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{"created":"2022-01-31T16:47:22.740534+00:00","id":"lit35928","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Dittler, Rudolf","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 52: 274-310","fulltext":[{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus dem physiologischen Institut der Universit\u00e4t Leipzig.)\n\u2022 \u00ab\nUber die Rauinfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl der Augen\nund vom Labyrinth.\nVon\nRudolf Dittlee.\nYersuchsplan.\nNach der bekannten Anschauung E. Hekings ist die mit der Verlegung der Blickrichtung verkn\u00fcpfte \u00c4nderung der Raum-werte unserer Netzhaut, die dahin wirkt, dafs die Aufsendinge trotz der Verschiebung ihrer Netzhautbilder ihren scheinbaren Ort nicht \u00e4ndern, nicht an ein durch die Sensibilit\u00e4t der Augenmuskeln vermitteltes Lagegef\u00fchl der Augen, sondern ausschliefslich an die bewufste Verlegung unserer Aufmerksamkeit auf einen seiner Lage nach zuvor bestimmten Punkt des Sehraumes gebunden. Unter den Beweisen f\u00fcr diese Auffassung, die f\u00fcr die Theorie der Augenbewegungen und der optischen Lokalisation von gr\u00f6fster Tragweite ist, pflegt u. a. die Tatsache angef\u00fchrt zu werden, dafs unbewufst verlaufende, unwillk\u00fcrliche Augenbewegungen nicht von entsprechenden Raumwert\u00e4nderungen begleitet sind. Als Beispiel f\u00fcr eine solche Augenbewegung haben nach Hering die nystagmischen Bewegungen zu gelten, wie sie etwa nach Rotation des K\u00f6rpers um seine L\u00e4ngsachse auftreten und zu einer der Verschiebung der Netzhautbilder entsprechenden Scheinbewegung der Aufsendinge f\u00fchren, w\u00e4hrend umgekehrt ein auf der Netzhaut festliegendes dauerhaftes Nachbild trotz den Augenbewre-gungen seine scheinbare Lage nicht \u00e4ndere. Hering 1 selbst gibt\n1 E. Hering, Beitr. z. Physiol1. Heft, S. 30 f, Leipzig 1861.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lage f\u00fchl usiv. 275\nin seiner ersten Publikation hier\u00fcber folgende Darstellung der Verh\u00e4ltnisse :\n\u201eErzeuge ich mir durch doppel\u00e4ugige Betrachtung eines weifsen, sonnenbeschienenen Fleckes auf dunklem Grunde ein lang dauerndes Nachbild, schliefse nun die Augen, drehe mich mehrere Male rasch um mich selbst und bleibe dann stehen, so sehe ich das Nachbild einfach und v\u00f6llig unbewegt gerade vor mir, obwohl sich untcrdefs meine Augen heftig bewegen. Denn dieselben drehen sich zwangsweise in der vorhergegangenen Drehrichtung seitw\u00e4rts, bis sie nicht weiter k\u00f6nnen, fliegen sodann zur\u00fcck und drehen sich abermals seitw\u00e4rts und so fort mit abnehmender St\u00e4rke. Vondieser ganzen Bewegung merke ich trotz der gespanntesten Aufmerksamkeit nichts, als h\u00f6chstens hie und da ein unbestimmtes, durchaus nicht auf die Augenstellung zu deutendes leises Druckgef\u00fchl. \u00d6ffne ich aber die Augen, so eilt der ganze Sehraum in entgegengesetzter Richtung fort, ohne dafs das eben betrachtete Ding dabei doppelt erschiene ; und sehe ich auf eine grofse weifse Fl\u00e4che, so bleibt diese selbst zwar unver\u00e4ndert, weil an Stelle des fliehenden Weifs gleiches Weifs tritt, also eine Bewegung der Wand nicht unterschieden werden kann, wohl aber zieht das Nachbild, das bei geschlossenen und ebenso bewegten Augen ruhig blieb, nun mehr oder weniger rasch \u00fcber die weifse Fl\u00e4che, die nur scheinbar ruhig bleibt, deren Netzhautbild sich aber gleichzeitig fortschiebt: Beweis genug, dafs allein die Verschiebungen der Netzhautbilder und nicht die Spannungsgef\u00fchle der Muskeln mich \u00fcber die \u00c4nderungen meiner Augenstellung belehren.\u201c1\nGegen die Beweiskraft dieses Versuches, der bei erster Be-\n1 Das von Hering erw\u00e4hnte Wandern des Nachbildes beim \u00d6ffnen der Augen kann in seinem Zustandekommen nur so verstanden werden, dafs infolge einer bewufsten od^er unbewufsten Fixationstendenz Gegeninnervationen gegen die (aus den optischen Eindr\u00fccken \u00fcbrigens in keinerlei Weise zu entnehmenden) nystagmischen Bewegungen seitens des Beobachters angenommen werden (s. hierzu die Anm. S. 307 dieser Abhandlg; ferner vgl. Mach, Analyse der Empfindungen, 6. Aufl., S. 110\u2014114, sowie die Ausf\u00fchrungen Hillebrands, Jahrb. f. Psychiatr. u. Neurol., Bd. 40, S. 228, 1920). Dm eine unmittelbare \u00c4ufserung der nystagmischen Bewegungen kann es sich bei der Scheinbewegung des Nachbildes keinesfalls handeln, da die Erscheinung sonst auch bei geschlossenen Augen zu beobachten sein m\u00fcfste.","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nRudolf Dit tier.\ntrachtung wohl geeignet erscheint, die HERiNGsche Anschauung zu st\u00fctzen, sind in der Folge gewichtige Einw\u00e4nde erhoben worden, die im allgemeinen auf die Feststellung hinauslaufen, der psychophysische Mechanismus des Gesichtsschwindels sei \u201ean sich noch lange nicht so zuverl\u00e4ssig aufgekl\u00e4rt, als es eine auf ihn begr\u00fcndete zwingende Beweisf\u00fchrung erforderte\u201c (Witasek1). Dar\u00fcber hinaus aber ist insbesondere von Witasek 2 in Zweifel gezogen worden, ob der Versuch \u00fcberhaupt im Sinne der HERiNGschen These angef\u00fchrt werden k\u00f6nne, da man den Sehdingen in ihrer Bewegung hierbei ja tats\u00e4chlich mit der Aufmerksamkeit folge und es andererseits nicht zutreffe, dafs die Scheinbewegung aufh\u00f6re, wenn man einen Punkt der Umgebung scharf ins Auge fafst (wobei ihm die Aufmerksamkeit nat\u00fcrlich um so sicherer nachgeht).\n\u00dcber die Berechtigung dieser speziellen WiTASEKschen Einw\u00e4nde ist schwer zu einem abschliefsenden Urteil zu gelangen (und ich m\u00f6chte mich eines dahingehenden Versuches enthalten), solange das ersterw\u00e4hnte allgemeine Bedenken gegen die Beweiskraft des HERiNGschen Versuches nicht als unbedingt erledigt zu betrachten ist, sondern zugegeben werden mufs, dafs die \u00e4ufserst verwickelten Erscheinungen, die w\u00e4hrend und nach der K\u00f6rperrotation im Bereich des Gesichtssinnes auftreten, in ihren genetischen Zusammenh\u00e4ngen auch heute noch nicht restlos analysierbar sind. Wenngleich man die reflektorischen Beziehungen \u25a0zwischen dem Bogengangapparat und dem Auge ziemlich ersch\u00f6pfend kennt, so bleibt es in der Tat vorerst zweifelhaft, in wieweit man berechtigt ist, den unter solchen Bedingungen \u00fcber die Umstimmung der Raum werte gewonnenen Erfahrungen eine allgemeine Bedeutung beizumessen. Denn es w\u00e4re z. B. denkbar, dafs unter dem Einflufs des erregten Labyrinthes, ebenso wie der Augenbewegungsapparat, auch die sensorische Funktion der Netz-haut bzw. der angeschlossenen Hirnteile eine funktionelle \u00c4nderung erf\u00fchre und dafs erst diese kombinierte Wirkung die tats\u00e4chlich zu beobachtenden Erscheinungen zur Folge h\u00e4tte. Dieser Punkt der HERiNGschen Beweisf\u00fchrung bedarf also einer besonderen Aufkl\u00e4rung.\n1\tSt. Witasek, Psychologie der Raumwahrnehmung des Auges, Heidelberg (C. Winter) 1910 (2. Bd. der \u201ePsychologie in Einzeldarstellungen\u201c, herausgegeben von Ebbinghaus und Musmann), S. 241.\n2\tSt. Witasek, ebenda, S. 242.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Baumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usiv. 277\nEs kommt hinzu, dafs der von Hering gegebene Tatbestand m. E. das nicht v\u00f6llig ersch\u00f6pft, was an Bewegungserscheinungen im Bereiche des Gesichtssinnes w\u00e4hrend der Nachdrehungsperiode auf Grund theoretischer Erw\u00e4gungen zu erwarten steht. Nach unseren jetzigen Kenntnissen der Labyrinthfunktion m\u00fcfste eine Scheinbewegung der Sehdinge nach Sistierung der Rotation n\u00e4mlich durch Vermittelung mindestens zweier gesonderter Mechanismen Zustandekommen. Erstens ist damit zu rechnen, dafs die beim \u00dcbergang aus kontinuierlich rotierender Bewegung zur Ruhe auftretende, durch die Tr\u00e4gheit der Endolymphe bedingte Labyrinthreizung zu einer Drehempfindung f\u00fchrt, bei welcher der K\u00f6rper sich im umgekehrten Sinne zu drehen scheint, als es w\u00e4hrend der vorangegangenen objektiven Rotation tats\u00e4chlich der Fall war. Diese gegensinnige Nachdrehungsempfindung \u00e4ufsert sich, wie Lindner 1 zuerst beobachtete, z. B. an dem (vom Labyrinth aus offenbar nicht reflektorisch beeinflufsten) Geh\u00f6rorgan bezeichnenderweise darin, dafs eine Schallreizung, die das Ohr immer aus der gleichen Richtung trifft, auf eine Schallquelle bezogen wird, die sich in der Geschwindigkeit und Richtung der Scheindrehung mit dem K\u00f6rper der Versuchsperson im Kreise zu bewegen scheint. Sehen wir bei der Diskussion der optischen Bewegungsph\u00e4nome von den Folgen der nystagmischen Augenbewegungen zun\u00e4chst ab, so m\u00fcfste sich f\u00fcr die Sehdinge, die ruhigstehenden Aufsendingen entsprechen, deren Netzhautbilder nach Abschlufs der objektiven Drehung also unver\u00e4ndert ruhig auf der Netzhaut liegen, eine \u00e4hnliche scheinbare Mitbewegung ergeben wie im LiNDNERschen Falle f\u00fcr die Schallquelle. Findet eine unmittelbare Beeinflussung der Netzhaut vom erregten Labyrinthe her nicht statt, so m\u00fcfste die gegensinnige Nachdrehungsempfindung unter der einschr\u00e4nkenden Voraussetzung ruhiger Blicklage an sich also zu einer mit ihr gleichsinnigen scheinbaren Mitbewegung der objektiv ruhigstehenden Aufsendmge f\u00fchren. Und da sich ein im Auge erzeugtes dauerhaftes Nachbild unter den geltenden Bedingungen wie eine relativ zum Auge und zum K\u00f6rper des Beobachters in ihrer\n1 Nicht publiziert; es handelt sich um Beobachtungen, die von Herrn Taubstummenlehrer Lindner bei Gelegenheit von Rotationsversuchen an Kindern der Taubstummenanstalt in Leipzig zuerst gemacht wurden und im September 1920 in der Biologischen Gesellschaft zu Leipzig kurz zur Sprache kamen.\nZeitsehr. f. Sinnesphysiol. 52.\n19","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nRudolf Dittler.\nLage unver\u00e4ndert bleibende Lichtquelle verh\u00e4lt, so m\u00fcfste auch ein solches Nachbild die durch die Nachdrehungsempfindung bedingte Scheinbewegung mitmachen und dementsprechend nat\u00fcrlich auch bei geschlossenem Auge oder im dunklen Raume bewegt erscheinen. F\u00fcr die wirklich gesehenen Objekte und das auf der Netzhaut fixierte Nachbild ergibt sich aus diesen \u00dcberlegungen somit dieselbe Art der Scheinbewegung entgegen der Richtung der ausl\u00f6senden objektiven Drehung. Von jenem Symptomenkomplex, der den sog. Gesichtsschwindel im urspr\u00fcnglichen Sinne Beeuees 1 ausmacht, w\u00e4re diese Erscheinung, wie man sieht, nicht nur tats\u00e4chlich, sondern auch nach der f\u00fcr ihre Entstehung vermuteten Ursache wohl zu unterscheiden (s. hierzu S. 298 f.).\nDas zweite Moment f\u00fcr das Auftreten von Bewegungserscheinungen im Bereiche des Gesichtssinnes ist in den nystagmischen Augenbewegungen gegeben. Diese stellen reflektorische Wirkungen des gereizten Labyrinthes auf die Augenmuskeln dar und verlaufen nach unseren jetzigen, wohl als gesichert zu betrachtenden Kenntnissen so, dafs ihre langsame Phase (\u201eReaktionsphase\u201c, die rasche wird als die \u201eNystagmusphase\u201c bezeichnet) der relativen Fl\u00fcssigkeitsverschiebung in den erregten Bogeng\u00e4ngen dem Sinne nach jeweils entspricht. Beim \u00dcbergang von der K\u00f6rperdrehung zur Ruhe schl\u00e4gt die langsame Phase des Nystagmus also in der Richtung der sistierten objektiven K\u00f6rperdrehung aus. Ziehen wir die nystagmischen Augenbewegungen als Ursache der im Sehfelde zustandekommenden Bewegungserscheinungen nun g e -sondert in Betracht, so m\u00fcfste sich unter der Annahme der HEEiNGschen These, dafs eine \u00c4nderung der Sehrichtungswerte der Netzhaut hierbei nicht eintritt, f\u00fcr die mit offenem Auge gesehenen Aufsendinge, entsprechend der Verschiebung ihrer Netzhautbilder, eine Scheinbewegung ergeben, deren Sinn w\u00e4hrend der langsamen Phase der ausl\u00f6senden K\u00f6rperdrehung entgegengesetzt, w\u00e4hrend der raschen Phase ihr gleichgerichtet sein m\u00fcfste. Fest auf der Netzhaut liegende Nachbilder dagegen m\u00fcfsten unter den gleichen Voraussetzungen, trotz den ablaufenden Augenbewegungen, ein v\u00f6llig ruhiges Verharren in ihrer Lage auf weisen.