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{"created":"2022-01-31T14:02:29.082674+00:00","id":"lit35895","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Rosenbach, O.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 29: 434-448","fulltext":[{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nZur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\nVon\nO. Rosenbach in Berlin.\nI.\nDie Beschreibung neuer Formen von Urtheilst\u00e4uschungen oder wichtigerer Varianten schon bekannter erscheint w\u00fcnschens-werth, nicht, weil es noch neuer Beweise f\u00fcr die interessante Thatsache, dafs aus richtigen (normalen) Sinneswahrnehmungen falsche Schl\u00fcsse gezogen werden, bedarf, sondern wegen der Beleuchtung, die der psychologische Procefs der Objec-tivirung und Association von Sinneswahrnehmungen resp. die Lehre von den inductiv gewonnenen Schl\u00fcssen durch jeden neuen Fall zwangsm\u00e4fsiger Entstehung eines falschen Ur-theils erf\u00e4hrt. Abgesehen aber von den f\u00fcr die Theorie nicht unwichtigen Ergebnissen scheint mir die methodisch-vergleichende Analyse der verschiedenen Formen von Urtheils-und Sinnest\u00e4uschungen \u2014 denn es giebt auch solche \u2014 noch von Werth f\u00fcr die praktische (Individual-)Psychologie, n\u00e4mlich als Grundlage f\u00fcr die Bemessung der individuellen F\u00e4higkeit und Methodik der Begriffsbildung, Schlufsfolgerung oder Verallgemeinerung von Wahr-nehmungen.\nMeines Erachtens ist es m\u00f6glich, aus der Art und Form resp. Schnelligkeit der (einen solchen falschen Schlufs invol-virenden) Urtheilsabgabe einen Einblick in die individuelle Form des Schliefsens und somit auch einen Maafsstab f\u00fcr die Vergleichung zu erhalten, oder mit anderen W orten : Man kann unter geeigneter Modification der Problem- resp. Fragestellung (s. u.) unschwer Anhaltspunkte gewinnen f\u00fcr die Bemessung der individuellen F\u00e4higkeit oder Neigung, schon aus einigen gegebenen Gliedern (Anfangs- oder Endgliedern)","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\n435\neine zusammenh\u00e4ngende Reihe von Erscheinungen, eine begriffliche Totalit\u00e4t, zu eonstruiren, d. h. gleichsam gesetz- oder zwangsm\u00e4fsig vereinzelte Wahrnehmungen zu generalisiren oder L\u00fccken des inductiven Materials (der Wahrnehmung) durch den reinen Vorstellungsprocefs auszuf\u00fcllen, und zwar entweder unter Bildung von Elementen, die den in der Sinnlichkeit gegebenen (von aufsen veranlafsten) analog sind (Similisationen1) oder durch Deduction resp. Analogisirung auf Grund der Erfahrung, d. h. durch Formung der fehlenden Elemente nach einem, schon im Bewufstsein vorhandenen, idealen Maafsstabe (Assimilation).\nVor der Beschreibung der Versuche m\u00f6chte ich noch bemerken, dafs vielfache Variationen der einfachen Anordnung und mannigfaltige Formen der Pr\u00fcfung in anderer Richtung m\u00f6glich sind; doch sollen hier, zur Vermeidung weitl\u00e4ufiger Ausf\u00fchrungen, nur die Bedingungen angegeben werden, unter denen meiner Erfahrung nach die Erscheinungen am deutlichsten hervortreten. Auch sei hier noch einmal darauf hingewiesen, dafs bei den Versuchen die Individualit\u00e4t des Befragten eine nicht unwichtige Rolle spielt.\nWenn man einen etwa 6 cm langen und mindestens 1 cm breiten Streifen schwTarzen, undurchsichtigen, nicht gl\u00e4nzenden, Papiers an den beiden Enden auf ein Blatt weifses Papier klebt2 und nun unter den nicht fixirten Theil einen Streifen farbigen, z. B. rothen, Papiers schiebt, so glaubt man nicht nur die Conturen des Streifens durch den undurchsichtigen Streifen hindurch zu sehen, sondern nimmt auch die betreffende Farbe, obschon ged\u00e4mpft, wahr, etwa so, wie wenn man den Streifen durch m\u00e4fsig dickes Florpapier betrachten w\u00fcrde. Wenn man mit dem Streifen Bewegungen ausf\u00fchrt, ihn vertical oder horizontal schnell verschiebt oder nach rechts oder nach links neigt, wird die F\u00e4rbung und Conturirung f\u00fcr viele Beobachter, zu denen auch der Verf. geh\u00f6rt, weit intensiver; ebenso\n1\tBei der Similisation sind unseres Erachtens vorwiegend inductive (fremde) Elemente f\u00fcr die Bildung der Vorstellung maafsgebend; bei der Assimilation (Deduction) nur die bereits in der Erfahrung gegebenen, denen dann die induetiven Elemente angepafst resp. untergeordnet werden. Bei der vollkommenen Induction (Similisation) sollen m\u00f6glichst alle \u00e4ufseren Elemente in der neuen Vorstellung zur Geltung kommen. Assimilation heilst ja eben fremde (\u00e4ufsere) Elemente der Norm der eigenen \u2014 somatischen oder psychischen \u2014 gleich machen.\n2\tDie horizontalen starken Linien der umstehenden Skizzen markiren die Breite des undurchsichtigen Streifens, die schw\u00e4cheren die wirklichen, die punktirten die im Urtheil angenommenen Conturen der (theil-weise verdeckten oder \u00fcberhaupt ohne Mittelst\u00fcck gegebenen) Figur.