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Der Schmerz

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{"created":"2022-01-31T15:38:58.624851+00:00","id":"lit35971","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Achelis, Johann Daniel","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 56: 31-68","fulltext":[{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"31\n(Aus dem physiologischen Institut der Universit\u00e4t Leipzig.)\nDer Schmerz.\nVon\nJohann Daniel Achelis,\nAssistent am Institut.\nInhalts\u00fcbersicht.\tSeite\nI.\tEinleitung: die Schmerzsinnestheorie..........................31\nII.\tBeschreibung einiger Schmerzformen...........................43\nIII.\tTheorie des Schmerzes........................................48\na)\tVorl\u00e4ufige Abgrenzung......................................48\nb)\tSchmerz als komplexes Erlebnis.............................50\nc)\tStruktur des Schmerzkomplexes..............................56\n1.\tIsolierung (Exkurs zur Tierpsychologie).................56\n2.\tGef\u00fchl..................................................64\n3.\tAusfallen der motorischen Reaktion......................67\nIV.\tZusammenfassung..............................................68\nI. Einleitung.\nEs ist das dauernde Verdienst E. H. Webers, in seiner Arbeit \u201eTastsinn und Gemeingef\u00fchl\u201c in Wagners Handw\u00f6rterbuch der Physiologie die \u201eGef\u00fchlsempfindungen\u201c nach ihrer ph\u00e4nomenologischen Beschaffenheit in zwei Gruppen gesondert zu haben: Sinnesempfindungen waren f\u00fcr ihn nur die Erlebnisse aus dem weiten Gebiet des \u201eGef\u00fchlssinns\u201c der \u00e4lteren Physiologie, bei denen eine Beziehung auf \u00e4ufsere Objekte m\u00f6glich ist, wie bei Tast- und Temperaturempfindungen, alles andere, was sonst auch unter dem Gef\u00fchlssinn mitbegriffen wurde, verwies er unter die Gemeingef\u00fchle. Hunger und Durst, Ekel, \u2022 \u2022\nUbelsein, Erm\u00fcdung und nicht zum wenigsten alle Arten von Schmerz z\u00e4hlten in diese Kategorie. \u2014 Seine Erkl\u00e4rungsversuche drangen nicht bis zu einer b\u00fcndigen Theorie dieser Erscheinungen vor. Der damalige Stand der physiologischen Psychologie erm\u00f6glichte noch nicht ihre exakte Erfassung. \u2014 Es ist aber trotz-","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nJohann Daniel Achelis.\ndem sein Nachweis, dafs diese Gemeingef\u00fchle ein besonderes Problem der Physiologie ausmachen, von grofser Wichtigkeit.\nDie Forschung der n\u00e4chsten Jahrzehnte stand aber dann ganz unter dem Einflufs der grofsen Erfolge, die die Sinnesphysiologie auf dem Gebiet des Gesichtssinns und der anderen Sinnesgebiete zu verzeichnen hatte. Hier analysierte man die Erscheinungen nach dem Schema : spezifischer Reiz- Sinnesorgan- Leitungsbahn- Gehirnzentrum-Empfindung. Helmholtz\u2019 \u201ePhysiologische Optik\u201c ist repr\u00e4sentativ f\u00fcr diese Forschungsrichtung. \u2014 Die Gemeingef\u00fchle wollten sich dem Schema nicht recht f\u00fcgen, spezifische Reize waren nicht nachweisbar und es fehlte damit weitgehend die M\u00f6glichkeit exakt messender Untersuchungen. So blieben sie fast v\u00f6llig unbearbeitet und in der Zusammenfassung in Hebmanns Handbuch ber\u00fccksichtigt Funke 1880 wesentlich nur noch den Hautschmerz als \u201eHauptrepr\u00e4sen-ianten der Gemeingef\u00fchle\u201c. Die Ergebnisse der Sinnesphysiologie wurden mit einer Vernachl\u00e4ssigung der Gemeingef\u00fchle und damit eines grofsen Teils des psychophysischen Lebens erkauft. Heute sind die Gef\u00fchle ein bescheidenes Anh\u00e4ngsel an die Physiologie der h\u00f6heren Sinne. Der Vergleich der zusammenfassenden Darstellungen von Weber (1846), Funke (1880) und Thunberg (1905) [in Nagels Handbuch] zeigt deutlich diese Entwicklung, die aus einer F\u00fclle von Fragen und Beobachtungen immer konsequenter das aussondert, was sich experimentell in Analogie mit den h\u00f6heren Sinnen nach dem Reiz-Empfindungsschema bearbeiten l\u00e4fst und alles \u00fcbrige nicht mehr ber\u00fccksichtigt. Nur aus dieser Entwicklungslinie der physiologischen Forschung wird verst\u00e4ndlich, dafs der Hautschmerz als Hauptrepr\u00e4sentant der Gemeingef\u00fchle betrachtet wurde. Auf der Haut finden sich ja Tast- und Temperaturempfindungen, \u00fcber deren Zugeh\u00f6rigkeit zu den Sinnen kein Zweifel bestand und\nderen experimentelle Analyse zum Teil schon gelungen war; \u2022 \u2022\n\u00dcberg\u00e4nge von Temperaturempfindungen in Schmerz waren aus den t\u00e4glichen Erfahrungen bekannt. Man hoffte daher wenigstens -an diesem Punkt die sonst so unklaren Gemeingef\u00fchle nach bew\u00e4hrter Methode bearbeiten zu k\u00f6nnen. An sich w\u00fcrde man ja alles andere als gerade den Hautschmerz nennen, wenn man nach einem Bewufstseinserlebnis gefragt w\u00fcrde, das m\u00f6glichst deutlich die Struktur eines Gemeingef\u00fchles, n\u00e4mlich die Unm\u00f6glichkeit des Bezuges auf ein \u00e4ufseres Objekt, zeigte und inhalt-","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n33\nlieh den Zustand des K\u00f6rpers dem Bewufstsein vermittle. Denn bei der Stichempfindung kann man noch im Zweifel sein, ob dabei nicht angedeutet das Erlebnis eines \u00e4ufseren Gegenstandes da ist der sticht, bei Hunger und Organschmerzen dagegen kann kein Zweifel an dem Erleben des K\u00f6rperzustandes bestehen.