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{"created":"2022-01-31T12:36:13.488744+00:00","id":"lit35939","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Filehne, Wilh.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 53: 134-144","fulltext":[{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134\n\u2022 \u2022\nUber das optische Wahrnehmen von Bewegungen.\nVon\nWlLH. FlLEHNE.\nIm folgenden ist der Ansdruck \u201eWahrnehmung\u201c ausschliefs-lieh in der von Helmholtz f\u00fcr die Sinnesphysiologie benutzten Bedeutung zu verstehen. Ausgeschlossen also ist f\u00fcr uns jede Erkenntnis vom Vorhandensein einer Bewegung, soweit diese Erkenntnis durch logische Schl\u00fcsse, durch bewufstes Urteil gewonnen wird. Daher kommt f\u00fcr uns auch nicht in Betracht, was nach dem Vorg\u00e4nge von Exnek \u201eindirektes\u201c \u2014, wohlverstanden: nicht zu verwechseln mit: exzentrischem \u2014 Sehen von Bewegungen genannt wird. W\u00e4hrend nach Exner beispielsweise die Bewegung des Sekundenzeigers einer Taschenuhr \u201edirekt\u201c d. h. sofort, unmittelbar \u201egesehen\u201c \u2014 oder, wie er es nennt: \u201eempfunden\u201c \u2014 oder wie wir es bezeichnen, \u201ewahrgenommen\u201c wird, ist die Bewegung des Stundenzeigers in unserem Sinne nicht \u201ewahrnehmbar\u201c, sondern wird im Exner-schen Sinne \u201eindirekt\u201c gesehen d. h. aus der Verschiedenheit der Bilder, die man bei Betrachtung der Uhr im Laufe der Zeit erh\u00e4lt. Das gleiche gilt z. B. auch f\u00fcr die Bewegung eines in mehreren Kilometer Entfernung geschauten schnellfahrenden Eisenbahnzuges: wegen der grofsen Entfernung ist die Winkelgeschwindigkeit zu gering um die Bewegung \u201ewahrzunehmen\u201c ; man erkennt, man erschliefst die Bewegung nur daraus, dafs der Zug nach einiger Zeit an einem anderen Orte des ruhenden Gesichtsfeldes gesehen wird.\nEin bewegter materieller Punkt mufs n\u00e4mlich, damit seine Bewegung \u201ewahrgenommen\u201c werden k\u00f6nne, eine Winkelgeschwindigkeit von mindestens 54 Winkelsekunden in der Zeitsekunde (Aubert) haben. Daher k\u00f6nnen wir denn auch \u2014 genau","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das optische Wahr nehmen von Bewegungen.\n135\nso wie an sehr fernen schnellfahrenden Eisenbahnz\u00fcgen \u2014 an kosmischen Massen, solange sie nicht in unsere (irdische) Atmosph\u00e4re geraten (Sternschnuppen, Meteore) keine Bewegung (im physiologischen Sinne) \u201ewahrnehmen\u201c. Denn infolge der grofsen Entfernung, in der sie sich von unserem Auge befinden, ist selbst bei den gr\u00f6fsten f\u00fcr Massen bekannten objektiven Geschwindigkeiten die von uns geschaute Winkelgeschwindigkeit kleiner als 54\" in der Zeitsekunde; sie kann daher nicht \u201ewahrgenommen\u201c werden.\nDas Wahrnehmen einer Bewegung ist ein durchaus eigenartiges, fast spezifisch zu nennendes Erlebnis. Wenn wir \u2014 beispielsweise \u2014 beim Lesen in einem Buche zun\u00e4chst exzentrisch, in der Peripherie unseres Gesichtfeldes, auf dem bedruckten Papiere ein sich bewegendes Insekt zu sehen bekommen, so wenden wir g\u00e4nzlich unwillk\u00fcrlich \u2014 reflektorisch, automatisch \u2014 den Blick auf dieses bewegte Objekt und verfolgen es zun\u00e4chst mit dem Blicke. Durch diese Blick wen dung und Blickverfolgung wird das physiologische Erlebnis deutlicher, beh\u00e4lt aber seine spezifische Eigenart v\u00f6llig bei. Das Deutlicher-werden bezieht sich sowohl darauf, dafs das bewegte Objekt, als auch namentlich darauf, dafs die Bewegung des Objekts foveal, deutlicher, sch\u00e4rfer gesehen wird.