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Experimentelle Beiträge zur Psychologie dess Erkennens

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{"created":"2022-01-31T15:08:19.501192+00:00","id":"lit35879","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Groos, Karl","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 358-371","fulltext":[{"file":"p0358.txt","language":"de","ocr_de":"358\nExperimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des\nErkennens.\nVon\nKarl Groos.\nII. Die Anregung* you Fragen bei Sch\u00fclern.\nIn meinem ersten Beitrag\"1 hatte ich \u00fcber Experimente berichtet, bei denen die Arten der in Fragen auftretenden Denkbeziehungen an Studirenden untersucht wurden. Anstatt nun den zweiten Beitrag, wie eigentlich beabsichtigt war, aus-schliefslich einer Er\u00f6rterung \u00fcber die hierbei verkommenden Schlufsprocesse zu widmen, m\u00f6chte ich an dieser Stelle die wesentlichsten Ergebnisse einer Fortf\u00fchrung jener Versuche in kinderpsychologischem Interesse mittheilen und daran einiges Theoretische anschliefsen.\nDie M\u00f6glichkeit dieser Fortf\u00fchrung verdanke ich dem freundlichen Entgegenkommen des Herrn H. Gr\u00fckewald, eines Lehrers an der Kgl. Pr\u00e4parandenschule zu Herborn, der sich durch seine Beitr\u00e4ge in den \u201eKinderfehlern\" und anderen psychologischp\u00e4dagogischen Zeitschriften bekannt gemacht hat. Herr Gr\u00fcnewald hat zuerst an allen 4 Classen der Pr\u00e4parandenschule in Herborn und darauf an der obersten Classe der Volksschule zu Erbenheim meine Basler Versuche so wiederholt, dafs er sich in Herborn in der Hauptsache noch an die von mir gew\u00e4hlten Themata hielt (einige Ver\u00e4nderungen und Vermehrungen wurden indessen auch hier vorgenommen), w\u00e4hrend er f\u00fcr die Erben-heimer Classe selbst\u00e4ndig 33 neue Themata aufstellte, die sich dem Fassungsverm\u00f6gen jugendlicherer Sch\u00fcler eher anpafsten. Auch diese neuen Themata waren schon auf Fragen aus besonderen kategoralen Gebieten angelegt. So lautete z. B. das\n1 Vgl. diese Zeitschr. 25, S. 145 ff.","page":358},{"file":"p0359.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennern.\t359\nThema f\u00fcr die Beziehung \u201eWoher\u201c : \u201eEine Kugel zerschmetterte die Lampe;\u201c oder f\u00fcr die Beziehung \u201eWohin :\t>7-Din Schul-\nkinder der I. Classe machten sich fr\u00fch Morgens auf den Spazier-\ngang.\u201c\nHerr Lehrer Gr\u00fcnewald hat mir nun nicht nur das Her-borner Material zur Bearbeitung \u00fcberlassen, sondern auch in liebensw\u00fcrdigster Weise die Verwendung seiner selbst\u00e4ndigen Erbenheimer Versuche gestattet. Ich spreche ihm f\u00fci dieses Entgegenkommen auch an dieser Stelle meinen w\u00e4rmsten Dank aus. Da ich in meinem \u201eBeitrag\u201c die Resultate nur zum Theil verarbeiten werde, darf ich vielleicht hohen, dafs Herr Gr\u00fcnewald andere Ergebnisse der Experimente noch zum Gegenstand\neigener Ver\u00f6ffentlichungen machen wird.\nDas so zu meiner Verf\u00fcgung gestellte Material ist nun leider nicht durchweg und in jeder Hinsicht unter gleichen Bedingungen zu Stande gekommen. Die M\u00e4ngel, die meinen Basler Themata anhafteten und zum Theil geblieben sind, machen sich zwar hier, wo es sich um eine Vergleichung der Reactionen auf verschiedenen Altersstufen handelt, nicht in demselben Maafse f\u00fchlbar wie im ersten Beitrag. Der Uebelstand liegt vielmehr gerade f\u00fcr die Vergleichung darin, dafs die Themata in Herborn wenigstens zum Theil von den Basler Versuchen abweichen, w\u00e4hrend die Erbenheimer Resultate sogar auf Grund ganz anderer Themata erzielt wurden. Immerhin ist das Gros der ganzen Untersuchung, n\u00e4mlich die drei Altersstufen in vier Classen umfassende Herborner Fragensammlung unter fast v\u00f6llig gleichen Bedingungen entstanden1, so dafs hier keine Bedenken vorliegen aufser denen, die sich an die Auswahl der Themata selbst kn\u00fcpfen k\u00f6nnen und die, wie schon angedeutet wurde, bei einer (auf relative Werthe gehenden) vergleichenden Betrachtung weniger ins Gewicht fallen. Ich m\u00f6chte die Hoffnung aussprechen, dafs die im Folgenden mitgetheilten Ergebnisse andere Psychologen, deren Zeit nicht so stark durch sonstige Besch\u00e4ftigungen in Anspruch genommen ist wie die meinige, zu einer Wiederholung dieser Versuche in verbesserter Form anregen m\u00f6gen.