\n1 J. Breuer, \u00dcber die Funktion der Bogeng\u00e4nge des Ohrlabyrinthes, Mediz. Jahrb\u00fcch. 1874. Vgl. auch die an den von Breuer gegebenen Tatbestandgekn\u00fcpften Ausf\u00fchrungen Machs, Analyse der Empfindungen, 6. Auf!., 1911, S. 101 ff.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 279\nGehen andere Momente als die beiden genannten in die nach rascher K\u00f6rperdrehung auftretenden optischen Bewegungsph\u00e4nomene nicht ein, so w\u00e4re auf Grund des Gesagten zu fordern, dafs die gesehenen Aufsendinge infolge des Nystagmus ein mit ungleicher Phasengeschwindigkeit erfolgendes Hin- und Herr\u00fccken zeigten und dafs diese periodischen Bewegungen w\u00e4hrend des Bestehens einer Nachdrehungsempfindung, theoretisch gesprochen, auf eine allm\u00e4hlich sich verz\u00f6gernde stetige Scheindrehung sich aufsetzten. Die der langsamen .Reaktionsphase entsprechende Scheinbewegung h\u00e4tte hierbei das gleiche Vorzeichen wie die stetig verlaufende, die der raschen Nystagmusphase entsprechende das umgekehrte. Im praktischen Versuche m\u00fcfste sich die \u00dcbereinanderlagerung der beiden Ph\u00e4nomene folgerichtig derart auspr\u00e4gen, dafs die der Reaktionsphase entsprechende Scheinbewegung an Amplitude und Geschwindigkeit gew\u00f6nne, die der Nystagmusphase entsprechende verl\u00f6re, und es w\u00e4re dann so, wie wenn im Fortschreiten der Erscheinung gewissermafsen immer ein langsamer gr\u00f6fserer Schritt vorw\u00e4rts und ein rascher kleinerer r\u00fcckw\u00e4rts gemacht w\u00fcrde. Anders bei der Beobachtung von Nachbildern. Wie oben entwickelt wurde, zeigen diese (bei G\u00fcltigkeit der PlERiNOschen These) keine den nystagmischen Bewegungen entsprechenden Scheinbewegungen, sie m\u00fcfsten also unkompliziert und darum um so zwingender die stetige Scheinwanderung erkennen lassen, solange die Nachdrehungsempfindung beim Beobachter besteht.\nDafs Hering der von der Augenbewegung unabh\u00e4ngigen, stetigen Schein Wanderung der Sehdinge, mochten diese von frischen optischen Eindr\u00fccken herr\u00fchren oder auf Nachwirkungen fr\u00fcherer Eindr\u00fccke beruhen, keinerlei Erw\u00e4hnung tut, k\u00f6nnte daran liegen, dafs sie in seinen Versuchen wegen zu geringer St\u00e4rke der Labyrinthreizung nicht zur Beobachtung kam oder nicht entsprechend gedeutet wurde.1 Wahrscheinlicher ist es mir, dafs\n1 F\u00fcr beide M\u00f6glichkeiten bieten nach unseren jetzigen Kenntnissen die oben wiedergegebenen Ausf\u00fchrungen PIerings gewisse Hinweise. Spricht auf der einen Seite das beschriebene absolut ruhige Verharren des Nachbildes bei geschlossenen Augen gegen das Vorhandensein des JLiNDKERschen Ph\u00e4nomens, so ist auf der anderen Seite die Angabe, dafs der Sehraum nach beendeter K\u00f6rperdrehung \u201ein entgegengesetzter Richtung forteile\u201c, nur verst\u00e4ndlich, wenn eine \u00dcberlagerung der stetigen Scheinwanderung \u00fcber die dem Nystagmus entsprechenden phasischen Scheinbewegungen\n19*","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nRudolf Diltler.\nsie von ihm geflissentlich \u00fcbergangen wurde, da sie in keiner unmittelbaren Beziehung zu den Augenbewegungen steht, deren Einflufs auf die optische Lokalisation f\u00fcr ihn allein von Interesse war. Da sie aber ph\u00e4nomenologisch unbedingt in den Kreis jener optischen Bewegungserscheinungen geh\u00f6rt, die nach Drehung des K\u00f6rpers um eine in- oder aufserhalb desselben gelegene Achse auftreten, so wurde in den im folgenden mitgeteilten Versuchen gepr\u00fcft, inwieweit die theoretisch abgeleiteten Forderungen im praktischen Versuche wirklich in die Erscheinung treten. M\u00fcfste auf Grund der neuen Beobachtungen, wie die Theorie es verlangt, der von Hering gegebene Tatbestand einfach um das Ph\u00e4nomen der stetigen Seheinwanderung erweitert werden, so w\u00fcrde damit nichts hinzugef\u00fcgt, was mit der Grundidee der HERiNGschen Lehre nicht ohne weiteres vereinbar w\u00e4re. Es bliebe aber andererseits noch der Nachweis zu erbringen, dafs das beim labyrinth\u00e4ren Nystagmus aufgezeigte Fehlen einer Umstimmung der retinalen Raumwerte in entsprechender Weise auch bei anderen, gleichfalls vom Bewufstsein weder kontrollierten, noch kontrollierbaren Augenbewegungen festzustellen ist. Hierzu bot sich Gelegenheit, da mir unter anderen eine Versuchsperson zur Verf\u00fcgung stand, welche die F\u00e4higkeit besitzt, oszillatorische Augenbewegungen, ein \u201eAugenzittern\u201c, d. h. also einen Nystagmus im weiteren Sinne, willk\u00fcrlich auszul\u00f6sen. Es war so die M\u00f6glichkeit gegeben, jene Komponente der Scheinbewegungen, die den nystagmischen Bewegungen als solchen zukommen, aus dem Komplex der \u00fcbrigen nach K\u00f6rperrotation auftretenden optischen Ph\u00e4nomene herauszusch\u00e4len und sozusagen isoliert darzustellen, und zwar unter Bedingungen, unter denen eine Verschleierung der Verh\u00e4ltnisse durch die komplizierende Mitwirkung des Bogengangapparates nicht zu bef\u00fcrchten war. Im Rahmen des Gesamtproblems kommt diesem Teile der Untersuchung also eine besondere, grunds\u00e4tzliche Bedeutung zu.\nBeobachtungen bei willk\u00fcrlichem Augenzittern.\nDie Versuchsperson war ein 25 j\u00e4hriger Student der Medizin, Herr U. M., der im Felde zum erstenmal bemerkt hat, dafs er\nstattfand. Denn ohne die erw\u00e4hnte \u00c4nderung der Amplitudenverh\u00e4ltnisse der beiden Scheinbewegungsphasen wr\u00e4re ein \u00dcbersehen des periodischen Charakters der Erscheinung, trotz des raschen Ablaufes der Nystagmusphase, kaum m\u00f6glich.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 281\ndurch willk\u00fcrlichen Vorsatz die Augen in flimmernde, oszillierende Bewegung versetzen kann, und diese F\u00e4higkeit zugestandener-malsen etwas gepflegt und zu einer gewissen Virtuosit\u00e4t entwickelt hat. Von einem angeborenen oder erworbenen Nystagmus krankhafter Art ist bei der Versuchsperson keine Rede. Wenn das Oscillieren nicht willk\u00fcrlich herbeigef\u00fchrt wird, stehen die Augen vollkommen still. Intentionszittern ist nicht vorhanden, es wird ruhig und fest fixiert, und alle Augenbewegungen werden in normal koordinierter Weise ausgef\u00fchrt. Die Feststellung des sonstigen Augenbefundes ergab nichts besonderes : es besteht Myopie m\u00e4fsigen Grades (beiderseits \u2014 2,5 D), die Sehsch\u00e4rfe mit Korrektion betr\u00e4gt auf beiden Augen 6/6. Licht- und Farbensinn zeigen keinerlei St\u00f6rung. Die Pupillen sind auffallend weit und reagieren konsensuell. Das willk\u00fcrlich ausgel\u00f6ste Augenzittern tritt immer beiderseits gleichzeitig auf und zeigt auch an beiden Augen dieselbe St\u00e4rke. Es verl\u00e4uft nach Art pendelnder Schwingungen der Gesichtslinien, anscheinend streng in der Horizontalen mit gleich grofsen und gleich raschen Ausschl\u00e4gen nach rechts und links. W\u00e4hrend der ersten Sekunden seines Bestehens sind die Schwingungsamplituden am gr\u00f6fsten und nehmen ziemlich rasch an Ausmafs ab ; hierbei scheint auch die Schwingungsfrequenz, die zwischen 5 und 8 in der Sekunde liegt, etwas geringer zu werden. Bei guter Deponierung kann das Augenflimmern von der Versuchsperson mit Anstrengung h\u00f6chstens bis zu 10 Sekunden lang ununterbrochen so kr\u00e4ftig erhalten werden, dafs ein Beobachter es ohne besondere Hilfsmittel mit freiem Auge wahrzunehmen vermag. Die allgemeine Erm\u00fcdbarkeit des neuromuskul\u00e4ren Apparates ist also immerhin ziemlich betr\u00e4chlich.\nF\u00fcr die Zwecke des vorliegenden Problems war der Einflufs des Augenzitterns auf die optischen Eindr\u00fccke in doppelter Weise zu studieren, einmal bei Fixierung eines ruhigstehenden leuchtenden Objektes, dessen Bild sich oszillatorisch auf dem Augenhintergrund verschiebt, und sodann bei Beobachtung der Lokalisation eines auf der Netzhaut festliegenden Nachbildes. Der Ausfall des ersteren Teilversuches war schon durch die auf Selbstbeobachtung gest\u00fctzte Angabe Herrn M.s entschieden, dafs er den Eintritt des von ihm intendierten Zitterns ausschliefs-lich an dem Verwaschen werden der R\u00e4nder der Beobachteten (ruhigstehenden,) Aufsendinge erkenne, w\u00e4hrend er im ganz","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nRudolf Dittler.\ndunkeln Raum an sich v\u00f6llig im Unklaren dar\u00fcber sei, ob ihm die Ausl\u00f6sung der Zitterbewegungen wirklich gelungen sei. Durch Auflegen des Fingers auf das geschlossene Augenlid ist es ihm nat\u00fcrlich auch im Dunkeln jederzeit m\u00f6glich, festzustellen, ob\ndie Augen sich in Ruhe oder in oszillatorischer Bewegung befinden. Bezeichnenderweise aber gibt ihm die wechselnde Spannung der Augenmuskeln keinerlei Kunde \u00fcber den Bewegungszustand der Augen; ebensowenig kann w\u00e4hrend des Augenzitterns von einer der jeweiligen Augenstellung entsprechenden unbewufst bleibenden Umstimmung der untergeordneten Zentren oder der Netzhaut die Rede sein, wie sie bei bewufster Verlagerung der Gesichtslinie auf einen vorbestimmten Ort des Aufsenraumes auch bei Herrn M. in wohlkoordinierter Weise gegeben ist und zu einer genauen Kompensierung der Verschiebung der Netzhautbilder f\u00fchrt.\nDie oszillierende Scheinbewegung, die die ruhigstehenden Aufsendinge infolge des Augenzitterns erfahren, erm\u00f6glichten eine experimentelle Feststellung der Amplitudengr\u00f6fse, mit der die Gesichtslinie sich um ihre Ruhelage bewegt. Zu diesem Zweck wurde der Versuchsperson ein vertikalstehender ganz schmaler Lichtspalt in bekannter Entfernung als Objekt dargeboten und ihr aufgegeben, zu beobachten, bis zu welcher Breite ihr das zun\u00e4chst scharfe Spaltbild beim Augenzittern ausgezogen erscheinen kann. Dies zu beurteilen ist um so sicherer m\u00f6glich, als gerade die Grenzlagen des Sehdinges, teils weil das Auge in der Umkehrstellung merklich l\u00e4nger verweilt als in den \u00fcbrigen Lagen, teils infolge der Wirkung des Randkontrastes sehr scharf erkennbar sind. Die \\ erh\u00e4ltnisse liegen mutatis mutandis hier ganz \u00e4hnlich wie etwra beim Schattenbild der in gleichm\u00e4fsig oszillierender Bewegung schwingenden Saite des EixTHOVENschen Galvanometers, das mit ruhigstehendem Auge auf einem Projektionsschirm beobachtet wird. Die maximalen Winkelbetr\u00e4ge der oszillierenden Bewegung der Gesichtslinien wurden auf diesem Wege bei un-erm\u00fcdetem Beobachter zu etwa 4\u00b0 bestimmt ; sieblieben also, wie man sieht, betr\u00e4chtlich hinter jenen AmplitudenwTerten zur\u00fcck, die als Folge der K\u00f6rperrotation beim Nystagmus erreicht werden k\u00f6nnen.