\nEin durchaus analoges physiologisches Erlebnis haben wir von unserem allgemeinen Integument her, wenn hier, ohne dafs wir es optisch wahrnehmen k\u00f6nnen, ein \u00e4hnliches Insekt kriecht, sich bewegt. Auch unsere \u00e4ufsere Haut ist ja, ganz wie die Netzhaut, ein mit Lokalisations verm\u00f6gen ausgestattetes Sinnesorgan. F\u00fcr beide Sinnesorgane gilt, wie man ohne weiteres erkennt, dafs Bewegung eines Gegenstandes wahrgenommen wird, wenn eine Summe von Erregungen der physiologischen Elementarapparate \u2014 z. B. St\u00e4bchen, Zapfen, bzw. Tastk\u00f6rperchen und sonstigen Hautnervenendigungen in zeitlicher Folge zu \u201eEmpfindungen\u201c (Helligkeit, Farbe, bzw. Ber\u00fchrung, Druck, Temperatur usw.) f\u00fchren, f\u00fcr die folgendes zutrifft:\n1.\tDie betreffenden Empfindungen m\u00fcssen (gruppenweise) in der Zeit auf einander! olgen.\n2.\tDie Einzelempfindungen (Erregungen physiologischer Elementarapparate) d\u00fcrfen nur von k\u00fcrzerer Dauer sein.\n3.\tBevor die Erregung der Elementarapparate erlischt, m\u00fcssen","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\nW\u00fch. Filehne.\nihnen unmittelbar benachbarte Elementarapparate in gleicher bezw. analoger Erregung sein.\n4.\tWo es sich um das Wahrnehmen der Bewegung eines Gegenstandes (materiellen Punktes) handelt, mufs das Fortschreiten der Erregung zeitlich und r\u00e4umlich kontinuierlich \u00fcber das lokalisierende Sinnesorgan und bez\u00fcglich der Richtung in bestimmter Kurve (eventuell auch gradlinig) erfolgen. Letzteres gilt nicht, wo es sich (wie in gewissen Versuchen Exnees 1 * 3) um die Wahrnehmung der Bewegung von Helligkeitsgrenzen oder um exzentrisch sich ausbreitende Erregungen handelt.\n5.\tDie Geschwindigkeit der wahrzunehmenden Bewegung darf weder \u00fcber noch unter eine gewisse Grenze gehen.\nZu 1. ist zu bemerken: \u201eZeit\u201c ist eine Wahrnehmungs- oder Vorstellungsform. (Es ist f\u00fcr unseren Zweck wohl dienlicher, statt Kants Bezeichnung \u201eAnschauungs\u201c-Form, die doch in ihrem ersten Teile rein optisch klingt und zu dem Irrtum f\u00fchren k\u00f6nnte, als ob ein Blindgeborener der Formen Zeit und Raum entbehren m\u00f6chte, hier das Wort Wahrnehmungsoder Vorstellungsform zu w\u00e4hlen.) Die Z eit Wahrnehmung oder die Vorstellung vom Abfl\u00fcsse der Zeit ist ja ein rein psychischer Vorgang, dessen physiologisches Korrelat in der Grofshirnrinde aufserhalb des \u201eSehorgans\u201c abl\u00e4uft. Physiologisch d\u00fcrfen aber nur solche Vorg\u00e4nge als optische bezeichnet werden, die bis zu ihrem Eintritt ins Bewufstsein ausschliefslich im \u201eSehorgan\u201c ablaufen. Daher gibt es f\u00fcr uns keine Gesichts-\u201eEmpfindungen\u201c, die an und f\u00fcr sich an die Wahrnehmung oder Vorstellung vom Zeitabflufs gebunden sind, \u2014 also auch keine Be w egungs- \u201e Empfindung \u201c.