\n28*","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\n0. Rosenbach.\nwenn man das Object blinzelnd betrachtet oder \u2014 noch besser \u2014 die Augen bis auf einen schmalen Spalt schliefst1, so dafs nur die Gr\u00f6fse des Gesichtsfeldes, aber nicht die Sch\u00e4rfe des Sehens vermindert wird.\nMan mufs bei diesen Versuchen vor Allem eine geeignete Form der Beleuchtung herausfinden, da alle starken Reflexe des deckenden Streifens die Erscheinungen wesentlich st\u00f6ren. Am besten ist es, bei Tageslicht und vom Licht abgewandt zu untersuchen, wobei das Object m\u00f6glichst geneigt gehalten wird; eventuell ist auch leichte Beschattung, etwa durch die Hand, vortheilhaft.\n1\n2\t3\tb\ts\n6\nDie aus den sichtbaren St\u00fccken mit Wahrscheinlichkeit zu erg\u00e4nzenden (einfachsten) Conturen werden (unterhalb der Decke) reproducirt, welche Form (Kreis, Dreieck, Oval etc.) man dem verschieblichen Papierstreifen auch geben mag (Fig. 1, 3, 5, 6). Betrachtet man eine Figur, deren sichtbare Theile nach der Mitte der Decke hin convergiren, also anscheinend einen spitzen Winkel bilden, dessen Schenkel verdeckt sind, so wird der Winkel und zwar mit bogenf\u00f6rmigen Linien erg\u00e4nzt, ganz gleichg\u00fcltig, welche Conturen unter dem Papier verborgen sind (Fig. 2). Es ist deshalb am zweckm\u00e4fsigsten, nur die Endst\u00fccke einer Figur, ihre Pole, oberhalb und unterhalb der Decke zu befestigen und das Centrum wegzulassen, da eben immer die naturgem\u00e4fse, d. h. einfachste, Erg\u00e4nzung erfolgt. Entspricht das obere und untere St\u00fcck Theilen eines Rechteckes,\n1 Es mag hier auf den, meines Wissens noch nicht erw\u00e4hnten, Umstand hingewiesen werden, dafs bei der bekannten Z\u00f6LLNE\u00df\u2019sehen T\u00e4uschung (Convergenz oder Divergenz verticaler Parallelen, die von schr\u00e4gen Linien gekreuzt werden) die T\u00e4uschung verschwindet, wenn das Bild durch einen schmalen Spalt der Augenlider betrachtet wird. Da bei dieser Form der Betrachtung die Wirkung der Accomodation oder, richtiger, der accomo-dativen Pupillenverengerung nahezu v\u00f6llig ausgeschaltet ist \u2014 der Durchmesser der Lidspalte ist ja enger als der des kleinsten Pupillenumfanges \u2014, und da die Muskelimpulse nur noch f\u00fcr Verschiebung in horizontaler Richtung in Betracht kommen, so mufs doch wohl die Accomodation und sicher das Muskelgef\u00fchl hier eine grofse Rolle spielen. (Vergl. H. v. Helmholtz, Handbuch der physiologischen Optik, II. Aufl., S. 707 ff.)","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\n437\nso wird die Figur entsprechend den sichtbaren Conturen ann\u00e4hernd gleichm\u00e4fsig breit erg\u00e4nzt (Fig. 5). Haben die au\u00dferhalb befindlichen Enden verschieden breite Conturen, so wird der verdeckte Theil in seiner oberen H\u00e4lfte mehr in der Dimension des oberen, in seiner unteren in der Breite des unteren Streifens erg\u00e4nzt, doch so, dafs die Ber\u00fchrung etwa in der Mitte der Decke durch eine bogenf\u00f6rmige Linie vermittelt wird (Fig. 4). Einige Beobachter geben eine mehr convexe, die meisten eine concave Verbindungslinie an.\nDa unserer Erfahrung nach ein grofser Theil der befragten Personen \u2014 denen die beschriebenen Objecte ohne weiteren Fingerzeig nur mit der Aufforderung vorgelegt wurden, das auff\u00e4llig Erscheinende anzugeben \u2014 die Aufmerksamkeit hartn\u00e4ckig auf Nebendinge richtet und damit die F\u00e4higkeit der Beobachtung f\u00fcr den eigentlichen Zweck der Untersuchung vermindert, so empfiehlt es sich, die Versuchspersonen gleich von vornherein auf den Gegenstand der Pr\u00fcfung hinzuweisen, und zwar am besten durch die Frage, ob der schwarze Streifen durchsichtig sei. Diese Frage nun bejaht die Mehrzahl ohne Weiteres, zum Theil mit der Moti-virung, dafs man ja Conturen und F\u00e4rbung der Figur sehen k\u00f6nne. Ein Theil ist nicht so schnell mit dem Urtheil fertig und verlangt besondere Pr\u00fcfungsbedingungen, z. B. andere Stellung resp. Beschattung des Objectes, besonders gute Lichtverh\u00e4ltnisse; ein anderer Theil erblickt erst bei Bewegungen (seitlichen Neigungen) der Figur die Conturen und die Farbe, um beide dann best\u00e4ndig bei allen Variationen der Versuche festzuhalten. Manche sehen zwar sofort die Conturen mehr oder weniger deutlich, bemerken aber erst bei sehr schnellen Bewegungen des Streifens eine F\u00e4rbung, und zwar namentlich im Augenblicke der Stellungs\u00e4nderung. Eine Minderzahl von zweifellos urtheilsf\u00e4higen Personen verneint die Frage nach der Durchsichtigkeit zuerst mit Bestimmtheit und sieht Conturen oder Farbe erst, nachdem die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, die Farbenn\u00fcance bestimmt oder das Licht stark abgeblendet worden ist. Bei vielen Personen dagegen ist schon der erste Eindruck so lebhaft, dafs sie \u00fcberhaupt nur durch directe Beweise von der absoluten Undurchsichtigkeit des Streifens \u00fcberzeugt werden k\u00f6nnen.