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{"created":"2022-01-31T16:48:24.330872+00:00","id":"lit35888","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Dessoir, Max","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 378-381","fulltext":[{"file":"p0378.txt","language":"de","ocr_de":"378\nLitera turberich t.\nK. Lange. Das Wesen der Kunst. Grundz\u00fcge einer realistischen Kunstlehre.\n2 Bde. Berlin, G. Grote\u2019sche Verlagsbuchhandlung, 1901. 405 u. 405 S.\nMk. 12, geh. Mk. 15.\nUm das Wesen der Kunst zu ermitteln, m\u00fcssen drei Aufgaben gel\u00f6st werden. Es gilt, erstens durch Vergleichung der verschiedenen K\u00fcnste mit einander ihre enge Verwandtschaft, d. h. die Einheit der Kunst nachzuweisen; zweitens die psychologischen Vorg\u00e4nge des \u00e4sthetischen Genusses und des k\u00fcnstlerischen Schaffens zu analysiren ; drittens auf Grund dieser Analyse die Gesetze des k\u00fcnstlerischen Schaffens und der Kunstentwickelung festzustellen.\nZun\u00e4chst also soll jenes vereinheitlichende Moment gefunden werden, wodurch die anscheinend so verschiedenartigen K\u00fcnste zusammengehalten werden. Lange sucht es in dem obersten Gesetz alles menschlichen Thuns, in der Erhaltung und Steigerung des Menschengeschlechtes. \u201eAuch die Kunst dient dem Wohl der Gattung, ist gerade so und nicht anders geworden, weil sie gerade so und nicht anders der Gattung n\u00fctzlich gewesen ist.\u201c (I, 14.) Und zwar besteht die N\u00fctzlichkeit der Kunst darin, dafs sie einen Ersatz der Wirklichkeit zu bieten vermag, hierin dem Spiel verwandt. Hieraus begreifen wir nicht nur die biologische Nothwendigkeit der Kunst, sondern auch ihr Wesen, d. h. das Allgemeine in den Kunstgattungen und Kunstwerken. Wie n\u00e4mlich kann das Erg\u00e4nzungsbed\u00fcrfnifs des Menschen, das so mannigfaltig und vielseitig ist, wirklich befriedigt werden? Einzig und allein durch die Illusion. Ein begreiflicher Gattungsinstinkt dr\u00e4ngt nach Illusion; die Kunst entspricht ihm.\nDie Leser dieser Zeitschrift wissen bereits, welche Verdienste Lange sich um die eingehende Begr\u00fcndung der Illusionstheorie erworben hat; sie kennen auch die Beziehungen der neuen Lehre zur Aesthetik unserer klassischen Dichter und zu der gleichfalls realistisch genannten Aesthetik J. H. v. Kirchmann\u2019s. In diesem Werk finden sie nun den Grundgedanken aufs Sorgsamste durchgef\u00fchrt und an zahllosen kunstgeschichtlichen That-sachen erprobt. Da wir aber hier als Psychologen sprechen, so darf der Bericht sich auf die Zergliederung des k\u00fcnstlerischen Geniefsens (und Schaffens) beschr\u00e4nken. Auch dem Verf. erscheint es als die Hauptaufgabe, einen bestimmten seelischen Vorgang als unmittelbare Ursache der \u00e4sthetischen Lust zu erforschen und zu beschreiben. Dieser Vorgang ist der der Illusion, nicht eine wirkliche T\u00e4uschung, sondern ein \u00e4sthetisches Spiel, eine \u201ebewufste Selbstt\u00e4uschung\u201c, eine \u201eversuchte Verschmelzung\u201c, eine \u201edurchschaute Verwechselung\u201c. Es giebt freilich drei Arten von Illusion, je nach den geistigen und k\u00f6rperlichen Th\u00e4tigkeiten, auf die sie sich beziehen, n\u00e4mlich erstens Anschauungsillusion (in der Malerei vorwiegend), zweitens Gef\u00fchls- und Stimmungsillusion (Musik) und drittens Bewegungs- und Kraftillusion (Architektur). Indessen, alle drei Arten wurzeln in der gleichzeitigen Erzeugung zweier Vorstellungsreihen, einer, die sich unmittelbar an die sinnliche Wahrnehmung des Kunstwerks anschliefst, also auf Form, Farbe, Klang, Rhythmus, Reim u. s. w. bezieht (aber auch die Vorstellung vom Sch\u00f6pfer des Werks einschliefsen soll), und einer anderen, die alles enth\u00e4lt, was mit dem Kunstwerk gemeint ist. Auf dem Hin und Her, auf dem Spiel und Wechsel dieser contrastiren-","page":378},{"file":"p0379.