\n1 Exner f\u00fchrte eine weifse z. B. kreisrunde \u201eMarke\u201c so weit in die\nPeripherie des Gesichtsfeldes, bis weder von der Form noch von der weifsen Farbe irgend etwas erkannt werden konnte. Wurde dann die Marke bewegt, so erkannte \u2014 oder wie wires nennen: nahm die Versuchsperson die \u201eBewegung\u201c wahr. Dies nennt Exner nun Bewegungs-\nEmpfindung\u201c. Aber hier liegt zwar nicht Form- und Weifseindruck, sondern eine Helligkeits-\u201eEmpfindung\u201c vor und die Verschiebung der Helligkeitsgrenze wird \u201ewahrgenommen\u201c. Das gleiche wird \u00fcbrigens wahrgenommen, wenn man im hellen Raume bei geschlossenen Angenliedern die Hand dicht am Auge vorbeif\u00fchrt : man sieht \u201eBewegung\u201c d. h. Verschiebung der Helligkeitsgrenzen \u2014, das ist aber keine \u201eEmpfindung\u201c im physiologischen Sinne, sondern eine \u201eWahrnehmung\u201c oder gar schon eine \u201eVorstellung\u201c.","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u2022_ _\nTiber das optische Wahr nehmen von Bewegungen.\n137\n1. Foveale und exzentrische Bewegung sw ah rn ehmung\nim allgemeinen.\nDie t\u00e4gliche Erfahrung lehrt, dafs bei einigermafsen fixiertem Blicke eine Bewegungswahrnehmung eintritt, wenn \u2014 gleichviel ob foveal oder exzentrisch ein Bild \u00fcber die Netzhaut mit nicht zu geringer und nicht zu grofser Geschwindigkeit dahin streicht. Andrerseits wird die Wahrnehmung besonders deutlich, wenn das bewegte Objekt mit dem Blicke verfolgt, wenn also das Bild foveal festgehalten wird und nicht \u00fcber die Netzhaut hinstreicht. Diese beiden Entstehungsweisen scheinen so grundverschieden zu sein, dafs etwas beiden gemeinsames ausgeschlossen sein m\u00f6chte. Einen Ausweg aus diesem dualistischen Widerspruche schien ein Hinweis von Kkiesj zu bieten 1 : \u201eEs ist von Bedeutung, dafs wir wohl das eine, nicht aber das andere dieser Momente im Experimente isolieren k\u00f6nnen. Wir k\u00f6nnen in der Tat das Auge durch Fixierung des Blickes (wenigstens mit gr\u00f6fster Ann\u00e4herung) still stellen und dabei andere Gegenst\u00e4nde durch das Gesichtsfeld ihre Bilder \u00fcber die Netzhaut gleiten lassen. Wenn wir uns dagegen die Aufgabe stellen, einem sich bewegenden Objekt mit dem Auge zu folgen, so ist es unm\u00f6glich, eine Verschiebung der Netzhautbilder auszuschliefsen ; ja es k\u00f6nnte wohl sein, dafs jenes Folgen des Blickes unter allen Umst\u00e4nden nur dadurch erm\u00f6glicht wird, dafs der betreffende Gegenstand sich um kleine Betr\u00e4ge verschiebt und dafs seine nunmehr exzentrische Wahrnehmung das Folgen des Blickes veranlafst.\u201c Im Sinne dieses Hinweises k\u00f6nnte also bei Blickverfolgung des bewegten Gegenstandes sehr wohl das eigentlich wirksame gelegen sein in der Verschiebung seines Bildchens auf der Netzhaut um kleine Betr\u00e4ge, die dann immer wieder durch nystagmusartige Rucke des Augapfels ausgeglichen w\u00fcrden.\nDiese \u00dcberlegung hat zur Voraussetzung, dafs (optimale Geschwindigkeiten vorausgesetzt) das Hingleiten eines Bildes auf der Netzhaut unter allen Umst\u00e4nden \u2014 also an und f\u00fcr sich \u2014 eine Bewegungswahrnehmung zur Folge habe. Dies trifft aber nicht zu. Lediglich tvenn ein Bezugsk\u00f6rper, ein Bezugsbild (auf der Netzhaut) oder allgemeiner: ein Koor-\n1 H.yon Helmholtz, Handbuch d. Physiolog. Optik, 3. Atifl., Bd. III (1910) S. 227.","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nWith. Filehne.\ndinatensystem gegeben ist, relativ zn welchem die Bewegung in Betracht kommt, entsteht beim Hinstreichen eines Bildes von der Netzhaut aus die Wahrnehmung einer Bewegung, \u2014 sonst aber nicht. Wenn aber ein solches Koordinatensystem gegeben ist, relativ zu dem die Bewegung des Gegenstandes in Betracht kommt, so entsteht selbstverst\u00e4ndlich in jedem Falle die Wahrnehmung der Bewegung \u2014, gleichviel, ob es sich um eine objektive oder um eine scheinbare Bewegung handelt. Und hierbei ist es ferner ohne Belang, ob das Bild des Gegenstandes \u00fcber die Netzhaut dahinstreicht oder irgendwo auf der Netzhaut, sei es exzentrisch oder foveal, ruht.