\nDie Untersuchung Herrn M.s nach der zweiten Methode, bei Beobachtung des auf der Netzhaut festliegenden dauerhaften Nachbildes eines vertikalen Lichtspaltes, f\u00fchrte zu Ergebnissen, die","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usiv. 288\nden soeben erw\u00e4hnten in ihren theoretischen Folgerungen durchaus entsprechen. Die Angaben der Versuchsperson gehen dahin, dafs das Nachbild w\u00e4hrend des Augenzitterns nicht die geringste Scheinbewegung erf\u00e4hrt. Obwohl sich die Gesichtslinien w\u00e4hrend der Beobachtung nachgewiesenermafsen in lebhaftester zitternder Bewegung befanden und die der Versuchsperson gegen\u00fcberstehende homogene Beobachtungsfl\u00e4che in rascher Folge an immer wieder anderen Stellen trafen, blieb die Lage des Nachbildes im Sehraum von diesen physikalischen Momenten g\u00e4nzlich unber\u00fchrt. Es kann also weder im allgemeinen zutreffen, dafs eine optische Empfindung immer der physikalischen Richtungslinie entlang in den Aufsenraum hinausprojiziert erscheint, indem die wechselnde Spannung und Bet\u00e4tigung der Augenmuskeln den in Frage kommenden nerv\u00f6sen Zentren von der jeweiligen Blicklage Kunde gibt, noch ist f\u00fcr den besonderen Fall des willk\u00fcrlichen Augenzitterns anzuerkennen, dafs das Lagegef\u00fchl der Augen als solches\n\u2022 \u2022\neine den wechselnden Verh\u00e4ltnissen sich anpassende \u00c4nderung der Raumwertyerteilung auf der Netzhaut vermittelt. Beide Vorstellungen sind mit dem ruhigen Beharren des Nachbildes in seiner Lage unvereinbar.\nF\u00fcr den Beobachter machten sich bei den Nachbild versuchen anf\u00e4nglich Schwierigkeiten bemerkbar, die offenbar darauf zur\u00fcckgehen, dafs die Beobachtung und das Festhalten von Nachbildern eine weit h\u00f6here Anspannung der Aufmerksamkeit erfordert als das einfache Beobachten eines leuchtenden Objektes. W\u00e4hrend Herr M. bei der Ausl\u00f6sung des Augenzitterns, das nat\u00fcrlich eine gewisse geistige Konzentrierung auf diesen Vorgang n\u00f6tig macht, keinerlei M\u00fche hatte, gleichzeitig das Verhalten des von dem leuchtenden Objekt bedingten optischen Eindruckes zu beobachten, verlor er das zuvor deutlich gewesene Nachbild mit dem Eintritt des Augenzitterns bei den ersten Versuchen sehr leicht, offenbar weil es ihm nicht gelang, seine Aufmerksamkeit in der erforderlichen g\u00fcnstigen Weise auf die beiden gleichzeitig verlangten Leistungen zu verteilen. Es liegt hier allem Anschein nach derselbe innere Vorgang vor, der es auch bedingt, dafs man Nachbilder optimal bei festgehaltener Blickrichtung sieht und dafs sie bei Ausf\u00fchrung von Augenbewegungen undeutlicher zu werden pflegen, um erst bei erneuter Stillstellung der Augen wieder in voller Eindringlichkeit aufzutauchen.1 Dafs in dem\n1 Wegen der Idee einer \u201ezentralen Anaesthesie\u201c w\u00e4hrend der Ausf\u00fch","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nRudolf Bittier.\nAblauf von Augenbewegungen an sich kein Hindernis f\u00fcr die Sichtbarkeit von Nachbildern gegeben ist, scheint mir schon daraus hervorzugehen, dafs der beim Unge\u00fcbten so h\u00e4ufigen Erscheinung des Wanderns der Nachbilder ja gerade Augenbewegungen zugrunde liegen, die in diesem Falle allerdings zumeist sehr langsam verlaufen. Aber f\u00fcr die Annahme, dafs zwischen der langsamen und der rasch erfolgenden Verlegung der Blicklinien in dieser Beziehung eine grunds\u00e4tzliche Verschiedenheit bestehe, liegt m. E. keine N\u00f6tigung vor; auch spricht die alte Erfahrung der M\u00f6glichkeit einer Nachbildbeobachtung w\u00e4hrend des Nystagmus dagegen. In der Tat gelang es auch meiner Versuchsperson nach einiger \u00dcbung ganz gut, das Nachbild w\u00e4hrend des willk\u00fcrlichen Augenzitterns dauernd wahrzunehmen und in seinem Verhalten sicher zu verfolgen. Dafs dei in der Natur der Nachbilderscheinungen liegenden periodischen Schwankungen ihrer Deutlichkeit* 1 bei solchen Beobachtungen Rechnung zu tragen ist, bedarf keiner besonderen Erw\u00e4hnung.\nDie Nachbildversuche wurden, mit dem gleichen Erfolg, im hellen und im dunklen Raume, bei ge\u00f6ffneten sowie bei geschlossenen Augen angestellt. Bei der Untersuchung im Hellen konnte die Anordnung in der Weise variiert werden, dafs als Hintergrund, auf dem das Nachbild beobachtet wurde, eine homogene oder eine irgendwie gemusterte Fl\u00e4che gew\u00e4hlt wurde. Im ersteren Falle waren die Beobachtungsbedingungen die einfacheren und jenen bei Beobachtung im dunklen Raume oder bei geschlossenen Augen vergleichbar. Denn unter diesen Bedingungen waren aufserhalb aes Nachbildes keine Sehdinge gegeben, die ihrerseits Scheinbewegungen erfuhren und (zumal sie sich nach dem Gesagten dem Nachbild gegen\u00fcber gegens\u00e4tzlich verhalten mufsten) die Beobachtung erschweren konnten. Auf der anderen Seite aber war es gerade reizvoll, das Verhalten auf der Netzhaut festliegender und auf der Netzhaut rasch sich verschiebender optischer Eindr\u00fccke unter dem Einfl\u00fcsse des Augenzitterns unmittelbar nebeneinander, gleichzeitig, zur Anschauung zu bringen. Es ist begreiflich, dafs f\u00fcr diese Variante schon eine betr\u00e4chtliche Schulung des Beobachters im Erfassen der\nEindr\u00fccke erforderlich war. Diese Schulung vorausgesetzt, konnte\n\u2713\nrungen von Augenbewegungen s. bei Holt, Psychol Review. Mon., Suppl. 4, [Harvard Psychol. Stud. 1. (3).] 1903.\n1 K. Gr\u00fcnbeeo, Zeitschr. f. Biol., 61, S. 72, 1913.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usiv. 285\nnach dem Ausfall der Teilversuche an der Richtung, in der das Ergebnis des kombinierten Versuches liegen mufste, aber nat\u00fcrlich keinerlei Zweifel herrschen, was durch Herrn M.s Angaben auch voll best\u00e4tigt wurde.1\nBeobachtungen bei labyrinth\u00e4rem Nystagmus.\n1.\nDie experimentelle Labyrinthreizung wurde durch Rotation der Versuchsperson auf einem an etwa 10 m langen Stricken bifilar aufgeh\u00e4ngten, frei \u00fcber dem Boden schwebenden Drehstuhl vorgenommen, der, mit R\u00fccklehne, Handgriffen und Fufs-brett ausgestattet, die f\u00fcr den Beobachter unerl\u00e4fsliche Bequemlichkeit und Sicherheit w\u00e4hrend des Versuches bot. Der Hauptvorzug dieser Einrichtung besteht darin, dafs sich die Abwicklung der (zuvor ausgiebig umeinander verdrehten) Aufh\u00e4ngestricke unter allm\u00e4hlicher, praktisch unwesentlicher Steigerung jener Geschwindigkeit, die dem Apparat durch kr\u00e4ftigen Anstofs erteilt wird, absolut stetig vollzieht. Auch das Anhalten aus der Bewegung kann von geschickten Gehilfen aufserordentlich steil und dennoch ohne st\u00f6rendes Rucken oder Umschlagen in die gegensinnige Bewegungsrichtung bewerkstelligt und somit jede Komplizierung des Reizvorganges vermieden werden. Bei der gegebenen aufrechten Kopf- und K\u00f6rperhaltung der Versuchsperson (das Gesicht wurde um etwa 30\u00b0 leicht nach vorn geneigt gehalten) war unter diesen Umst\u00e4nden mit einer isolierten Erregung des horiz ont al en Bogengangpaares und dementsprechend mit Drehungsempfindungen und nystagmischen Augen-bewegungen um eine rein v ertikale Achse zu rechnen.2 Form und Anordnung des verwendeten Reizlichtes waren, wie sogleich noch gezeigt werden wird, dem Auftreten des rein horizontalen Nystagmus angepafst. Bei entsprechend anderer Neigung des Kopfes h\u00e4tte mit denselben Hilfsmitteln ganz nach Belieben\n1\tDie bei entsprechenden Versuchen w\u00e4hrend des labyri nt h\u00e4ren Nystagmus bestehende Gefahr, dafs der Beobachter seine Augen nicht frei den Einwirkungen \u00fcberl\u00e4fst, sondern (unbewufst) auf einem Aufsenpunkt festzuhalten sucht, kam im vorliegenden Fall nicht in Betracht, weil die Art der willk\u00fcrlichen Erzeugung des Augenzitterns sie ganz von selbst ausschlols. Die Beobachtungen konnten also ohne die st\u00f6renden Nebeneinfl\u00fcsse der Eixationstendenz vorgenommen werden (vgl. hierzu Anm S. 307 '.\n2\tR. B\u00e2r\u00e2ny und A. Wittmaack, Verhandl. d. deutsch. Otolog. Gesellsch. 2. u. 3. Juni 1911, S. 95.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nRudolf Dittler.\nnat\u00fcrlich auch die Erregung der anderen Bogengangpaare erreicht werden k\u00f6nnen, doch wurde im Rahmen dieser Untersuchung hiervon Abstand genommen, da die Reizbedingungen nur schwer ebenso bestimmt sich h\u00e4tten beherrschen lassen wie f\u00fcr die horizontalen Bogeng\u00e4nge und auch die zustandekommende Erregung nicht das gleich eindeutige Bild geboten h\u00e4tte; pflegen doch z. B. selbst beim reinsten rotatorischen Nystagmus pendelnde Augenbewegungen erfahrungsgem\u00e4fs nicht ganz zu fehlen.1 Einer experimentellen Feststellung B\u00e4ranys folgend, nach welcher der durch 8\u201410 volle Umdrehungen erreichbare Grad der Nacherregung des Labyrinthes durch weitere stetige Rotation nicht mehr \u00fcberschritten wird2, liefs ich es in meinen Versuchen bei dieser Anzahl von Umdrehungen bewenden und trug im \u00fcbrigen lediglich f\u00fcr eine zwar m\u00f6glichst steile, aber st\u00f6rungsfreie (s. o.) Arretierung Sorge. Die Drehungsgeschwindigkeit ergab sich aus den Gewichtsverh\u00e4ltnissen des Drehstuhles und den verf\u00fcgbaren Antriebskr\u00e4ften auf durchschnittlich 2 Umdrehungen in je 3 Sekunden. Die Labyrinthreizung war unter diesen Bedingungen eine \u00e4ufserst starke.\nAuch innerhalb dieserVersuchsreihe wurden die Beobachtungen wieder in der doppelten Weise vorgenommen, dafs w\u00e4hrend des Bestehens der Labyrintherregung sowohl die bei Fixierung eines ruhigstehenden leuchtenden Objektes auftretenden Erscheinungen als auch das Verhalten des Nachbildes studiert wurde. Zu ersterer Pr\u00fcfung ist man auf Beobachtungen w\u00e4hrend der Nacherregungsperiode beschr\u00e4nkt, wogegen das Verhalten des Nachbildes sowohl w\u00e4hrend der objektiven K\u00f6rperdrehung (\u201eReizdrehung\u201c) selbst als nach Sistierung derselben beobachtet werden konnte. Da das Nachbild auf jeden Fall schon vor der Vornahme der Reizdrehung erzeugt werden mufste, so reihten sich die beiden Teilbeobachtungen am Nachbilde innerhalb des gleichen Versuches einfach hintereinander. Voraussetzung wrar nat\u00fcrlich, dafs die Erzeugung hinreichend dauerhafter Nachbilder richtig gelang (s.u.).\nAls leuchtendes Objekt f\u00fcr die Reizung der Netzhaut wurde in beiden Beobachtungsgruppen ein vertikalstehender etwa 0,5 cm breiter und 30 cm hoher leuchtender Spalt verwendet, der in der Mitte eine die ganze Breite verdeckende Fixationsmarke trug\n1\tF. Kobrak, Die Funktionspr\u00fcfungen des Ohres, Leipzig (J. A. Barth) 1911, S. 25.\n2\tR. B\u00e2r\u00e2ny, Verhandl. d. deutsch. Otol. Gesellsch., 1911, S. 88, Anm","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 287\nund von der Versuchsperson aus einer Entfernung von etwa 1,5 m gesehen wrurde. Diese Form und die vertikale Anordnung des leuchtenden Objektes wurden gew\u00e4hlt, wreil Lasersohn 1 bei der Nachpr\u00fcfung der eingangs aufgef\u00fchrten Angaben Herings die Feststellung gemacht hatte, dafs es bei Verwendung einer leuchtenden Kreisscheibe oder Quadratfl\u00e4che mit zentral gelegener Fixationsmarke leicht zum Auftreten st\u00f6render Schein be wegungen kommt, sobald die Aufmerksamkeit der Versuchsperson beim Beobachten des Nachbildes irgendwie von der (bei der Nachbilderzeugung fixierten) Mitte der Figur abwreicht. Wie eine einfache \u00dcberlegung lehrt, kann in \u00e4hnlicher Weise und aus verwandten Gr\u00fcnden auch eine ungenaue Fixierung bei der Erzeugung des Nachbildes nachtr\u00e4glich in unerw\u00fcnschten Bewegungserscheinungen sich bemerkbar machen. Bei dem von mir benutzten, praktisch linearen optischen Reizobjekt und der Orientierung desselben mit seiner L\u00e4ngsachse senkrecht zu jener Richtung, in welcher die infolge der Labyrinthreizung etwa auftretenden Bewegungserscheinungen verlaufen mufsten, waren St\u00f6rungen der von Lasersohn beobachteten Art ausgeschlossen. Denn jede aus \u00e4hnlichen Gr\u00fcnden zustandekommende Scheinbewegung mufste, falls die Fixierung nur innerhalb des Objektes selbst stattgefunden hatte, in vertikaler Richtung erfolgen und konnte zu Verwechselungen mit etwaigen Bewegungserscheinungen direkt oder indirekt labyrinth\u00e4ren Ursprungs niemals Anlafs geben. Zur Beleuchtung des Lichtspaltes diente der zu einer Leuchtlinie ausgespannte Faden einer Edisonlampe, der sich unter Zwischenschaltung einer Milchglasplatte dicht hinter der Spalt\u00f6ffnung befand ; alles Seitenlicht war sorgf\u00e4ltig abgeblendet. Das deutlich r\u00f6tlichgelbe Licht gab nach 20 bis 30 Sekunden langer Fixierung aufserordentlich eindringliche, blauviolette Nachbilder, die das Abklingen der Labyrintherregung zumeist sicher \u00fcberdauerten.