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n379\nden Vorstellungen beruht die \u00e4sthetische Lust; sie ist weder von der Qualit\u00e4t des Inhalts noch von der Beschaffenheit der Form abh\u00e4ngig, sondern lediglich von der St\u00e4rke und Lebhaftigkeit der Illusion, in die uns der K\u00fcnstler durch sein Kunstwerk versetzt. Denn der K\u00fcnstler ist \u201eein Mann der Illusion\u201c: als solcher kann er sich vorstellen, Dinge zu sehen, zu h\u00f6ren und zu f\u00fchlen, die er in Wirklichkeit weder sieht noch h\u00f6rt noch f\u00fchlt. Aus dieser seiner F\u00e4higkeit heraus erzeugt er in Anderen die \u201ebewufste Selbstt\u00e4uschung\u201c, indem er den todten Stoff formt; die Form kommt nur als Vehikel der Illusion in Betracht, als Mittel des Gef\u00fchlsausdrucks, der Erzeugung einer Vorstellung.\nDie grundlegenden Bestimmungen Lange\u2019s erlauben vielfache Anwendung. So z. B. eine Anwendung auf das Furchtbare und H\u00e4fsliche. Das H\u00e4fsliche wirkt in der Kunst deshalb nicht unlusterregend, weil es gar nicht als Wirklichkeit, sondern als Schein ins Bewufstsein tritt; durch den Wechsel zweier Vorstellungsreihen wird das Bewufstsein verhindert, l\u00e4ngere Zeit und intensiv bei dem unlusterregenden Inhalt zu verweilen. (II, 119 u. 127.) Andererseits jedoch wird dem Traurigen insofern eine sachliche Bedeutung zugesprochen, als seine Verwendung in der Kunst dem Erg\u00e4nzungsbed\u00fcrfnifs des Menschen entspringen soll. Sind nun schon diese beiden Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde schwer mit einander zu vereinigen, so wird man namentlich doch fragen m\u00fcssen, wo denn die Leute stecken, die in ihrem Leben so viel Gl\u00fcck gehabt haben, dafs sie eine Erg\u00e4nzung ihres Wesens nach der Seite des Ungl\u00fccks brauchen? Mir scheint \u00fcberhaupt des Verf.\u2019s moralphilosophische Theorie manchmal wunderlich zu sein. Er leugnet einen Gegensatz altruistischer und egoistischer Ethik, weil im Grunde das Einzelwohl mit dem Gesammtwohl immer \u00fcbereinstimme \u2014 aber diese schwierige Frage wird ebenso schnell (\u00fcbrigens in aller Bescheidenheit) abgethan, wie der Unterschied der Natur- und Geisteswissenschaften. Im Zusammenhang mit dem soeben ber\u00fchrten Problem der Trag\u00f6die und der Dissonanz heifst es : \u201ein solchen F\u00e4llen mufs die Lust immer so stark \u00fcberwiegen, dafs, wenn man die Rechnung abschliefst, doch ein \u00fcberwiegendes Plus an LustwTerthen herauskommt.\u201c (I, 70.) Ob ein solches gegenseitiges Aufrechnen von Lust und Unlust m\u00f6glich sei, ist sehr fraglich und von den Ethikern mit Recht bezweifelt worden. Bei der nahen Verwandtschaft des Aesthetischen mit dem Ethischen sind solche Punkte nicht unwichtig. Dazu kommt, dafs Lange vielfach morali-sirende Gesichtspunkte f\u00fcr seine Kunstlehre verwendet. So wenn er Einspruch dagegen erhebt, dafs man die \u00e4sthetische Lust mit Schadenfreude und Grausamkeit in Verbindung bringt. Die Schadenfreude, sagt er (II, 220/1), \u201eist wohl die niederste Form der Lust, die es giebt, ein Ausdruck der rohen angeborenen Grausamkeit des Menschen. Sie kann nicht herbeigezogen werden, wenn es gilt, die h\u00f6chste Form, die \u00e4sthetische Lust, zu erkl\u00e4ren.\u201c Von der Theorie, dafs die Trag\u00f6die Gef\u00fchle der Grausamkeit und Kampflust erzeuge, heifst es in der flotten und etwas drastischen Ausdrucksweise des Verf.\u2019s: \u201eNat\u00fcrlich ist das Unsinn, schon deshalb, weil durch diese Annahme die Kunst in ihrem Werthe f\u00fcr den Menschen wesentlich herabgedr\u00fcckt werde.\u201c (II, 129.)","page":379},{"file":"p0380.txt","language":"de","ocr_de":"380\nLitera turberich t.