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{"created":"2022-01-31T15:11:18.430078+00:00","id":"lit35916","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Guttmann, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 51: 159-164","fulltext":[{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"159\n(Aus der physikalischen und sinnesphysiologischen Abteilung des Physiologischen Instituts der Universit\u00e4t Berlin.)\nDie Lokalisation des Farbenkontrastes beim\nanomalen Trichromaten.\nVon\nDr. Alfred Guttmann.\nBekanntlich erscheint im Symptomenkreise der anomalen Trichromaten, der diesen Typus als farbenschwach charakterisiert, ein Symptom, das scheinbar ein Plus bedeutet : Der Farbenkontrast ist gegen den des Normalen gesteigert. Infolgedessen wird die sonstige Minderwertigkeit des Anomalen farbigen Reizen gegen\u00fcber verbessert: befindet sich in unmittelbarer N\u00e4he einer farbigen und als solche vom Anomalen erkennbaren Fl\u00e4che eine andersfarbige, aber verm\u00f6ge ihrer \u00fcbrigen Qualit\u00e4ten f\u00fcr ihn unterschwellige Farbe, z. B. ein unges\u00e4ttigtes, also f\u00fcr grau gehaltenes Gr\u00fcn neben Rot, so wird dies, durch eben jenen Farbenkontrast gesteigert, \u00fcber die Schwelle gehoben und somit als gr\u00fcn erkannt. Diese \u00dcberemphndlichkeit des Anomalen dem Kontraste gegen\u00fcber stellt seine Leistung also gelegentlich der des Normalen gleich, insofern, als er nun die zuerst unerkannte Farbe neben ihrer kontrastierenden Umgebung richtig erkennt. Indessen m\u00fcssen dazu die beiden einander kontrastiv erregenden Farben so beschaffen sein, dafs sie in der Tat entgegengesetzter Art sind wie Rot-und Gr\u00fcnnuancen. Anderenfalls verwirrt die Kontraststeigerung das Bild zuungunsten des Anomalen: wenn z. B. ein wirkliches Grau in der Umgebung von Rot sichtbar ist, so erscheint es dem Anomalen gr\u00fcn \u2014 ja ein mattes Rosa neben einem kr\u00e4ftigen Rot wird durch den gesteigerten Kontrast des Anomalen sogar in Gr\u00fcn verf\u00e4lscht. Genaueres habe ich hier\u00fcber in meinen \u201eUntersuchungen \u00fcber Farbenschw\u00e4che\u201c {diese Zeitschrift 1908, 43, Kap. V) ver\u00f6ffentlicht.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nAlfred Guttmann.\nVon grofsem theoretischen Wert erschien es nun, zu wissen, ob diese Steigerung des Kontrastes in der Netzhaut oder mehr zentral erfolgte. Ich hatte auf Grund zahlreicher Beobachtungen, die sich nicht mit der Annahme einer entweder im Sinnesorgan oder im Zentrum gelegenen St\u00f6rung vereinigen liefsen, und unter Zuziehung einer Reihe von Analogien auf dem Gebiet anderer Sinnesempfindungen damals die Vermutung ge\u00e4ufsert, dafs sich die eigenartige Erscheinung der Farbenschw\u00e4che vielleicht dadurch erkl\u00e4ren liefse, dafs man erstens einen Defekt in der Peripherie (Netzhaut), zweitens eine Leitungsst\u00f6rung auf der zentripetalen Bahn ann\u00e4hme. Die Beweise hierf\u00fcr finden sich in genannter Arbeit (Kap. XII, S.271 bis 290, insbesondere S. 284),\nEs gelang mir dann in Weiterf\u00fchrung dahin zielender Arbeiten eine'Versuchsanordnung zu finden, bei der ein Farbenkontrast unter Umgehung der Wirkung der in der Netzhaut kontrastierenden Farben hergestellt wurde.\nBekanntlich werden stereoskopische Bilder im allgemeinen so-hergestellt, dafs man zwei um die Distanz der menschlichen Pupillen abstehende Photographien macht und sie dann mittels einfacher Optik, die eine parallele Augenstellung im Gefolge hat und die Akkommodation erm\u00f6glicht, beobachtet. Eine andere ungew\u00f6hnlichere Methode ist diese: bei paralleler Augenstellung dem einen Auge nur einen Teil des Bildes, dem anderen \u2014 in der richtigen Entfernung \u2014 das \u00fcbrige darzubieten. Stellt man also in den stereoskopischen Betrachtungsapparat einen Karton mit einer solchen Zeichnung, so sieht man das Bild eines Zifferblattes ; die Uhr zeigt dann s/412.