\nBei folgender Versuchsanordnung fehlt ein Bezugsk\u00f6rper, Bezugsbild bzw. Koordinatensystem, relativ zu denen eine Bewegung ausgedeutet werden k\u00f6nnte, und infolgedessen verursachen die mit optimaler Geschwindigkeit \u00fcber die Netzhaut hinwegziehenden Bilder \u00e4ufserer Gegenst\u00e4nde keine Bewegungswahrnehmung : In einem Raume \u2014 z. B. einem Zimmer \u2014, in dem allerlei kleinere und grofsere g\u00e4nzlich bewegungslose Gegenst\u00e4nde zu sehen sind, lasse man bei sonst unbewegtem K\u00f6rper die Augen von einer Seite zur anderen, ferner in verti-kalei Richtung mit mannigfachen Geschwindigkeiten wandern. Keines der vielen Objekte, deren Bilder \u00fcber die Netzhaut gleiten, scheint eine Bewegung zu haben.1 * *\nDafs hieibei nicht etwa psychische Benutzung der \u201eErfahrung4* das Entstehen einer Scheinbewegung verhindert, wird aus den im folgenden vorzuf\u00fchrenden Versuchen hervorgehen. Aber schon die bekannten Scheinbewegungen erfahrungsgem\u00e4fs ruhender Gegenst\u00e4nde z. B. bei der parallaktischen Verschiebung, das \u201eVorbeifliegen44 zweifellos ruhender Objekte, wie Telegraphenstangen, Hecken, Gitter bei schnellerer eigener Bewegung \u2014 \u00fcbrigens schon beim Gehen, zumal beim Fahren in schnellbewegtem Vehikel\u2014, alles dies beweist, dafs bei Drehung des Augapfels das Ausbleiben der Scheinbewegung, trotz-\n1 Eine geringe Verr\u00fcckung der Objekte findet doch statt; diese\nr\u00fchrt aber, wie man sich leicht \u00fcberzeugt, nicht von der Drehung und der durch sie erzeugten Wanderung der Netzhautbilder her, sondern von der translatorischen Bewegung des Augapfels z. B. von rechts\nnach links usw.; \u2014 hier\u00fcber siehe weiter unten bei Besprechung der\nparallaktischen Verschiebung.","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"\u2022 \u00bb\nUber das optische Wahrnehmen von Bewegungen.\n139\ndem die Bilder \u00fcber die Netzhaut dahingleiten, nicht durch die\n\u25a0o \u00bb\n\u00dcberzeugung von der erfahrungsgem\u00e4fsen Unbewegtheit der 'betreffenden Objekte herbeigef\u00fchrt ist: vielmehr fehlt die Scheinbewegung, weil kein Bezugssystem vorhanden ist.\n2. Die parallaktische Verschiebung.\nWir pr\u00fcfen jetzt die sogenannte parallaktische Verschiebung, d. i. die Scheinbewegung, die an ungleich weit von uns entfernten ruhenden Gegenst\u00e4nden wahrgenommen wird, wenn wir Kopf und Oberk\u00f6rper rein seitlich, z. B. von links nach rechts, bewegen. Zun\u00e4chst f\u00fchren wir diese Pr\u00fcfung (monokular) bei Fixierung eines sehr entfernten (etwa am Horizontrande oder am \u201eHorizonthimmel\u201c befindlichen) Gegenstandes aus. Das entfernte Objekt scheint v\u00f6llig unbewegt zu bleiben, dagegen bewegen sich (scheinbar) die n\u00e4heren Gegenst\u00e4nde in der unserer eigenen Bewegung entgegengesetzten Richtung {nach links) und zwar um so st\u00e4rker, ausgiebiger, je n\u00e4her sie uns sind. Wenn wir aber bei unserer nach rechts gerichteten K\u00f6rperbewegung einen nahen Gegenstand fixieren, so bewegen sich \u2014 scheinbar \u2014 die uns ferneren Objekte ebenfalls nach rechts, und zwar um so ausgiebiger, je ferner sie uns liegen, w\u00e4hrend das fixierte Objekt relativ zu ihnen unbewegt zu sein scheint.