\nDer Verlauf des einzelnen Versuches ist aus dem Gesagten gegeben. Handelte es sich um die Beobachtung des leuchtenden Objektes selbst, so wurde die Versuchsperson im Dunkeln zun\u00e4chst der Reizdrehung unterworfen und ihr nach dem Anhalten, m\u00f6glichst ohne Zeitverlust, der leuchtende Spalt sichtbar gemacht. W\u00e4hrend der Beobachtung wurden dann (wohl aber in etwas\n1 W. Lasersohn, Zeitschr. f\u00fcr Psychol61, S. 81, 1912.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nRudolf Bittier.\nentstellter Form, s. n.) die verschiedenen Stadien der Nacherregung des Labyrinthes durchlaufen. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, dafs die Vp., trotz entsprechender Blickrichtung, den Lichtspalt nicht etwa zu fixieren suchte, sondern die Augen m\u00f6glichst frei sich selbst \u00fcberliefs und lediglich die Aufmerksamkeit den Vorg\u00e4ngen am Spaltbilde zuwandte. Falls die auftretenden Doppelbilder die Beurteilung st\u00f6rten, wurde ein Auge verdeckt und monokular beobachtet. Zur Nachbildbeobachtung andererseits wurde der Vp., nach dem sie den Rotationsstuhl bestiegen hatte, zun\u00e4chst der leuchtende Spalt zur Fixierung dargeboten, dann wurde dieser verdeckt, und es erfolgte, nachdem der Beobachter das Auftauchen des Nachbildes angek\u00fcndigt hatte, die Reizdrehung. Hiermit begann zugleich die Beobachtungsperiode, die sowohl die Reizdrehungs- als die Nacherregungsperiode umfafste und bis zum v\u00f6lligen Verschwinden des Nachbildes dauerte. Dafs hiermit zumeist auch die Nachwirkungen der Labyrintherregungen abgeklungen waren, wurde bereits erw\u00e4hnt. Das Ergebnis der Beobachtung wurde immer sofort nach Abschluls jedes Einzelversuchs zu Protokoll genommen.\nAls Vpn. standen mir die Herren des Instituts1 zur Verf\u00fcgung, deren Zahl (7) angesichts der verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwierigen Beobachtungen und, wie vorgreifend gleich bemerkt sei, auch wegen gewisser Abweichungen im Beobachtungsergebnis vielleicht als etwas niedrig gelten mufs. Gerade wegen der grofsen Bedeutung, die der Zuverl\u00e4ssigkeit und guten Schulung der Beobachter aus diesen Gr\u00fcnden beizumessen ist, legte ich zun\u00e4chst keinen besonderen Wert darauf, ihre Zahl zu vergr\u00f6fsern. Es lag nicht in meinen Plan, eine auf breiter Basis aufgebaute Untersuchung durchzuf\u00fchren, sondern es kam mir vor allem darauf an, unter m\u00f6glichstem Ausschlufs fehler- oder l\u00fcckenhafter Beobachtungen, sozusagen an einzelnen Typen zu studieren, wie die funktionellen Beziehungen zwischen Labyrinth und Auge in der Raumfunktion des letzteren sich darstellen k\u00f6nnen. Der weitere Ausbau der Befunde bleibt hiernach sp\u00e4teren Untersuchungen \u00fcberlassen.\n1 Ich selbst konnte die Versuche nur vereinzelte Male pers\u00f6nlich ausf\u00fchren, weil ich die Rotation so schlecht vertrage, dafs ich meine (angesichts der Ergebnisse begreifliche) Neugier jedesmal mit stundenlangem starkem \u00dcbelsein bezahlen mufste. Den Herren, die sich mir in aufopfe-","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 289\n2.\n\u2022 \u2022\nUber die bei Beobachtung des ruhenden Lichtspaltes auf tretenden Erscheinungen stimmen die Angaben meiner Vpn. in allen wesentlichen Punkten \u00fcberein. Ungeachtet gewisser theoretischer Komplikationen, die sich aus sp\u00e4ter zu er\u00f6rternden Tatsachen ergeben werden, f\u00fcr beide F\u00e4lle aber wohl in gleicher Weise gelten, kann man sagen, dafs die Ergebnisse grunds\u00e4tzlich in derselben Richtung liegen, wie beim willk\u00fcrlich herbeigef\u00fchrten Augenzittern, indem die auftretenden Augenbewegungen zu phasischen Scheinbewegungen des beobachteten Objektes f\u00fchren, die durch das event. Hinzutreten der Nachdrehungsempfindung mit ihren Folgewirkungen nur unwesentlich beeinflufst werden.\nDas durch den Nystagmus bedingte Bewegungsph\u00e4nomen stellt sich im einzelnen folgendermafsen dar: entsprechend dem st\u00fcrmischen Verlauf, den der Nystagmus in den ersten Augenblicken nach dem Anhalten aus einer energischen Reizdrehung zeigt, befindet sich der Lichtspalt zun\u00e4chst in so lebhafter Scheinbewegung, dafs es dem Beobachter nicht m\u00f6glich ist, einen bestimmten Bewegungstypus zu erkennen und Richtung oder Geschwindigkeit der einzelnen Bewegungsphasen gesondert aufzufassen. Die meisten Beobachter geben an, den Lichtspalt w\u00e4hrend der ersten Sekunden in \u201erasender\u201c, gleichsam \u201eflimmernder\u201c Bewegung zu sehen, indem er in ein je nach der Schlaggr\u00f6fse des Nystagmus mehr oder weniger breites Band ausgezogen erscheint. Mit dem Langsamerwerden der nystagmischen Bewegungen gestalten sich die Scheinbewegungen des beobachteten Objektes dann so, dafs Einzelheiten in ihrem Ablauf beurteilt werden k\u00f6nnen. Es wird eine langsamere Scheinbewegung im Sinne der Nachdrehungsempfindung (entgegen dem Sinne der Reizdrehung) und ein rascheres \u201eZur\u00fcckschnellen\u201c in die Ausgangslage erkannt. Wie man sieht, verl\u00e4uft die langsamere Bewegungsphase so, wie es aus dem Sinne der Reaktionsphase des Nystagmus herzuleiten ist, denn da diese ihrem Vorzeichen nach der Reizdrehung entspricht, so resultiert eine Verschiebung der Netzhautbilder, die zu einer mit dem Sinne des Nachdrehungsgef\u00fchles \u00fcbereinstimmenden Scheinbewegung f\u00fchren mufs. Diese Scheinbewegung des Objektes\nrungsvoller Weise f\u00fcr die Versuche zur Verf\u00fcgung stellten, sage ich auch an dieser Stelle meinen herzlichen Dank.","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nRudolf Dittler.\nw\u00e4hrend der Reaktionsphase besitzt f\u00fcr den Beobachter die weit gr\u00f6fsere Eindringlichkeit, da er sie in ihrem langsamen Verlauf immer unmittelbar verfolgen kann, w\u00e4hrend er die der Nystagmusphase entsprechende Scheinbewegung selbst oft gar nicht sieht, sondern sie nur an der pl\u00f6tzlichen Lage\u00e4nderung des Objektes erkennt. Eine stetig fortschreitende Schein-bewegung des Objektes im Sinne der Reaktionsphase resultiert nach meinen Erfahrungen aber auch unter dieser Voraussetzung nicht, wie im Hinblick auf die Angaben \u00e4lterer Autoren besonders fest gestellt sei. Mit dem Abklingen der Labyrintherregung wird die Amplitude der phasischen Scheinbewegungen kleiner und kleiner, bis das Sehding schliefslich ganz zur Ruhe kommt. Zur n\u00e4heren Charakterisierung des dem Nystagmus entsprechenden Bewegungsph\u00e4nomens sei noch bemerkt, dafs es sich bei symmetrischer Anordnung des Beobachters gegen\u00fcber dem leuchtenden Objekte grunds\u00e4tzlich als ein Oszillieren des Spaltbildes um die scheinbare Medianebene des K\u00f6rpers darstellt, das sich innerhalb des unbeweglich bleibenden Sehfeldes abspielt. In keinem Falle wich die Mittellage, um welche die Oszillationen erfolgten, von der Richtung \u201egradeaus nach vorne\u201c irgend betr\u00e4chtlich ab. Geringf\u00fcgige Abweichungen, die vereinzelt zur Beobachtung kamen, finden in einer unbeachtet gebliebenen Asymmetrie zur Aufstellung des Beobachters eine, wie mir scheint, hinreichende Erkl\u00e4rung. Die Gr\u00fcnde f\u00fcr die h\u00e4ufig auffallend geringe Dauer der gesamten Bewegungserscheinung kommen weiter unten zur Sprache (s. S. 307).\nDie Frage nach der relativen Schwingungsgr\u00f6fse der beiden Phasen der Scheinbewegung, der Frage also, ob das beschriebene Bewegungsph\u00e4nomen (als Ganzes betrachtet) w\u00e4hrend seines Ablaufs jenes fortschreitende Wandern zeigt, welches oben als Folge der Nachdrehungsempfindung gefordert wurde, fand durch die Versuche keine ganz einheitliche Beantwortung. Das Auftreten einer solchen Scheinwanderung h\u00e4ngt wesentlich davon ab, ob die Nachdrehungsempfindung unter den durch die Reizdrehung ausgel\u00f6sten Erscheinungen \u00fcberhaupt mit gen\u00fcgender Eindringlichkeit hervortritt. In dieser Beziehung bestehen bei ein- und derselben Vp. auch unter ganz den gleichen \u00e4ufseren Bedingungen ziemlich betr\u00e4chtliche Abstufungen, deren Ursache vor allem in einer wechselnden Disponierung der Vp, (Schwankungen der","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 291\nAufmerksamkeit, der Fixationstendenz usw.) zu suchen sein d\u00fcrfte.\nBleibt die Nachdrehungsempfindung mehr im Hintergr\u00fcnde der Erscheinungen, so pflegt das Bewegungsph\u00e4nomen ganz in der beschriebenen Weise abzulaufen, d. h. die Scheinschwingungen erfolgen um die scheinbare Medianebene des K\u00f6rpers, die w\u00e4hrend der Beobachtung ihre absolute Lage nicht \u00e4ndert. Steht dagegen die Nachdrehungsempfindung merklich im Vordergr\u00fcnde, so kann das Bewegungsph\u00e4nomen, im ganzen genommen, eine Scheinwanderung zeigen, die, ebenso wie die Scheinbewegung der Schallquelle beim LiNBNERschen Ph\u00e4nomen, nat\u00fcrlich im Sinne der Nachdrehungsempfindung verl\u00e4uft. Das gesamte Bewegungsph\u00e4nomen scheint sich dann einfach mit der Medianebene des K\u00f6rpers im Kreise zu drehen, ohne gegen\u00fcber dem geschilderten Verhalten sonst eine \u00c4nderung zu erfahren. In diesem Sinne werden die Erscheinungen von den Vpn. auch ausnahmslos aufgefafst und beschrieben, w\u00e4hrend die Verschiedenheit der Phasengr\u00f6fse, die sich aus der \u00dcbereinanderlagerung beider Bewegungen ableiten l\u00e4fst, aus der unmittelbaren Anschauung nicht entnommen wird. Die weit verbreitete Meinung, dafs die stetige Scheindrehung in der Empfindung zun\u00e4chst bald mehr auf den eigenen K\u00f6rper, bald mehr auf die sichtbaren Dinge der Umwelt (den Sehraum) bezogen w\u00fcrde, eine Erscheinung, die sich unter dem Zwange der optischen Eindr\u00fccke urteilsm\u00e4fsig dann rasch verwischte, beruht auf einer Verkennung des Tatbestandes und geht, wie mir scheint, auf eine Verwechslung mit der Diskrepanz zur\u00fcck, welche zwischen dem vermeintlichen Bewegungszustand des eigenen K\u00f6rpers mitsamt seinem Sehfelde einerseits und dem (immer unsichtbar bleibenden) sog. Gef\u00fchlsraum1 andererseits bestehen mufs, damit die Empfindung einer relativen Drehung \u00fcberhaupt aufkommt. Welcher von diesen beiden Komplexen hierbei mehr als der bewegte, welcher mehr als der ruhende empfunden wird, ist f\u00fcr die Eindringlichkeit der Bewegungsempfindung und das Auftreten des LiNDNERschen Ph\u00e4nomens entscheidend.\n1 Vgl. hierzu die Bemerkungen E. Machs, Analyse der Empfindungen, VI. Aufl, S. 114/115.","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nRudolf Dittler.\n3.\nDie Beobachtungen \u00fcber das Verhalten des auf der Netzhaut festliegenden Nachbildes w\u00e4hrend und nach der K\u00f6rperdrehung ergaben, wie im folgenden zu zeigen sein wird, keine ganz einheitlichen Befunde. Soviel ist aber trotzdem sicher festzustellen, dafs sie in ihrer theoretischen Bedeutung \u00fcber die Befunde bei der Beobachtung feststehender Aufsendinge in bemerkenswerter Weise hinausreichen, indem sie einige Symptome der Labyrinthwirkung am Auge erkennen lehren, die aus inneren Gr\u00fcnden (s. u. S. 306f.) dort nicht zum Vorschein kommen konnten. Dafs die Ergebnisse bei der Nachbildbeobachtung f\u00fcr die Analyse der funktionellen Beziehungen zwischen Labyrinth und Auge im \u00fcbrigen schon deshalb h\u00f6her zu bewerten sind, weil der nat\u00fcrliche Ablauf der Erscheinungen hier nicht durch die unerw\u00fcnschte Nebenwirkung einer etwaigen Fixierungstendenz entstellt wird, sei nur kurz vermerkt.