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Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverhältnisse

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{"created":"2022-01-31T13:57:04.627628+00:00","id":"lit35878","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Storch, E.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 352-357","fulltext":[{"file":"p0352.txt","language":"de","ocr_de":"352\nHeber\ndie Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\nAntwort an Dr. A. Samojloff.\nVon\nDr. E. Storch.\nIn dieser Zeitschrift 29, S. 121 hat Dr. A. Samojloff meine Arbeit \u00fcber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse einer Besprechung gew\u00fcrdigt, auf die mir folgende Antwort verstattet sei.\nIn dieser Besprechung scheint es S. erforderlich, den Verf. (mich) \u201eauf eine ganze Reihe von sehr eingehenden Arbeiten, die diesen Gegenstand fast zum Abschl\u00fcsse brachten, aufmerksam zu machen\u201c.\nBez\u00fcglich der von mir nicht angef\u00fchrten Literatur m\u00f6chte ich S. auf einige Bemerkungen Schopenhauer\u2019s hinweisen, die er Bd. II der Parerga und Paralipomena Cap. I \u00a7 7 und ebenda Cap. XXII \u00a7 266 nachlesen kann. Die Ansicht, dafs die Tonbeziehungen irgend etwas mit den tonerzeugenden Organen zu thun haben, ist n\u00e4mlich noch viel \u00e4lter als S. annimmt und ist schon bei Aristoteles nachweisbar. Dieser Autor macht darauf aufmerksam, dafs das Singen gewisser Tonfolgen schwer, das anderer leicht ist, und hat damit eine Weisheit in zwar recht allgemeiner, immerhin aber unanfechtbarer Form ausgesprochen, die 2000 Jahre ruhen mufste, um von Lotze, M\u00fcller und Stricker in unhaltbarer und entstellter Weise von Neuem geboren zu werden. Es sind das aber keineswegs die einzigen Autoren, welche erkannten, dafs zwischen den im Wahr-nehmungsprocefs auftauchenden Bewufstseinserscheinungen und jenen, welche den Willk\u00fcrbewegungen, seien es phonetische oder locomotorische, vorangehen, gewisse gesetzm\u00e4fsige Be-","page":352},{"file":"p0353.txt","language":"de","ocr_de":"Ueher die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n353\nZiehungen herrschen m\u00fcssen. Ich nenne nur Helmholtz, Meynert, Wernicke.\nSchon der Umstand, dafs dieser Gedanke immer wieder auftauchte, h\u00e4tte die Psychologen darauf aufmerksam machen m\u00fcssen, dafs ihm vielleicht doch etwas Richtiges zu Grunde liegen m\u00f6chte, und es w\u00e4re verdienstvoller gewesen, diesen richtigen Kern zu suchen, als die Sch\u00e4den des Gewandes, unter welchem er sich verbarg, aufzudecken.\nEigent\u00fcmlich aber ber\u00fchrt es mich, dafs Samoiloee in meiner Arbeit etwas von Muskelgef\u00fchlen oder Bewegungsvorstellungen, die f\u00fcr unsere Tonwahrnehmung eine Rolle spielen sollen, gefunden haben will.\nDer Grundgedanke meiner Arbeit ist vielmehr folgender: Alle meine Willk\u00fcrbewegungen, locomotorische und phonetische, sind gesetzm\u00e4fsig abh\u00e4ngig von Vorstellungen. Will ich mit meiner Hand einen Kreis, einen Buchstaben, eine gerade Linie zeichnen, so ist die Form der erfolgenden Bewegung ausschliefs-lich bestimmt durch die meinen Bewregungswillen begleitende Raumvorstellung. Diese selbe Raumvorstellung und damit der gleiche materielle Hirnprocefs kann aber auch durch die sinnliche