\nNimmt man statt des schwarzen Deckstreifens einen weifsen, so sind die Erscheinungen nach Angabe einiger Gepr\u00fcften weniger deutlich; die fr\u00fchere, aus Schwarz und Roth gebildete, dunklere N\u00fcance des Mittelst\u00fcckes macht einer helleren Farbe","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\n0. Rosenbach.\nPlatz; das Mittelst\u00fcck ist jetzt r\u00f6thlieh weifs und, wenn eine blaue Figur verwendet wird, bl\u00e4ulichweifs, oder man sieht nur einen undeutlichen blauweifsen resp. r\u00f6thlieh weifs en Schimmer. Ist der Deckstreifen blau, das Object gr\u00fcn, so erscheint der erg\u00e4nzte Theil f\u00fcr die Mehrzahl der Beobachter dunkelgr\u00fcn. Ein weifser Streifen unterhalb eines weifsen zeigt eine etwas hellere N\u00fcanee als das Weifse des deckenden Streifens; doch scheint auf der Farbe ein starker Flor zu liegen, der dem helleren Ton einen Stich ins Graue (Nebelhafte) giebt. Eine schwarze Figur unterhalb eines weifsen, auf weifsem Grunde befestigten, Streifens giebt eine Art von grauer Farbe, ein schwarzes Rechteck unterhalb eines schwarzen (auf weifsem Grunde) gesehen, giebt ein noch ges\u00e4ttigteres Schwarz, obwohl das betreffende Schwarz an sich schon ges\u00e4ttigt erscheint. Die horizontalen resp. verticalen Arme eines Kreuzes sind also weniger dunkel als die Mitte. Sehr bemerkenswerth ist, dafs die \u00fcberwiegende Zahl der Beobachter mit mir \u2014 die Farbe der ge sa mm ten senkrechten Figur f\u00fcr intensiver (schw\u00e4rzer) h\u00e4lt, als die der wagerechten, und dafs proportional der Verkleinerung der Lidspalte (Blinzeln), trotz deutlicher Wahrnehmung aller Elemente, der wagerechte Streifen immer heller (lichtgrau bis gelblich) wird, w\u00e4hrend der senkrechte um so schw\u00e4rzer zu werden scheint.\nWie sind nun die hier geschilderten Ergebnisse zu erkl\u00e4ren? Eine Irradiation \u2014 also ein Uebergreifen der Erregung auf die neutrale Zone zwischen zwei gleichartig erregten Gebieten der Netzhaut \u2014 ist auszuschliefsen, da es kaum m\u00f6glich scheint, dafs die Miterregung einen solchen Umfang, wie hier, erreichen und namentlich eine so eigenth\u00fcmliche Form der Wahrnehmung bewirken k\u00f6nne. Gegen die Annahme, dafs es sich um Nachbilder handele \u2014 diese Vermuthung dr\u00e4ngt sich auf, wenn die Interpolation des Mittelst\u00fcckes erst bei starken Bewegungen des verdeckten Streifens auftritt \u2014 spricht der Umstand, dafs von vielen Beobachtern auch die unbewegte Figur sofort und mit dem G r u n d Charakter ihrer Farbe (nicht mit dem Complement) erg\u00e4nzt wird. Dagegen spricht vor Allem aber auch die Erw\u00e4gung, dafs bei bestimmten Formen der Figur, z. B. bei Dreiecken, Ovalen, Kreisen, der erg\u00e4nzte mittlere Theil in keinem Falle ein Nachbild der beiden sichtbaren Theile (Endst\u00fccke) sein kann, da ja ein Nachbild ann\u00e4hernd denselben Umfang und \u00e4hnliche Form haben mufs, wie das prim\u00e4re Bild.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\n439\nNur bei rechteckigen resp. quadratischen Formen w\u00e4re eine solche Annahme m\u00f6glich. -\nDafs die Farbe des verdeckten Theils nicht gleich der der offen liegenden Theile ist, ist erkl\u00e4rlich, da ja zu gleicher Zeit der schwarz resp. anders gef\u00e4rbte Streifen gesehen wird ; es mnfs eine Mischfarbe ans Schwarz und der Farbe der betreffenden Figur, d. h. also eine weniger leuchtende Farbe entstehen. Dadurch wird ja auch der Anschein erweckt, dafs die Figur mit schwarzem oder bei Anwendung eines weifsen Streifens mit weifsem Flor verdeckt ist.\nDie hier mitgetheilten Beobachtungen geh\u00f6ren anscheinend in die Gruppe der reinen Urtheilst\u00e4uschungen, d. h. der irrth\u00fcmlichen Vorstellungen, die aus unbewufster und in den vorliegenden F\u00e4llen unzul\u00e4ssiger Analogisirung (oder Assi-milirung) von wichtigen Elementen der Empfindung, aus unvollkommener Verwerthung des empirisch, in Sinnesempfindungen, gegebenen Materials, aber nicht aus einer prim\u00e4ren F\u00e4lschung der sinnlichen Elemente der Vorstellung (durch abnorme Function der Sinne) resultiren. Nicht das f\u00fcr die Vorstellung verwendete Material an prim\u00e4ren Empfindungen (peripheren resp. infracorticalen Localzeichen) oder an Elementen der Wahrnehmung resp. Perception (an corticalen Symbolen) ist tr\u00fcgerisch, oder der Modus (Mechanismus) des Schliefsens, der Act der letzten einheitlichen Zusammenfassung der Wahrnehmungselemente selbst ist abnorm, sondern das empirische Material ist eben nur f\u00fcr den Umfang des Schlusses, d. h. die Totalit\u00e4t der Vorstellung, unzul\u00e4nglich. Die finale Synthese verwerthet zwar Material, das den realen