\nDie Erbenheimer Classe (Nr. 1) umfafst 25 Sch\u00fcler von 12\u201413 Jahren. Darauf folgen in Herborn : die Classe III a mit\n1 Nur in der ersten Parallelclasse (Nr. 2a) sind noch nicht alle Themata verlesen worden. Dagegen sind Nr. 2h, 3 und 4 ganz gleichwerthig.","page":359},{"file":"p0360.txt","language":"de","ocr_de":"360\nKarl Groos.\n24 und die Parallelklasse III b mit 27 Sch\u00fclern von 14\u201415 Jahren (Nr. 2 a und 2 b), ferner die Classe II mit 18 Sch\u00fclern von\n15\u2014\t16 Jahren (Nr. 3), endlich die Classe I mit 8 Sch\u00fclern von\n16\u2014\t17 Jahren (Nr. 4). Hieran sehliefsen sich dann die Basler Studirenden meines ersten ..Beitrags\" (Nr. 5). Die Gesammtzahl der verarbeiteten Fragen betr\u00e4gt 3385.\n1. Ich v ende mich an erster Stelle der Betrachtung der von den Fragenden gew\u00fcnschten oder vermutheten logischen Beziehungsarten zu, wobei ich mich auf das Wichtigste und Allgemeinste beschr\u00e4nke. Das Erg'ebnifs enthalt die Tabelle I.\nTabelle I.\nAntheil der wichtigsten Denkbeziehungen aii\nder Fragen.\nder Zahl\n\tErben- heim\nBeziehungsarten\tNr. 1\n\t12\u201413\n\tJahre\n0'\n| , 0\nCausale (u. teleologische) Bez.1\t31,8\nSubstanzielle (u. attributive) B. 31,7 R\u00e4umliche Beziehungen\t14,9\nZeitliche Beziehungen\t15\nSonstige Beziehungen\t\u00df\u00df\n\tHerborn\t\t\tBasel\nNr. 2 a\tNr. 2 b\tNr. 3\tNr. 4\tNr. 5\n14\u201415\t14\u201415\t15\u201416\t16\u201417\tStud.\nJahre\tJahre\tJahre\tJahre\t\n0/\t0\t0\t0'\t|i\to\n(0\t0\t0\t10\t0\n43,1\t41,4\t46,1\t53,1\t46\n33,4\t29,7\tCO Ol CO\t24,4\t27,4\n12,1\t17,7\t13,3\t12,8\t8,8\n5\t4,3\t< r\u2014 V\t5,4\t7\n6,4 j 6,9 Parallelclassen\t\t3 6\t4,3\t10,8\nDas starke Ueberwiegen der auf Causal- und Substanzial-beziehungen gehenden Fragen, das auch hier wieder hervortritt, m\u00f6chte ich an dieser Stelle nur nebenbei betonen, da ich sonst wie im ersten \u201eBeitrag- (S. 163 f.) eine weitere Tabelle \u00fcber die i elative H\u00e4ufigkeit der aufserhalb der Specialthemata vorgekommenen Beziehungen hinzuf\u00fcgen m\u00fcfste. Dagegen ist es bemerkenswerth, dafs innerhalb der Herborner Versuche (von denen Nr. 2 b, 3 und 4 als v\u00f6llig gleichartig am wichtigsten sind) das Interesse f\u00fcr Causalbeziehungen mit zunehmendem Alter w\u00e4chst (41, 46, 53 %), w\u00e4hrend die Substanzialbeziehung,\n1 Bei der Berechnung der Schulversuche wurde der r\u00e4umlich-zeitliche Regrets und Progrets (woher, wohin, fr\u00fcher, sp\u00e4ter) zur H\u00e4lfte zur Causalit\u00e4t, zur H\u00e4lfte zu den raum-zeitlichen Beziehungen gez\u00e4hlt.","page":360},{"file":"p0361.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n361\ndie in Erbenheim der Causalrelation gleich war, nicht zunimmt, ja eher im Abnehmen begriffen ist. Auf jenes Anwachsen komme ich noch zur\u00fcck. Was die Substanzialbeziehung betrifft, so ist f\u00fcr ihre anf\u00e4ngliche St\u00e4rke der Umstand in Betracht zu ziehen, dafs auf den niedrigeren Altersstufen besonders gern nach den Namen oder auch nach sonstigen Bestimmungen von Individuen gefragt wird. Rechnet man auch vagere Fragen wie \u201eWer war es?*\u2018 hinzu, so erh\u00e4lt man folgende Verh\u00e4ltnisse. Der Antheil der auf Individualbestimmungen (besonders Individualnamen) gehenden Fragen betr\u00e4gt im Verh\u00e4ltnifs zu der Gosammtzahl der Fragen in Nr. 1 16 \u00b0/0, in Nr. 2 a und b 11,4 und 10,2 \u00b0/0, in Nr. 3 9,5%, in Nr. 4 5,4%, in Nr. 5 5%. Dieses Zur\u00fccktreten weist wohl auf die zunehmende Schulung im ab-stracten Denken hin.\n2. Viel wichtiger ist die weitere Frage, wie sich hinsichtlich der Causalbeziehungen das Verh\u00e4ltnifs von Regrefs (zur Ursache r\u00fcckw\u00e4rts) und Progrefs (zur Wirkung vorw\u00e4rts) gestaltet. In dem ersten Beitrag hatte ich dabei (S. 165 f.) aufser dem raum-zeitlichen Vorw\u00e4rts und R\u00fcckw\u00e4rts auch die teleologischen Beziehungen verarbeitet. Ich ziehe es aber diesmal vor, sie wegzulassen, weil doch sehr h\u00e4ufig die Entscheidung, ob der Grund- oder der Zielgedanke \u00fcberwiegt, unsicher bleibt; mein subjectiver Eindruck ist allerdings der, dafs auch hier dasselbe Verh\u00e4ltnifs obwaltet, wie bei der eigentlichen Causalbeziehung. Dieses