\nIn dem hier zun\u00e4chst interessierenden Punkte der Sch ein -bewegungen gehen die Angaben der grofsen Mehrzahl meiner Vpn. dahin, dafs das Nachbild weder w\u00e4hrend der Reizdrehung noch w\u00e4hrend der Nacherregungsperiode eine Bewegung zeigt, die einen unmittelbaren Zusammenhang mit den nygstagmischen Augenbewegungen erkennen liefse. Besteht eine deutliche Dre-hungs- bzw. Nachdrehungsempfindung, so macht das Nachbild als Bestandteil des (sonst leeren, homogenen) Sehfeldes die Scheindrehung des K\u00f6rpers mit, zeigt also das LixDNEKsche Ph\u00e4nomen in ausgesprochenerWeise; hierin unterscheiden sich die Befunde charakteristisch von den bei willk\u00fcrlichem Augenzittern erhobenen. Aber diese Kreisbewegung verl\u00e4uft ganz stetig und ohne dafs das Nachbild seine relative Lage im Sehfelde bzw. dieses im ganzen seine Lage irgendwie ruckweise \u00e4nderte. Dafs von phasischen Bewegungserscheinungen nach Art der nystagmischen Augenbewegungen bei der Mehrzahl der Beobachter also keine Rede ist, bedeutet den bisher besprochenen Befunden gegen\u00fcber nichts Besonderes.\nH\u00f6chst auffallend und beachtenswert hingegen erscheint die Art, wie das Nachbild unter den gegebenen Versuchsbedingungen in den Aufsenraum lokalisiert wird. In dieser Hinsicht ergaben die Versuche, dafs das Nachbild, solange eine Erregung des Labyrinthes besteht, nicht in der Richtung \u201egeradeaus nach vorne\u201c, d. h. in der dem mittleren L\u00e4ngsschnitt der Netzhaut","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Raumf'unktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 293\nan sich zukommenden Sehrichtung gesehen wird, sondern dafs es sowohl w\u00e4hrend der Reizdrehung als zun\u00e4chst auch w\u00e4hrend der Nachdrehungsperiode deutlich exzentrisch und zwar nach der der Richtung der wirklichen oder scheinbaren K\u00f6rperdrehung abgewendeten Seite hin zu liegen scheint. Dieses Ph\u00e4nomen war nach unseren bisherigen Kenntnissen nicht zu erwarten, wenn die Erzeugung des Nachbildes, wie dies in meinen Versuchen der Fall war, bei scharf zentraler Fixierung der Leuchtlinie in symmetrischer Konvergenzstellung der Augen erfolgte und die einzige willk\u00fcrliche oder sonstwie bewufste Bewegung, die w\u00e4hrend des Versuches mit den Augen ausgef\u00fchrt wurde, in ihrer Zur\u00fcckf\u00fchrung in die Prim\u00e4rstellung (\u201einteresselose Stellung\u201c Hillebeands L bestand. Aus einer bewufsten \u00c4nderung der Blicklage ist die funktionelle Umwertung des gesamten Sehrichtungssystems und hiermit die Verlegung der Hauptsehrichtung in eine Schr\u00e4gstellung also nicht zu erkl\u00e4ren. Ebensowenig entspricht sie dem bestehenden Lagezustand der Augen, insofern die Abweichung des Nachbildes von der Medianebene des K\u00f6rpers immer einen ausge sp roch en stetigen Charakter tr\u00e4gt. Der Winkelbetrag dieser Abweichung erreicht unter Umst\u00e4nden sehr erhebliche Werte; in extremen F\u00e4llen kann das Nachbild so weit seitlich zu stehen scheinen, dafs der Beobachter den Eindruck hat, es nur mehr ein\u00e4ugig, mit dem Auge der ontsprechenden Seite wahrzunehmen, wie wenn es aufserhalb der Grenzen des binokularen Blickfeldes fiele (eine Empfindung, bei der wohl durch die Erfahrung gefestigte psychische Wirkungen im Spiele sind). Sehr eindrucksvoll tritt die Seitenstellung des Nachbildes in die Erscheinung, wenn beim Anhalten aus der Reizdrehung das bestehende Drehungsgef\u00fchl in die dem Sinne nach umgekehrte Nachdrehungsempfindung umschl\u00e4gt: man sieht das Nachbild dann in zwar sehr rascher, meist aber direkt verfolgbarer Bewegung aus der exzentrischen Stellung einerseits der scheinbaren Medianebene in eine solche andererseits derselben \u00fcbergehen. In unkorrekter Charakterisierung dieser Erscheinung gaben die Beobachter \u00f6fters zu Protokoll, das Nachbild w\u00e4re \u201equer \u00fcber das Gesichtsfeld gehuscht\u201c. Bei dieser Angabe, die eine ganz gute allgemeine Anschauung von dem Vorgang gibt, bleibt unber\u00fccksichtigt (was bei der Dunkel -\n1 Fr. Hillebrand, Jahrb\u00fccher d. Psychiatrie u. Neurol. 40, S. 250 ff. 1920.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 52.\t20","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nRudolf Ditt er.\nheit des Sehfeldes zun\u00e4chst entschuldbar ist), dafs das gesamte Sehfeld eine Verlagerung von der einen Extrem Stellung in die andere erf\u00e4hrt und das Nachbild die ihm zugeh\u00f6rige zentrale Lage innerhalb desselben immer streng beibeh\u00e4lt. Ist das Nachbild auf seinem Wege von der alten in die neue Stellung selbst nicht erkennbar, so l\u00e4fst seine pl\u00f6tzlich ver\u00e4nderte Lage \u00fcber die abgelaufene Bewegung keinen Zweifel.\nSoweit die bisherigen Versuche eine Aussage hier\u00fcber gestatten, h\u00e4ngt die Gr\u00f6fse der Abweichung des Nachbildes von der Medianebene des K\u00f6rpers w\u00e4hrend der objektiven K\u00f6rperdrehung unter den gegebenen experimentellen Bedingungen wesentlich von der Geschwindigkeit der Reizdrehung ab und blieb bei der praktisch als konstant zu betrachtenden Geschwindigkeit f\u00fcr die Dauer der vorgenommenen 8\u201410 Umdrehungen unver\u00e4ndert bestehen. In der Nachdrehungsperiode dagegen nimmt die Seitenstellung entsprechend dem Abklingen der Nacherregung ziemlich rasch an Gr\u00f6fse ab, und das Nachbild stellt sich in stetiger Bewegung, die von phasischen Scheinverschiebungen des gesamten Sehfeldes oder des Nachbildes innerhalb der Sehfeldgrenzen ebenfalls v\u00f6llig freibleibt, wie vor Beginn der Drehung wieder in die scheinbare Medianebene des K\u00f6rpers ein.\nDiese Darstellung der Befunde am Nachbild bedarf nun einer Erg\u00e4nzung durch die Angaben, die von einer meiner Vpn. \u00fcber das Verhalten des Nachbildes im Rotationsversuch immer wieder gemacht wurden. Im Gegensatz zu dem bisher Besprochenen sind die in Frage stehenden Befunde gerade dadurch charakterisiert, dafs das Nachbild vor\u00fcbergehend in phasischen Scheinbewegungen eigent\u00fcmlicher Art gesehen wird. Die aus der Labyrintherregung resultierende stetige Wanderung im Kreise ist, in der geschilderten Ablaufsform, ebenfalls vorhanden, wird von den lebhaften phasischen Bewegungsvorg\u00e4ngen im Gesamteindruck aber mehr oder weniger zur\u00fcckgedr\u00e4ngt. Wie bereits angedeutet wurde, ist es merkw\u00fcrdigerweise nur das zweite Stadium der Nachdrehungsperiode, f\u00fcr welches dieser abweichende Befund gilt, w\u00e4hrend in dem ersten Stadium derselben sowie auch w\u00e4hrend der objektiven K\u00f6rperdrehung volle \u00dcberein* Stimmung mit den vorerw\u00e4hnten Ergebnissen besteht. Die Angaben der Vp. gehen im einzelnen dahin, dafs etwa 6\u201410 Sekunden nach Beendigung der (kr\u00e4ftigen) Reizdrehung eine Periode einsetzt, in der das Nachbild, das bis dahin, in extremer Seiten*","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 295\nStellung, die stetige Kreisbewegung des Sehfeldes im Sinne der Nachdrehungsempfindung mitgemacht hat, in phasische Scheinbewegungen \u00fcbergeht. Diese verlaufen ganz nach dem Typus der nystagmischen Augenbewegungen, indem das Bild aus seiner Seitenstellung zun\u00e4chst in sprungweiser Bewegung in die Medianebene r\u00fcckt, um sodann in langsamerer Hin- und rascherer R\u00fcckbewegung periodisch zwischen der scheinbaren Medianen und einer (in der Richtung seiner fr\u00fcheren Ablenkung gelegenen) Seitenstellung einige Zeit hin und herzupendeln. Die seitlichen Exkursionen verlieren hierbei unter allm\u00e4hlicher Verl\u00e4ngerung der Periode mehr und mehr an Gr\u00f6fse, bis das Bild in der Medianebene zum Stillstand kommt, Erfolgt das Zur\u00fcckschnellen in die Mittellage besonders rasch, so kann das Ph\u00e4nomen sich so darstellen, als ob das Bild in der Medianebene auftauchte, nach der Seite wanderte und dort verschw\u00e4nde, um alsbald von einem neuen, ganz gleichartigen Bilde ersetzt zu werden, das in der Mittellinie sichtbar wird und dieselbe Scheinwanderung nach der Seite ausf\u00fchrt. Wie man sieht, erinnert dieser Bewegungsmodus im wesentlichen an jenen, der von allen Beobachtern am feststehenden leuchtenden Objekt wahrgenommen wird und der bestimmt mit den nystagmischen Augenbewegungen in Zusammenhang gebracht werden konnte. Dafs f\u00fcr das hier beschriebene Ph\u00e4nomen das gleiche gilt, wurde durch Bef\u00fchlen des Auges des Beobachters w\u00e4hrend der Nachdrehungsperiode aufser Zweifel gestellt. Es zeigte sich, dafs die Vp., so lange der palpierende Finger den anf\u00e4nglichen \u00e4ufserst rasch oszillierenden Nystagmus f\u00fchlt, das Nachbild in extremer Seitenstellung lediglich die stetige Kreisbewegung beschreiben sieht; erst allm\u00e4hlich, mit dem Ruhiger- und Weiter werden der Nystagmusschl\u00e4ge wird dann jenes Stadium erreicht, in welchem der Beobachter die mit den Nystagmusphasen streng koinzidierenden phasischen Scheinbewegungen des Nachbildes wahrnimmt.\nMit den dem Nystagmus entsprechenden Scheinbewegungen des feststehenden Lichtspaltes d\u00fcrfen die geschilderten phasischen Bewegungserscheinungen am Nachbild keinesfalls identifiziert werden. Sie unterscheiden sich von diesen in grunds\u00e4tzlicher Weise darin, dafs sich das Nachbild nicht relativ zu den Sehfeldgrenzen, sondern mit dem gesamten Sehfelde verschiebt. Man sieht das Nachbild immer in der Sehfeldmitte, an der Stelle des nat\u00fcrlichen Deutlichkeits-\n20*","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nRudolf Dittler.\nmaximums, liegen, nie an der Sehfeldgrenze, einerlei ob es sich gerade in der Richtung nach vorne oder in einer Seitenstellung befindet. Das Ph\u00e4nomen ist seinem Wesen nach allein jener Bewegungserscheinung an die Seite zu stellen, die beim \u00dcbergang von der Reizdrehung zur K\u00f6rperruhe am Nachbild zu beobachten ist (s. S. 293f.). Da es sich also um Vorg\u00e4nge ganz anderer Art handeln mufs, als sie den phasischen Scheinbewegungen bei Beobachtung feststehender Aufsendinge zugrunde liegen, so braucht in der Tatsache, dafs in beiden F\u00e4llen Bewegungserscheinungen gesehen werden, die sich urs\u00e4chlich aus dem Nystagmus herleiten (w\u00e4hrend man doch ein, wohl auch \u00e4ufserlich, gegens\u00e4tzliches Verhalten erwarten w\u00fcrde), keineswegs ein Widerspruch zu liegen.\nWie bereits erw\u00e4hnt wurde, stehen die beschriebenen eigenartigen Befunde zu denen der Mehrzahl der \u00fcbrigen Beobachter in einem, wie es scheint, un\u00fcberbr\u00fcckbaren Gegensatz. Da sie \u00fcberdies im wesentlichen auf die Feststellungen einer einzigen Vp. zur\u00fcckgehen (nur von zwei anderen meiner Vpn. wurden ganz ausnahmsweise entsprechende Beobachtungen zu Protokoll gegeben), so k\u00f6nnte man geneigt sein, sie f\u00fcr das Produkt einer Selbstt\u00e4uschung zu halten und ihnen den gegenteiligen Angaben gegen\u00fcber jede Beweiskraft abzusprechen. Zu dieser Auffassung konnte ich mich nicht entschliefsen, da die Beobachtungen von einem durchaus zuverl\u00e4ssigen, vielfach erprobten Beobachter stammen, ohne jede Ausnahme immer wieder von ihm best\u00e4tigt wurden und in den erw\u00e4hnten Kontrollver-suchen aufserdem eine sehr gewichtige objektive St\u00fctze finden. Dafs die fraglichen Befunde, die auf Grund unserer bisherigen Vorstellungen zun\u00e4chst v\u00f6llig unverst\u00e4ndlich bleiben, die theoretische Ausdeutung der Ergebnisse bei der gegebenen Sachlage erheblich erschweren, liegt auf der Hand.\nBesprechung der Ergebnisse.