\nAbbildung 1.\nDiese Vereinigung der beiden Einzelbilder aus den Teilbildem, die jedes einzelne Auge empf\u00e4ngt, benutzte ich f\u00fcr meine Kontrastversuche. Nur mufste ich vorher lernen, die Augenachsen parallel zu stellen und doch zugleich auf die N\u00e4he zu akkommodieren ;","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lokalisation des Farbenkontrastes beim anomalen Trichromaten. 101\u2019\ndann konnten die Linsenkombinationen vermieden werden, die sich chromatisch st\u00f6rend dazwischengeschoben h\u00e4tten. Nachdem ich einige Wochen ge\u00fcbt hatte, solche und \u00e4hnliche \u201eVexierbilder\u201c auch ohne Betrachtungsapparat stereoskopisch zu sehen, war ich f\u00fcr die Farbenversuche gen\u00fcgend trainiert. Sehr erleichtert wurde dies Vereinigen der beiden Bilder, wenn man vor den Augen zwei parallel gerichtete, um Pupillendistanz voneinander entfernte, innen schwarze Metallr\u00f6hren aufstellte, durch die die Versuchsperson hindurchsah. Zuerst stellte ich nun mittels Pigmentfarben auf dem Farbenkreisel eine farbige Fl\u00e4che her, die f\u00fcr das linke Auge sichtbar war. Vor der R\u00f6hre wurde ein Streifen aus Metall angebracht, der eine schmale, \u00e4quatorartige Zone des Gesichtsfeldes verdeckte; an der entsprechenden Stelle \u2014 und nur an dieser \u2014 wurde dem rechten Auge eine andere Farbe dargeboten,\nw\u00e4hrend der \u00fcbrige (dem linken Auge sichtbare) Teil f\u00fcr dieses\n\u2022 \u2022\nAuge durch Uberkleben der Rohrm\u00fcndung verdeckt war. Bei richtiger Einstellung der Augen decken sich die Bilder der beiden Kreise vollst\u00e4ndig, und zwar so, dafs die Zone, die vom rechten Auge gesehen wird, quer durch den dem linken Auge sichtbaren Farbenkreis l\u00e4uft.\n. Es zeigte sich bei dieser Versuchsanordnung sehr bald, dafs durch die binokulare Farbenmischung die Leuchtkraft des farbigen Kreises sehr stark herabgesetzt wurde : so wurde \u00fcberhaupt kein Kontrast erzeugt. Man konnte annehmen, dafs die kontrasterregende Farbe so weit unter die Schwelle des Anomalen gesunken war, dafs das Zustandekommen des Kontrastes entweder ganz aufgehoben, oder mindestens so weit gemindert war, dafs das Resultat nicht einwandfrei wurde. Analog fr\u00fcheren Erfahrungen (vgl. a. a. 0.) konnte zudem angenommen werden, dafs sich die Anomalen hinsichtlich ihrer Farbenempfindung Pigmentfarben gegen\u00fcber anders verhalten d\u00fcrften als Spektralfarben gegen\u00fcber. Aus diesen beiden Gr\u00fcnden schritt ich wiederum zur Benutzung der SAMOJLOEFschen Projektion (vgl. auch folgende Arbeit). Auf einen weifsen Karton projizierte ich ein m\u00f6glichst leuchtendes rotes Feld, das durch die bereits erw\u00e4hnten R\u00f6hren sichtbar war ; aus der Kreisfl\u00e4che der einen war, wie oben beschrieben, ein Streifen ausgespart, durch die andere R\u00f6hre war der dem Streifen korrespondierende Teil sichtbar. So wurde von der einen Seite dem linken Auge ein leuchtendes Rot geboten, dem rechten Auge ein (m\u00f6glichst helligkeitsgleiches) graues Pigment. Dieser im","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nAlfred Guttmann.