Verh\u00e4ltnifs bestand aber bei den Basler Versuchen in einem kr\u00e4ftigen Ueberwiegen des Regresses. \u2014 Wie verhalten sich nun die Schulversuche hierzu? Dafs das Interesse f\u00fcr Causalbeziehungen im Ganzen mit zunehmender Reife der Sch\u00fcler w\u00e4chst, wurde schon betont. Wie stellt sich aber das Verh\u00e4ltnifs von Regrefs und Progrefs? Ueberwiegt auch hier der Regrefs, oder tritt etwa mit dem jugendlich-neugierigen Alter das Interesse f\u00fcr den Progrefs mehr und mehr an die Spitze ? \u2014 Die Tabellen II und III zeigen, dafs auch in den Schulclassen der Regrefs das Uebergewicht hat, und zwar in den untersten Classen am meisten, sodafs also das Interesse f\u00fcr den Progrefs mit wachsender intellectuelle r Entwickelung zunimmt, ohne doch je die M\u00e4chtigkeit des regressiven Denkens zu erreichen.","page":361},{"file":"p0362.txt","language":"de","ocr_de":"362\nKarl Groos.\nTabelle II.\nUebersicht aller regressiven und progressiven\nBeziehungen.1\nNr.\tRegrefs\tProgrefs\tQuotient\n1\t119\t36\t3,3\n2a\t193\t58\t3,3\n2b\t247\t93\t2,7 ,\n3\t198\t77\t2,6\n4\t81\t45\t1,8 f\n5\t75\t47\t1,6\n\tTabe\tlie III.\t\nelles Ver\th\u00e4ltnifs v\ton Ursache und W\t\nNr.\tUrsache\tWirkung\tQuotient\n1\t108\t11\t9,8\n2a\t169\t28\t6\n2b\t196\t21\t9,3 j\n3\t165\t35\t4,7 ;\n4\t74\t19\t3,9 J\n5\t46\t36\t1,3\n(v\u00f6llig gleiche Bedingungen)\n\u00a7\u2019\u2022\n(v\u00f6llig gleiche Bedingungen)\n3. Ich habe in dem ersten Beitrag (S. 148 f.) zwischen \u201eleeren Fragen\u201c und \u201eVermuthungsfragen\u201c oder \u201eFragen mit Urtheilskeim\u201c unterschieden. Die Bezeichnung \u201eVermuthungs-fragen\u201c bedarf aber einer Correctur. Meixoxg hat n\u00e4mlich in seinem werthyollen Werk \u201eUeber Annahmen\u201c - gegen diesen Terminus Einw\u00e4nde erhoben, die zum Theil berechtigt sind. Ich verdeutliche den Gegenstand zuerst noch einmal durch Beispiele. Das einer \u201egegebenen Situation\u201c entsprechende Thema handle etwa von einem Stein, der sich vom Kirchthurm gel\u00f6st hat und nun abw\u00e4rts fliegt. Wird hier gefragt: \u201eWohin flog er?\u201c \u2014 so liegt eine \u201eleere Frage\u201c (Delbb\u00fcck: \u201eErg\u00e4nzungsfrage\u201c, Meinong- : \u201eBestimmungsfrage\u201c) vor, die nicht mit Ja oder\n1\tWas das r\u00e4umliche Woher und Wohin betrifft, so ergab sich im ersten Beitrag (S. 152) ein auffallend starkes Ueberwiegen des Regresses. Die neuen Versuche n\u00f6thigen zu dem Schlufs, dafs dies ein Zufall war.\n2\tA. Meinong. \u201eUeber Annahmen\u201c. Leipzig 1902. (2. Erg\u00e4nzungsband zu dieser Zeitschrift.)","page":362},{"file":"p0363.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n363\nNein beantwortet werden kann. F\u00fcr den anderen Fall nehme ich gleich zwei Beispiele. Eine Frage m\u00f6ge lauten: \u201eFiel der Stein auf die Strafse oder blieb er auf dem Kirchendache liegen?\u201c \u2014 die andere: \u201eDer Stein hat wohl Jemand getroffen?\u201c Beide Fragen w\u00fcrden nun nach der Bestimmung meines ersten Beitrags, weil sich dabei \u201eaufkeimende Urtheile\u201c geltend machen, als \u201eVermuthungsfragen\u201c zu bezeichnen sein (Delbr\u00fcck: \u201eBest\u00e4tigungsfragen\u201c; Meinong : \u201eEntscheidungsfragen\u201c \u2014 was vorzuziehen ist, weil die Antwort auch negirend ausfallen kann). Nun hat Meinong in dem angef\u00fchrten Buche seine Kritik gerade diesem Punkte zugewendet. Er stellt zun\u00e4chst die Ansicht auf, dafs eine solche Entscheidungsfrage kein Urtheil enthalte. \u201eDamit ist gesagt, dafs der Fragende als solcher in betreff der Sache, auf die seine Frage eigentlich geht, noch nicht urtheilt, die Frage also insofern darauf zielt, ihn in die Lage zu setzen, in einer Angelegenheit zu urtheilen, in der er zur Zeit der Frage, gleichviel aus welchem Grunde, nicht urtheilen kann. Kurz also : der Fragende \u2014 immer nur den Fall der Entscheidungsfrage im Auge behalten \u2014 als solcher urtheilt nicht\u201c (S. 52f.).