Verh\u00e4ltnissen entspricht, aber das Material wird wegen vorzeitig eintretender Abstraction resp. durch Verzicht auf die Ergebnisse der Sinnlichkeit, durch vorschnellen Eintritt des letzten Processes, der Synthese, welche die Grundlage der Einheit der Wahrnehmung, d. h. eines Objectes, bildet, in ungen\u00fcgendem Umfange, also nur l\u00fcckenhaft verwerthet. Jede noch so logische (analogisirende oder deductive) Erg\u00e4nzung kann aber t\u00e4uschen, da der erg\u00e4nzte Theil gegen alle Erwartung oder cons\u00e9quente Folgerung disharmonisch sein kann. Die Logik der Thatsachen oder die Consequenz der Erfahrungen, das Fundament jedes \u00fcber die Unterlage der Sinnlichkeit hinaus gemachten","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\n0. Rosenbach.\nSchlusses hat ja zur Voraussetzung die Analogie oder Harmonie mit den gegebenen Pr\u00e4missen.\nDie Erkl\u00e4rung der hier geschilderten Vorg\u00e4nge ist demnach anscheinend einfach; denn es liegt auf der Hand, dafs die T\u00e4uschung des Urtheils nur durch eine allzu cons\u00e9quente Generalisirung der vorhandenen sicheren Elemente der Beobachtung hervorgerufen wird, durch den Schlufs, dafs das zu einem gegebenen Anfangs- und Endgliede geh\u00f6rende\u2019 nicht wahrnehmbare, Mittelst\u00fcck resp. jeder andere unsichtbare Theil eines als harmonische Einheit pr\u00e4sumirten Objectes die sichere Erg\u00e4nzung zu einer vollkommenen (consequenten) Individualit\u00e4t liefern, also analog, proportional resp. harmonisch beschaffen sein m\u00fcsse. So wird ja auch wohl durch einen psychischen Act der dem blinden Fleck entsprechende (nicht erregte) Bezirk des Gesichtsfeldes nach der wahrscheinlichsten Annahme (E. H. Weber) ausgef\u00fcllt, d. h. wenn ein weifser Bezirk auf einer schwarzen Fl\u00e4che verschwindet, erscheint die ganze Fl\u00e4che schwarz u. s. w. Der hier und bei unseren Versuchen gemachte Schlufs ist ebenso zwangsm\u00e4fsig wie der, dafs ein normaler menschlicher Kopf und zwei Beine, die hinter einer (nicht bis auf den Boden reichenden) Wand in entsprechender Stellung oder Bewegung sichtbar sind, einem normalen Menschen angeh\u00f6ren, den wir in der That in der Vorstellung vor uns sehen. Die Erg\u00e4nzung erfolgt streng logisch auf Grund der gegebenen Voraussetzungen, d. h. des anscheinend gen\u00fcgenden empirischen Materials und entsprechend unserer Erfahrung \u00fcber die menschliche Norm (das Mittel, den Typus), d. h. wir erg\u00e4nzen uns auf Grund einer vorhandenen Idee, einer idealen Form, zu Kopf und F\u00fcfsen ein entsprechendes Mittelst\u00fcck (eines Kindes, einer Frau oder eines Erwachsenen, eines Weifsen oder Negers) und sind, weil wir auf Grund der Erfahrung deduciren, stets verwundert, wenn der verdeckte Theil nach dem Sichtbarwerden unserer Voraussetzung (Voreingenommenheit) nicht entspricht, wenn ein Buckliger oder\nein Zwerg erscheint, wo wir eine Normalfigur oder einen Riesen erwarteten.\nSo t\u00e4uscht gerade der Schlufs ex analogia et harmonia, der Schlufs nach dem idealen Typus resp. dem mittleren Durchschnitt , nach der durch Erfahrung anscheinend garantirten Wahrscheinlichkeit oder Gesetzm\u00e4fsig-","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\n441\nkeit sehr h\u00e4ufig. So giebt, mit einem Worte, die Abstraction vom individuellen Falle und das Vertrauen auf die Logik der Thatsachen wegen der grofsen Reihe der m\u00f6glichen Ausnahmef\u00e4lle (der Abweichung vom ideal construirten Mittel, dem reinen Begriffe) am h\u00e4ufigsten Anlafs zum Irrthum. Die vernunftgem\u00e4fs verwerthete Empirie beweist, dafs in der Welt der Massen, der K\u00f6rper, der Individualit\u00e4ten, im Gegens\u00e4tze zu den Postulaten der reinen Logik (der eonsequenten Idee) oder der nach Analogieen schliefsenden Mathematik mannigfaltige (alogische oder dyslogische, d. h. unerwartet wirksame differente) Normen existiren, dafs eine Reihe von Elementen der Aufsenwelt, die f\u00fcr die Vorstellung eine anscheinend harmonische Totalit\u00e4t bildet, aus ungleichen Elementen besteht, dafs den anscheinend regelm\u00e4fsigen Beziehungen einzelner Glieder eine unbeschr\u00e4nkte oder wenigstens sehr grofse Anzahl von disproportionalen (in keiner regul\u00e4ren \u201eReihe\u201c unterzubringenden) Gliedern entsprechen kann.\nUm das oben angef\u00fchrte drastische Beispiel noch einmal hervorzuheben, so lehrt der Augenschein (die Empirie) gegen\u00fcber allen scheinbar zwingenden theoretischen Annahmen, dafs z. B. ein Kopf und zwei Beine, die hinter einer, den Rumpf deckenden, Wand als Theile eines Individuums erscheinen, weil sie sich (im Sinne einer K\u00f6rpereinheit) gleichm\u00e4fsig verschieben, sogar zwei verschiedenen Individuen angeh\u00f6ren k\u00f6nnen, von denen das eine in gebeugter Haltung das andere auf den Schultern tr\u00e4gt. Der Augenschein lehrt ferner, dafs zu einem schmalen Gesicht oder schmalen Schultern ein unf\u00f6rmig dicker Leib oder zu einem regelm\u00e4fsigen Gesicht ein mifsgestalteter K\u00f6rper geh\u00f6ren kann ; aber wir sind trotz aller solchen Erfahrungen geneigt oder gezwungen, falschen Schl\u00fcssen dieser Art immer wieder zum Opfer zu fallen, wie ja in der That die Illustrationen von drastischen F\u00e4llen solcher Verwechslungen ein st\u00e4ndiges Capitel unserer humoristischen Bl\u00e4tter bilden.