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Über den Nativismus in der Lehre von der Raumwahrnehmung. (Beilage zu der Arbeit von K. Kröncke [, Zeitschr. f. Sinnesphysiol., Bd. 52, S. 217-228])

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{"created":"2022-01-31T14:49:37.990388+00:00","id":"lit35932","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Jaensch, E. R.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 52: 229-234","fulltext":[{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"229\n*\n\u2022 \u2022\nUber den Nativismus in der Lehre von der\nRaum Wahrnehmung.\n(Beilage zu der Arbeit von K. Kr\u00f6ncke.)\nVon\nE. R. Jaensch.\n1. Kr\u00f6nckes Ergebnis \u00fcber die Umkehr des Grund Versuchs erscheint, gleich den \u00fcbrigen Resultaten seiner Arbeit, mit der Anschauung von der Existenz stabiler Raum werte nicht vertr\u00e4glich. Nun wird allerdings von den Vertretern jener Lehre zugestanden, dafs die angeborenen Raumwerte durch die Erfahrung modifizierbar seien und darum wohl auch in unserem Falle modifiziert sind. Aber gerade bei den Versuchen \u00fcber das Kernfl\u00e4chengitter l\u00e4fst sich zeigen, dafs diese Annahme in Widerspr\u00fcche verwickelt. Von der Annahme angeborener, stabiler Raumwerte aus ist zu erwarten, dafs das Gitter, gleich dem Tripel, als eine leicht gekr\u00fcmmte konkave oder konvexe Fl\u00e4che erscheinen werde ; es erscheint aber im Normalfalle als Zickzackkurve. Also m\u00fcfste es auf Erfahrungen beruhen, dafs wir ein ebenes Gitter als Zickzackkurve sehen. Aber die gew\u00f6hnlich in recht allgemeiner Form erfolgende Berufung auf die \u201eErfahrung\u201c braucht in diesem Falle nur einmal ganz scharf formuliert zu werden, um ihre Undurchf\u00fchrbarkeit zu enth\u00fcllen. Vertikale Streifensysteme, die in einer Ebene angeordnet sind, bietet ja unsere Erfahrung auf Schritt und Tritt dar; es braucht nur an Gitter, Gartenz\u00e4une, H\u00e4userfronten, Baumreihen, Alleen erinnert zu werden. Soll man dagegen in unserer Erfahrung Streifensysteme angeben, die zickzackf\u00f6rmig angeordnet sind, so wird man jedenfalls ziemlich m\u00fchsam suchen m\u00fcssen. Der Niederschlag unserer Gesamterfahrung k\u00f6nnte also allenfalls zur Folge haben, dafs eine der\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 52.\t16","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nE. B. Jaensch.\nEbene urspr\u00fcnglich schon nahestehende Gittererscheinung noch mehr zur Ebene wird; schwerlich aber l\u00e4fst sich durch Heranziehung der Erfahrung begreiflich machen, wieso jene Fl\u00e4che die Form einer Zickzackkurve annehmen kann.\n2. Die Anschauung, welche stabile Raumwerte voraussetzt, denkt diese mit Hilfe des Fadentripels bestimmt (Hering-Hillebrand). Das Fadentripel ergibt eine verh\u00e4ltnism\u00e4fsig leicht gekr\u00fcmmte konkave oder konvexe Fl\u00e4che, die von der Ebene im allgemeinen nur sehr wenig abweicht ; nur bei Eidetikern erreichen diese Abweichungen h\u00f6here Betr\u00e4ge (Jaensch und Reich). Man kann sich nun beim Tripel durch die \u00e4ufsersten F\u00e4den eine Ebene gelegt denken und die Abweichung aller Punkte der gesehenen Fl\u00e4che1 von dieser Ebene bestimmen. Entsprechend kann man bei der Zickzackkurve verfahren. Man wird dann hier als Summe der Abweichungen von der Ebene im allgemeinen einen gr\u00f6fseren Wert finden als dort beim Tripel. Die Gittererscheinung, die auf den angeborenen Raumwerten beruht, m\u00fcfste