\nAllm\u00e4hlich hat sich aber die Untersuchung des Schmerzes auch noch von dieser Richtung der Fragestellung (auf die Gemeingef\u00fchle hin) abgewandt und schliefslich den Schmerz v\u00f6llig unter die Sinnesempfindungen eingereiht. Von der Verwandtschaft mit den Gef\u00fchlen, f\u00fcr die er fr\u00fcher als Hauptrepr\u00e4sentant galt, ist kaum noch die Rede.\nSo finden wir denn als klare Konsequenz der angedeuteten Entwicklung heute an Stelle des Gemeingef\u00fchls Schmerz einen Hautschmerzsinn, der den anderen Hautsinnen gleichwertig angereiht wird und werden zun\u00e4chst zu fragen haben, ob diese Fassung des Schmerzproblems mit den Tatsachen der Physiologie und Psychologie vereinbar ist.\nAls Hauptvertreter dieser unter Physiologen und naturwissenschaftlichen Psychologen weit verbreiteten Schmerz sinn estheorie kann v. Frey gelten, der durch seine Arbeiten \u00fcber die Schmerzpunkte der Haut dieser Auffassung die Wege ebnete. Da hier nicht nur der Hautschmerz, sondern das Schmerzproblem in seiner vollen Ausdehnung untersucht werden soll, lege ich im folgenden in erster Linie Freys Darstellung in der neuesten Auflage seines Lehrbuches1 sowie seine Zusammenfassung in den Fortschritten der Psychologie2 zugrunde, die \u00fcber die Experimentalergebnisse hinaus die Deutung des Schmerzes \u00fcberhaupt versuchen.\nv. Frey teilt zun\u00e4chst die Hautempfindungen in 4 Gruppen, die \u201eam besten durch die Reizarten gekennzeichnet werden, die zu ihrer Ausl\u00f6sung besonders geeignet sind\u201c. So findet er Temperaturempfindungen ausgel\u00f6st durch thermische Reize, Druck- und Kraftempfindungen durch deformierende Reize, Schmerzempfindungen durch chemische Reize. Diese chemischen Reize k\u00f6nnen zun\u00e4chst von aufsen herangebrachte chemische Stoffe sein, die auf das Gewebe erregend bzw. sch\u00e4digend wirken. Dazu kommt dann noch eine zweite Gruppe von chemischen Stoffen, die bei mechanischen oder thermischen Verletzungen im Innern der Gewebe gebildet werden und zu den Schmerznerven hindiffundieren, und schliefslich noch eine Mischung von k\u00f6rperfremden und im K\u00f6rper gebildeten Stoffen bei septischen Wunden und Entz\u00fcndungen. \u201eDie Natur dieser reizenden Stoffe ist unbekannt.\u201c Damit scheint zun\u00e4chst in v\u00f6lliger Analogie mit den anderen Sinnen der zu fordernde ad\u00e4quate Reiz gefunden:\n1\tv. Frey, Vorlesungen \u00fcber Physiologie. 1920. 3. Aufl.\n2\tFortschritte der Psychologie 1914.\nZeitschrift f. Sinnesphysiol. 58.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nJohann Daniel Achelis.\nLichtwellen erregen das Auge, chemische Stoffe die Schmerzorgane. Doch ist diese Analogie nur scheinbar. Reize ich die Haut mit Temperaturreizen steigend von \u201410 Grad bis + 40 Grad, so durchl\u00e4uft die Empfindung eine ganze Reihe von Qualit\u00e4ten. Zun\u00e4chst werden Schmerzempfindungen mit-orregt, dann folgt K\u00e4lte, W\u00e4rme und schliefslich wieder Miterregung von Schmerz. Der Reiz durchl\u00e4uft offenbar eine kontinuierliche Temperaturskala, an beiden Enden der Skala tritt Schmerz auf.\nMan wird es von vornherein nicht ausschliefsen k\u00f6nnen, dafs in diesem Fall an bestimmten Temperaturpunkten jedesmal chemische Stoffe auftreten, die dann die Schmerznerven erregen. Es mufs aber darauf hingewiesen werden, dafs dann zwei gleichsam hintereinander geschaltete Reize \u2014 ein \u00e4ufserer, die Temperatur, und ein innerer, der Reizstoff \u2014 vorhanden w\u00e4ren, und darin liegt schon ein wichtiger Unterschied gegen die ad\u00e4quaten Reize der anderen Sinnesgebiete. Diese werden direkt vom Sinnesorgan rezipiert und l\u00f6sen dort Sctoffwechsel\u00e4nderungen aus. Wesentlicher noch als dieser Unterschied ist aber, dafs in sehr vielen F\u00e4llen der Schmerz eine grofse, manchmal vollst\u00e4ndige Unabh\u00e4ngigkeit von dem \u00e4ufseren Reiz zeigt. Alle Organschmerzen geh\u00f6ren hierher. Zur Annahme eines spezifischen inneren Reizes kommt man da nur, wenn man der Meinung ist, dafs Bewufstseinsph\u00e4nomene nur nach dem oben angef\u00fchrten Schema durch Sinnesreize entstehen k\u00f6nnen. Und selbst dann mufs man noch umgekehrt als gew\u00f6hnlich von der Wirkung auf die Ursache schliefsen: Den Zusammenhang zwischen Licht und Lichtempfindung erf\u00e4hrt man aus der Tatsache, dafs sich an Belichtung des Auges die Lichtempfindung anschliefst, beim Schmerz hat man nur die \u201eEmpfindung\u201c und postuliert den Reiz. Dies Schlufsverfahren ist zum mindesten nicht beweisend und damit fehlt auch der exakte Nachweis des ad\u00e4quaten Reizes.