\nNur eine genaue Ocularinspection oder, richtiger, der umfassendste Gebrauch der durch die Vernunft oder den Zweifel zweckm\u00e4fsig dirigirten, d. h. zur genauen empirischen Feststellung aller wesentlichen Theile ben\u00fctzten Sinne, (Induction im weitesten Sinne), kann hier Sicherheit geben, d. h. die generelle Erfahrung (Abstraction) durch die specielle, individualisirende, corrigiren.\nIm Anschl\u00fcsse an die oben gemachten Bemerkungen \u00fcber die Bedeutung von Pr\u00fcfungsmethoden, die zur Feststellung der Neigung oder F\u00e4higkeit zur Verallgemeinerung (Abstraction) dienen k\u00f6nnen, sei hier noch Folgendes hervorgehoben : Zu Aufschl\u00fcssen \u00fcber den individuellen Mechanismus der empirisch gewonnenen Vorstellungen liefert gutes Material","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\n0. Rosenbach.\ndie Feststellung der f\u00fcr das Verst\u00e4ndnifs beim Lesen noth-wendigen Elemente, die Pr\u00fcfung, ob f\u00fcr einen Leser die Aufnahme des ganzen Wortbildes zum Verst\u00e4ndnifs n\u00f6thig ist, oder ob bereits die ersten Buchstaben oder die erste Silbe gen\u00fcgen, ob und wie oft das Wortbild resp. der Begriff nur aus dem Zusammenh\u00e4nge erg\u00e4nzt wird, endlich ob der Nachsatz h\u00e4ufig allein aus dem Vorders\u00e4tze construirt wird u. s. w. Auch kann diese Untersuchung auf die Feststellung der Unterschiede in der Auffassung von verschiedenen Handschriften und Druckproben ausgedehnt werden. Es bedeutet ja einen betr\u00e4chtlichen Unterschied im Modus der Urtheilsbildung, ob Jemand m\u00fchsam buchstabirt resp. die Wortbilder im Ganzen aufnehmen mufs, oder ob er schon zum Wortbilde und zur Vorstellung gelangt, wenn er nur die ersten Buchstaben der Worte oder einige getrennte Buchstaben aufgenommen hat, ob Jemand den ganzen Satz Wort f\u00fcr Wort lesen mufs, oder ob er den Gedankengang schon v\u00f6llig versteht, wenn er nur einzelne charakteristische Worte, gleichsam Stichworte, aufnimmt, dagegen ganze Wortcomplexe und Zeilen, ohne deutliche Wahrnehmungsbilder zu formen, \u00fcberfliegt.\nEin sehr gutes Material f\u00fcr diese Pr\u00fcfung bieten die Stilbl\u00fcthen und erg\u00f6tzlichen Druckfehler, die in humoristischen Bl\u00e4ttern gesammelt werden. Wer gew\u00f6hnt ist die Zeilen zu \u00fcberfliegen, schnell zu verallgemeinern, den Inhalt des Satzes aus dem logisch gegebenen Material und m\u00f6glichst wenigen Elementen der Sinnlichkeit (unvollkommenen Gesichtsbildern) zu entnehmen, der wird viele dieser oft sehr drastischen Errata \u00fcbersehen, ja er mufs sich direct anstrengen und z. B. einen Satz wiederholt lesen, um sie herauszufinden. Umgekehrt wird einem guten Corrector, dem es auf die exacte Wiedergabe eines jeden Buchstabens oder dem eifrigen Stilistiker, dem es auf correcte Formirung der Wortcomplexe und richtige F\u00fcgung im Satze ankommt, keiner von diesen Fehlern entgehen; aber er wird bei weitem mehr Zeit brauchen, den blofsen Gedankeninhalt aufzunehmen, als der Leser, der nur von dem haupts\u00e4chlichen Inhalt m\u00f6glichst schnell Kenntnifs nehmen will, gleichsam den Kern schnell heraussch\u00e4lt, ohne sich mit den Eigenschaften der Schale zu befassen.\nNicht minder bedeutungsvoll sind solche Pr\u00fcfungen auf dem Gebiete des gesprochenen Wortes \\ da bekanntlich auch hier betr\u00e4chtliche Unterschiede vorhanden sind, indem viele Zuh\u00f6rer nur schwer und erst nach Anh\u00f6rung ganzer S\u00e4tze sich das Gesprochene klar machen, w\u00e4hrend andere\n1 Es sei vor Allem an die, auch heut noch bedeutsame, kleine Abhandlung Goethes: \u201eH\u00f6r-, Schreib- und Druckfehler\u201c erinnert, die sehr interessante Beispiele f\u00fcr das hier ber\u00fchrte Thema liefert.","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den TJrtheilst\u00e4uschungen.\n443\nzum Mifsvergn\u00fcgen des Redenden schon nach den ersten Worten den auszusprechenden Gedanken erg\u00e4nzen und dem Sprechenden ins Wort fallen. Ferner ist hier zu erw\u00e4hnen, dafs der Gebildete einen Fremden, der sich in der Landessprache sehr unvollkommen ausdr\u00fcckt, fast stets versteht, w\u00e4hrend der Ungebildete, der nicht im Stande ist, von den gewohnten Lautcomplexen zu abstrahiren, wegen der Unm\u00f6glichkeit einer Verst\u00e4ndigung nur zu leicht geneigt ist, den Fremden f\u00fcr eine Art von Idioten zu halten.\nII.