also der Ebene n\u00e4herstehen als die Gittererscheinung, die sich auf die durch die Erfahrung modifizierten Raumwerte gr\u00fcndet. Obwohl uns die Erfahrung Gitter fast stets als ebene Gitter zeigt, m\u00fcfste diese Erfahrung zur Folge haben, dafs wir die Gitter weniger eben sehen, als es ohne diese Erfahrungen der Fall w\u00e4re. Das ist offensichtlich ein Widerspruch, und er zeigt, in welche Schwierigkeiten es f\u00fchrt, wenn man sich nicht nur mit der ganz allgemein gehaltenen Berufung auf die Erfahrung begn\u00fcgt, sondern diese Ansicht einmal wirklich im einzelnen durchzuf\u00fchren sucht.\n3. Die Unterscheidung der angeborenen und der durch Erfahrung vermittelten Raumwerte wird anscheinend zuweilen auch\na\ndarauf gest\u00fctzt, dafs sich die angeborenen \u2014 z. B. die durch die Querdisparation vermittelten \u2014 durch eine besondere Eindringlichkeit auszeichnen. Die von uns beschriebenen Erscheinungen am Gitter zeigen aber ganz dieselbe Eindringlichkeit wie die Erscheinungen am Tripel. Auch von diesem Kriterium aus besteht also kein Grund, beide verschieden zu erkl\u00e4ren, die Er-\n1 Wir reden absichtlich von einer \u201eFl\u00e4che\u201c, um auch den h\u00e4ufigen Fall (Kr\u00f6ncke) miteinzubegreifen, dafs eine wirkliche Fl\u00e4che gesehen wird und nicht nur eine Anzahl von F\u00e4den, durch die man sich eine Fl\u00e4che bestimmt denken kann.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Uber den Nativismus in der Lehre von der Raunnvahrnehmung. 231\nscheinungen am Tripel auf die angeborenen Raumwerte, die am Gitter auf die Erfahrung zur\u00fcckzuf\u00fchren.\n4. Bei den gegenw\u00e4rtigen Versuchen, wie bei so vielen verwandten, ist in der Er scheinung etwas ganz anderes gegeben, als das, was auf Grund der \u201eangeborenen Raumwerte\u201c zu erwarten w\u00e4re. Diese sind also so gut wie nie in der Erscheinung gegeben, sondern fast immer nur durch Abzug dessen, was die Erfahrung hinzugetan habe, erschlossen. Ist dem so, dann liegt die Annahme nahe, dafs der Nativismus in der Raumlehre \u00fcberhaupt gar nicht auf empirischer Beobachtung, sondern auf einer \u2018allgemeineren Erw\u00e4gung beruhe. Nach \u00fcblichem, historisch fundiertem Sprachgebrauch w\u00e4re sie eine Erw\u00e4gung a priori zu nennen ; wir wollen sie, um von jenen sehr berechtigten Gedankeng\u00e4ngen unberechtigten Nebensinn fern-zuhalten, lieber als eine \u201emethodische\u201c bezeichnen. In seiner urspr\u00fcnglichen Form bei Joh. M\u00fcller, Panum, und bei Hering in seiner Fr\u00fchzeit, behauptet der raumpsychologische Nativismus einfach eine eindeutige Zuordnung der Empfindungen und anatomischen Substrate. Aber sehr bald schon, besonders in den klassischen Arbeiten Hillebrands, wird die Bedeutung der anatomischen Substrate erheblich eingeschr\u00e4nkt; nicht mehr an bestimmte Netzhautstellen erscheinen die Tiefenwerte gekn\u00fcpft, sondern an die Grade der Querdisparation, d. h. an die Differenzen beid\u00e4ugiger Sehwinkel. Herings \u201eGrundz\u00fcge der Lehre vom Lichtsinn\u201c (1907) enth\u00fcllten dann mit voller Klarheit, was sich als ein jedenfalls bleibender, unantastbarer Kern des Nativismus mehr und mehr heraussch\u00e4lt. Wir meinen die klassische Stelle, an der die Zur\u00fcckf\u00fchrung der angen\u00e4herten Farbenkonstanz auf \u201eErfahrung\u201c verworfen und als Zirkelschlufs dargetan wird: \u201eDa wir . . . nur \u201eauf Grund der Farben, in welchen wir die Dinge sehen, zur \u201eKenntnis der Beleuchtungsintensit\u00e4t als des angeblichen Mafs-\u201estabes unserer Absch\u00e4tzungen kommen k\u00f6nnten, andererseits \u201eaber eben diese Farben erst das Ergebnis dieser Absch\u00e4tzungen \u201esein soll\u00e8n, so bewegt sich die soeben geschilderte Auffassung1 \u201ein einem unfruchtbaren Zirkel.