\nDer zentrale Punkt der FaEYschen Lehre ist nun aber die Aufweisung spezifischer Rezeptionsorgane f\u00fcr den Hautschmerz und damit besonderer Schmerznerven. Wenn irgend etwas, so m\u00fcfste doch dieser Experimentalbefund f\u00fcr die Schmerzsinnestheorie sprechen. Man wird vielleicht geneigt sein, die Forderung eines ad\u00e4quaten Reizes aufzugeben, wenn man zeigen kann, dafs es Rezeptoren gibt, die \u2014 wenn auch auf verschiedenem Wege reizbar \u2014 doch immer nur Schmerzempfindungen vermitteln. Nehmen wir f\u00fcr einen Augenblick diesen Nachweis als gegl\u00fcckt an und fragen, ob damit auch schon bewiesen ist, dafs hier Sinnesempfindungen vorliegen. \u2014 Bei allen anderen Sinnen ist es eine Selbstverst\u00e4ndlichkeit, dafs ein besonderer Sinnesapparat vorhanden ist, \u2014 die Einteilung der Sinne geschieht ja zurzeit wesentlich auf anatomischer Grundlage. Jeder Sinn hat spezifische Nerven und Rezeptoren, aber damit ist noch lange nicht gesagt, dafs immer, wenn Nerv und Rezeptor vorhanden sind, man von einer Sinnesempfindung sprechen darf. Zu einem Sinn geh\u00f6rt anerkanntermafsen nach der heutigen Lehre ein ad\u00e4quater Reiz, dessen Fehlen wir oben schon zeigen konnten, und aufserdem die M\u00f6glichkeit, die Empfindungen auf \u00e4ufsere Ursachen zu beziehen (um auch hier der gebr\u00e4uchlichen Terminologie zu folgen, ohne damit \u00fcber die darin enthaltene Wahrnehmungstheorie eine Entscheidung zu f\u00e4llen). Beides l\u00e4fst sich bei allen anderen Sinnen mit Sicherheit aufweisen; dafs man von einem Gesichtssinn spricht, st\u00fctzt","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n35\nsich, mindestens auf die drei Argumente: spezifischer Reiz, Wahrnehmung der Aufsenwelt und spezifisches Sinnesorgan. (Die M\u00f6glichkeit der Aufsen-weltsbeziehung der Schmerzempfindung wird uns weiter unten noch besch\u00e4ftigen.) Die Versuche v. Freys gen\u00fcgen also allein noch nicht zum Nachweis eines \u201eSinnes\u201c.\nNun ist zu alledem dieser Experimentalbeweis keineswegs v\u00f6llig gesichert. Goldscheider1 ist auf Grund ebenso exakter und sorgf\u00e4ltiger Untersuchungen zu abweichenden Resultaten gekommen. Ich referiere die Einw\u00e4nde Goldscheiders gegen die Experimentaluntersuchungen Freys, ohne eine Entscheidung im einzelnen zwischen beiden herbeif\u00fchren zu wollen.\nGoldscheider zeigt, dafs in seinen Versuchen die Haut auch an den schmerzpunktfreien Stellen schmerzempfindlich ist, besonders wenn man die Nadel nicht senkrecht, sondern flach gegen die Haut f\u00fchrt. Er zeigt ferner, dafs selbst an den Schmerzpunkten, die er \u00fcbrigens schon vor v. Frey nachgewiesen hat, meist zuerst eine unterschmerzliche Empfindung auftritt, der dann erst nach einer Pause in einer zweiten Phase die Schmerzempfindung folgt. Und weiter klingt dieser Schmerz dann in einer Empfindung ab, die \u00fcberhaupt nicht mehr schmerzhaft ist. \u201eEs besteht somit die Tatsache, dafs die Erregung der Schmerzpunkte unterschmerzlich beginnt und unterschmerzlich aufh\u00f6rt.\u201c \u2014 Auch die Druckpunkte zeigen Schmerzempfindungen und die von v. Frey angenommene Miterregung von Schmerzpunkten kann einmal dadurch ausgeschlossen werden, dafs der Schmerz am Druckpunkt st\u00e4rker sein kann als in der n\u00e4chsten Umgebung, zum anderen dadurch, dafs st\u00e4rkere Reizung durch den faradischen Strom an den Druckpunkten ein schmerzhaftes Prickeln hervorruft, bei dem schon jede einzelne Empfindung schmerzhaft ist. Schmerzpunkte geben aber keine derartige diskontinuierliche Empfindung, diese kann also nur als Schmerzempfindlichkeit der Druckpunkte gedeutet werden. \u2014 Man m\u00fcf8te die GoLDSCHEiDERSchen Arbeiten bis in alle Einzelheiten referieren, wollte man seinen ausf\u00fchrlichen Beweisgang darstellen. F\u00fcr uns ist jetzt zun\u00e4chst so viel wichtig, dafs Goldscheider zu dem Schlufs kommt, dafs einmal die Schmerzpunkte auch unterschmerzliche Empfindungen vermitteln und auf der anderen Seite auch die Druckpunkte schmerzempfindlich sein k\u00f6nnen, mit einem Wort eine Spezifit\u00e4t f\u00fcr Schmerzempfindungen nicht besteht. Womit nicht gesagt sein soll, dafs nicht gewisse Punkte der Haut bei ihrer Reizung besonders leicht schmerzhafte Empfindungen geben. \u2014 Vorsichtig ausgedr\u00fcckt stellen die GoLDSCHEiDERSchen Untersuchungen das FREYsche Hauptargument in Frage. Wegen der einzelnen Argumente und Gegenargumente mufs auf die GoLDSCHEiDERSchen Arbeiten verwiesen werden.\nWir sahen aber bereits, dafs diese Frage der Spezifit\u00e4t der Hautschmerzorgane letztlich nicht entscheidend f\u00fcr das Schmerzproblem ist. W\u00fcrde man alle anderen angef\u00fchrten Kriterien einer Sinnesempfindung fallen lassen, w\u00e4re kein Ende abzusehen.\n1 Goldscheider, Das Schmerzproblem. Berlin 1920.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nJohann Daniel Achelis.\nMan m\u00fcfste immer neue Sinne konstituieren. Wollustk\u00f6rperchen w\u00fcrden einen Wollustsinn fordern, bestimmte Nervenendigungen im Magen einen Hungersinn usf. Schliefslich w\u00e4re dann auch nicht einzusehen, warum man nur von einem Schmerzsinn spricht. Man nimmt doch zwei Arten von Schmerznerven mit zwei verschiedenen Empfindungsqualit\u00e4ten (oberfl\u00e4chlicher und tiefer Schmerz) an! Beim Hunger ist es wohl am klarsten, dafs man da nicht von einem \u201eSinn\u201c sprechen wird, auch wenn einmal besondere Nerven nachgewiesen sind. Hier w\u00fcrde man sofort einwenden, dafs dieser Hungersinn doch niemals irgendwelche Nachrichten von der Aufsenwelt \u00fcbermittle, dafs er nur das psychische Korrelat gewisser Magenbewegungen oder dergleichen w\u00e4re.