Wahrnehmung dieser Formen entstehen. Jede sinnliche Qualit\u00e4t ist im Stande, in mir diesen selben Bewufstseinsvorgang zu erzeugen. Keine ist in dieser Beziehung der anderen qualitativ, sondern h\u00f6chstens quantitativ \u00fcberlegen. Auch der ber\u00fcchtigte Muskelsinn, dessen Existenz f\u00fcr die Augenmuskeln ohne Weiteres zu leugnen ist, f\u00fcr die Kehlkopf- und Extremit\u00e4tenmuskeln aber noch erwiesen werden soll, spielt hier keine andere Rolle, als etwa die optischen oder tactilen Qualit\u00e4ten.\nDiese Raumvorstellungen k\u00f6nnen also unm\u00f6glich in den Sinnesneuronen der Grofshirnrinde ihren Sitz haben, sondern in Elementen, die ihrerseits in gleicher Weise erregt werden von den verschiedenen Sinnesfeldern aus. Jede Erregung in diesem gemeinsamen End gebiet aller Sinnesreize ist f\u00fcr unser Bewufst-sein eine Raum vor Stellung, und diese Raum Vorstellung vermag ihrerseits, wenn sie als r\u00e4umliche Componente des Bewegungswillens erscheint, Differential f\u00fcr Differential auf die motorischen Grofshirnneurone abzufliefsen, und so eine Bewegung, deren Differentiale elementaren Innervationsmechanismen entsprechen, zu erzeugen.\nF\u00fcr die loco motorischen Bewegungen heilst also der von\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 29.\t23","page":353},{"file":"p0354.txt","language":"de","ocr_de":"354\nE. Storch.\nmir ansgef\u00fchrte Grundgedanke : Die willk\u00fcrlichen Muskelinnervationen sind Functionen, d. h. gesetzm\u00e4fsig abh\u00e4ngig von den den Bewegungswillen begleitenden Raumvorstellungen. Ist aber x eine Function von y, so ist auch y eine andere Function von x.\nx = F{y) y = @ (#).\nDie Muskelinnervation kann also als Function der Raumvorstellung betrachtet werden. In diesem Falle ist der cerebrale, der Raumvorstellung entsprechende materielle Procefs eine Vorstufe der cerebralen motorischen Innervation und damit der willk\u00fcrlichen Muskelaction.\nErfolgt eine Bewegung refleetorisch, z. B. die Streckung des Unterschenkels auf Beklopfen der Kniescheibensehne, so ist die Muskelinnervation gesetzm\u00e4fsig bestimmend f\u00fcr die r\u00e4umliche Componente der Bewegungswahrnehmung. In diesem Falle ist die Raumvorstellung eine Function der Muskelaction oder der spinalen Innervation. Sie ist psychologisch gesprochen ihr Erinnerungsbild.\nIn dieser Fassung ist meine Theorie nur unter einer Bedingung angreifbar, n\u00e4mlich wenn man leugnet, dafs gleichen Bewufstseinserscheinungen gleiche materielle Hirnprocesse parallel gehen. Mit Vertretern dieser Anschauung halte ich eine Auseinandersetzung f\u00fcr aussichtslos.\nDie Raumvorstellung ist eine Function der Muskelinnervation. Jede Muskelinnervation besitzt im Cerebrum ein Vorstadium, das f\u00fcr uns Raumvorstellung ist. Da unsere compli-cirtesten Handlungen und Willk\u00fcrbewegungen sich zur\u00fcckf\u00fchren lassen auf elementare Innervationsmechanismen, welche ihrer Zahl nach beschr\u00e4nkt sind, \u2014 in jeden einaxigen Gelenk offenbaren sich 1, in zweiaxigen 2, und im Kugelgelenk 3 elementare Innervationsmechanismen \u2014 und da jeder solcher Elementarinnervation eine elementare Vorstufe, f\u00fcr unser Bewufstsein eine Richtungsvorstellung, entspricht, so kann alle Verschiedenheit unserer Raumvorstellungen dargestellt werden als Verschiedenheit in der Combination der elementaren Innervationsvorstufen. Denn es giebt keine Raumvorstellung, welche nicht in Willk\u00fcrbewegung umgesetzt werden k\u00f6nnte ; das gilt von der einfachen Linie sowohl, wie von der kunstvollen Statue, die der Bildhauer aus dem Marmorblocke herausmeifselt. Und andererseits vermag kein Sinnesreiz etwas anderes als diese Raumvorstellungselemente,","page":354},{"file":"p0355.