\n\u201eDafs die Art, in welcher wir die Aufsendinge sehen, in zuweilen \u00fcberw\u00e4ltigenderWeise durch unsere Erfahrung mitbestimmt\n1 D. h. die die Farbenkonstanz nur durch den Hinweis auf die Erfahrung erkl\u00e4rende Auffassung. (D. Verf.)\n16*","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nE. M. Jaensch.\n\u201ewird, ist freilich richtig; aber man darf nicht diejenigen angeborenen Funktionen des Sehorganes, auf Grund deren diese Erfahrungen erst erworben worden sind, selbst wieder als ein Produkt \u201eder Erfahrung hinstellen. Dies tut man aber, wie noch weiter \u201egezeigt werden wird, wenn man insbesondere die auf der Simultan-\u201eanpassung beruhenden Tatsachen aus einem erworbenen, auf un-\u201ebewufsten Schl\u00fcssen und Urteilen beruhenden \u201epsychologischen\u201c \u201eAnpassungsverm\u00f6gen zu erkl\u00e4ren versucht.\u201c\nDies ist in der Tat der bleibende Kern des Nativismus und der Grund, weshalb er trotz aller empirischer Gegeninstanzen gegen seine n\u00e4here Durchf\u00fchrung immer wieder auf seine Grundthese zur\u00fcckkommt: Um Erfahrungen \u00fcber Farbenerscheinungen \u00fcberhaupt machen zu k\u00f6nnen, m\u00fcssen wir in unserem Auge Einrichtungen besitzen, an die unmittelbar, nicht erst durch Vermittlung der Erfahrung, Farbenempfindungen gekn\u00fcpft sind. Und entsprechend: Um Erfahrungen \u00fcber R\u00e4umliches zu machen, m\u00fcssen in den raumperzipierenden Sinnesgebieten Einrichtungen vorhanden sein, an die unmittelbar, nicht erst durch Vermittlung der Erfahrung, Raumwerte gekn\u00fcpft sind. \u2014 In seiner abgekl\u00e4rtesten Form ist der Nativismus nichts anderes als ein methodisches Postulat; es ist der eindringliche Hinweis darauf, dafs der bequeme, seit Jahrhunderten \u00fcbliche Hinweis auf die \u201eErfahrung\u201c zur L\u00f6sung psychologischer und sinnesphysiologischer Probleme nicht ausreicht; es ist demgegen\u00fcber die Forderung, die Einrichtungen zu studieren und aufzuweisen, die die Erfahrung erst m\u00f6glich machen und somit schon vor der Erfahrung vorhanden sein m\u00fcssen. Hat man sich klar gemacht, dafs der Nativismus, von allen \u00fcbersch\u00fcssigen Zutaten befreit, ein berechtigtes methodisches Postulat ist, dann versteht man auch, weshalb die Nativisten vor Beobachtungen, die der speziellen Auspr\u00e4gung ihrer Lehre entgegenstehen, die Waffen nicht strecken. Es liegt eben im Wesen eines methodischen Postulates, dafs es sich durch Beobachtungen nicht widerlegen l\u00e4fst. \u2014 Allein m\u00fcssen die geforderten Einrichtungen nun gerade anatomische Substrate, k\u00f6nnen es nicht auch psychophysiologische Funktionen sein? Halten wir uns nur gegenw\u00e4rtig, wie langsam sich die physiologische Betrachtung der Funktion gegen\u00fcber der anatomischen des Substrats selbst\u00e4ndig machte, und wie eng beide noch in der Hand Joh. M\u00fcllers, des Begr\u00fcnders der nativistischen Theorie, vereinigt","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber den Nativismus in der Lehre von der Raumwahrnehmung. 