\nBeim Schmerz, dem man fr\u00fcher zum mindesten eine Verwandtschaft mit den Gemeingef\u00fchlen zuerkannte, wird also diese beim Hunger entscheidende Frage der \u201eObjektivierbarkeit\u201c, der Beziehung zur Aufsenwelt, zu untersuchen sein. Objektivierbarkeit wird in der Sinnesphysiologie nicht immer im gleichen Sinne gebraucht. Man versteht darunter einmal schon die Tatsache, dafs gewisse Empfindungen auf einen bestimmten K\u00f6rperteil bezogen werden, wie es beispielsweise bei den Empfindungen der Lage der Fall sein kann. Im engeren und eigentlichen Sinn wird damit dies bezeichnet, dafs Sinnesempfindungen nicht subjektiv nur auf den K\u00f6rper, sondern auf \u00e4ufsere objektive Gegenst\u00e4nde bezogen werden. Nur das letzte ist im folgenden gemeint, wenn von Objektivierung die Rede ist. Am deutlichsten ist dies Verh\u00e4ltnis beim Gesichtssinn verwirklicht: in der allt\u00e4glichen Gesichtswahrnehmung ist immer unmittelbar der Eindruck eines \u00e4ufseren Gegenstandes, eines Baumes, eines Tisches usw. gegeben und niemals ein Zustand des Auges, wenn man nicht nachtr\u00e4gliche Reflektion mit dem Erlebnis selbst verwechselt. Bei irgendeinem Gemeingef\u00fchl \u2014 etwa Magenschmerz oder Durst \u2014 ist dagegen nicht die geringste Spur von einem derartigen Objektbezug auf weisbar. Ich sehe den Baum, also etwas durchaus k\u00f6rperfremdes, ich bin durstig, d. h. mein K\u00f6rper ist im Zustand des Wassermangels.\nv. Feey ist der Ansicht, dafs der Schmerz sich prinzipiell genau so verhielte wie die anderen Sinne: \u201eDie Eindr\u00fccke des Schmerzsinnes k\u00f6nnen genau so wie die des Temperatur-, Druck-und Kraftsinnes sowohl in extero- wie propriozeptiver Weise\u201c (objektiviert oder nichtobjektiviert in unserer Ausdrucksweise)","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n37\n\u201everwendet werden. Die F\u00e4higkeit des Feuers zu brennen wird ebenso als eine ihm innewohnende zu seiner Wesenheit geh\u00f6rige Eigenschaft betrachtet als wie die zu leuchten. Der scharfe Geschmack des Pfeffers und der stechende Geruch des Ammoniaks werden auf diese Stoffe bezogen und neben anderen Eigenschaften zu deren Kennzeichnung benutzt. Durch den Umstand, dafs eine einmal gesetzte schmerzhafte Erregung sehr lange nachdauert . . ., \u00fcberhaupt in bezug auf ihren zeitlichen Verlauf eine weitgehende Unabh\u00e4ngigkeit zeigt von dem ausl\u00f6senden \u00e4ufseren Reiz, ist der Zusammenhang zwischen diesem und der Schmerzempfindung viel lockerer als bei den Eindr\u00fccken der anderen Sinne und daher zu Schl\u00fcssen auf die Eigenschaft dieses Reizes wenig geeignet. So richtet sich die Aufmerksamkeit naturgem\u00e4fs auf die Beschaffenheit des schmerzenden Gewebes, was die Wahrnehmung zu einer propriozeptiven macht.\u201c \u2014 Hiergegen ist zu sagen, dafs wir den Gegenst\u00e4nden mancherlei Eigenschaften beilegen, ohne dafs damit irgend etwas Sinnesphysiologisches ausgemacht w\u00e4re, denn jeder Pr\u00e4dikatsatz sagt etwas \u00fcber Eigenschaften von Gegenst\u00e4nden aus ! Das bedeutet aber, dafs das \u201eBeilegen von Eigenschaften\u201c f\u00fcr das analytische Denken, das sich im gesprochenen Satz \u00e4ufsert, wesentlich ist. Man wird also sehr vorsichtig mit der Feststellung der Objektivierbarkeit einer Empfindung sein m\u00fcssen, damit man nicht anstatt der ph\u00e4nomenologischen Analyse des Erlebnisses einen von dem gedachten Zusammenhang und erkenntnistheoretischen Meinungen \u00fcber Subjekt und Objekt verf\u00e4lschten Tatbestand erh\u00e4lt. Auch in unserem Fall ist die Frage durch den Hinweis auf jene Eigenschaft des Feuers noch nicht gel\u00f6st.\nBei der Wahrnehmung eines Gegenstandes ist im Erlebnis selbst Aufsenwelt gegeben. Ich sehe einen Baum, h\u00f6re einen Ton, und f\u00fchle die K\u00e4lte eines Gegenstandes, der meine Hand ber\u00fchrt. Eine nachtr\u00e4gliche Analyse dieser Wahrnehmungen zeigt dann, dafs hier ein Subjekt, das wahrnimmt, deutlich sich von der wahrgenommenen Aufsenwelt trennen l\u00e4fst. Der wesentliche und beim Gesichtssinn z. B. einzige Bewufstseinsinhalt ist aber hier Aufsenwelt. \u2014 Wie steht es nun beim Schmerz? Mir scheint es deutlich zu sein, dafs bei allen Schmerzen innerer Organe, bei Magenschmerzen wie Entz\u00fcndungsschmerzen aller Art, bei Kopfschmerz wie bei neuralgischen Schmerzen, kurz den Formen, die man als charakteristische Beispiele \u00fcberhaupt an-","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nJohann Daniel Achelis.\nf\u00fchren w\u00fcrde, keine Spur von Aufsenweltserleben sich nach-weisen l\u00e4fst. Da gibt es immer nur ein Subjekt das die Schmerzen hat und kein Objekt, wie bei den anderen Sinnen. \u2014 F\u00fcr den Hautschmerz gibt v. Feey selbst zu, dafs er \u201eviel lockerer als bei den anderen Sinnen\u201c mit dem Reiz verbunden sei und deshalb \u201ewenig geeignet zu Schl\u00fcssen auf die Eigenschaften des Reizes\u201c. Hier mufs man vor allem vorsichtig sein: es handelt sich bei der Objektivierung einer Sinnesempfindung nicht darum, dafs irgendwelche Eigenschaften des Reizes erschlossen werden (darauf wurde oben schon hingewiesen), sondern dafs die spezifische Qualit\u00e4t der Empfindung einem Gegenstand als Eigenschaft bei gelegt wird, so dafs mit der Warmempfindung ein warmer Gegenstand, mit der Rotempfindung ein roter Gegenstand wahrgenommen wird. Das ist beim Schmerz v\u00f6llig unm\u00f6glich: \u201eSchmerzen k\u00f6nnen nicht in der Luft herumfliegen\u201c, Schmerz ist nie Eigenschaft eines Gegenstandes, so wenig Sattsein die Eigenschaft der Nahrung ist. Nahrung macht satt, ein Messer ruft Schmerzen hervor, aber nie hat das Messer die Eigenschaft Schmerz \u2014 es fehlt in der Sprache \u00fcberhaupt das entsprechende Adjektiv daf\u00fcr. Die Empfindung Schmerz wird also niemals objektiviert, denn sie kann es ihrem Wesen nach nicht!