\nEs ist ohne weiteres klar, dafs im ersteren Falle (Fixierung eines entfernten Gegenstandes) das entfernte Objekt bzw. sein in der Fovea ruhendes Bild, f\u00fcr die n\u00e4heren Gegenst\u00e4nde zum Be zugsk\u00f6rper (Bezugsbild) wurde, d. h. von uns als Bezugsk\u00f6rper (Bezugsbild) f\u00fcr die Lokalisierung der n\u00e4heren Objekte benutzt wurde. Und da diese Lokalisierung sich mit derZeit \u00e4nderte, so mufsten wir an den n\u00e4heren K\u00f6rpern eine Bewegung wahrnehmen. Umgekehrt diente im zweiten Falle (Fixierung des n\u00e4heren Objekts) das fixierte Naheobjekt, dessen Bildchen also in der Fovea ruhte, den ferneren Gegenst\u00e4nden als Bezugsk\u00f6rper. Auch hier mufsten wir eine Bewegung wahrnehmen, da infolge unserer eigenen Bewegung die relative Lage der fernen Objekte zum Bezugsk\u00f6rper sich mit der Zeit \u00e4nderte und daher auch die Lokalisation sich \u00e4nderte. Eine einfache geometrische Konstruktion ergibt ohne weiteres, dafs in diesem Falle die ferneren Objekte um so ausgiebigere Bewegungen und \u2022zwar in der Richtung unserer eigenen Bewegung zeigen m\u00fcssen,\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 53.\t10","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nWilli. Fileline.\nje entfernter sie von uns sind, ebenso wie im ersteren Falle die n\u00e4heren Objekte nach der entgegengesetzten Richtung (nach links) sich um so st\u00e4rker \u2014 scheinbar \u2014 bewegen m\u00fcssen, je n\u00e4her sie zu uns liegen.\nWenn die Entfernung zwischen uns und dem fixierten n\u00e4heren Objekte nur ein verh\u00e4ltnism\u00e4fsig kleiner Bruchteil derjenigen ist, die zwischen uns und den ferneren Gegenst\u00e4nden liegt, gewahrt man w\u00e4hrend der parallaktischen Verschiebung zun\u00e4chst nur die auf das fixierte Nahobjekt bezogene unserer eigenen Bewegung gleichgerichtete der Fernobjekte. Bei genauerer Beachtung erkennt man aber, dafs sich auch der fixierte n\u00e4here Gegenstand und zwar in der unserer eigenen Bewegung entgegengesetzten Richtung verschiebt, jedoch in weit geringerem Ausmafs als es f\u00fcr ihn bei Fernblick geschah. Was fungiert f\u00fcr diese geringe, unserer Bewegung entgegengerichtete Verschiebung als Bezugsk\u00f6rper, als Koordinatensystem ? Es ist, wie man ohne weiteres erkennt, das in unserer eigenen K\u00f6rperlichkeit, in unserem Ich gegebene Koordinatensystem, das wir kurz \u201eEgosystem\u201c nennen wollen. Wenn dieses System sich nach rechts bewegt, dann bewegt sich das fixierte Nahobjekt relativ, scheinbar \u2014 nach links. Diese Relativbewegung nach links kommt nun auch f\u00fcr die etwas ferner (im Vergleich zum fixierten Naheobjekt) gelegenen, aber doch noch \u201en\u00e4heren\u201c Gegenst\u00e4nde in Betracht; da diese aber relativ zu dem Bezugsk\u00f6rper (fixiertes Naheobjekt) nach rechts, d. i. in gleicher Richtung sich mit uns bewegen, so nehmen wir f\u00fcr den absoluten Bewegungseindruck (Ausgiebigkeit und Geschwindigkeit der Bewegung) die Differenz dieser beiden Betr\u00e4ge wahr.\n3. Wahrnehmung objektiver Bewegungen bei ruhendem Blick und bei Blickverfolgung.\nIn den folgenden Versuchen bleibt unser eigener K\u00f6rper \u2014 im Gegensatz zu dem im vorigen Kapitel gemeldeten \u2014 und mit ihm also das Egosystem v\u00f6llig in Ruhe. In dem mit allerlei g\u00e4nzlich bewegungslosen Gegenst\u00e4nden ausgestatteten Raume ist nur ein einziges Objekt \u2014 wir w\u00e4hlen hierzu beispielsweise die Spitze des rechten Zeigefingers \u2014, in gradliniger und gleichf\u00f6rmiger Bewegung. Die Richtung sei f\u00fcr den Beobachter horizontal von links nach rechts; die monokulare Gesichtslinie stehe auf der Bahn des bewegten Objekts recht-","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Uber das optische Wahrnehmen von Bewegungen.