\nIn dem berechtigten Streben, das speeifisch Aesthetische von allen Schlacken zu reinigen, gelangt demnach der Verf. zu scharfen Scheidungen. Andererseits n\u00e4hert er die Kunstgef\u00fchle den Gef\u00fchlen \u00fcberhaupt, indem er das, was das Aesthetische kennzeichnen sollte, n\u00e4mlich den lusterregenden Wechsel zweier Vorstellungsreihen, als eine allgemeine und h\u00e4ufige Erscheinung des psychischen (ja des physischen) Lebens bezeichnet (I, 343) und die \u201eVorstellungsansicht\u201c der Gef\u00fchle billigt, durch die ihnen alles Emotionelle ausgetrieben wird (I, 135). Doch f\u00fcrchte ich, dafs der Hinweis auf die Annehmlichkeit des Schaukelns unvorsichtige Leser zu groben Verwechselungen des seelischen Vorganges mit einer K\u00f6rperbewegung verf\u00fchren kann; aufserdem giebt es genug seelische \u201eSchaukelbewegungen\u201c, die \u2014 wie die Unentschlossenheit \u2014 sicher nicht Lust hervorrufen. Lange trennt ferner zwischen Vorgang und Inhalt eines Gef\u00fchls, indem er lehrt : \u201eDas \u00e4sthetische Lustgef\u00fchl, das ich beim Anh\u00f6ren eines Trauermarsches oder Scherzos habe, ist Realit\u00e4t. Aber sein Inhalt, d. h. das eine Mal Trauer, das andere Mal Lust, ist keine Realit\u00e4t, sondern \u00e4sthetischer Schein. In Hinsicht auf das F\u00fchlen \u00fcberhaupt ist das Gef\u00fchl nat\u00fcrlich Wirklichkeit, in Hinsicht auf den Inhalt nur Illusion.\u201c (I, 118.) Freilich wird auf der n\u00e4chsten Seite als \u201eklar\u201c hingestellt, \u201edafs die Gef\u00fchle, die beim Anh\u00f6ren des lyrischen oder musikalischen Kunstwerks entstehen, keine wirklichen Gef\u00fchle, sondern Gef\u00fchlsillusionen sind.\u201c Aber auch abgesehen von dieser mifsverst\u00e4ndlichen Ausdrucksweise bleibt doch fraglich, ob zwischen Act und Inhalt des Gef\u00fchls so unterschieden werden kann, wie es hier geschieht, und ob mit der erkenntnifstheoretischen Beziehung auf die Nichtwirklichkeit des Inhaltes die \u00e4sthetische Lust psychologisch geschildert und erkl\u00e4rt werden kann. Wenn Lange meint (I, 97): \u201eebenso wie ich mir vorstellen kann, etwas zu sehen, was ich nicht sehe, so kann ich mir auch vorstellen etwas zu f\u00fchlen, was ich nicht f\u00fchle\u201c, so verkennt er, glaube ich, den urspr\u00fcnglichsten Unterschied zwischen Wahrnehmen und F\u00fchlen.\nMit diesen Randbemerkungen m\u00f6chte ich andeuten, dafs meines Erachtens Lange\u2019s psychologische Analyse auf schwanker Grundlage steht. Ich kann mich auch f\u00fcr die Anfangs erw\u00e4hnte R\u00fcckf\u00fchrung der Kunst auf den Gattungsinstinct nicht erw\u00e4rmen. Das Erg\u00e4nzungsbediirfnifs des durchschnittlichen Menschen als Erkl\u00e4rungs- und Rechtsgrund f\u00fcr die Sch\u00f6pfungen der Kunst reicht schwerlich hin. In anderem Zusammenhang (II, 229) fragt Lange einmal: \u201ewie konnte man auf eine psychische Schw\u00e4che der meisten Menschen, auf das ungenaue oder nicht gen\u00fcgend individuelle Formenged\u00e4chtnifs der Menge ein \u00e4sthetisches Gesetz gr\u00fcnden?\u201c Genau so gut wie auf den vagen Wunsch nach \u201eetwas anderem\u201c! Das ist es eben; die Eigenart des K\u00fcnstlerischen tritt in dieser Auffassung nicht lebhaft genug hervor. Das Gleiche zeigt sich in jener halb biologischen halb historischen Construction, die in den S\u00e4tzen gipfelt: \u201eIn Zeiten, wo das Volksleben in irgend einer Beziehung stagnirt, wo gewisse rein menschliche Instincte einem ganzen Volke verloren zu gehen drohen, tritt die Kunst in die L\u00fccke ein. Sie wTeckt die schlummernden Instincte, erh\u00e4lt sie durch eine spielende Seheinth\u00e4tigkeit lebendig und rettet sie dadurch \u00fcber die Zeiten der Versumpfung hin\u00fcber in eine bessere Zukunft.