\nWenn man unsere Erkl\u00e4rung f\u00fcr die Thatsache, dafs ein verdecktes St\u00fcck einer Figur im Sinne der wahrnehmbaren Theile erg\u00e4nzt wird, acceptirt, wenn man mit uns die Annahme macht, dafs die ideale Schlufsfolgerung, die die Sinneserregung abschliefsende begriffliche Synthese, stets in der Richtung der durch die ersten Sinneswahrnehmungen resp. ihre Vorstellung angedeuteten Wahrscheinlichkeit geschieht, dafs, mit einem Worte, das Rewufstsein durch Einflufs auf Willensacte nach dem Gesetze der formalen Consequenz, gleichsam selbstherrlich (ideal) schaltend, das Fehlende erg\u00e4nzt und die weitere Mitwirkung der Sinne vorzeitig ausschliefst, so sind mit dieser Annahme doch noch nicht alle Erscheinungen unserer Versuche erkl\u00e4rt, z. B. nicht die in Fig. 2 resp. 4 und 5 beschriebenen.\nWenn n\u00e4mlich zwei Linien von verschiedener Richtung, deren Schnittpunkte verdeckt sind, mit dem Blicke verbunden werden sollen, d. h. wenn die Verbindung zwar mit den Augen, aber ohne st\u00e4ndige Mitwirkung, ohne Impulse von Seiten der verdeckten realen Elemente, und unter dem Einfl\u00fcsse der generellen Vorstellung von der Verbindung der gegebenen Elemente (Bewegungsrichtung), erfolgen soll, so verfolgen wir nicht etwa die eine gerade Linie bis zum Schnittpunkte, um dann in die Richtung der anderen \u00fcberzugehen, wir erg\u00e4nzen nicht einen geometrischen Winkel, sondern gelangen, gleichsam im abgek\u00fcrzten Verfahren, vermittelst einer Drehbewegung der Augen von einer zu den anderen Linien, d. h. wir runden (etwa im Sinne der [mechanisch] bequemsten Erg\u00e4nzung) die Conturen des unsichtbaren St\u00fcckes ab, so dafs statt der Schenkel des Winkels zwei m\u00e4fsig gekr\u00fcmmte (verticale) Linien entstehen. Wie ist dieser Umstand zu erkl\u00e4ren? Unseres Erachtens gelangen wir zu dieser Form der Erg\u00e4nzung,","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\n0. Rosenbach.\nweil hier nicht etwa die Erfahrung, die Kenntnifs der Vorstellungen von den m\u00f6glichen oder wahrscheinlichen Formen der K\u00f6rper, uns leitet, sondern weil unter gewissen Verh\u00e4ltnissen, auf Grund fest normirter, in der Anlage oder durch die Form des Betriebes gegebener, physiologischer (oder psychologischer) Einrichtungen, die Elemente f\u00fcr die Vorstellung zwangsm\u00e4fsig resp. reflectorisch, gleichsam durch eine Leihe von Acten im Unbewufsten, geformt werden. Mit anderen Worten: Die Erg\u00e4nzung unsichtbarer Theile resp. L\u00fccken der Wahrnehmung wird, wenn nicht Willensacte oder vorgefafste Meinungen die ganze Bewegung dirigiren (Einflufs der Aufmerksamkeit), in der f\u00fcr die Function der Organe bequemsten oder vortheilhaftesten Form vorgenommen, d. h. in der Form des Betriebes, die im Laufe der Entwickelung zur k\u00f6rperlichen Norm geworden ist. Weil die abgerundete Bewegungslinie die betriebstechnisch resp. mechanisch am meisten geeignete, d. h. f\u00fcr den Zweck der Bewegung, die Erhaltung des Substrates und den Ablauf der Transformations-processe vollkommenste, ist \u2014 alle constructiv vollkommenen Systeme bringen die Wellenform resp. kreis- oder spiralf\u00f6rmige Form der Bewegung mehr oder weniger deutlich zum Ausdruck , so ist die abgerundete Bewegung auch die charakteristische resp. im Durchschnitt am h\u00e4ufigsten ausgef\u00fchrte Bewegung f\u00fcr die Organe geworden. Sie ist es sicher, wenn die Bewegungen ganz im Unbewufsten verlaufen ; sie ist es aber auch, wenn der bewufste Willen ein Ziel, aber nicht jeden einzelnen Abschnitt, jedes Element des Weges, bestimmt.\nEs mag dahingestellt sein, ob der abgerundete Weg \u2014 dessen einzelne Elemente zu einem Bewegungs- oder Perceptionscentrum m\u00f6glichst gleiche r\u00e4umliche und dynamische Beziehungen darbieten \u2014 aus rein mechanischen oder aus physiologischen Gr\u00fcnden der Synergie resultirt, weil die Kreis- resp. Bogenlinie am bequemsten und k\u00fcrzesten die Anforderungen an die Exactheit der Function erf\u00fcllt resp. weil sie die wenigsten Unlust- und die meisten Lustgef\u00fchle erregt. Jedenfalls ist die Einrichtung, vom Standpunkte der Betriehstechnik betrachtet, \u00e4ufserst zweckm\u00e4fsig. So werden unangenehme Spannungen am besten vermieden oder vermindert; das mittlere Gleichgewicht wird am einfachsten und besten erhalten, und pl\u00f6tzliche Ersch\u00fctterungen werden ferngehalten, w\u00e4hrend die von der Norm (dem Mechanismus) abweichenden, nicht in Bogenform erfolgenden, Bewegungen das Gleichgewicht der Kreis-processe und der Gewebs- und Organspannungen st\u00f6ren und dadurch direct","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\n445\noder indirect Unlustgef\u00fchle resp. Gef\u00fchle der Bel\u00e4stigung oder Erm\u00fcdung und directe Betriebsst\u00f6rungen hervorrufen.