\nHierzu habe ich zu bemerken: dafs die Frage \u201eals solche\u201c kein Urtheil ist, wird als selbstverst\u00e4ndlich gelten d\u00fcrfen; dagegen behaupte ich, dafs in der Entscheidungsfrage inhaltlich dennoch ein wirkliches Urtheil nachgewiesen werden kann, n\u00e4mlich das problematische: \u201ees ist, soweit ich die Sache aus meinen bisherigen Erfahrungen heraus beurtheilen kann, m\u00f6glich, dafs der Stein die Strafse erreichte\u201c, \u201edafs er Jemand verletzte\u201c u. s. w. Hier ist ein selbst\u00e4ndiger Urtheilsact oder \u2014 wenn man lieber will \u2014 Schlufsact vorhanden, n\u00e4mlich die Constatirung der Denkbarkeit eines bestimmten Erfolges, und man w\u00fcnscht nun Auskunft, ob dies m\u00f6glich Erscheinende auch wirklich ist oder nicht. In diesem Punkte kann ich also Meinong nicht Recht geben.\nIndem nun Meinoxg weiter fragt, wras denn an Stelle eines Urtheils gegeben sei, sucht er den Terminus \u201eVermuthung\u201c durch den der \u201eAnnahme\u201c zu ersetzen. Seine Kritik meines Ausdrucks ist nicht leicht zu verstehen. Wenn ich nicht irre, so meint er, die Thatsache, dafs man \u201emit Ja\u201c fragen kann (z. B. \u201eist er schon angekommen\u201c ?), auch wenn man innerlich das \u201eNein\u201c erwartet und umgekehrt, spreche gegen meine Auffassung. Ich begreife aber nicht recht, warum das der Fall sein","page":363},{"file":"p0364.txt","language":"de","ocr_de":"364\nKarl Groos.\nsoll. Meinoxg f\u00fchrt die in meinem ersten Beitrag vertretene Ansicht (S. 53) folgendermaafsen ein: \u201eK\u00f6nnte die Entscheidungsfrage nicht so aufzufassen sein, dafs der Fragende nicht nur gegenst\u00e4ndliches Material, sondern zugleich auch eine V e r -mut hung dar\u00fcber dem Gefragten pr\u00e4sentirt und von diesem nur verlangt, die Vermuthung in eine wenigstens praktisch ausreichende Gewifsheit, sei es ihrer selbst, sei es ihres Gegen-theiles umzuwandeln? Wirklich ist diese Charakteristik der\nSachlage bereits gelegentlich als eine ganz selbstverst\u00e4ndliche ohne besonderen Beweis in Anspruch genommen worden, und es scheint in der That sozusagen aus sich selbst heraus plausibel, dafs derjenige nicht wohl mit \u201eJa\u201c fragen werde*, der die Antwort \u201eNein\u201c erwartet und umgekehrt.\u201c Hier kann ich den Connex des Nachsatzes \u201eund es scheint etc.\u201c\nmit dei vorausgehenden Darlegung nicht recht begreifen ; denn wenn ich aus der Vermuthung heraus zur Gewifsheit \u201esei es ihrer selbst, sei es ihres Gegentheiles\u201c \u00fcbergeleitet werden m\u00f6chte, so ist es durchaus nicht ausgemacht, dafs ich \u201emit Nein\u201c zu fragen brauche, wenn ich selbst \u201eNein\u201c vermuthe.\nVielleicht habe ich hierin Meinong mifsverstanden, eine M\u00f6glichkeit, die ich um so bereitwilliger zugebe, als er in der Sache selbst vollst\u00e4ndig Recht hat: es war verkehrt, die Entscheidungsfragen allgemein als Vermuthungs-fragen zu bezeichnen. Dies sieht man sofort an den angef\u00fchrten Beispielen, die ich absichtlich so gew\u00e4hlt habe, dafs der Unterschied m\u00f6glichst deutlich hervortritt. Jene erste disjunctive Entscheidungsfrage (jeder ihrer Theile w\u00fcrde \u00fcbrigens isolirt zu demselben Resultat f\u00fchren) ist keine Vermuthungs-frage. Sie enth\u00e4lt zwar zwei problematische Urtheile, aber keine Vermuthung. Dagegen ist die zweite Entscheidungsfrage: \u201eDer Stein hat wohl Jemand getroffen?\u201c ohne Zweifel eine echte Vermuthung sfr age. \u2014 Ich komme also zu dem Resultat, dafs nicht alle Entscheidungsfragen, sondern nur eine bestimmte\nGruppe unter ihnen Vermuthungen enthalten und werde daher\nden Ausdruck \u201eVermuthungsfrage\u201c nicht mehr auf das ganze Gebiet anwenden. Die \u201edrei Phasen\u201c, die ich (erster Beitrag S. 148) in dem \u201eZustand der Frage\u201c unterschied \u2014 Stutzen, Verlangen nach einer bestimmten Art bewufster Beziehung, aufsteigende Vermuthung \u2014 gen\u00fcgen nicht f\u00fcr alle F\u00e4lle ; zwischen","page":364},{"file":"p0365.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n365\ndie zweite und dritte kann sich noch eine weitere Phase ein-schieben, die einem problematischen Urtheil entspricht.\nEbensowenig deckt aber der Ausdruck \u201eAnnahme\u201c das ganze Gebiet. Wenn ich frage: \u201eIst der Stein auf die Strafse gefallen oder auf dem Dach liegen geblieben?