\nSehen wir von den an letzter Stelle erw\u00e4hnten Beobachtungen zun\u00e4chst ab, so l\u00e4fst sich das Ergebnis der bei willk\u00fcrlichem und bei labyrinth\u00e4rem Nystagmus durchgef\u00fchrten Versuche, rein symptomatologisch genommen, \u00fcbereinstimmend dahin aussprechen, dafs feststehende Aufsendinge w\u00e4hrend des Ablaufes dieser Augenbewegungen in lebhafter oszillierender Scheinbewegung gesehen werden, w\u00e4hrend ein auf der Netzhaut festliegen-","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 297\ndes Nachbild keine Bewegungserscheinungen zeigt, die auf den fortw\u00e4hrenden Lagewechsel der Gesichtslinien schliefsen liefsen. Insofern enthalten die Untersuchungen also eine volle Best\u00e4tigung der eingangs erw\u00e4hnten Angaben Herings; diesen gegen\u00fcber w\u00e4re lediglich festzustellen, dafs meine Vpn. auch beim laby-rinth\u00e4ren Nystagmus in der Mehrzahl der F\u00e4lle nicht nur die der Reaktionsphase entsprechende Scheinbewegung auffafsten, sondern auch die der Nystagmusphase entsprechende, so dafs an Stelle der von Hering beschriebenen einseitig gerichteten Scheinbewegung1 ein Oszillieren bzw. Pendeln der Aufsendinge resultierte. Zieht man unter den durch eine subjektive oder objektive K\u00f6rperdrehung erzeugten Labyrinthwirkungen allein die Augenbewegungen in Betracht, so erscheint die Verwertung dieses Versuches zur St\u00fctzung der These, dafs unwillk\u00fcrlich ablaufende Augenbewegungen keine der jeweiligen Blicklage entsprechende \u00c4nderung der Raumwertverteilung in der Netzhaut mit sich bringen, hiernach durchaus gerechtfertigt. Denn die grunds\u00e4tzliche Gleichheit der Befunde bei willk\u00fcrlichem und labyrinth\u00e4rem Nystagmus l\u00e4fst mit Sicherheit erkennen, dafs die bei letzterem auftretenden Erscheinungen nicht erst durch eine gleichzeitige sensorische Umstimmung der Netzhaut seitens des Labyrinthes bewirkt werden, wie dies oben als immerhin m\u00f6glich bezeichnet wurde (s. S. 276).\nAuf der anderen Seite freilich hat sich der Einfluis des erregten Labyrinthes auf die optische Lokalisation im Laufe der Untersuchung als wesentlich verwickelter herausgestellt, als man bisher wufste, indem als wohlcharakterisierte Wirkungen die dem LiNDNERschen Ph\u00e4nomen analoge stetige Kreisbewegung der Sehdinge und die ausgesprochene Seitenstellung des Nachbildes w\u00e4hrend und nach der K\u00f6rperdrehung beobachtet wurden. Beiden Ph\u00e4nomenen ist gemeinsam, dafs sie beim willk\u00fcrlichen Augenzittern fehlen. Dies k\u00f6nnte als Zeichen daf\u00fcr genommen werden, dafs sie ihre Entstehung beide einer speziellen Labyrinth Wirkung verdanken.2 Vom Standpunkt\n1\ts. hierzu die Anm. S. 279.\n2\tVon einer etwaigen Wirkung der durch die Rotation ge\u00e4nderten Blutverteilung im K\u00f6rper oder der von gezerrten oder geprefsten Organen ausgehenden sensiblen Erregungen, die an sich ebenfalls von Einflufs auf die Raumwertverteilung in der Netzhaut werden k\u00f6nnten, wird hier be-wufst abgesehen, da einigermafsen Bindendes \u00fcber derartige Zusammenh\u00e4nge nicht zu sagen w\u00e4re.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"298\nRudolf Dittler.\nder Frage nach der Art der Beeinflussung des Sehorganes ist diese Labyrinthwirkung, wie folgende \u00dcberlegungen lehren m\u00f6gen, in den beiden F\u00e4llen allerdings ganz verschieden zu bewerten.\nDer Erscheinungskomplex des LiNDNEBschen Ph\u00e4nomens ist, in Anlehnung an die von Hillebband 1 gew\u00e4hlte Art der Darstellung, f\u00fcr sich allein betrachtet, so zu charakterisieren, dafs weder die im Sehfeld gegebenen Orte noch ihre Besetzung mit bestimmten Sehdingen (Qualit\u00e4ten) irgendwelche Wandlung erfahren, das Ver\u00e4nderliche aber darin gegeben ist, dafs der Beobachter sich mitsamt seiner sichtbaren Umgebung (dem Sehraum) in stetiger gleichsinniger Drehbewegung empfindet. Es ist dies vollkommen der gleiche psychische Tatbestand, wfie er vorl\u00e4ge, wenn der Beobachter bei ruhiger Blicklage unter Ausschlufs jeglicher Wirkung auf den Augen be wegungsapparat samt seiner Umgebung in drehende Bewegung versetzt werden k\u00f6nnte und diese Bewegung empf\u00e4nde. Mit den in obigen Versuchen verwendeten Hilfsmitteln kann man sich von diesem Sachverhalt allenfalls einen sinnlichen Eindruck verschaffen, wenn man sich nach Erzeugung eines dauerhaften Nachbildes im Dunkelraum um seine L\u00e4ngsachse dreht, doch mufs man hierbei von der erw\u00e4hnten, mehr oder weniger extremen Seitenstellung des Nachbildes absehen. Als prim\u00e4re Quelle der Bewegungserscheinungen kommt bei diesem dem LiNDNEBschen Ph\u00e4nomen entsprechenden Tatbestand also offenbar die vom Labyrinth erzeugte allgemeine Drehungs- (bzw. Nachdrehungs-)empfindung in Betracht, die in ihrer Genese von optischen Eindr\u00fccken an sich ganz unabh\u00e4ngig ist. Bezeichnenderweise bleibt im Sehfelde mit Bezug auf die jeweilige Lage der Medianebene auch alles unver\u00e4ndert; es kommt nicht zu einer \u00c4nderung der Raumfunktion des Sehorganes, so dafs es nicht fraglich ist, dafs die zu beobachtende Drehbewegung der Seh dinge gar keine spezi fisch-\n1 Fr. Hillebrand. Jahrb\u00fccher f. Psychiatrie u. Neurol. 40, S. 213\u2014265. 1920. Bei der hier sowie in sp\u00e4teren F\u00e4llen gew\u00e4hlten Art der Analyse werden die Begriffe \u201eOrt\u201c, \u201eSehfeld\u201c (oder \u201eSehraum\u201c) und \u201eQualit\u00e4ten\u201c in folgendem Sinne von mir gebraucht: unter den Orten werden die Punkte des Aufsenraumes in ihrer scheinbaren Lage relativ zur Medianebene des K\u00f6rpers, unter dem Sehfeld (Sehraum) der jeweilig sichtbare \u201eAusschnitt\u201c aus dem Aufsenraume, also der Inbegriff aller jeweilig sichtbaren Orte, und unter den Qualit\u00e4ten die Sehdinge nach ihrer Individualit\u00e4t verstanden.","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 299\noptische Erscheinung darstellt und einer unmittelbaren Wirkung des erregten Labyrinthes auf das Sehorgan nicht entspringt. Trifft dies zu, so bleibt das LiNDNERsche Ph\u00e4nomen f\u00fcr das Problem der physiologischen Abh\u00e4ngigkeit und Beeinflufsbarkeit der Raumfunktion des Sehorgans, wie es hier zur Diskussion steht, weiterhin ohne besondere Bedeutung.\nAls ungleich wichtiger f\u00fcr diese Frage erweist sich das Ph\u00e4nomen der Seitenstellung des Nachbildes. Wenngleich ich bis jetzt nicht zu einer vollbefriedigenden Deutung der Zusammenh\u00e4nge gelangen konnte, so steht es doch fest, dafs dieser Erscheinung Wirkungen des Labyrinthes zugrunde liegen, die (direkt oder indirekt) zu einer ver\u00e4nderten Netzhautfunktion im Sinne einer Umstimmung der Raumwerte f\u00fchren m\u00fcssen. Dies ist aus einem Vergleich des vor und nach dem Eintritt der Seitenstellung im Sehfeld gegebenen psychischen Tatbestandes unmittelbar zu entnehmen. Die bis jetzt im Versuch erh\u00e4rteten Tatsachen liegen indessen so, dafs die theoretische Ausdeutung des Ph\u00e4nomens noch von zwei ganz verschiedenen Grundanschauungen aus m\u00f6glich erscheint, von denen freilich keine eine restlose Erkl\u00e4rung aller Einzelheiten gestattet.\nNimmt man die Art, wie die nystagmischen Bewegungen sich unter den verschiedenen Beobachtungsbedingungen im optischen Eindruck auspr\u00e4gen, zum Ausgangspunkt der Analyse und spricht mit Hering dem Lagegef\u00fchl des Auges jeglichen Einflufs auf die optische Lokalisation ab, so wird man das Ph\u00e4nomen der Seitenstellung als Ausdruck einer Labyrinthwirkung auffassen, die sich, ohne dafs eine Augenbewegung ausgef\u00fchrt oder auch nur tendiert w\u00fcrde, unmittelbar an den die Raumfunktion beherrschenden Elementen des Sehorganes geltend macht. Diese Wirkung m\u00fcfste dann darin bestehen, dafs die den mittleren L\u00e4ngsschnitten zugeh\u00f6rige Sehrichtung nicht mehr in die Medianebene des K\u00f6rpers wiese, sondern in eine, je nach der Richtung dei K\u00f6rperdrehung, nach der einen oder anderen Seite von ihr abweichende Schr\u00e4grichtung. Um diese ver\u00e4nderte Lage zu erreichen, m\u00fcfste also das gesamte System der Sehrichtungen eine genau definierbare Umstimmung erfahren, deren Sinn und Gr\u00f6fse von der Art und St\u00e4rke der Labyrintherregung abh\u00e4ngt. Denkt man sich diese Umstimmung w\u00e4hrend der Beobachtung feststehender","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nRudolf Dittler.\nAulsendinge am ruhigstehenden Auge eintreten, so m\u00fcssen ihre optischen Wirkungen darin bestehen, dafs die im Sehfelde gegebenen Qualit\u00e4ten dieselben bleiben wie zuvor, dafs sie aber insgesamt ihren Ort wechseln, indem sie sich bei unver\u00e4ndert bleibender relativer Anordnung alle im gleichen Sinne und um den gleichen Betrag verschieben: kurz, dafs der ganze augenblickliche Sehraum eine seit-liche Verlagerung erf\u00e4hrt, indem auf der einen Seite alte Orte wegfallen, auf der anderen neue Zuwachsen. Dafs dies den im Sehfelde tats\u00e4chlich ablaufenden Vorg\u00e4ngen entspricht, ist f\u00fcr die Nachbildversuche nach der oben gegebenen Schilderung der Erscheinungen ohne weiteres zu erkennen. Aber auch die am feststehenden Lichtspalt erhobenen Befunde (Fehlen der Seitenstellung!) f\u00fcgen sich diesem Tatbestand, wenn man bedenkt, dafs die mit der Verlagerung des Sehraumes erfolgende scheinbare Seitw\u00e4rtsbewegung des Lichtspaltes lediglich durch seine gleichzeitige gegensinnige Scheinverschiebung innerhalb des Sehfeldes infolge des Nystagmus wieder ausgeglichen wird (Abbildung auf peripheren Netzhautpartien).\nUm die Art des hier geforderten unmittelbaren Labyrintheinflusses auf das Auge m\u00f6glichst scharf zu umgrenzen, sei kurz bemerkt, dafs seine optischen Wirkungen von jenen wohl zu unterscheiden sind, die eintreten, wenn man bei ruhendem Blick und ruhendem K\u00f6rper den ganzen umgebenden Baum in Drehung versetzt. In diesem Falle werden (und bei den nystag mischen Bewegungen gilt genau das gleiche) zwar ebenfalls s\u00e4mtliche Orte des Sehraumes von immer neuen Qualit\u00e4ten eingenommen, aber der Sehraum als Inbegriff aller sichtbaren Orte bleibt (entsprechend dem Fehlen einer \u00c4nderung der Baumwertverteilung) stabil und seine Grenzen erfahren keine Verlagerung. Auch im Falle der Ausf\u00fchrung bewufster Blickbewegungen festen Aufsendingen gegen\u00fcber liegen die Dinge anders, da hier (wegen der kompensierenden Umstimmung der Baumwerte) umgekehrt die Sehdinge ihren Ort behalten, w\u00e4hrend der Sehraum sich unter ihnen fortschiebt. Dagegen l\u00e4fst sich der psychische Tatbestand, wie er beim Ph\u00e4nomen der Seitenstellung im Sehfelde gegeben ist, als solcher nachahmen, wenn man mit dauerhaften Nachbildern im Auge im Dunkelraum eine bewufste Seitw\u00e4rtsbewegung des Blickes ausf\u00fchrt oder bei Drehung der ganzen Umgebung im","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 301\nHellen einem bestimmten Punkte mit dem Auge folgt. Doch ist in diesen F\u00e4llen zu bedenken, dals der gleichen Wirkung, d. h. den gleichen Vorg\u00e4ngen im Sehfelde, hier wiederum ganz andere urs\u00e4chliche Momente zugrunde liegen als bei der zur Diskussion stehenden Labyrinthwirkung. Denn bei dieser handelt es sich nach den f\u00fcr ihr Zustandekommen gemachten Voraussetzungen ja gerade um das von Bewufstseinsvorg\u00e4ngen, insbesondere yon bewufsten Augenbewegungen unabh\u00e4ngige Inkrafttreten jener funktioneilen Umstimmung der Raum werte, durch welche bei bewufsten Blickbewegungen die Kompensierung der jeweiligen Verschiebung der Netzhautbilder erreicht wird. Dies gibt dem vorliegenden Falle seine Eigenart und seine theoretische Bedeutung.