\n141\nwinklig; die direkte Entfernung der Bahn vom Auge sei 20 bis 50 cm, die Geschwindigkeit etwa 20 bis 50 cm in der Zeitsekunde. In der einen H\u00e4lfte der Versuche wird ein beliebiger Punkt der Bahn, z. B. der Fufspunkt des vom Auge auf sie gef\u00e4llten Lotes fixiert; in der anderen H\u00e4lfte der Versuche dagegen wird das bewegte Objekt, die Fingerspitze, mit dem Blicke verfolgt, also dauernd fixiert, so dafs ihr Netzhautbildchen dauernd foveal ruht, w\u00e4hrend der Augapfel sich bewegt, dreht.\nWird der Bahnpunkt fixiert, so erscheint f\u00fcr den Beobachter nur die Fingerspitze bewegt (und zwar richtig nach rechts), dagegen ruhen alle das Gesichtsfeld bildenden Objekte. Es ist ohne weiteres klar, dafs f\u00fcr das objektiv bewegte Objekt (Fingerspitze) jeder im Gesichtsfelde gesehene Gegenstand \u201eBezugsk\u00f6rper\u201c ist, \u2014 dafs also das ganze Koordinatensystem dieses Feldes es ist, relativ zu welchem die Bewegung des Fingers wahrgenommen wird. In Anbetracht des so mafsgebenden LokalisationsVerm\u00f6gens unseres Sehorgans ist die Ausdeutung des optischen Eindrucks durchaus eindeutig festgelegt. Das Egosystem verh\u00e4lt sich allenfalls in bezug auf die Richtung der wahrgenommenen Bewegung, die nach rechts geht, zustimmend. Was aber den absoluten Gr\u00f6fseneindruck der in der Zeiteinheit zur\u00fcckgelegten Strecken betrifft, so fehlt dem Seh-bewufstsein jeder Anhalt bez\u00fcglich der Bewegung der Fingerspitze relativ zum Egosystem. Denn, wie wir bei der parallaktischen Verschiebung erkannt haben, bedarf es hierzu, dafs die \u2022 \u2022\n\u00c4nderung des Winkels, den die Blicklinie mit dem Egosystem w\u00e4hrend der Fixierung des dort passiv seine Lage zum Egosystem \u00e4ndernden Objekts bildet, uns bewufst werde. Davon kann aber in unserem jetzigen Versuche (Fixierung eines Bahnpunktes) keine Rede sein, denn die Blicklinie \u00e4ndert ja ihre Lage zum Egosystem garnicht. Daher mufs das Sehbewufstsein seine Wahrnehmung oder Vorstellung von der L\u00e4nge der vom Finger in der Zeiteinheit zur\u00fcckgelegten Strecken lediglich von dem nicht die Lage zum Ich, sondern die Lage im Gesichtsfeld betreffenden Lokalisation s verm\u00f6gen des Sehorgans bilden, und das Egosystem tritt bei Fixierung eines Bahnpunktes nicht korrigierend in Funktion.\nIn der zweiten Versuchsreihe fixieren wir dann die bewegte\nFingerspitze und beachten dabei das Verhalten der unmittel-\n10*","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nWilh. Filehne.\nbar an der Bahn gelegenen Gegenst\u00e4nde, die also vom Auge ebensoweit wie die Fingerspitze entfernt sind. W\u00e4hrend der Finger objektiv mit derselben Geschwindigkeit bewegt wird, wie in der vorigen Versuchsreihe, scheint er sich jetzt mit der halb so grofsen zu bewegen und die an der Bahn gelegenen Gegenst\u00e4nde laufen \u2014 scheinbar \u2014 in der entgegengesetzten Richtung (nach links) \u2014 also ihm entgegen und an ihm vorbei \u2014 und zwar mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der der Finger als nach rechts bewegt wahrgenommen wird.1\nWir wollen uns wieder klar machen, welche Bezugsk\u00f6rper, welche Bezugssysteme bei diesen Vorg\u00e4ngen in Betracht kommen. Dafs die