\u201c so nehme ich nichts an, sondern w\u00fcnsche Entscheidung \u00fcber zwei verschiedene von mir constatirte \u201eDenkbarkeiten\u201c. Das ist wohl ohne Weiteres einleuchtend. \u2014 Im Allgemeinen m\u00f6chte ich, ohne hier ein f\u00fcr mich selbst endg\u00fcltiges Urtheil \u00fcber Meinong\u2019s Werk abgeben zu wollen, doch betonen, dafs meines Erachtens in seiner eingehenden Bearbeitung dieser sozusagen unterlogischen Gebiete ein sehr hoch zu sch\u00e4tzendes Verdienst liegt, dafs es mir aber bis jetzt noch nicht ganz fest steht, ob man die \u201eAnnahme\u201c als ein urspr\u00fcngliches und einheitliches Grundph\u00e4nomen, als \u201epsychische Grundthatsache\u201c (S. 266) ansehen darf. Meinem Sprachgef\u00fchl nach giebt es drei oder vier Hauptarten von \u201eAnnehmen\u201c. Erstens das Annehmen von sprachlich \u00fcbermittelten Urtheilen. Hier hat Annehmen den Sinn von \u201e Acceptir en \u201c. Eine logische Werthung (Zustimmen) braucht dabei nicht vorhanden zu sein. Der Vorgang spielt sich mehr mechanisch ab wie ein \u201eRepetitionsurtheil\u201c und ist wie dieses kaum als etwas Urspr\u00fcngliches zu betrachten. Wenn mir Jemand sagt, es seien bei dem Eisenbahnungl\u00fcck 120 Personen umgekommen, so werde-ich das in normalen F\u00e4llen ohne jede Kritik oder Untersuchung \u201eannehmen\u201c und weiter verbreiten. Das ist aber nicht die gew\u00f6hnliche Bedeutung des Wortes. \u2014 Zweitens brauchen wir den Ausdruck im Sinn einer apperceptiven Einstellung; ich habe z. B. \u201eangenommen\u201c, ein Fremder sei mein Freund N. und daher den Hut gezogen ; hierbei braucht keine bewufste Beziehung stattzufinden. \u2014 Drittens kommt die Annahme als willk\u00fcrliche Voraussetzung in Betracht; wir \u201enehmen einmal an\u201c, die Buren h\u00e4tten gesiegt. Diese wichtige Form, deren Untersuchung durch Meinong von gr\u00f6fster Bedeutung ist, scheint mir nicht elementar zu sein. Denn es kommt mir in der Selbstbeobachtung so vor, als spiele dabei die Reproduction wirklicher Erkenntnifs-acte eine Rolle, indem das \u201eZustimmungsgef\u00fchl\u201c oder wie man sonst jenes innere Zunicken nennen will, das man von fr\u00fcheren mit Ueberzeugung gef\u00e4llten Urtheilen her kennt, mit der Vorstellungsbeziehung verkn\u00fcpft wird, ohne doch die aus unserer Kenntnifs des wahren Sachverhaltes entspringenden","page":365},{"file":"p0366.txt","language":"de","ocr_de":"366\nKarl Groos.\nHemmungen zu \u00fcberwinden. \u2014 Viertens kann endlich das Annehmen ein Vermuthen sein. Was hierher geh\u00f6rt, will Meinong von dem wissenschaftlichen Gebrauch des Terminus ausschliefsen (S. 46); alle dem Sprachschatz des t\u00e4glichen Lebens entnommenen technischen Ausdr\u00fccke haben ja, wie er mit Hecht betont, den Uebelstand, dafs sie urspr\u00fcnglich nicht v\u00f6llig mit dem \u00fcbereinstimmen, was sie nun theoretisch bezeichnen sollen. Ich f\u00fcrchte aber, gerade diejenige Bedeutung des Wortes, die auf ein Vermuthen hinweist, ist zu m\u00e4chtig und weitreichend, um die Ausschliefsung im wissenschaftlichen Gebrauch leicht durchf\u00fchrbar zu machen.\n4. Wenn nun auch nicht alle \u201eEntscheidungsfragen\u201c Vermuthungen enthalten, so zeigt sich doch in ihnen gew\u00f6hnlich eine lebh aftere intellectuelle Th\u00e4tigkeit als in jenen leeren oder Bestimmungsfragen, die bei uns in Deutschland meistens mit einem W beginnen (wann, wo, warum, wozu, wieviel etc.): der Sachverhalt, der in dem Thema mitgetheilt wird, hat kr\u00e4ftiger auf die Phantasie und den Verstand eingewirkt und mindestens problematische Urtheile hervorgerufen. Doch kommen in meinem Versuchsmaterial nicht selten auch formal \u201eleere\u201c Fragen vor, die sofort auf eine positive intellectuelle Be-th\u00e4tigung in der Seele des Fragestellers schliefsen lassen. Wenn z. B. bei dem Thema \u201eEine Kugel zerschmetterte die Lampe\u201c von einem Sch\u00fcler gefragt wurde: \u201eWer hatte sie wider die Lampe geworfen?\u201c so ist in dieser Frage, die formal eine Bestimmungsfrage darstellt, mindestens ein problematisches Ur-theil, wenn nicht sogar eine Vermuthung enthalten (\u201edie Kugel kann oder wird von Jemand nach der Lampe geworfen worden sein\u201c). Diese Frage ist also einer Entscheidungsfrage intellectuell gleichwertig. Indem ich nun solche F\u00e4lle mit hinzurechnete, gewann ich zwei Tabellen, aus denen hervorgeht, dafs mit dem zunehmenden Alter die Zahl der Entscheidungsfragen w\u00e4chst und dafs auch innerhalb derselben Classe die besser Begabten im Ganzen mehr Entscheidungsfragen stellen als die schlechteren Sch\u00fcler.1\n1 Bei den Schulversuchen wurden die Sch\u00fcler mit dem Unterschied von Bestimmungs- und Entscheidungsfragen nicht bekannt gemacht. Dagegen hatte ich den Basler Studenten gegen\u00fcber einmal davon gesprochen (vgl. erster Beitrag, S. 149).","page":366},{"file":"p0367.