zum Ohr. Es liegt nahe daran zu denken, dafs diese F\u00e4higkeit zur Analyse gerade an die physiologische Vorrichtung gebunden ist, dafs Reize je nach ihrer Qualit\u00e4t und unabh\u00e4ngig davon, woher sie kommen, und davon, von welchen anderen Reizen sie begleitet werden, immer zu derselben Nervenendigung (bzw. zu demselben Nervenelement) gelangen.1 Eine Auffassung, die in dieser Weise die Einschr\u00e4nkung der Wirkung bestimmter Reize auf bestimmte Nervenelemente deutet, ist selbstverst\u00e4ndlich noch keine eigentliche Theorie der Perzeption von Qualit\u00e4ten innerhalb dieses Sinnes, sondern nur eine Theorie seiner F\u00e4higkeit zur Analyse. Die Frage nach den physiologischen Bedingungen der Perzeption von\n1 \u201eSo erkl\u00e4rt die Resonanzhypothese die wichtige und bedeutungsvolle Bef\u00e4higung unseres Ohres zur Klanganalyse in ebenso einfacher wie eleganter Weise, und dies darf als ihr Hauptvorzug betrachtet werden.\u201c K. L. Schaefer in Nagels Handbuch d. Phys. Bd. Ill, S. 565.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption.\n227\nQualit\u00e4ten w\u00fcrde dann eventuell noch daneben gestellt werden m\u00fcssen.\nb)\tWir vermissen bei Zenkee eine phylogenetische Betrachtung, die zum Ziele h\u00e4tte, den \u00dcbergang in der Tierreihe vom einfachen Lichtsinn zum Farbensinn, vom qualit\u00e4tlosen zum qualit\u00e4thaltigen Sehen, mit der Entstehung im Laufe der phylogenetischen Entwicklung derjenigen anatomisch physiologischen Vorrichtungen, die als notwendige Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen der Empfindung der Farben angesprochen werden, in Zusammenhang zu bringen. Gerade die Auffassung, die in Vorrichtungen, die dem Zwecke dienen, spezielle Modifikationen der allgemeinen Wirkung des Lichtes hervorzurufen, die physiologischen Bedingungen f\u00fcr das Zustandekommen der Farben sieht, legt eine derartige Betrachtung sehr nahe. Sie\nh\u00e4tte in erster Linie sich an ebenso kardinale Momente im Be-\n\u2022 \u2022\nreiche der Phylogenese des Auges zu wenden, wie es der \u00dcbergang vom blofsen Lichtsinn zum Farbensinn unserer Auffassung nach ist; z. B. an den \u00dcbergang vom einfachen zum invertierten Blasenauge, welcher die Stellung der lichtempfindlichen Elemente der Netzhaut in bezug auf die Richtung des einfallenden Lichtes in eine entgegengesetzte verwandelt.1 Es ist selbstverst\u00e4ndlich von vornherein nicht ausgemacht, dafs das blofs den Lichtsinn besitzende Auge das Problem der Farbenperzeption nur in einer einzigen Weise l\u00f6sen kann.\nEs braucht kaum erw\u00e4hnt zu werden, dafs die Entscheidung \u00fcber die Farbent\u00fcchtigkeit der Organismen nach stichhaltigeren Kriterien, als dies bei Zenkee in bezug auf den Tintenfisch der Fall ist, geschehen soll.\nc)\tDafs das Prinzip der stehenden Wellen einer ganzen Anzahl von Schwierigkeiten aus dem Wege geht, die andere physiologische Farbentheorien mit sich bringen, habe ich an einer anderen Stelle zu zeigen versucht.2\nd)\tEs kam mir in diesem Aufsatz vor allem darauf an aus der ZENKEEschen Lehre ihre Grundgedanken und ihre Methode\n1\tDiese Stellung der lichtempfindlichen Elemente der Netzhaut hebt Raehlmann in seiner Farbentheorie besonders hervor.\n2\tIm Kapitel \u201eAnalyse der \u00cf\u00cfERiNGschen Farbenlehre\u201c der demn\u00e4chst im Arch. f. d. ges. Psychologie erscheinenden Arbeit \u201eBetrachtungen im An-schlufs an das Prinzip des psychophysischen Parallelismus\u201c.","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nEugen Minkowski.\nherauszusch\u00e4len. Die Beurteilung derselben hat unabh\u00e4ngig einerseits von der Frage zu geschehen, ob die Theorie alle Beziehungen der Farbenph\u00e4nomene zueinander zu erkl\u00e4ren imstande ist, andererseits von der Beurteilung der Richtigkeit der physikalischen, anatomischen und physiologischen Daten, die Zenker bei der speziellen Ausgestaltung seiner Theorie einf\u00fchrt; sie geh\u00f6rt vielmehr in das Gebiet der allgemeinen erkenntnistheoretischen Grundlagen der Sinnesphysiologie.","page":228}],"identifier":"lit33634","issued":"1914","language":"de","pages":"211-228","startpages":"211","title":"Die Zenkersche Theorie der Farbenperzeption: Ein Beitrag zur Kenntnis und Beurteilung der physiologischen Farbentheorien","type":"Journal Article","volume":"48"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:52:27.640638+00:00"}