\nMan wird vielleicht einwenden, dafs ein Fremdk\u00f6rper an der Bindehaut des Auges deutlich nur als schmerzerregender Fremdk\u00f6rper empfunden wird und dafs die Beziehung auf einen Gegenstand dort so stark sei, dafs man noch einen Fremdk\u00f6rper zu f\u00fchlen meine, auch wenn er l\u00e4ngst nicht mehr vorhanden ist. Da w\u00e4re doch wohl der Fall gegeben, dafs die Schmerzempfindung, und sie allein, ein St\u00fcck Aufsenwelt, eben jenen Fremdk\u00f6rper, uns vermittele. \u2014 Es kann nicht geleugnet werden, dafs hier schon im Erlebnis selbst eine Subjekt-Objekt-Trennung vorliegt. Der Schmerz steht aber auf der subjektiven Seite: da ist ein brennender Schmerz jener f\u00fcr die Bindehaut charakteristischen F\u00e4rbung und auf der anderen Seite der Fremdk\u00f6rper, von dem ich nichts weiter aussagen kann, als dafs er da ist. Schmerz als solcher ist also nicht objektiviert. Zudem ist dies offenbar ein extremer Grenzfall und darf als Beweis f\u00fcr m\u00f6gliche Schmerzobjektivation nicht angef\u00fchrt werden.\nDie Schmerzsinnestheorie kann also weder die Existenz eines ad\u00e4quaten Reizes nachweisen, noch l\u00e4fst sich die Behauptung","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n39\nder Gegenst\u00e4ndlichkeit bei n\u00e4herer Analyse aufrecht erhalten. Das Vorhandensein eines spezifischen Nervenapparats ist durch die Untersuchungen Goldscheidees zum mindesten zweifelhaft geworden. Keins der Merkmale f\u00fcr einen Sinn ist also mit Sicherheit erf\u00fcllt, man hat mithin auch kein Recht, von einem Schmerzsinn zu sprechen. \u2014\nEine weitere Fassung des Problems finden wir dann bei G\u00fcLDSCflEIDEE.\nGoldscheidee , dessen Einw\u00e4nde gegen die Hautschmerzexperimente v. Feeys oben schon erw\u00e4hnt wurden, hat auf Grund einer grofsen Zahl experimenteller und \u2014 was bei dem Schmerzproblem, das auf der Grenze zur Pathologie steht, wichtig ist, \u2014 auch klinischer Beobachtungen eine eigene Theorie des Schmerzes aufgestellt. Selbst an den Schmerzpunkten trat bei ihm der Schmerz h\u00e4ufig erst nach einer matten Ber\u00fchrungsempfindung und einer gewissen Latenzzeit als \u201ezweite Phase\u201c auf und es zeigte sich, dafs der Schmerz sich dann auf einen viel gr\u00f6fseren Hautbezirk erstreckte, als der urspr\u00fcnglichen Reizung entspricht. Diese Irradiation folgt den spinalen Innervationsgebieten. Die gleiche Erscheinung konnte er bei seinem bekannten Klemmenversuch nachweisen: klemmt man die Haut mit einer kleinen Arterienklemme eine l\u00e4ngere Zeit, schwindet die Schmerzempfindung allm\u00e4hlich und tritt erst nach Abnehmen der Klemme wieder auf. Gleichzeitig entwickelt sich aber eine hyper\u00e4sthetische Hautzone von gr\u00f6fserer Ausdehnung, die wieder den Innervationsverh\u00e4ltnissen entspricht. Schon hier l\u00e4fst sich die Bedeutung des R\u00fcckenmarks f\u00fcr das Zustandekommen der Empfindung vermuten. Wenn trotz lokalisierter Reizung der Schmerz bzw. die Schmerz\u00fcberempfindlichkeit sich auf ein gr\u00f6fseres Gebiet erstreckt und dieses den Ausbreitungsbezirken der spinalen Wurzeln entspricht, wird jedenfalls nicht nur die Ver\u00e4nderung der Schmerznerven und ihrer Endigungen durch den Reiz, sondern auch der Zustand des betreffenden R\u00fcckenmarksabschnittes wesentlich sein. Dieser \u201espinalen Theorie\u201c f\u00fcgen sich auch die Beobachtungen Heads ungezwungen, die f\u00fcr Fbey erhebliche Schwierigkeiten enthalten. Head konnte bekanntlich nachweisen, dafs bei Erkrankungen innerer Organe sich Zonen in der Haut finden, die in hohem Mafse schmerz\u00fcberempfindlich sind oder dafs sogar der Schmerz nicht in die Organe, sondern in diese Zonen verlegt wird. Diese Zonen ent-","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nJohann Daniel Achelis\nsprechen den Segmenten des R\u00fcckenmarks, zu denen die sensiblen Nerven der Eingeweide ziehen. Ist der Schmerz hier im R\u00fcckenmarkssegment lokalisiert und ist er keine gesonderte Sinnesmodalit\u00e4t, so wird dieser Zusammenhang sofort begreiflich, w\u00e4hrend v. Frey Isolationsfehler und dergleichen zur Erkl\u00e4rung zur Hilfe nehmen mufs, wobei es eine ungel\u00f6ste Frage bleibt, wie unterschmerzliche Organempfindungen, die doch nach v. Frey durch andere Nerven als der Schmerz geleitet werden m\u00fcfsten, pl\u00f6tzlich zu den Schmerznerven der Haut in Beziehung treten k\u00f6nnen. Auch die Hyper\u00e4sthesie kann so nicht erkl\u00e4rt werden. \u2014 Man sollte \u00fcberhaupt den Vergleich des Zentralnervensystems mit einem Telegraphenamt nicht so weit treiben, dafs man von Fehlern der Isolation und falschen Verbindungen spricht, wenn sich irgendeine tats\u00e4chliche Beobachtung dem Bilde nicht ein-f\u00fcgen will. Fehler und falsche Verbindungen gibt es im K\u00f6rper nur, wenn man mit einer falschen Theorie an ihn herantritt. Fs mufs dann eben die Theorie ge\u00e4ndert werden.