scheinbare Wanderung der an der Bahn gelegenen Objekte die fixierte, bewegte Fingerspitze zum Bezugsk\u00f6rper haben, deren Bildchen in der Fovea ruhend bleibt, versteht sich von selbst. Und relativ, d. h. im Vergleich zu ihr fliegen die an der Bahn liegenden Objekte in der entgegengesetzten Richtung. Aber auch bei diesem Versuche sehen wir, wie in der ersten Versuchsreihe, den Finger nach rechts \u2014 allerdings nur mit halber Geschwindigkeit \u2014 sich bewegen. Welches ist f\u00fcr ihn der Bezugsk\u00f6rper? Die an der Bahn liegenden Objekte k\u00f6nnen es nicht sein, denn der Finger ist umgekehrt ihr Bezugsk\u00f6rper. Es bleibt also nur das Egosystem \u00fcbrig, relativ zu dem der Finger sich bewegte; auch hier, ganz wie bei der analogen Versuchsreihe im vorigen Kapitel mit parallaktischer Verschiebung des fixierten n\u00e4heren Objekts wird der variable Winkel wahrgenommen, den die Blicklinie mit dem Egosystem bildet, w\u00e4hrend bei der an d er en Versuchsreihe \u2014 dort bei Fixierung eines unendlich fernen Punktes, hier bei Fixierung eines Bahnpunktes \u2014 dieser Winkel unge\u00e4ndert bleibt. Und gerade die Erfassung dieses Winkels, den die Blicklinie relativ zum Egosystem in der Zeit bestreicht, ist \u2014 wie schon aus dem Mitgeteilten hervorging und wie noch weiter unten eingehender gezeigt werden wird \u2014 von entscheidender Bedeutung f\u00fcr den absoluten Gr\u00f6fseneindruck, den der Beobachter von der in der Zeiteinheit durch den (objektiv oder scheinbar) be-\n1 Alle im Kaum in gleicher Blickrichtung wie die bewegte Fingerspitze gelegenen Objekte bewegen sich (scheinbar) mit gleicher Winkelgeschwindigkeit, also mit um so gr\u00f6fserer (scheinbarer) absoluten Geschwindigkeit, je ferner sie dem Auge liegen, nach links.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dcber das optische Wahrnehmen von Bewegungen.\n143\nwegten Gegenstand zur\u00fcckgelegten Wegstrecke und hierdurch von der Geschwindigkeit der Bewegung erh\u00e4lt.\nWie kommt es nun, dafs, bei konstant bleibender Geschwindig-keit der objektiven Bewegung, die in der Zeiteinheit zur\u00fcckgelegte Strecke doppelt so grofs erscheint, wenn ein Bahnpunkt fixiert wird wie wenn das betreffende Objekt selber fixiert d. h. mit dem Blicke verfolgt wird? Wir haben ermittelt, dafs bei Fixierung der bewegten Fingerspitze die an der Bahn gelegenen, tats\u00e4chlich ruhenden Gegenst\u00e4nde der Fingerspitze entgegen kommen und zwar mit derselben Geschwindigkeit, mit der wir den Finger bewegt sehen. Dagegen blieben diese Gegenst\u00e4nde ruhig auf ihrem Platze, wenn ein Bahnpunkt fixiert wurde. Der Weg zu einem mit gleicher Geschwindigkeit entgegenkommenden K\u00f6rper ist aber \u2014 alles andere gleichgesetzt \u2014 nur halb so lang, wie wenn der K\u00f6rper an Ort und Stelle verbleibt. Und da in gleicher Zeit ein halb so langer Weg zur\u00fcckgelegt zu sein scheint, mufe auch die Geschwindigkeit der Bewegung hier nur halb so grofs erscheinen wie im vorigen Fal e. \u2014 Hiermit ist auch jenes alte ExNER-FLEiscHLSche Paradoxon aufgekl\u00e4rt, das an Pendelschwingungen beobachtet wurde: bei ruhendem Blicke erscheinen sie doppelt so grofs wie wenn das Auge der Bewegung mit dem Blicke folgt. Aber allerdings ist die von uns gebrachte Aufkl\u00e4rung in ganz anderer Richtung gelegen als seinerzeit Aubert auf Grund seiner Kymographion-trommelversuche sie glaubte geben zu d\u00fcrfen. Es liegt ke Anlafs vor, hier auf diese Dinge tiefer einzugehen. Aber ich m\u00f6chte doch darauf hin weisen, um wieviel durchsichtiger die Bedingungen in unseren Versuchen liegen, bei denen es sich um gradlinige, gleichf\u00f6rmige Bewegungen von konstanter Richtung handelt, als bei Pendelbewegungen.