\nZur Beantwortung der Frage, von welchen Teilen des durch K\u00f6rperrotation erregten Labyrinthes die umstimmende Wirkung auf das Sehorgan ausgehend zu denken w\u00e4re, reicht das in den bis jetzt vorliegenden Versuchen zusammengetragene Material noch nicht aus. Man wird nat\u00fcrlich zun\u00e4chst den Bogengangapparat in Betracht ziehen, da die Seitenstellung des Nachbildes unter Bedingungen beobachtet wird, unter denen andere Symptome, vor allem der Nystagmus, bestimmt auf das Bestehen einer Erregung in demselben hindeuten. Auch der Umstand, dafs das Nachbild bei seiner stetigen Scheindrehung immer im gleichen Sinne von der Medianebene des K\u00f6rpers abweicht, in welchem die Endolymphe bei positiver oder negativer \u00c4nderung der Drehungsgeschwindigkeit sich gegen die Bogengangw\u00e4nde verschiebt, legt die Annahme eines solchen Zusammenhanges nahe. Aus einer \u00dcberpr\u00fcfung der zeitlichen Verh\u00e4ltnisse erwachsen dieser Auffassung nach meinen bisherigen Erfahrungen aber gewisse Schwierigkeiten, da nach den mir vorliegenden Protokolleintr\u00e4gen eine Reduzierung der Seitenstellung w\u00e4hrend der stattfindenden 8\u201410 Reizdrehungen (s. S. 286) nicht beobachtet wurde, obgleich das Drehungsgef\u00fchl als das psychische Korrelat der relativen Endolymphverschiebung meist l\u00e4ngst geschwunden war. Auch mufs aus der Tatsache, dafs die Nacherregungserscheinungen nach 8\u201410 Umdrehungen erfahrungs-gem\u00e4fs ein Maximum zeigen (B\u00e4rany), geschlossen werden, dafs die Endolymphe nach dieser Drehungszahl die Geschwindigkeit ihrer Umgebung voll erreicht hat.","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302\nRudolf Dittler.\nLetztere Feststellung weist eher auf eine Beziehung zum Otolithenapparat hin, der nicht als Differentialorgan funktioniert wie die Bogeng\u00e4nge, sondern Dauerwirkungen auszu\u00fcben gestattet. Man kann sich in der Tat ganz gut denken, dafs es unter der Einwirkung der Zentrifugalkraft zu einer Durchbiegung der Sinneshaare der Christae acust. kommt, die zu einer der Beizdauer zeitlich parallelgehenden Erregung f\u00fchrt. Da das Beizbild im Otolithenapparat unter sonst gleichen Bedingungen bei der Drehung um die K\u00f6rpermittelachse nach rechts und links wegen der symmetrischen Anordnung der Organe ganz das gleiche w\u00e4re, so m\u00fcfste zur Differenzierung der in beiden F\u00e4llen zum Sehorgan gelangenden Impulse allerdings eine (zum mindesten anf\u00e4ngliche) Mitwirkung des Bogengangapparates angenommen werden; doch bedeutet dies keine theoretische Erschwerung, da die Bogeng\u00e4nge ohnedies miterregt sind. St\u00f6rend dagegen f\u00e4llt ins Gewicht, dafs aus der Funktionsweise der Oto-lithen wiederum die verh\u00e4ltnism\u00e4fsig lange Persistenz der Seitenstellung w\u00e4hrend der Nacherregungsperiode nicht recht verst\u00e4ndlich w\u00fcrde, da die sonstigen Erfahrungen aus dem Bereiche des Gleichgewichtssinnes hierzu meines Wissens kein Analogon bieten.1 Von dieser Schwierigkeit abgesehen, h\u00e4tte die Annahme einer Wirkung des Otolithenapparates auf das Sehorgan m. E. sehr viel Ansprechendes, zumal da eine ganz \u00e4hnliche modifizierende Wirkung des Gleichgewichtsorganes auf die Baumwert-verteilung in der Netzhaut z. B. bei Kopfneigungen (AuBE\u00dfTsches Ph\u00e4nomen2) aufser Zweifel steht.\nGegen\u00fcber den soeben diskutierten Vorstellungen, die sich auf der Annahme einer v\u00f6lligen Indifferenz der Augenstellung bei der optischen Lokalisation aufbauten, besteht nun eine zweite M\u00f6glichkeit, die beschriebenen experimentellen Befunde unter einheitlichen Gesichtspunkten zu verstehen. Diese geht gerade von der umgekehrten Voraussetzung aus und kn\u00fcpft an den Parallelismus an, der zwischen der scheinbaren Lage des Nachbildes relativ zur Medianebene des K\u00f6rpers und der jeweiligen mittleren Ablenkung der Augen aus ihrer Prim\u00e4rstellung anscheinend besteht. Beim Nachnystagmus nach kr\u00e4ftiger Beizdrehung\n1\tVgl. hierzu J. Breuer, Pfl\u00fcgers Archiv 16, S. 195, 1890.\n2\tW. Nagel, Zeitschr. f. Sinnes physiol. 16, S. 373, 1898.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 303\nkann man beobachten, dafs die Augen, wenn sie nicht willk\u00fcrlich auf bestimmte Aufsenpunkte gerichtet, sondern den vom Labyrinth sie treffenden Impulsen v\u00f6llig ungehemmt ausgesetzt werden, zun\u00e4chst mit ganz kleinen, raschen Oszillationen sich weit seitlich von ihrer Prim\u00e4rlage bewegen wie in einem Krampf, der erst nach einigen Sekunden sich zu l\u00f6sen beginnt, indem die Schwingungen unter gleichzeitiger Verl\u00e4ngerung ihrer Periode allm\u00e4hlich freier und weiter werden, und die mittlere Ablenkung der Augen aus ihrer Prim\u00e4rstellung sich mehr und mehr verringert. Diesen Vorg\u00e4ngen laufen, wie oben geschildert wurde, die Erscheinungen am Nachbilde nicht nur insofern parallel, als die Seitenstellung mit der seitlichen Abweichung der Augen dem Vorzeichen nach \u00fcbereinstimmen, sondern es lassen sich (im groben) sogar quantitative Beziehungen zwischen beiden auf-zeigen. Direkt beweisbar ist dies zun\u00e4chst freilich nur f\u00fcr die Nacherregungsperiode, doch d\u00fcrfen f\u00fcr die (einer unmittelbaren Beobachtung nur schwer zug\u00e4ngliche) Reizdrehungsperiode wohl \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse angenommen werden. Denn da sowohl die Seitenstellung des Nachbildes als auch die labyrinth\u00e4re Beeinflussung des Augenmuskelapparates w\u00e4hrend dieser Periode sich umgekehrt verhalten wie w\u00e4hrend der Nacherregungsperiode, so ergibt sich auch hier wieder zum mindesten der gleiche Richtungssinn f\u00fcr beide.\nMit dieser Feststellung soll nun nicht etwa gesagt sein, dafs die Tatsache des Parallelismus mit den vorerw\u00e4hnten Vorstellungen unvereinbar w\u00e4re. Denn man kann sich sehr wohl denken, dafs die am muskul\u00e4ren und die am sensorischen Apparat des Auges nachweisbaren Effekte auf streng getrennte Sonderwirkungen des erregten Labyrinthes zur\u00fcckgehen und v\u00f6llig unabh\u00e4ngig voneinander ablaufen. Nimmt man aufserdem, wie dies durchaus naheliegt, f\u00fcr jede dieser Einzelwirkungen eine Proportionalit\u00e4t zur St\u00e4rke der Labyrintherregung an, so erkl\u00e4rt sich der Parallelismus, selbst in quantitativer Beziehung, aus der Gemeinsamkeit der Ursache ganz zwanglos, und man wird, im Hinblick auf die mannigfachen Beweise, die f\u00fcr die Mangelhaftigkeit der sensiblen Kontrolle der Augenstellung vorliegen \\ sogar geneigt sein, dieser Auffassung vom Zusammenhang der Dinge vor jeder anderen den Vorzug zu geben, \u2014 freilich unter Ver-\n1 Lit. s. bei F. B. Hofmann, Ergeb. d. Physiol. 15, S. 238, 1916.","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304\nRudolf Dittler.\nzieht auf die M\u00f6glichkeit, die eigenartigen Beobachtungen \u00fcber phasische Bewegungserscheinungen am Nachbild in die Erkl\u00e4rung einzubeziehen.\nDieser M\u00f6glichkeit begibt man sich nicht und gelangt ebenfalls zu einem gut in sich geschlossenen Gesamtbild, wenn man die Analyse, wie gesagt, von der umgekehrten Seite her versucht und den Parallelismus zwischen mittlerer Augenstellung und Seitenstellung des Nachbildes als Ausdruck einer kausalen Beziehung zwischen beiden betrachtet. Es liegt auf der Hand, dafs die in der Untersuchung ermittelten Beobachtungstatsachen hiernach in ganz anderer Gruppierung erscheinen m\u00fcssen : als das Prim\u00e4re wird die Wirkung des Labyrinthes auf den Bewegungsapparat des Auges angesprochen und in der Sensibilit\u00e4t der Augenmuskeln bzw. der Weichteile der Orbita jenes (allerdings wenig exakt arbeitende) Moment gesehen, unter dessen Vermittelung dann die sensorische Umstimmung des Sehorganes erfolgt, wie sie z. B. in der Seitenstellung des Nachbildes ihren Ausdruck findet.1\nDie Eignung dieser Betrachtungsweise f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Erscheinungen h\u00e4ngt naturgem\u00e4fs vor allem davon ab, ob sie die von dem Lagegef\u00fchl der Augen abh\u00e4ngig gedachte Seitenstellung des Nachbildes mit dem (fast regelm\u00e4fsigen) Fehlen jeglicher phasischen Scheinbewegung in Einklang zu bringen erlaubt. Dies wird m\u00f6glich, wenn man f\u00fcr den sensomotorischen Umstimmungsapparat der Augen eine Tr\u00e4gheit annimmt, die zu grofs ist, als dafs er den nystagmischen Bewegungen in ihrem raschen Ablauf zu folgen verm\u00f6chte. Der Umstimmungsapparat w\u00fcrde sich\n1 Eei der Entwicklung dieser Anschauung wird nicht \u00fcbersehen, dafs die von den Augenmuskeln bzw. den Weichteilen der Orbita ausgehend gedachten sensiblen Impulse oder die ihnen entsprechenden \u201ekin\u00e4stheti-schen Empfindungen\u201c an sich nichts von einem Ortsdatum (als einer immanenten Eigenschaft) enthalten, so wenig wie dies von den die Innervation der Skelettmuskeln regulierenden \u201earthrischen\u201c Empfindungen gilt (Th. Ziehen, Fortschr. d. Psychol., Bd. 1, S. 227 ff.). Es wird aber als m\u00f6glich angenommen, dafs die von der Peripherie zum Zentrum laufenden Impulse die Tr\u00e4ger der prim\u00e4ren Ortsempfindung im Auge auf Grund vielfacher Erfahrung funktionell so umstimmen k\u00f6nnen, dafs sie mit ver\u00e4nderten Ortsdaten reagieren. \u2014 Wegen des Nachweises zentripetalleitender Fasern in den Augenmuskelnerven s. Toger und Sherrington, Proc, physiol. Soc., Journ. of Physiol. 45, S. XV.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 305\nnach dieser Annahme den nystagmischen Bewegungen gegen\u00fcber also \u00e4hnlich verhalten, wie ein tr\u00e4ge reagierendes Galvanometer bei der Erregung durch rasch oszillierende Schwingungen: wie dieses sich, unter Entstellung des erregenden Vorganges, im Grenzfall auf eine station\u00e4re mittlere Ablenkung einstellt, so w\u00fcrde auch jener keine den tats\u00e4chlich ablaufenden Augenbewegungen entsprechende, rasch wechselnde Umstimmung bewirken k\u00f6nnen, sondern lediglich zu einer Einstellung der Netzhautstimmung auf den mittleren Wert der Ablenkung der Gesichtslinie aus der Prim\u00e4rlage f\u00fchren. Auf dieser Grundlage w\u00e4re, wie man sieht, das Fehlen der phasischen Schwankungen am Nachbilde ebensowohl verst\u00e4ndlich wie die Seitenstellung in ihrem eigenartigen Parallelismus zur mittleren Abweichung der Augen, ohne dafs die Existenz einer sensiblen Kontrolle der Augenstellung und eine R\u00fcckwirkung derselben auf die Funktion des Sehorganes grunds\u00e4tzlich geleugnet zu werden brauchte.\nAls ebenso leistungsf\u00e4hig erweist sich die entwickelte Auffassung bei der Analyse fast aller anderen Beobachtungstatsachen, zu denen meine Untersuchung f\u00fchrte. Eine Ausnahme macht, soweit ich sehe, wohl nur die Beobachtung, dafs die Seitenstellung des Nachbildes w\u00e4hrend der ganzen Dauer der 8\u201410 Reizdrehungen unver\u00e4ndert stark bestehen blieb, w\u00e4hrend der Nystagmus doch nachgewiesenermafsen erloschen und von einer dauernden stetigen Seitenstellung des Bulbus w\u00e4hrend der K\u00f6rperdrehung m. W. nichts bekannt ist. Zur Schliefsung der Beweiskette w\u00e4re eine solche zu fordern.1 Die \u00fcbrigen Beobachtungen dagegen sind von der gewonnenen Grundlage aus gut zu verstehen: so ergibt sich beim willk\u00fcrlichen Augenzittern, wo die pendelnden Schwingungen symmetrisch um die zu Beginn des Versuches gegebene Augenstellung erfolgen und zu rasch verlaufen, als dafs der Kompensationsmechanismus bei\n1 Zu einer sicheren Entscheidung dieser noch offenen Frage w\u00e4re, am besten auf photographischem Wege, zu gelangen, wenn man den photographischen Apparat an dem ersch\u00fctterungsfrei rotierenden Drehsitz selbst den Augen der Vp. gegen\u00fcber anbr\u00e4chte, so dafs die Stellung der Augen zu jeder beliebigen Zeit w\u00e4hrend der Reizdrehung objektiv festgestellt werden k\u00f6nnte. Zum Studium des gesamten Ablaufes des Nystagmus w\u00e4hrend der Reizdrehungsperiode, \u00fcber den auch sonst noch mancherlei Unklarheit besteht, sind derartige Versuche, und zwar mit fortlaufender optischer Registrierung, geplant.","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"306\nRudolf Dittler.