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n367\nDie Tabelle IV veranschaulicht das Verh\u00e4ltnis der auf verschiedenen Altersstufen in den Fragen hervortretenden problematischen Urtheile und Vermuthungen zu der jeweiligen Ge-sammtzahl der gestellten Fragen.\nTabelle IV.\n\u00c4ntheil der Entscheidungsfragen (EF) an der Gesammtzahl\nder Fragen.\nNr.\tAlter (Jahre)\tEF\tFragen \u00fcberhaupt\tVerh\u00e4ltnifs- zahl\n1\t12\u201413\t15\t735\tca. 2 %\n2a\t14\u201415\t88\t592\t\u00bb t\u00e4 \u201e\n2b\t14\u201415\t93\t782\tr> 1\u201c y>\n3\t15\u201416\t70\t567\t\u201e 12 \u201e\n4\t16\u201417\t96\t230\t\u201e 12 \u201e\n5\tStudenten\t271\t479\t\u201e 56,5 \u201e\nDie Tabelle V bringt die Beziehung zwischen den Gesammt-noten der Herborner Sch\u00fcler und dem Durchschnitt der von ihnen gestellten Entscheidungsfragen (EF) in \u00e4hnlicher Weise auf Gruppen berechnet zur Darstellung, wie es Ebbinghaus bei seinen bekannten Combinationsversuchen gemacht hat. Die fett gedruckten Gesammtergebnisse sind sowohl nach dem arithmetischen Mittel (AM) als nach dem \u201eCentralwerth\u201c (GW) berechnet.\nTabelle V.\nBeziehung der Entscheidungsfragen (EF) zu den Leistungen\nin der Schule.\nNr.\tAlter\tCD -4-2 o ft\tb II,\tII\u2014III\tNote\t> M 1 M M f\u20141 1\u20141 M 1\u20141\t\tNote IV\t\t\n\t\tEF\tPer- sonen\tAM\tEF\tPer- sonen\tAM\tEF\tPer- sonen\tAM\n2a\t14\u201415\t48\t10\t4,8\t39\t12\t3,25\t1\t2\t0,5\n2b\t14\u201415\t60\t10\t6\t14\t7\t2\t19\t8\t2,4\n3\t15\u201416\t25\t5\t5\t41\t11\t3,7\t4\t2\t2\n4\t16\u201417\t67\t5\t13,4\t29\t3\t9,7\t0\t0\t\u2014\n\t\t200\t30\t6,7\t123\t33\t3,7\t24\t12\t2\n\t\t\t\tCW= 6\t\t\tOIE\u20143\t\t\tOIE\u2014 2\n5. Die Hauptresultate dieser Untersuchungen, n\u00e4mlich das Anwachsen des \u201eProgresses\u201c sowie der \u201eproblematischen Urtheile\u201c und \u201eVermuthungen\u201c mit zunehmender Bef\u00e4higung sind f\u00fcr die","page":367},{"file":"p0368.txt","language":"de","ocr_de":"368\nKarl G-roos.\nPsychologie und P\u00e4dagogik nicht ohne Bedeutung. In dem grofsen Gewebe causaler Beziehungen ist das Interesse f\u00fcr den Regrefs wohl das reiner theoretische, wT\u00e4hrend mir das Interesse f\u00fcr den Progrefs eine mehr praktisch gerichtete Intelligenz zu verrathen scheint. Wenn nun die S. 362 mitgetheilten Ergebnisse auch in weiteren Versuchen wieder mit \u00e4hnlicher Sch\u00e4rfe hervortreten sollten, so m\u00fcfsten wir annehmen, dafs das Vorw\u00e4rtsdenken dem deutschen Kinde viel weniger naheliegt als dem Erwachsenen, und die Erzieher h\u00e4tten Werth darauf zu legen, dafs gerade diese Seite der causalen Beziehungen m\u00f6glichst gef\u00f6rdert wird. Man sollte einmal derartige Versuche auf Grund genau \u00fcbereinstimmender Themata an Angeh\u00f6rigen verschiedener Nationen machen ; wer weifs ob nicht der englische Knabe eifriger vorw\u00e4rts fragt als der deutsche \u201eTr\u00e4umer\u201c. Das w\u00e4re dann ein experimenteller Beitrag zur V\u00f6lkerpsychologie.\nBei dem Anwachsen der Entscheidungsfragen tritt uns nun eine analoge Erscheinung entgegen; denn das Auftreten von problematischen Urtheilen und Vermuthungen ist die Vorbedingung der zielbewufstesten und damit praktisch wichtigsten Art des Denkens, n\u00e4mlich des hypothetischen Schliefsens. Hiermit ber\u00fchre ich das Thema, dem urspr\u00fcnglich dieser zweite Beitrag gewidmet sein sollte.\nEs giebt ein mehr passives Warten auf Erkenntnifs und ein bestimmt gerichtetes activeres Suchen des Wahren. Jenes kommt im kategorischen Syllogismus, dieses im gemischt-hypothetischen Schlufs zum Ausdruck. Jenem entspricht die \u201eleere\u201c oder \u201eBestimmungsfrage\u201c, diesem die \u201eEntscheidungsfrage\u201c. \u2014 Denken wir uns ein Stadtkind, das auf dem Lande fr\u00fch Morgens erwacht, ans Fenster tritt und in der D\u00e4mmerung undeutlich einen grofsen Vogel auf dem Gartenzaun sitzen sieht. Es stutzt dar\u00fcber. Nun sind zwrei F\u00e4lle m\u00f6glich. Im ersten Fall kommt es nur zu der Phase der \u201eleeren Frage\u201c. Das Kind denkt: \u201eWas ist das nur f\u00fcr ein Vogel?