\nGesamtbild quer durch das Rot laufende Streifen sah nun nicht gr\u00fcn, sondern grau aus. Dies ist das Wesentliche f\u00fcr unser Problem! Jedes Grau m\u00fcfste n\u00e4mlich, falls die Kontrasterh\u00f6hung im Zentrum stattfindet, gr\u00fcn erscheinen, wie ja dem Anomalen jedes monokular (oder simultan binokular) gesehene Grau in der direkten Nachbarschaft von Rot als Gr\u00fcn erscheint. Bei dieser Darbietung, wo die kontrasterregende . und die kontrastleidende Farbe aber jedem Auge gesondert geboten wurde und die Vereinigung beider Bilder erst hinter dem Chiasma erfolgte, zeigte sich keinerlei Steigerung des Farbkontrastes. Die Farben erschienen dem Anomalen ebenso wie dem Normalen, mit dem (wie immer) in Parallelversuchen gearbeitet wurde \\ in ihrem wirklichen Wert, also als graue Querzone auf rotem, kreisf\u00f6rmigen Grunde. Nun wurde die Versuchsanordnung in dem Sinne variiert, dafs eine quantitative Messung entsprechend meinen fr\u00fcheren Kontrastversuchen erfolgen konnte: Auf dem Kreisel stellte ich zun\u00e4chst aus einer Mischung von Schwarz und Weifs Grau her. Dieses erschien bei der binokularen Darbietung ebensowenig wie vorher innerhalb des Rot gr\u00fcn. Nun setzte ich auf dem Farbenkreisel Gr\u00fcn zu und steigerte dies so lange, bis der Normale angab: \u201eGr\u00fcner \u00c4quator auf rotem Felde\u201c. Dies geschah bei 40 Grad Zusatz. F\u00fcr den Anomalen dagegen konnte ich bis auf 360 Grad dasselbe Gr\u00fcn geben, ohne dafs er es als Gr\u00fcn erkannte. Es blieb f\u00fcr ihn vielmehr dauernd \u201egrau auf rotem Grunde\u201c \u2014 eine f\u00fcr den Anomalen subjektiv aufser-ordentlich auffallende Tatsache, da ihm dieses Farbenerlebnis sonst \u00fcberhaupt nicht bekannt war.\nAls experimentum crucis sollte nun ein und dieselbe Farbe monokular neben Rot dargeboten werden, und durch binokulare Mischung aufserdem zugleich zentral erscheinen. Zu diesem .Zwecke wurde der Versuch nun folgendermafsen modifiziert:\nR.\tR.\nAbbildung 2.\n1 Die zwei normalen Versuchspersonen waren Prof. Piper und Frl. Alice Guttmann, die drei Anomalen Prof. Hoffmann, Dr. Walter Guttmann und \u25a0Verfasser.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lokalisation des Farbenkontrastes beim anomalen Trichromaten. 163\nDas Doppelrohr wurde so gestellt, dafs im linken Gesichtsfeld neben dem Rot noch ein kleines Segment des Farbenkreisels sichtbar war, so dafs das linke Auge das projizierte Rot und daneben die Kreiselfarbe, das rechte nur die Kreiselfarbe sah.\nGibt man jetzt auf den Kreisel ein Graugr\u00fcn, und bringt die Bilder zur Vereinigung, so entsteht dieses Bild: *\nDann sieht der Normale I als Rot, II und III als Graugr\u00fcn. Dem Anomalen erscheint I rot, II gr\u00fcn III, grau. Man sieht also, wie ein und dieselbe Farbe, n\u00e4mlich II=III, in der Netzhaut neben Rot gestellt, f\u00fcr den Anomalen gleichzeitig anders aussieht, als wenn es erst im Zentrum neben Rot tritt.\nAbbildung 3.\nWenn ich statt Grau auf dem Farbenkreisel ein sattes, gelbliches Gr\u00fcn darbiete, so erscheint bei abwechselnd mit beiden Augen vorgenommener Betrachtung f\u00fcr den Normalen I wiederum als Rot, II und III als sattes gelbliches Gr\u00fcn. F\u00fcr den Anomalen aber erscheint I als Rot, II als sattes Gr\u00fcn, III hingegen als Gelbgrau. Wenn beide Bilder dann vereinigt werden, tritt keinerlei Ver\u00e4nderung ein, also ruft auch hier das im Zentrum neben Rot gestellte Gr\u00fcn beim Anomalen keine Spur einer spezifischen Gr\u00fcnempfindung hervor, in der Netzhaut des linken Auges aber wohl.\nDamit ist der Beweis geliefert, dafs die Steigerung des Kontraste beim Anomalen ausschliefslich auf der Netzhaut zustande kommt, ja mehr als das, dafs auch das Zustandekommen der Gr\u00fcnempfindung nur auf demW ege gleichzeitiger Kontrasterregung der Netzhaut erfolgen kann.