\nseiner Tr\u00e4gheit gleichen Schritt mit ihnen halten k\u00f6nnte, nach der Theorie f\u00fcr die feststehenden Testobjekte ein scheinbares Schwingen symmetrisch zur anf\u00e4nglichen Nulllage, f\u00fcr das Nachbild ein ruhiges Verharren in eben dieser Stellung, genau wie es durch den Versuch best\u00e4tigt wird. Bei der Beobachtung feststehender Aufsendinge w\u00e4hrend des labyrinth\u00e4ren Nystagmus werden,\nwiederum folgerichtig, oszillatorische Schwingungen beobachtet,\n\u2022 \u2022\nund die \u00dcbereinstimmung zwischen Theorie und praktischem Befund zeigt sich hier besonders schlagend darin, dafs das am Nachbild so konstante Ph\u00e4nomen der Seitenstellung an den feststehenden Objekten fehlt, anscheinend auch dann, wenn der nat\u00fcrliche Ablauf der Labyrinthwirkung durch eine unerw\u00fcnschte Fixationstendenz nicht gest\u00f6rt wird. Denn es leuchtet ein, dafs beim feststehenden Aufsending aus denselben Gr\u00fcnden, aus denen beim Nachbild die Seitenstellung zustande kommt, auf Grund der aufgestellten Voraussetzung eine Kompensierung der seitlichen Blicklage durch \u00c4nderung der optischen Lokalisation zu erwarten ist.\nLeitet man in der geschilderten Weise die Seitenstellung des Nachbildes aus dem Lagegef\u00fchl der Augen und das Fehlen phasischer Scheinbewegungen an demselben aus der relativen Tr\u00e4gheit des zugrunde liegenden Umstimmungsmechanismus her, so finden, wie oben bereits erw\u00e4hnt wurde, auch die von der einen meiner Vpn. erhobenen (letzterw\u00e4hnten) Befunde, die nach d^n bisherigen Vorstellungen schlechthin unverst\u00e4ndlich w\u00e4ren, eine im Rahmen des Ganzen ansprechende Erkl\u00e4rung. Hierin ist ein entschiedener Vorzug dieser Betrachtungsweise zu erblicken. Um die in Frage stehenden Befunde zu verstehen, h\u00e4tte man sich zu denken, dafs zu Beginn der Nachdrehungsperiode die Nystagmusschl\u00e4ge zun\u00e4chst zu lebhaft erfolgen, als dafs eine Aufl\u00f6sung derselben durch den Umstimmungsapparat erreicht w\u00fcrde, w\u00e4hrend sich dies im sp\u00e4teren Verlauf dann \u00e4ndert. Trifft diese Deutung zu, so w\u00e4re hier ein Beispiel gegeben, in dem die Relativit\u00e4t der Tr\u00e4gheit aus den Erscheinungen unmittelbar hervorgeht, und es bliebe nur zu fragen, warum entsprechende Beobachtungen nicht von einer gr\u00f6fseren Zahl der Vpn. gemacht wurden. Dar\u00fcber sind vorerst nur Vermutungen m\u00f6glich, die einerseits an das anscheinend \u00fcberhaupt schwere Ansprechen des sensomotorischen","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Ra umfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 307\nApparates gekn\u00fcpft werden k\u00f6nnen* 1, andererseits auf der Annahme betr\u00e4chtlicher individueller Verschiedenheiten in dieser Beziehung sich aufbauen (wobei \u00fcbrigens noch besonders nachzuweisen w\u00e4re, dafs die Verschiedenheit der Angaben nicht in einem verschiedenartigen Verlauf der abklingenden nystagmischen Bewegungen selbst ihren wesentlichen Grund hat). Besonderer Erw\u00e4hnung bedarf noch die (bei grober Betrachtung befremdende) Tatsache, dafs selbst die f\u00fcr die fraglichen Beobachtungen geeignetste Vp. am feststehenden Lichtspalt w\u00e4hrend des Nachnystagmus jene Erscheinungen, die als Gegenst\u00fcck zur phasischen Bewegung des Nachbildes nach der Theorie gefordert werden m\u00fcssen, nicht wahrnahm. Hieraus erwachsen der \u201eTr\u00e4gheitshypothese\u201c, wie mir scheint, schon deshalb keine ernsten Schwierigkeiten, weil die scheinbare Stillstellung der Aufsendinge, die aus dem wirksamen Mitgehen der sensomotorischen Netzhautumstimmung sich ergeben m\u00fcfsten, subjektiv einfach auf ein Erl\u00f6schen des Nystagmus bezogen, also ihrem Wesen nach nicht richtig erkannt w\u00fcrde. Aber so einfach liegen die Verh\u00e4ltnisse gar nicht, da beim Beobachten eines feststehenden Aufsenpunktes nicht nur die nystagmischen Bewegungen eine Modifizierung ihrer Ablaufsform zu erfahren und vorzeitig abgebrochen zu werden pflegen, sondern die zur Stillstellung aufgebrachten Gegeninnervationen auch ihrerseits Ver\u00e4nderungen der optischen Lokalisation bedingen, die den Ablauf der im Sehfelde auftretenden Erscheinungen in hohem Mafse komplizierend beeinflussen.2\n1 Siehe z. B. bei Fr. Hillebrand, Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 7, S. 97, 1894 sowie die Literaturzusammenstellung bei F. B. Hofmann, Ergebnisse der Physiologie, Bd. 15, S. 238, 1916.\n1 Die Gegeninnervationen gegen die im Ablauf begriffenen nystagmischen Bewegungen, die die Fixationstendenz mit sich bringt, sind nach Mach (Analyse der Empfindungen, 6. Aufl., S. 110\u2014114) einer willk\u00fcrlichen, aber entgegengesetzt gerichteten Innervation \u00e4quivalent zu setzen, f\u00fchren\nhiernach also ihrerseits zu optischen Scheinbewegungen, die ebenso gerichtet sind wie die durch die Reaktionsphase des Nystagmus bedingten. Der hieraus nahegelegten Vermutung, das Ph\u00e4nomen der Seitenstellung k\u00f6nnte etwa einfach durch die Annahme solcher Gegeninnervationen erkl\u00e4rt werden, sind, wie die \u00dcberpr\u00fcfung der Ergebnisse lehrt, die Angaben meiner Vpn. nicht g\u00fcnstig. K\u00f6nnte man sich die Stetigkeit der Seitenstellung auch daraus erkl\u00e4ren, dafs die Gegeninnervationen selbst einen im Vergleich zum Nystagmus mehr kontinuierlichen Charakter bes\u00e4fsen, so","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308\nRudolf Dittler.\nGewinnt durch die angef\u00fchrten Tatsachen, insbesondere durch die M\u00f6glichkeit, die letzterw\u00e4hnten scheinbar unerkl\u00e4rlichen Befunde mit den \u00fcbrigen in Einklang zu bringen, das Lagegef\u00fchl der Augen als Quelle lokalisationsregulierender Impulse f\u00fcr einige Sonderf\u00e4lle vielleicht an Interesse, so wird man mit einer \u00dcbertragung dieses Ergebnisses auf F\u00e4lle, in denen nicht bestimmte experimentelle Erfahrungen dazu zwingen, meines Erachtens sehr vorsichtig sein m\u00fcssen. Dies scheint mir vor allem f\u00fcr den physiologisch wichtigsten Fall der kompensatorischen Raumwert\u00e4nderung beim b e -wufsten Sehen mit bewegten Augen zu gelten. Es ist nicht meine Meinung, dafs die hierf\u00fcr entwickelte HERiNGsche Lehre auf Grund der von mir vorgetragenen Anschauungen aufgegeben oder auch nur zugunsten einer Beteiligung des Lagegef\u00fchles umgestaltet werden sollte. Dazu ist sie experimentell zu \u00fcberzeugend belegt und theoretisch zu einleuchtend, w\u00e4hrend auf der anderen Seite, besonders durch die Untersuchungen Hillebrands \\ aufser Zweifel gestellt ist, dafs der rein durch die Sensibilit\u00e4t des motorischen Apparates vermittelten Umstimmung der Raumwerte jenes Hochmafs von Pr\u00e4zision fehlt, das bei willk\u00fcrlichen Blickbewegungen auf vorbewufste Zielpunkte er-fahrungsgem\u00e4fs tats\u00e4chlich besteht. Dieser Mangel zeigt sich schon, wenn station\u00e4re Augenstellungen ausscliliefslich aus dem Lagegef\u00fchl der Augen beurteilt werden sollen. Zieht man vollends die Lokalisation w\u00e4hrend des Ablaufes von Blickbewegungen in Betracht, so ergibt sich aus einer Ber\u00fccksichtigung der Tr\u00e4gheit des sensomotorischen \u00dcbertragungsapparates, dafs die Exaktheit der Umstimmung immer ganz unzureichend bleiben m\u00fcfste. Denn wrenn der ausl\u00f6sende Vorgang selbst sich in dauernder Ver\u00e4nderung befindet, so treffen die abgehenden Impulse nach Durchlaufung ihrer Reflexbahn das zu regulierende Organ in einem bereits ganz anderen Zustande an, als ihren Entstehungsbedingungen, also sozusagen ihrer \u201eMission\u201c entspricht. Die tats\u00e4chlich bestehende Ruhe der Objekte beim Sehen mit bewegten\nw\u00e4re es ganz unverst\u00e4ndlich, dafs die Seitenstellung gerade beim Beobachten feststehender Aufsendinge fehlt, da doch erfahrungsgem\u00e4fs gerade hierbei energische (wenngleich ungewollte) Gegeninnervationen aufzutreten pflegen, die die optische Wirkung des unterdr\u00fcckten Nystagmus in seiner optischen Aufserung voll zu ersetzen imstande sein m\u00fcfsten.\n1 Fa. Hillebrand, Zeitschr. f. Sinnesphysiol. 14, S. 97. 1894.","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl usw. 309\nAugen w\u00e4re auf dieser Grundlage vollkommen unverst\u00e4ndlich. Mit gutem Grund also hat Hering einen Mechanismus ganz anderer Art f\u00fcr die \u201eadaptative\u201c Einstellung der Raumwerte gefordert und f\u00fcr die bewufsten Blickbewegungen eben die Vorstellung entwickelt, dafs durch die vorangehende Aufmerksamkeitsverlegung die ganze von der Blicklinie zu durchlaufende Bahn bereits durchmustert und die in Frage kommenden Kompensationsmechanismen f\u00fcr jede Teilphase der Bewegung in Bereitschaft gestellt werden. In der Tat k\u00f6nnen mehrere bewufste Blickbewegungen hintereinander nur mit einer gewissen, nicht unbetr\u00e4chtlichen Langsamkeit ausgef\u00fchrt werden, deren Gr\u00f6fse bezeichnenderweise viel weniger nach der auf den Bewegungsvorgang selbst entfallenden Zeit als nach der Tr\u00e4gheit der Be-wufstseinsvorg\u00e4nge, also etwa der Reaktionszeit, sich bemifst. Es will mir also scheinen, dafs man dieser Vorstellung Herings, der Hillebrand1 neuerdings in geistvollen Ausf\u00fchrungen zum erstenmal einen bestimmteren Inhalt gegeben hat, f\u00fcr das Verst\u00e4ndnis der Vorg\u00e4nge bei den bewufsten Blickbewegungen nicht wird entraten k\u00f6nnen.\nDies schliefst auf der anderen Seite aber nat\u00fcrlich nicht aus, dafs bei Augenbewegungen, die der F\u00fchrung durch das Bewufst-sein aus irgendwelchen Gr\u00fcnden entzogen sind, andere Mechanismen zur Wirkung kommen, die beim bewufsten Sehen gar keine Rolle spielen und entsprechend ihrer weit geringeren Feinheit beim vikariierenden Eintreten auch nur Wenigvollkommenes zu leisten, immerhin aber einer absoluten optischen Desorientierung vorzubeugen verm\u00f6gen. Nach Aussage der mitgeteilten Ergebnisse k\u00f6nnte dieser Fall beim (willk\u00fcrlichen und) labyrin-th\u00e4ren Nystagmus in der Weise verwirklicht sein, dafs als vikariierendes Moment das Lagegef\u00fchl der Augen eintritt und zu den Erscheinungen der Seitenstellung des Nachbildes und der phasi-schen Nachbildbewegungen f\u00fchrt. Erkennen wir diesen Zusammenhang der Dinge, f\u00fcr den mehr als ein Wahrscheinlichkeitsbeweis nicht erbracht werden konnte, als gegeben an, so w\u00e4re die eingangs aufgeworfene Frage, ob es berechtigt ist, den Rotationsversuch zur St\u00fctzung der HERiNGschen Anschauung heranzuziehen, nur bedingt zu bejahen, indem er zwar zeigt, dafs der bei bewufsten Augenbewegungen\n1 Fr. Hillebrand, Jahrbuch d. Psychiatrie u. Neurol. 40, S. 213. 1920.\nZeitschrift f. Sinnesphysiol. 52.\t21","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310\nRudolf Dittler.\nwirkende Kompensationsmechanismus hier nicht in T\u00e4tigkeit ist, aber einen Beweis f\u00fcr die absolute Bedeutungslosigkeit des Lagegef\u00fchles f\u00fcr die optische Lokalisation nicht in sich schliefst. Diesen Beweis k\u00f6nnte man in den nach K\u00f6rperrotation auf tretenden Erscheinungen nur dann als gegeben erachten, wenn man in der Seitenstellung des Nachbildes eine Wirkung des erregten Labyrinthes sieht, die nicht auf dem Umwege \u00fcber den Augenbewegungsapparat zustande kommt, gleichzeitig aber das Auftreten phasischer Scheinbewegungen am Nachbild (als irrt\u00fcmlich beobachtet) aus dem Komplex der unter dem Labyrintheinflufs m\u00f6glichen optischen Ph\u00e4nomene ausschliefst.","page":310}],"identifier":"lit35928","issued":"1921","language":"de","pages":"274-310","startpages":"274","title":"\u00dcber die Raumfunktion der Netzhaut in ihrer Abh\u00e4ngigkeit vom Lagegef\u00fchl der Augen und vom Labyrinth","type":"Journal Article","volume":"52"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:47:22.740540+00:00"}