\" \u2014 und bleibt gespannt stehen. Es wartet auf Erkenntnifs. Nun t\u00f6nt pl\u00f6tzlich ein lautes \u201eKikeriki\u201c, und in dem \u201eAch so!\u201c des Kindes kommt ein kategorischer Syllogismus zum Absehlufs: ein Vogel, der Kikeriki schreit, ist ein Hahn ; dieser Vogel schreit Kikeriki ; also ist es ein Hahn. Hier ist der Untersatz eine dem Kind in den Schoofs gefallene Erfahrung. Es gleicht dem \u201egl\u00fccklichen\u201c Entdecker. Seine eigenen","page":368},{"file":"p0369.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n369\nLeistungen beschr\u00e4nken sich auf die gespannte Aufmerksamkeit, den Besitz eines inductiv gewonnenen Erfahrungszusammenhangs und die Verwerthung dieses Zusammenhangs im Obersatz.\nIm anderen Falle schweigt der Hahn. Aber das Kind gelangt durch Verwendung fr\u00fcherer Erfahrungen von selbst zu dem Stadium der \u201eEntscheidungsfrage\u201c. Es denkt etwa: \u201eIst das ein Hahn oder ist es keiner?\u201c (problematisches Urtheil); vielleicht denkt es aber auch : \u201eDas ist wohl ein Hahn ?\u201c (Ver-muthung). Nun verl\u00e4fst es das Haus und geht, nach Erkenntnifs suchend, n\u00e4her an das Thier heran, voll Spannung, ob die Merkmale, die eine endg\u00fcltige Begriffsbestimmung erm\u00f6glichen, z. B. der Kamm und die charakteristischen Schwanzfedern vorhanden sind oder nicht. Jetzt ist es nahe genug, und in seinem \u201eRichtig, es ist ein Hahn!\u201c kommt ein gemischt hypothetischer Schlufs zur Erledigung. Und zwar hat sich im Fall gr\u00f6fster intellectueller Activit\u00e4t der Procefs so abgespielt. Zuerst die Entscheidungsfrage : \u201eist es wohl ein Hahn?\u201c Daraus bildet sich eine \u201eAnnahme\u201c in jenem wichtigen Sinn der willk\u00fcrlichen Voraussetzung: setzen wir einmal den Fall, es sei ein Hahn.1 Diese Annahme f\u00fchrt syllogistisch zu dem Obersatz eines gemischt hypothetischen Schlusses: Wenn es ein Hahn ist, so hat er eine besondere Art Schwanzfedern. Nun regt sich die neue Entscheidungsfrage: hat er vielleicht solche? Das Kind sucht nach der Entscheidung und kommt so (n\u00e4hertretend) zu dem durch zielbewufstes Handeln erreichten Untersatz : er hat solche ! Daraus schliefst es dann \u201egemischt hypothetisch\u201c : es ist ein Hahn.\nDieser hypothetische Schlufs ist aber \u2014 und damit erh\u00e4lt unsere Betrachtung eine fast komische Wendung \u2014 vom Standpunkt der Logik aus falsch! Ich darf zwar schliefsen :\nWenn A ist, so ist B.\nNun ist A.\nAlso ist B.\nAber ganz verkehrt verfahre ich, sobald ich schliefse :\nWenn A ist, so ist B.\nNun ist B.\nAlso ist A.\n1 Vgl. Meinono, \u00a7 20, dessen Ansicht sich \u00fcbrigens kaum v\u00f6llig mit der hier vorgetragenen Entwickelung decken w\u00fcrde.\nZeitschrift f\u00fcr Psychologie 29.\n24","page":369},{"file":"p0370.txt","language":"de","ocr_de":"370\nKarl Groos.\nGenau so schlieist aber in unserer Darstellung das Kind, und genau so schliefsen wir selbst in tausend F\u00e4llen, die praktisch von gr\u00f6fster Wichtigkeit sind. Nichts ist charakteristischer f\u00fcr den Unterschied von Logik und Psychologie als die Thatsache, dafs diejenige Form des Schliefsens, die vielleicht praktisch die wichtigste ist \u2014 denn sie giebt den wohl am meisten begangenen Weg des planvollen Suchens nach Wahrheit an \u2014 \u201estreng logisch\u201c gar nicht erlaubt sein w\u00fcrde. Ich weifs sehr wohl, dafs man den Vorgang auch anders \u201econstruiren\u201c k\u00f6nnte, aber ich halte die vorgetragene Auffassung f\u00fcr die naturgem\u00e4fseste. Das Einfachste w\u00e4re vielleicht die Umwandlung des Obersatzes in die Form: \u201enur wenn A ist, ist B\u201c ; denn dann ist, wie F. Erhardt einmal nachgewiesen hat, der Schlufs von der Setzung der Folge auf die Setzung des Grundes erlaubt. Aber ich bezweifle, dafs psychologisch etwas Anderes in uns vorauszusetzen ist als die einfache Gewifsheit: \u201eWenn A ist, so ist Bu. Die Constatirung des erwarteten B wirkt dann (besonders wenn das A nicht nur als denkbar erschien, sondern vermuthet wurde) mit der Wucht einer \u201ePr\u00e4rogativen Instanz\u201c und f\u00fchrt eine Ueberzeugung herbei, die logisch nicht unanfechtbar ist, aber