\nWelche Vorstellung man sich auch von der Bedeutung und dem Wesen der feinsten, dunklen oder bewufsten, Organempfindungen machen mag, \u2014 die ja in erster Linie die Regulation aller Bewegungen bewirken \u2014 es ist zweifellos, dafs alles Aperiodische, Erzwungene, Unerwartete, der pl\u00f6tzliche Umschwung der Bewegung, der br\u00fcske Uebergang aus einer Richtung in die andere, der die Bogenlinie im Verlaufe der Bewegungen immer mehr oder weniger spitzwinklig macht, bei normalen Individuen das Wohlbehagen an der Th\u00e4tigkeit und die regelm\u00e4fsige Bewegung der Organe st\u00f6rt, deren normale Function bei rein automatischer Th\u00e4tigkeit in der charakteristischen geschwungenen Linie zum Ausdruck kommt.\nDas fundamentale Postulat, ein Organ bei m\u00f6glichster Schnelligkeit der Bewegung mit gr\u00f6fster Beweglichkeit auszustatten, wird daher durch ein Kugelgelenk am besten erf\u00fcllt; denn da das Organ unz\u00e4hlige solcher Bewegungen auszuf\u00fchren hat, so wird dort, wo es sich nicht um cons\u00e9quente Verfolgung der (vom Zweck- oder Zielbewufstsein normirten) Elemente, sondern nur um Erreichung eines gegebenen Zieles, d. h. um ungef\u00e4hre Durchmessung einer durch zwei Punkte oder Richtungen bestimmten Entfernung handelt, der Ueberdehnung resp. der \u00fcber-m\u00e4fsigen Beanspruchung der Gewebe durch zu starke einseitige Belastung wirksam vorgebeugt, wenn \u00fcberall nach M\u00f6glichkeit der bequemste oder (mechanisch) vortheilhafteste, obgleich nicht k\u00fcrzeste, Weg, die Bogen- resp. Kreislinie, ben\u00fctzt wird, vermittelst deren die verschiedensten Richtungen ganz allm\u00e4hlich in einander \u00fcbergef\u00fchrt werden.\nF\u00fcr diese Auffassung sprechen besonders gewisse, theilweise schon gen\u00fcgend studirte, Erscheinungen am optischen Apparate : Wenn wir eine saggital verlaufende Senkrechte, vom proximalen zum distalen Ende unter sofortiger Umkehrung der Blickrichtung betrachten oder die Schenkel eines sehr spitzen Winkels schnell mit den Augen verfolgen, so ist die Bewegung der Augen betr\u00e4chtlich schwieriger, oder, richtiger, wir haben eine viel deutlichere Empfindung von der Bewegung oder den Innervationsacten, als wenn wir einen stumpfen oder einen mit grofsem Bogen wohl abgerundeten Winkel1 betrachten, d. h. die Richtungs\u00e4nderung nur vermittelst der gew\u00f6hnlichen lateralen Rollbewegung in einer gewissen Breite ausf\u00fchren. Im ersten Falle (des spitzen Winkels) m\u00fcssen wir mit einer besonders intensiven, weil pl\u00f6tzlichen, Innervationsbewegung, gleichsam mit einem Rucke, die Augen vom Scheitelpunkte des Winkels wieder zur\u00fcckf\u00fchren, die Bewegung pl\u00f6tzlich hemmen und in die entgegengesetzte Bewegung \u00fcberf\u00fchren, w\u00e4hrend im zweiten uns diese Hemmung kaum zum Bewufstsein kommt, da wir die Bewegung ganz allm\u00e4hlich vermittelst einer Rollbewegung umkehren. Im ersten Falle wird\n1 Man vergleiche auch den grofsen Unterschied in der Empfindung bei schneller Durchmessung der Schenkel eines stumpfen Winkels, dessen Scheitel uns zu- oder abgekehrt oder nach rechts resp. links gerichtet ist.","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\n0. Rosenbach.\ngleichsam die Winkelbeschleunigung der Augen pl\u00f6tzlich in die umgekehrte verwandelt, im anderen dagegen wird die Muskel- resp. Gewebsspannung allm\u00e4hlich, ohne zu starke Zerrung, ge\u00e4ndert.\nDie Neigung, die Kreisrichtung (resp. abgerundete Bewegung) allen anderen vorzuziehen, wenn nicht ein constanter und m\u00e4chtiger Impuls der Aufsenwelt, also eine reflectorisch wirkende Ursache, zu anderen Formen der Bewegung zwingt, oder das weitschauende Bewufstsein aus Zweckm\u00e4fsig-keitsgr\u00fcnden die Bestimmung des Weges zum Ziele in allen Elementen \u00fcbernimmt, d. h. eine bestimmte Dichtung erg\u00e4nzt, die nicht immer die k\u00fcrzeste oder angenehmste ist oder den geringsten Kraftaufwand erfordert, \u2014 diese Neigung zur Abrundung ist also unseres Erachtens in der physiologischen Einrichtung der Apparate, namentlich des Sehapparates, begr\u00fcndet, gleichsam die ad\u00e4quate Bewegungsform, und die oben geschilderte Form der Erg\u00e4nzung des verdeckten Mittelst\u00fcckes eines resp. zweier Paare sich schneidender Linien, d. h. die Abrundung statt der Bildung eines Winkels ist darum gegen\u00fcber der similisirend-deductiven die naturgem\u00e4fse resp. physiologische, in der Anlage der Sinnesorgane gegebene. Sie entspricht den specifischen (mechanischen) Einrichtungen die in der Automatie ihren Ausdruck finden.