\nF\u00fcr eine Nachpr\u00fcfung dieser Versuche von anderer Seite i mache ich darauf aufmerksam, dafs es von gr\u00f6fster Wichtigkeit ist, die induzierende Farbe Rot sehr hell und kr\u00e4ftig und die larben-kreiselmischung ann\u00e4hernd hell\u00e4quivalent herzustellen. Das erstere ist n\u00f6tig, damit der Simultankontrast dem einen Auge gen\u00fcgend deutlich wird, das andere, damit nicht Helligkeitsdifferenzen von dem hierf\u00fcr bekanntlich \u00fcberempfindlichen Anomalen f\u00fcr Farbtonunterschiede gehalten werden (vgl. a. a. 0. Kap. VI). So differierte der Anomale H. an einem Tage von dem Anomalen G., indem er alles Graue \u201egr\u00fcnlich\u201c nannte und somit nat\u00fcrlich auch den \u00c4quator als \u201egr\u00fcnlich\u201c bezeichnete. Nachdem diese Differenz der beiden Anomalen sich in 50 Versuchen als konstant erwiesen","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nAlfred Guttmann.\nhatte, brach ich ab und wiederholte dieselben Versuche tags darauf ; da aber stimmten die Bezeichnungen der beiden Anomalen v\u00f6llig \u00fcberein. Der Anomale H. ging sogar so weit, das neben Rot gegebene, nur durch den gesteigerten Kontrast gr\u00fcn erscheinende Grau dort, wo es dieselbe Netzhaut reizte, f\u00fcr ein besseres Gr\u00fcn zu erkl\u00e4ren als ein in einem anderen Versuche gesondert dargebotenes wirkliches Gr\u00fcn. Auch dieser Versuch zeigt, dafs, wenn \u00fcberhaupt ein Rot die Netzhaut eines Anomalen trifft, eben alles Nichtrote resp. Nichtblaue gr\u00fcn erscheint, ganz gleichg\u00fcltig, ob es gr\u00fcn oder nicht-gr\u00fcn ist, w\u00e4hrend wirkliches Gr\u00fcn isoliert nicht erkannt wird.\nGr\u00fcnes Licht l\u00f6st in der Netzhaut des Anomalen keine Farbempfindung aus Die Empfindung des Gr\u00fcn im Zentrum entsteht beim Anomalen erst, wenn zugleich mit dem Gr\u00fcn ein anderer Farbreiz die Netzhaut trifft und dadurch erst f\u00fcr Gr\u00fcn empfindlich macht. Wie man sich das nun vorstellen will, ob photochemisch als Sensibilisierung oder als Dissoziation, ist am Ende gleich: die Tatsache, dafs der Farbenkontrast des Anomalen nicht nur nicht gesteigert, sondern sogar unzureichend ist, um ein durch binokulare Darbietung mit Ausschaltung der Netzhaut dem Zentrum dargebotenes Gr\u00fcn innerhalb einer roten Umgebung zu erkennen, beweist, dafs die Steigerung des Farbenkon-trastes des Anomalen in der Netzhaut liegt. Dafs die Netzhaut mittels eines gleichzeitigen, die Umgebung der gereizten Stelle treffenden, \u00fcberschwelligen Farbreizes unterschwellige Farben erkennt, ist an sich eine sehr merkw\u00fcrdige Tatsache. Tschermak sieht allerdings im Kontrast eine biologisch wichtige Verbesserung der (von Helmholtz besonders betonten) Minderwertigkeit des optischen Apparates des Auges. Beim Anomalen wird zwar die rudiment\u00e4re Leistung gelegentlich durch den Kontrast zur Norm gesteigert ; indessen ist die Hyper: kompensation, wie vorher ausgef\u00fchrt, wieder so st\u00f6rend, dafs oft neue Fehlurteile entstehen. Der obige Versuch (S. 163, Absatz 3) zeigt ja evident, wie dasselbe Graugr\u00fcn einmal \u201euntersch\u00e4tzt\u201c, d. h. f\u00fcr Grau gehalten wird, einmal \u201e\u00fcbersch\u00e4tzt\u201c, d. h. als gr\u00fcn verkannt wird. Teleologisch kann man also dies Symptom nicht eindeutig verwerten. Von Bedeutung ist aber die Best\u00e4ti-gung, dafs jener Effekt ausschliefslich im Sinnesorgan zustande kommt.","page":164}],"identifier":"lit35916","issued":"1920","language":"de","pages":"159-164","startpages":"159","title":"Die Lokalisation des Farbenkontrastes beim anomalen Trichromaten","type":"Journal Article","volume":"51"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:11:18.430083+00:00"}