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\n355\nVorstufen oder Erinnerungsbilder motorischer Innervation, in den mannigfaltigsten Combinationen zu erregen.\nHierbei ist, ich betone es nochmals, von irgend welcher besonderen Rolle der Muskelgef\u00fchle nicht die Rede. Die Raumvorstellungen sind an sich frei und unabh\u00e4ngig von jeder sinnlichen Qualit\u00e4t, sie sind dasjenige, was zwischen den an sich beziehungslosen sinnlichen Componenten der Wahrnehmung Beziehungen setzt.\nUnd nun gelingt es mir, vielleicht auch Samojloff auseinander zu setzen, dafs ich in meiner Arbeit weder von Muskelgef\u00fchlen, noch von Bewegungsvorstellungen gesprochen habe, und dafs der Grundgedanke meiner Arbeit, f\u00fcr den, welcher den Parallelismus zwischen Bewufstseinserscheinung und Hirnprocefs anerkennt, unangreifbar ist, und folglich auch von Stumpf nicht widerlegt werden konnte, umsoweniger als Stumpf diesen Grundgedanken vor der Ver\u00f6ffentlichung meiner Arbeit ebenso wenig erfafst hatte, wie S. trotz Ver\u00f6ffentlichung derselben.\nDieser Grundgedanke lautet : Die Beziehungen, die wir zwischen den musikalischen T\u00f6nen wahrnehmen \u2014 die H\u00f6hen-und Intervallvorstellungen \u2014 sind eine Function der phonetischen Muskelaction, die Vorstufe oder das Erinnerungsbild derselben.\nWill ich einen Ton singen, so mufs ich eine Vorstellung dieses Tones haben, und diese Vorstellung \u2014\u2022 die durchaus keine Bewegungsvorstellung ist, wie S. f\u00e4lschlich verstanden hat \u2014 ist gesetzm\u00e4fsig bestimmend f\u00fcr die erfolgende phonetische Innervation. Will ich zu einem geh\u00f6rten Tone die h\u00f6here Octave, die Quint oder Terz singen, oder sonst ein Intervall, so sind das lauter verschiedene musikalische Vorstellungen, die meinen Willen zum Singen begleiten. Sie sind aber gesetzm\u00e4fsig bestimmend f\u00fcr die Form der erfolgenden phonetischen Innervation. Diesen Intervallvorstellungen entspricht also ein cerebraler materieller Prozefs, welcher als Vorstufe der phonetischen Innervation zu gelten hat. Es sind aber genau die gleichen musikalischen Vorstellungen, welche beim H\u00f6ren einer Melodie in meinem Bewufstsein entstehen. In diesem Falle kann ich sie als Erinnerungsbilder motorischer Innervationen bezeichnen. In diesem Hirnterritorium, welches wir uns als materielles Substrat der musikalischen Vorstellungen zu denken haben, spielt sich\nalso derselbe Procefs ab, wenn ich die Absicht habe, zu einem\n23*","page":355},{"file":"p0356.txt","language":"de","ocr_de":"356\nE. Storch.\ngeh\u00f6rten Ton die Octave zu singen, wie wenn ich sie durch mein Geh\u00f6r wahrnehme. Wie nun aber der Wille zum Singen immer nur die Vorstufen der elementaren phonetischen Innervationsmechanismen zu combiniren vermag, so vermag auch der akustische Reiz nichts anderes als eine Combination dieser selben Elemente zu erzwingen, welche ich glossopsychische nannte.