\nDie grofse Bedeutung des Zentralorgans (gr\u00f6lser als sonst bei den Hautempfindungen) bildet den einen wichtigen Punkt der GoLDSCHEiDERschen Lehre, den anderen der Einflufs des Gesamtzustandes des K\u00f6rpers auf das Auftreten von Schmerzempfindungen. Er bezeichnet es als hyperalgetischen Zustand, wenn schon minimale Reizung zur Ausl\u00f6sung des Schmerzes gen\u00fcgt, oder wenn Fernreize hyperalgetische Zonen zum Anklingen bringen. Beispiele f\u00fcr die Hyperalgesie sind mannigfache Beobachtungen bei Neuralgien und Myalgien. Es gen\u00fcgt, dafs der Patient schlecht geschlafen hat, um seine neuralgischen Schmerzen wieder st\u00e4rker hervortreten zu lassen, oder ein leichter Zug, um einen Anfall von Trigeminusneuralgie hervorzurufen. F\u00fcr das Anklingen auf Fernreize kann eine Selbstbeobachtung Goldscheiders als Beispiel dienen: \u201eBei Gelegenheit einer Nagelbettentz\u00fcndung an meinem kleinen Finger, welche mit einer hyperalgetischen Zone einherging, vermochte ich, w\u00e4hrend bei ruhigem Verhalten gar kein Schmerz empfunden wurde, einen solchen an der entz\u00fcndeten Stelle hervorzurufen, sobald ich im Bereich des hyperalgetischen Gebietes eine minimale taktile Reizung ausf\u00fchrte. Dabei wurde an der Stelle der Reizung kein Schmerz, sondern an dem entz\u00fcndeten Nagelbett ein solcher gef\u00fchlt.\u201c Man sieht im letzten Beispiel besonders deutlich die weitgehende Unabh\u00e4ngigkeit des Schmerzes von dem verursachenden Reiz und","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n41\ndie Bedeutung des Zustandes des Organismus. Goldscheider formuliert dann auch seine Auffassung dahin, dafs der Schmerz \u201enicht der einfache Ausdruck einer Erregung durch einen peripherischen Reiz sei, sondern einen gegen den physiologischen Zustand gesteigerten Tonus der sensiblen Nervenzelle voraussetzte.\u201c \u201eMan k\u00f6nnte sie eine bedingte oder mittelbare Empfindung nennen.\u201c\nDiese Fassung des Schmerzproblems bedeutet gegen\u00fcber v. Frey einen wesentlichen Fortschritt. Auf Grund einer F\u00fclle von Material, das hier nur zum kleinen Teil erw\u00e4hnt werden konnte, zeigt Goldscheider, wie unwichtig f\u00fcr das Zustandekommen des Schmerzes der Reiz ist und f\u00fchrt damit eigentlich schon den entscheidenden Gegenbeweis gegen die Schmerzsinnestheorie. Es ist dadurch bewiesen, dafs der Schmerz sich nach dem Reiz-Empfindungsscliema nicht begreifen l\u00e4fst. Der Tonus des Nervensystems, das Gesamtbefinden des Patienten sind f\u00fcr ihn ja die ausschlaggebenden Faktoren. \u2014\nMan wird sich diesen Schlufsfolgerungen kaum entziehen k\u00f6nnen, und es erscheint nur merkw\u00fcrdig, dafs Goldscheirer immer noch daran festh\u00e4lt, dafs der Schmerz, wenn auch keine besondere Sinnesmodalit\u00e4t, so doch eine bestimmte Qualit\u00e4t der taktilen Empfindung und damit eben doch eine Sinnesempfin-dung ist, w\u00e4hrend er sich tats\u00e4chlich von der einseitig sensua-listischen Deutung weitgehend freigemacht hat. Man hat beim Lesen der GoLDSCHEiDERschen Arbeiten dauernd den Eindruck, als w\u00fcrde eine F\u00fclle wichtiger Beobachtungen in eine zu enge Terminologie geprefst. \u2014 Die Frage Sinnesempfindung oder Gemeingef\u00fchl wird uns daher noch einmal besch\u00e4ftigen m\u00fcssen, und es wird sich dabei erweisen, dafs derartige Diskussionen nicht m\u00fcfsig sind, sondern den Weg zu umfassenderer Problemstellung freimachen. Die neuralgischen Schmerzen des Patienten, der schlecht geschlafen hat, w\u00fcrde wohl, wenn man sie allein, ohne von den anderen Formen des Schmerzes zu wissen, betrachtete, niemand als eine Sinnesempfindung bezeichnen. Kein \u00e4ufserer Reiz ist nachweisbar, keine Objektivierung findet statt, kurz die Verwandtschaft mit anderen Erlebnissen, wie Unwohlsein oder Ekel, w\u00e4re zu offensichtlich, als dafs man sich der Einordnung unter die Gemeingef\u00fchle widersetzen k\u00f6nnte. Selbst die Beziehung auf eine bestimmte K\u00f6rpergegend ist beim Ekel wiederzufinden. Ekel bezeichnet ja oft das Gef\u00fchl \u201edafs es einem","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nJohann Daniel Achelis.\nden Magen umdreht\u201c, Ein grofser Teil der Schmerzerlebnisse w\u00fcrde in diese Gruppe geh\u00f6ren und w\u00fcrde wohl auch dort abgehandelt werden, wenn nicht auf der anderen Seite im Hautschmerz der fliefsende \u00dcbergang in taktile Empfindungen offensichtlich w\u00e4re. Es bleibt aber trotzdem der oben diskutierte Einwand bestehen, dafs der Schmerz nie eine Sinnesempfindung sein kann, weil die M\u00f6glichkeit der Objektivierung fehlt. Es k\u00f6nnen \u2014 und das ist das Entscheidende \u2014 auch nicht gleichartige Erlebnisformen ineinander \u00fcbergehen ! Geht man einmal von diesen empfindungs\u00e4hnlichen Formen aus, verbaut man sich aufserdem noch den Weg zur physiologischen Erforschung der Gemeingef\u00fchle und der Gef\u00fchle \u00fcberhaupt.\nGoldscheider meint mit seiner Formulierung von der Sinnesempfindung her die \u201erein physiologische\u201c Seite des Problems ge-fafst zu haben. Und hier liegt sein Irrtum : auch die Sinnesphysiologie besch\u00e4ftigt sich zum guten Teil mit psychischen Ph\u00e4nomenen, \u2014 die experimentelle Psychologie nahm hier ja ihren Ausgang \u2014 und der Unterschied gegen eine psychologische Bearbeitung liegt nur darin, dafs bei Goldscheider alle Ergebnisse noch streng sensualistisch formuliert werden. Der Sensualismus ist aber eine Richtung der Psychologie, die zum mindesten in dieser strengen Form (abgesehen von einigen unbelehrbaren Nachz\u00fcglern) weitgehend \u00fcberwunden ist.