233\nwaren. Sollte es vielleicht nur der Ausdruck einer vorwiegend dem anatomischen Substrat zugewandten Denkrichtung gewesen sein, dafs man dem bleibenden Grundgedanken des Nativismus sofort jene n\u00e4here Auspr\u00e4gung gab, gleich als w\u00e4re sie eine ganz selbstverst\u00e4ndliche, keiner Diskussion bed\u00fcrftige Folgerung aus jenem Grundgedanken?\n5. In der sich anbahnenden Metamorphose des Nativismus vollzog sich in kurzer Zeit und auf speziellem Gebiet eine Entwicklung, die sich ganz entsprechend, nur auf weiterem Gebiet und im Zeitraum von Jahrhunderten in der Philosophie einst zutrug. In O. Liebmanns Werk \u201eZur Analysis der Wirklichkeit\u201c (4. Aufl. Strafsburg 1911) mag in dem sch\u00f6nen Kapitel, welches \u201eDie Metamorphosen des Apriori\u201c behandelt, nachgelesen werden, wie der kartesianische Gedanke der \u201eIdeae innatae\u201c in der Philosophiegeschichte nicht zur Ruhe kommen will, wie er sich auch durch die empirischen Gegeninstanzen Lockes nicht dauernd abweisen l\u00e4fst, sondern von Leibniz in abge\u00e4nderter Form wieder aufgenommen wird, bis dann Kant \u2014 so, wie ihn Liebmann versteht \u2014 in seinem Apriori den Kerngehalt jener Lehre aus ihren zeitlich bedingten und verg\u00e4nglichen Formen l\u00f6ste. Die Parallelit\u00e4t zwischen der kurzen Entwicklungslinie des sinnesphysiologischen Nativismus und der langen des erkenntnis-theoretischen Rationalismus ist genau. Die \u201eIdeae innatae\u201c bildeten einen angeborenen Besitzstand geistiger Inhalte1; ein solcher Besitzstand geistiger Inhalte ist auch die Gesamtheit der Raumwerte nach der fr\u00fcheren Lehre des Nativismus. Das Kantische Apriori dagegen ist kein System von Wissensinhalten, sondern von Denkmethoden und Funktionen die \u201eErfahrung allererst m\u00f6glich machen\u201c, ihr als notwendige Vorbedingung zugrunde liegen und darum nicht selbst aus Erfahrung stammen k\u00f6nnen. Ganz entsprechend stellt der j\u00fcngere Nativismus ein System von Funktionen heraus, die die sinnliche Erfahrung bedingen und erst m\u00f6glich machen. Eingeborene Ideen als festgegebene Wissensinhalte sind der Entwicklung entr\u00fcckt, das im Kan tischen Sinne apriori Gelieferte ist der Entwicklung f\u00e4hig. Und entsprechend: Fest-\n1 Auf die besonders von den Neukantianern aufgeworfene historische Frage, ob die alten \u201eeingeborenen Ideen\u201c nicht doch schon Z\u00fcge des Kantischen Apriori zeigen, kann an dieser Stelle nicht eingegangen vrerden.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nE. R. Jaensch.\ngegebene Raumwerte sind der Entwicklung nicht zug\u00e4nglich.1 Die Funktionen dagegen, die der j\u00fcngere Nativismus aufsucht, und die der Erfahrung als notwendige Vorbedingung zugrunde liegen, sind biegsam, wandelbar, \u00e4ufserst anpassungsf\u00e4hig an die Umweltbedingungen. Wie anpassungsf\u00e4hig, das zeigen deutlich unsere Untersuchungen \u00fcber den Aufbau der Wahrnehmungswelt (vgl. Zeitschr. f. Psychol.)] ergeben sie doch, dafs sich die Wahrnehmungs in halte in der Jugend noch ganz im Flufs befinden, jeder Anpassung an die individuelle Umwelt noch zug\u00e4nglich sind.\n1 H\u00f6chstens k\u00f6nnen sie nachtr\u00e4glich durch andere Raumwerte ersetzt werden.","page":234}],"identifier":"lit35932","issued":"1921","language":"de","pages":"229-234","startpages":"229","title":"\u00dcber den Nativismus in der Lehre von der Raumwahrnehmung. (Beilage zu der Arbeit von K. Kr\u00f6ncke [, Zeitschr. f. 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