dem schliefsenden Individuum zu gen\u00fcgen pflegt \u2014 so lange sie sich bew\u00e4hrt.1\nIch f\u00fcge noch einen jener in der Selbstbeobachtung festgehaltenen F\u00e4lle hinzu, die, wie ich im ersten Beitrag ausf\u00fchrte, sorgf\u00e4ltig gesammelt werden sollten. Ich betrachtete einmal die .Reproduction der RuBENs\u2019schen Kreuzabnahme, die in meinem Zimmer h\u00e4ngt. Mein Blick wurde von den Objecten im Vordergrund rechts gefesselt. Da liegen am Fufs der Leiter die Dornenkrone, N\u00e4gel \u2014 und ein mit einem Stein beschwerter Zettel, auf dem etwas steht, vermuthlich in hebr\u00e4ischer Schrift. Ich stutze. Stadium der leeren Frage. Gleich darauf die Entscheidungsfrage\n1 Eine andere Construction, die ebenfalls auf einen unanfechtbaren hypothetischen Schlufs f\u00fchren w\u00fcrde, w\u00e4re: Wenn dieser Vogel aufser den Eigenschaften a b c auch die Eigenschaft d und e hat, so ist es ein Hahn.\nNun hat er die Eigenschaft d und e.\nAlso ist es ein Hahn.\nIch habe aber den Eindruck, als ob thats\u00e4chlich unser Denkprocefs durch die im Text angegebene Schilderung getreuer wiedergegeben w\u00fcrde. Das Kind geht von der Vermuthung, dafs es ein Hahn sei, aus und erwartet nun die Eigenschaften e und d. Das entspricht unserem Obersatz : Wenn dieses ab c ein Hahn ist, so hat es auch d und e. \u2014 Vgl. auch S. 371 Anm. 1.","page":370},{"file":"p0371.txt","language":"de","ocr_de":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie des Erkennens.\n371\n(diesmal eine echte Vermuthungsfrage), die ich mit dem einen Wort \u201eInri-Zettel?\u201c kennzeichnen will. Im n\u00e4chsten Moment fliegt mein Auge aufw\u00e4rts gegen das Kreuz. Dort ist kein Zettel ! Also, schliefse ich mit freudiger Genugthuung, es ist wirklich der Inri-Zettel. \u2014 Auch hier liegt die verbotene Form zu Grunde :\nWenn es der Zettel ist, so rnufs er oben am Kreuze fehlen.\nNun fehlt er am Kreuz.\nAlso ist es der Zettel.\nDas ist nat\u00fcrlich im Grund ein bedenklicher Schlufs1 ; ich weifs es auch heute keineswegs mit mathematischer Sicherheit, dafs sein Resultat richtig ist. Aber bis auf Weiteres bin ich \u201efelsenfest\u201c davon \u00fcberzeugt. Und ist nicht schliefslich das Meiste, was wir zu wissen behaupten, nur ein solches Wissen \u201ebis auf Weiteres\u201c? \u2014 Ich glaube daher in der That, dafs solche von problematischen Urtheilen und Vermuthungen ausgehenden hypothetischen Schl\u00fcsse die gr\u00f6fste Bedeutung f\u00fcr die Erweiterung unserer Kenntnisse besitzen.\nNach alledem wird es einleuchten: selbst wenn in dem eben Er\u00f6rterten die Tragweite der innerlich aufsteigenden Entscheidungsfrage 2 zu hoch angeschlagen worden ist (was ich nicht glaube), so gewinnt im Anschlufs an unsere experimentellen Ergebnisse diejenige p\u00e4dagogische Forderung eine nicht zu untersch\u00e4tzende Bedeutung, die wrir als die Uebung im \u201eVorw\u00e4rtsdenken\u201c und im Entwickeln von ,. Denkbar-k e i t e n \u201c bezeichnen k\u00f6nnen.\n1\tAuch hier kann man eine fehlerfreie Construction geben ; aber mein thats\u00e4chliches Denken verlief, wie ich glaube, in der angegebenen Weise. Vor Allem ist meines Erachtens die naheliegende Umkehrung des Obersatzes, die ja in jedem derartigen Fall einen tadellosen Schlufs ergeben w\u00fcrde (\u201ewenn dieser Vogel die besonderen Schwanzfedern hat, so ist es ein Hahn\u201c; \u201ewenn der Inri-Zettel oben fehlt, ist dieses der Inri-Zettel\u201c), nicht psychologisch wirksam. H\u00f6chstens nachtr\u00e4glich wird diese Um kehrung unter Umst\u00e4nden in Betracht kommen.\n2\tDafs es mir im Grund nirgends auf die \u00e4ufsere, an Andere gestellte Frage ankommt, sondern auf die innere, an uns selbst gerichtete, auf jenen Zustand: \u201eich weifs nicht, m\u00f6chte aber gern wissen\u201c, der der \u00e4ufseren Frage vorangeht, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.\n(Eingegangen den 6. August 1902)\n24*","page":371}],"identifier":"lit35879","issued":"1902","language":"de","pages":"358-371","startpages":"358","title":"Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Psychologie dess Erkennens","type":"Journal Article","volume":"29"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:08:19.501198+00:00"}

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