\nWir k\u00f6nnen uns im folgenden k\u00fcrzer fassen. Es kommt ja nicht darauf an, in Form einer Monographie alle Fassungen des Schmerzproblems wiederzugeben. Das w\u00fcrde zudem wenig Ergebnisse bringen, da der Schmerz in der Psychologie eine \u00e4hnliche Rolle spielt wie die Gef\u00fchle : Schmerz und Gef\u00fchle sind \u201ebei der Aufteilung der Bewufstseinserlebnisse zu kurz gekommen.\u201c Sie wollen in keine Kategorie recht passen, und dementsprechend wechselt ihre Auffassung wahllos hin und her. Der Schmerz erweist sich als ein wahrer Proteus: bald ist er Empfindung, bald Gef\u00fchl, bald Gef\u00fchlsempfindung, bald nur Gef\u00fchlston anderer Empfindungen. Wechselseitig l\u00e4fst sich gegen den Schmerz als Gef\u00fchl mit den empfindungs\u00e4hnlichen Formen, gegen den Schmerz als Empfindung mit den gef\u00fchls\u00e4hnlichen Formen argumentieren. Immer sind also scharfe Trennungen wie die zwischen Empfindung und Gef\u00fchl vorgegeben und es wird dann nach Grenzsetzung und Einordnung gefragt, wenn man nicht, wie Stumpe 1\n1 Zeitschrift f. Psychologie 44. 1907.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n43\ndurch Statuierung von Gef\u00fchlempfindungen dem Problem ausweicht und damit nur erreicht, dafs man an Stelle der einen Grenze deren zwei zu ziehen hat.\nAls allgemeines Ergebnis der psychologischen Arbeiten kann man formulieren, dafs der Schmerz zwischen Gef\u00fchl und Empfin-dung steht. Eie endg\u00fcltige Einordnung wird von den verschiedenen Autoren je nach ihrem Ausgangspunkt, nach der Ausdehnung des herangezogenen Materials und schliefslich je nach Fassung des Gef\u00fchlsbegriffes, die ja stark wechselt, vollzogen. So werden diese Probleml\u00f6sungen immer erst im Rahmen der gesamten psychologischen Einstellung ihres Urhebers verst\u00e4ndlich, sie sind aber fast immer in ein sonst fertiges Geb\u00e4ude gleichsam sp\u00e4ter eingesetzt.\nIL Beschreibung einiger Schmerzfornien.\nBei dieser Problemlage wird man gut tun, alle scharfen Einteilungen und theoretischen Vorurteile zur\u00fcckzustellen, und zun\u00e4chst in m\u00f6glichst genauer Beschreibung das Material zu theoretischer Fassung zu gewinnen. Es weFden dabei in erster Linie diejenigen Hinsichten zu ber\u00fccksichtigen sein, an denen die L\u00f6sung des Problems immer wieder auf Schwierigkeiten stiefs: einmal die mit Schmerz h\u00e4ufig verbundenen k\u00f6rperlichen \u201eBegleiterscheinungen\u201c, dann die mehr oder minder scharfe Lokalisierung der Empfindung an einer bestimmten K\u00f6rperstelle, und schliefslich die Beziehung des Erlebenden zur Aufsenwelt. Die Beschreibungen sind also vorl\u00e4ufige und wollen nur den Blick auf das gegebene hinlenken, nachdem man sich allzulange mit abstrakten Konstruktionen besch\u00e4ftigt hat.\n1. F\u00fcr die st\u00e4rksten Schmerzen hat die Sprache die Bezeichnungen wahnsinnig, toll, bl\u00f6dsinnig, rasend, wild \u2014 alles Worte, die in verschiedenen Graden und F\u00e4rbungen ein Aufser-sichsein und Toben bedeuten. Sie treffen diese Form des Schmerzes recht gut. Bei Gallensteinkoliken z. B. kommt es vor, dafs der Mensch vor Schmerz schreit, sinnlos umhertobt, zerreifst, was er in die H\u00e4nde bekommt, sein Gesicht verzerrt \u2014 kurz den Eindruck eines Wahnsinnigen macht. Will man hier die k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge abstrahieren, findet man eine Entz\u00fcndung der Gallenblase, wohl auch krampfhafte Kontraktionen in der Muskulatur der Gallenwege, Erregungen im Nerven-","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nJohann Daniel Achelis.\nsystem, mannigfache Funktions\u00e4nderungen in den zum Teil nur vom vegetativen Nervensystem innervierten Organen, etwa ein ger\u00f6tetes Gesicht, beschleunigte, flache Atmung, beschleunigten Herzschlag und manches andere (experimentelle Untersuchungen wird hier niemand erwarten) und schliefslich Kontraktionen der verschiedenen Muskeln. Physiologisch ist also der ganze K\u00f6rper in ver\u00e4nderter T\u00e4tigkeit. \u2014 Im Bewufstsein finden wir von alledem nichts: der Kranke \u201eweifs vor Schmerzen nicht was er tut\u201c, keine einzelne Bewegung ist als solche bewufst, kein isolierter Affekt, sei es nun Zorn oder Wut, wie er sonst wohl den geschilderten Reaktionen in Blutkreislauf und Atmung entspricht, findet sich, es gibt da nur eins ohne jede Gliederung und Scheidung: eben wahnsinnigen Schmerz. Schmerz ist der schlechthin einzige Bewufstseinsinhalt, und es ist auch nicht m\u00f6glich, von aufsen her irgendeinen anderen Inhalt zu geben. Kein Zureden hilft, keine Ablenkung ist m\u00f6glich, es wird \u00fcberhaupt keinerlei Aufsenwelt aufgefafst, jede Beziehung zur Umgebung ist abgebrochen. Ebenso fehlt auch jedes Zeitbewufstsein. Es f\u00fcgt sich in das Bild dieses gleichsam am\u00f6rphen, ungegliederten Schmerzes gut ein, dafs auch die Lokalisation an einer bestimmten K\u00f6rperstelle v\u00f6llig oder fast v\u00f6llig geschwunden ist. Es gibt hier Schmerz \u00fcberhaupt und nicht mehr Bauchschmerzen, Halsschmerzen oder dergleichen. Wichtig ist bei dieser Form, dafs die sinnlosen Bewegungen genau so gut zu dem Erlebnis geh\u00f6ren, wie die Entz\u00fcndung der Gallenblase und die Atem- und Pulsver\u00e4nderungen. Eine Mannigfaltigkeit von k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen wird im Bewufstsein durch ein unteilbares Erlebnis repr\u00e4sentiert.