\n4. Der absolute Geschwindigkeitseindruck und das\nEgokoordinatensystem.\nWie wir erfahren haben, ist der absolute Geschwindigkeits-eindruck einer Bewegung doppelt so grofs, wenn wir einen Punkt der Bahn fixieren, als wenn wir den bewegten K\u00f6rper mit dem Blicke verfolgen. Wir haben ferner erkannt, auf welc e Weise diese Verschiedenheit zustande kommt. Der n\u00e4chste Gedanke scheint zu sein, dafs einer dieser beiden Eindr\u00fccke unrichtig sein m\u00fcsse. Beide sind aber richtig re ativ zu","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nWilli. Filehne.\nihren Bezugssystemen. Dann fragt es sich aber, wie unser Be-wufstsein sich mit diesem Dualismus abfindet.\nHier ist nun folgendes festzustellen, wenn man an sich selbst, an anderen Menschen, an Hunden und Katzen aufmerksam das \\ erhalten gegen\u00fcber bewegten und sich bewegenden Objekten, Jagdbeutetieren usw. beobachtet. Die beiden Betrachtungsweisen, n\u00e4mlich einmal mit ruhendem Blicke und zweitens mit Blick-Verfolgung werden keineswegs als gleichwertig benutzt. Es sind zwei v\u00f6llig getrenn te Vorg\u00e4nge. Die zuf\u00e4llige, mehr oder weniger exzentrische Wahrnehmung der Bewegung bei ruhendem Blicke gibt nur den Anlafs, dafs der Blick auf das bewegte Objekt eingestellt und dieses nunmehr mit dem Blicke verfolgt werde. Unsere ganze Schulung in der (absoluten) Erkennung von Geschwindigkeiten gewinnen wir \u2014 und die h\u00f6heren Tiere \u2014 nicht bei der ersten exzentrischen Wahrnehmung bewegter Objekte, sondern bei der auf diese folgenden Fixierung, bei der Verfolgung mit dem Blicke, bei dauernd fovealer Betrachtung. Nur bei fovealer\u2014zumal selbstverst\u00e4ndlich bei doppel\u00e4ugiger \u2014 Betrachtung wird auch die Entfernung des bewegten Objektes mit ausreichender Genauigkeit erkannt, so dafs aus ihr und der Winkelgeschwindigkeit ein absoluter Geschwindigkeitseindruck wirklich gewonnen werden kann, was bei exzentrisch gesehener Bewegung nicht gleicherweise zutrifft. Erst Experimente wie die von Exner, Fleischl und mir angestellten liefsen erkennen, dafs die exzentrisch bedingten a b so luten Geschwindigkeitseindr\u00fccke von den \u201enormalen\u201c verschieden sind. (Fixierung von Bahnpunkten kommt aufserhalb des Experiments ohnehin nicht vor.) Es ist also das Material, aus dem das Bewufstsein seine Vorstellungen von absoluten Geschwindigkeitswerten zieht, nur aus den Erfahrungen bei Blick Verfolgung gewonnen. In der Fovea ist es, wo nicht nur das bewegte Objekt, sondern auch die Bewegung des Objektes am deutlichsten gesehen und am richtigsten gedeutet wird. Das Bezugssystem f\u00fcr die Bewegungs-wahinehmung ist zum Unterschiede von der Wahrnehmung bei unbewegten (nicht verfolgendem) Blicke nicht das Gesichtsfeld, sondern das Egosystem. Und das Hilfsmittel hierbei ist neben erkannter Entfernung des bewegten Objektes \u2014 die Erfassung des Winkels, den die Blicklinie im Egosystem bestreicht.","page":144}],"identifier":"lit35939","issued":"1922","language":"de","pages":"134-144","startpages":"134","title":"\u00dcber das optische Wahrnehmen von Bewegungen","type":"Journal Article","volume":"53"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:36:13.488749+00:00"}