\nEs erscheint opportun, hier gleich einem Einwande zu begegnen, der gegen die Richtigkeit der im Vorstehenden gegebenen Deutung erhoben werden kann. Es k\u00f6nnte in der That bei fl\u00fcchtiger Betrachtung der geschilderten Vorg\u00e4nge \u00fcberfl\u00fcssig erscheinen, zwei, fundamental verschiedene, Modi der Urtheilst\u00e4uschung anzunehmen, da ja anscheinend f\u00fcr manche Verh\u00e4ltnisse die zweite Erkl\u00e4rung auch die Erscheinungen des ersten Falles umfafst. Wenn man n\u00e4mlich annimmt, dafs das Auge im Allgemeinen, d. h. innerhalb gewisser, durch die Anlage gesetzter, Beschr\u00e4nkungen, consequent den einmal eingeschlagenen Weg der Betrachtung inneh\u00e4lt, sobald ihm die Directive durch den Willen oder durch \u00e4ufsere Impulse gegeben ist, so inufs nat\u00fcrlich auch ohne weitere Intervention des Willens, eine Reihe von regelm\u00e4fsigen Figuren oder Linien entsprechend richtig erg\u00e4nzt ^werden (d. h. wenn das Anfangsglied zwei rechte Winkel zeigt, ein volles Rechteck, wenn es parallele Linien zeigt, eine parallele Fortsetzung u. s. w.), weil die Augen f\u00fcr eine gewisse Strecke sich gleichf\u00f6rmig be-","page":446},{"file":"p0447.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen.\n447\nwegen, d. h. eben automatisch, wie ein Wagen den Schienen, den gegebenen Conturen folgen, solange sich dieser regel-m\u00e4fsigen Bewegung keine (\u00e4ufseren oder inneren) Widerst\u00e4nde bieten. Diese Anschauung ist zweifellos berechtigt, aber sie erkl\u00e4rt eben nicht alle m\u00f6glichen F\u00e4lle; denn unerkl\u00e4rlich bleibt bei dieser Annahme der Umstand, dafs z. B. auch Winkel, d. h. stark divergente oder convergente Richtungen durch Automatic gestaltet werden, und dafs ein unregelm\u00e4fsiges Dreieck resp. ein Oval aus den Anfangsst\u00fccken automatisch erg\u00e4nzt wird, ein Umstand, den wir schon vorher als Beweis daf\u00fcr angef\u00fchrt haben, dafs es sich nicht um Nachbilder handeln k\u00f6nne. Hier ist also die deductive Vorstellung der completen Figur so m\u00e4chtig, dafs die Erg\u00e4nzung der nicht empirisch feststellbaren Elemente auf Grund der Assimilation (s. Anmerk. 1) erfolgt. Auch das Factum, dafs viele Beobachter erst auf die Erscheinung aufmerksam gemacht werden m\u00fcssen und erst bei lebhafter Bewegung oder Verschiebung der verdeckten Figuren \u2014 wenn die Augenrichtung durch den Willen, d. h. unter dem Einfl\u00fcsse der Aufmerksamkeit, bestimmt wird \u2014 die Erg\u00e4nzung in der Vorstellung vornehmen \u2014, auch dieses Factum spricht, abgesehen von den bereits im Laufe der Er\u00f6rterung angef\u00fchrten Gr\u00fcnden, f\u00fcr die von uns vertretene Auffassung, dafs es sich einmal um eine willk\u00fcrliche Interpolation (inductive oder deductive Autosuggestion resp. Similisirung oder Assimilation), das andere Mal um eine, aus Elementen der eigenen Sinnlichkeit (nicht aus Elementen der Aufsenwelt) hervorgehende Erregung der Vorstellung, um einen, durch die Sinne ausge\u00fcbten, Zwang, gleichsam um eine T\u00e4uschung des Urtheils durch die Automatic der Sinne handelt.\nFassen wir die bisherigen Ausf\u00fchrungen zusammen, so kommen wir zu folgenden Ergebnissen : Es handelt sich in den Beobachtungen, von denen wir ausgingen, um zwei, einander scheinbar widersprechende, Formen der IJrtheilst\u00e4uschung, da wir einmal das Mittelst\u00fcck einer Figur, deren Endst\u00fccke vorhanden sind, ganz consequent in der durch die wahrnehmbaren Theile markirten Richtung, also regul\u00e4r, erg\u00e4nzen, w\u00e4hrend im zweiten Falle auf Consequenz verzichtet wird, da ein paar gerade Linien nicht bis zum Schnittpunkte verfolgt, sondern die Vorstellung einer abgerundeten Uebergangslinie resp. (Fig. 4) eine","page":447},{"file":"p0448.txt","language":"de","ocr_de":"448\n0. Rosenbach.\nflaschenf\u00f6rmige Figur gebildet wird. Im ersten Falle negiren wir willk\u00fcrlich im Urtheil die Wahrscheinlichkeit einer mannigfaltigen Gestaltung der Mittelglieder, d. h. wir verkennen im Zwange der Consequenz der einmal auf Grund der Wahrscheinlichkeit gebildeten Vorstellung die Postulate der Aufsenwelt mit ihren Mannigfaltigkeiten resp. Individualit\u00e4ten ; im zweiten Falle negiren wir die Wahrscheinlichkeit, dafs zwei als gerade erkannte Linien sich auch weiterhin als gerade erhalten, d. h. einander in Form gerader Linien schneiden werden. Wir halten die Vorstellung eines Zusammenhanges fest, aber abstrahiren von den Schnittpunkten resp. der Winkelform und runden die Verbindungslinie gegen die Erfahrung, aber in bequemer Weise, ab.\nWir glauben somit drei Ursachen der Urtheilst\u00e4uschung unterscheiden zu m\u00fcssen, n\u00e4mlich : 1. die inductive, 2. die deductive Autosuggestion, 3. den Einflufs der physiologischen Automatie des Sinnesorgans. Die dritte Form ist als T \u00e4 u s c h u n g des Urtheils durch das Sinnesorgan zu bezeichnen.\n{Eingegangen am 4. August 1902.)","page":448}],"identifier":"lit35895","issued":"1902","language":"de","pages":"434-448","startpages":"434","title":"Zur Lehre von den Urtheilst\u00e4uschungen","type":"Journal Article","volume":"29"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:02:29.082680+00:00"}