\u201c (II, 75.)","page":380},{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Literaturbericht.\n381\nAlso w\u00e4re wohl Johann Sebastian Bach, in einer anderen Zeit geboren, ein Heerf\u00fchrer und nicht der Feldherr der T\u00f6ne geworden? Und wenn Spiel und Kunst mit entwickelungsgeschichtlicher Nothwendigkeit wirklich so eng zusammengeh\u00f6ren, dann sind wohl die K\u00fcnstler in ihrer Jugend die am eifrigsten und am besten spielenden Kinder? Gewifs steckt etwas nichtiges in Lange\u2019s Auffassung, aber es ist zu einseitig herausgehoben.\nSachlich betrachtet ist das ein Nachtheil. F\u00fcr die Wirkung dieses Werkes jedoch und f\u00fcr den Fortschritt der Aesthetik \u2014 selbst wenn sie nicht nur, wie der Verf. will, als Theil der Psychologie sich entwickelt \u2014 bedeutet die cons\u00e9quente Durchf\u00fchrung einiger Grundgedanken einen sch\u00e4tzenswerthen Gewinn. Lange hat aus seinen Prineipien gemacht, was nur irgend daraus zu machen ist, und er hat sie \u2014 wovon hier geschwiegen werden mufste \u2014 auf eine reiche kunstgeschichtliche und technische Stoffmenge angewendet. Er hat ferner ein Buch geschrieben, das vielleicht etwas redselig, aber doch auch sehr frisch und kr\u00e4ftig ist. Mein pers\u00f6nlicher Eindruck geht dahin, dafs Jedermann, der sich f\u00fcr psychologische Aesthetik interessirt, das Werk mit Nutzen und Freuden lesen wird.\nMax Dessoie (Berlin).\nH. Head. Certain Mental Changes that accompany Visceral Disease. Brain 24 (95), 345\u2014429. 1901.\nHead hat vor etwa 10 Jahren gelehrt, dafs bei Erkrankungen der Organe der Brust- und Bauchh\u00f6hle Schmerzen und erh\u00f6hte Schmerzempfindlichkeit auf die K\u00f6rperoberfl\u00e4che \u201ereflectirt\u201c werden. Die Beziehungen zwischen den einzelnen Organen und der Haut sind feste, so dafs man umgekehrt aus der Localisation der Schmerzen in der Haut auf das erkrankte Organ schliefsen kann. Die Bestimmtheit, mit welcher Head seine S\u00e4tze aussprach, ist vielfach Gegenstand der Kritik geworden. Viele Anh\u00e4nger haben sich, wenigstens in Deutschland, seine Lehren nicht erworben. Den Vorgang selber stellt er sich folgendermaafsen vor: Von den kranken Organen gehen Reize l\u00e4ngs des Sympathicus ins R\u00fcckenmark, springen hier auf die sensiblen Fasern derselben und der benachbarten Segmente \u00fcber und wrerden nun hinausprojicirt in die diesen Fasern zugeh\u00f6rigen Haut - Muskelgebiete.\nAuf dieser Grundlage hat Head weitergebaut ins psycho-pathologische Gebiet hinein. Die Resultate seiner Speculationen, denn um solche handelt es sich fast ausschliefslich, hat er in der vorliegenden Arbeit niedergelegt. Sie verrathen einen grofsen Aufwand von Scharfsinn; jedoch es wird dem Leser unwillk\u00fcrlich bange bei dieser Art wissenschaftlicher Forschung.\nH. geht aus von der allgemeinen Erfahrung, dafs unser psychisches Wohlergehen abh\u00e4ngt von der richtigen Th\u00e4tigkeit der inneren Organe. Er kommt dann sofort auf seine \u201ereflectirten Visceralschmerzen\u201c, betont die Wichtigkeit, sie immer im Auge zu behalten und k\u00fcndigt als Thema seiner Arbeit die Besprechung einer Gruppe von Bewufstseinsver\u00e4nderungen an, die haupts\u00e4chlich mit diesen Schmerzen verkn\u00fcpft sind. Er hat eine gr\u00f6fsere Zahl von Herz- und Lungenkranken untersucht und sorgf\u00e4ltig alle Geisteskranken und erblich Belasteten ausgeschieden. Die psychischen","page":381}],"identifier":"lit35888","issued":"1902","language":"de","pages":"378-381","startpages":"378","title":"K. Lange: Das Wesen der Kunst,. Grundz\u00fcge einer realistischen Kunstlehre. 2 Bde. Berlin, G. Grote'sche Verlagsbuchhandlung, 1901. 405 u. 405 S","type":"Journal Article","volume":"29"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:48:24.330878+00:00"}