\nUnd nun machte ich eine sehr naheliegende Hypothese, n\u00e4mlich, dafs die in Betracht kommenden Innervationsmechanismen die des Kehlkopfes seien. Bez\u00fcglich der Stimmbandspanner ist ein Zweifel nicht m\u00f6glich, denn je h\u00f6her der Ton sein soll, den ich singen will, desto st\u00e4rker mufs die Innervation dieser Muskeln ausfallen, d. h. die St\u00e4rke der Stimmbandspannung ist eine Function der musikalischen H\u00f6henvorstellung. Ob ich die beiden anderen Mechanismen richtig getroffen habe, wird die Erfahrung lehren. Jedenfalls kommen sicher nur 3 solcher Inner-vationsmech\u00e0nismen f\u00fcr unsere Intervallvorstellungen in Frage.\nDiese Deduction der musikalischen Vorstellungen aus drei mit einander combinirten Elementarenergien aber ist meinem Kritiker v\u00f6llig entgangen. Er hat durchaus \u00fcbersehen, dafs, wenn man sich eine beliebige solche Combination der besseren Anschaulichkeit wegen als resultirende Welle aus drei elementaren Wellenformen vorstellt, in der Resultante 12 verschiedene Wellenformen stecken; jede dieser 12 Wellenformen hat mit der beliebigen, dem Grundtone entsprechenden Aus-gangscombination etwas mehr weniger Gemeinsames, wonach sich der Grad der Tonverwandtschaft unabh\u00e4ngig von der Tonh\u00f6he bestimmt. Diese ist ihrerseits nicht von der Wellenform, sondern von der Gesammtenergie des cerebralen Processes \u2014 um im Bilde zu bleiben, von dem Fl\u00e4cheninhalt des Wellenberges \u2014 abh\u00e4ngig.\nNur wenn S. diese Deduction, d. h. wissenschaftliche Ableitung verstanden h\u00e4tte, w\u00fcrde ich ihm das Recht zuerkennen, \u00fcber den von mir gemuthmafsten Grund der Schneckenform des Labyrinthes abzuurtheilen. So aber erscheint mir der Vorwurf jugendlichen Leichtsinnes, dessen S. mich zeiht, durchaus unangebracht.\nIch habe hier nochmals in grofsen Z\u00fcgen den Gedankengang meiner Arbeit \u00fcber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse klargelegt, und zwar deshalb, weil mir die Entgeg-","page":356},{"file":"p0357.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse.\t357\nnung Samojloff\u2019s gezeigt hat, dafs es n\u00f6thig ist, diesen durch nochmalige Beleuchtung dem allgemeinen Verst\u00e4ndnifs n\u00e4her zu bringen. Nicht f\u00fcr irgend eine Einzelheit beanspruche ich die Priorit\u00e4t. Nicht als eine zusammenhangslose Compilation verschiedener Aper\u00e7us m\u00f6chte ich meine Arbeit betrachtet wissen. Als solche w\u00e4re sie mir der Ver\u00f6ffentlichung nicht werth erschienen. Wohl aber sehe ich in ihr den ersten Beweis daf\u00fcr, dafs eine wissenschaftliche Behandlung psychologischer Probleme m\u00f6glich ist. Zur Wissenschaft aber wird ein Wissensgebiet meines Erachtens erst dann, wenn die empirisch gefundenen Thatsachen zu einem Gesichtspunkte gef\u00fchrt haben, von dem aus eine deduktive Behandlung der Probleme erfolgen kann.\n(Eingegangen am 8. August 1902.)","page":357}],"identifier":"lit35878","issued":"1902","language":"de","pages":"352-357","startpages":"352","title":"Ueber die Wahrnehmung musikalischer Tonverh\u00e4ltnisse","type":"Journal Article","volume":"29"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:57:04.627633+00:00"}

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