\nDerart rasende Schmerzen sind selten, sie bilden den beim Menschen kaum verwirklichten Grenzfall. Eine Steigerung des Schmerzes dar\u00fcber hinaus gibt es nicht. Der Mensch w\u00fcrde dann ohnm\u00e4chtig zusammenbrechen. Das ist der Fall bei pl\u00f6tzlich einsetzenden ganz starken Schmerzen, diese Erscheinungen liegen aber zun\u00e4chst aufserhalb unseres Problems.\n2. Die h\u00e4ufigeren Formen starker Schmerzen bieten physisch und psychisch ein anderes Bild. Man denke etwa an die Schmerzen bei Appendizitis oder bei schweren Verwundungen. Der Kranke tobt da nicht wild ziellos herum sondern kr\u00fcmmt sich zusammen, schreit nicht aber st\u00f6hnt wohl. Man w\u00fcrde nie den Vergleich mit einem Wahnsinnigen heranziehen. Schon","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n45\nphysiologisch ist der Vorgang nicht mehr der gleiche: es fehlen hier die starken motorischen Reaktionen. In der Sprache der Physiologie gesprochen greift die Erregung wohl auf das vegetative Nervensystem, aber nur zum kleinen Teil auf die motorischen Nerven \u00fcber. Auch im Bewufstsein finden wir jetzt nicht mehr das v\u00f6llig einheitliche diffuse Schmerzerlebnis. Der Schmerz ist getragen von einem dumpfen Daseinsgef\u00fchl, einer Art Unlust, Unbehagen. Der Kranke ist nicht v\u00f6llig aufser sich,\nsondern weifs in einer unklaren Form um seinen Zustand. Das #\t\u2022 \u2022\nzeigt am besten die sprachliche Aufserung : im wahnsinnigen\nSchmerz schreit man wie ein verwundetes Tier, hier st\u00f6hnt und jammert der Kranke \u201emein Bauch\u201c, \u201emein Bein\u201c, \u201emein Arm\u201c. Gleichzeitig ersieht man daraus, dafs hier zum erstenmal deutliche Lokalisation des Schmerzes an bestimmten K\u00f6rperregionen auftritt. Die Lokalisation ist noch nicht scharf umschrieben wie etwa bei einer Stichempfindung, wo man die Stelle des Stiches recht genau angeben kann. Es ist schwer f\u00fcr den Kranken, zu sagen, wo er eigentlich genau die Schmerzen empfindet \u2014 eine allt\u00e4gliche Erfahrung des Arztes. \u2014 Wie verh\u00e4lt es sich nun mit der Beziehung zur Umgebung? Wird hier in irgendeiner Form Aufsenwelt aufgefafst? Auch diese Kranken sind uninteressiert an allem, was um sie vorgeht, aber v\u00f6llig ohne Wirkung auf sie bleibt es doch nicht. Ein stilles Zimmer und eine ruhige Pflegerin \u201etun woljl\u201c, ohne dafs man sie im einzelnen merkt. Die Schmerzen sind andere, wenn der Verwundete auf dem Schlachtfeld, als wenn er im Lazarett liegt. Beruhigung und Erregung sind Formen, in denen die Umwelt f\u00fcr den Kranken Bedeutung hat. Das Schmerzerlebnis im engeren Sinn bleibt v\u00f6llig auf den K\u00f6rper bezogen. Das schmerzende Bein, der schmerzende Kopf sind die Bewufstseins-inhalte, die sich aus dem sonst ungegliederten Daseinsgef\u00fchl herausheben. \u2014 Es ergibt sich so eine neue Form des Schmerzes, die charakterisiert ist durch das gleichzeitig vorhandene undeutliche und ungegliederte Erlebnis des K\u00f6rpers und der Aufsenwelt und sich physiologisch durch das Fehlen der ziellosen Bewegungen von dem wahnsinnigen Schmerz abgrenzt.\n3. Die Reihe der Schmerzformen ist damit bei weitem noch nicht ersch\u00f6pft. Jeder Arzt kennt die Klagen \u00fcber Stechen in der Brust oder Herzstechen, das sich offenbar wesentlich von den bisher geschilderten Formen unterscheidet. Physio-","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nJohann Daniel Achelis.\nlogisch ist hier wenig mit Sicherheit auszuraachen. Ein organischer Befund ist bei weitem nicht in allen F\u00e4llen da. Oft handelt es sich um das, was der Mediziner \u201efunktionell\u201c oder \u201epsychogen\u201c zu nennen pflegt. Diese Begriffe sind noch nie scharf gefafst, sie sagen nur aus, dafs diese Erscheinungen sich der gebr\u00e4uchlichen Krankheitsauffassung, die vom pathologischanatomisch en Befund her gewonnen ist, widersetzen. Herzstechen kann Symptom der mannigfachsten Herzerkrankungen sein, kann aber auch ohne jeden mit unseren heutigen Hilfsmitteln nachweisbaren Befund auftreten. Stechen in der Brust findet sich in der gleichen Weise bei Phthisikern wie bei Hypochondern, die f\u00fcrchten, tuberkul\u00f6s zu sein. Auch im \u00fcbrigen finden wir keine physiologischen Funktions\u00e4nderungen oder motorischen Reaktionen. \u2014 Im Bewufstsein ist das auf den ersten Blick Auffallende und Charakteristische die scharfe Lokalisation. \u2014 Die Beschr\u00e4nkung auf eine geringe Ausdehnung ist ja die wesentliche Eigenschaft eines Stiches. Hier k\u00f6nnte man zum ersten Male allenfalls mit einigem Recht den Begriff Empfindung verwenden. Denn hier findet sich der Schmerz als isoliertes Element eingeschoben in einen im \u00fcbrigen unver\u00e4nderten Be-wufstseinsablauf. Nicht einmal die Stimmung, die Gef\u00fchlslage braucht eine charakteristische zu sein, Herzstiche k\u00f6nnen pl\u00f6tzlich auftreten, mag man nun gedr\u00fcckt oder vergn\u00fcgt sein. \u2014 Die Beziehung des Patienten zur Aufsenwelt ist kaum ge\u00e4ndert, die Auffassung der Umwelt vollzieht sich in der gewohnten Weise. Das Schmerzerlebnis selbst aber bleibt auf den K\u00f6rper bezogen. Die Stiche sind \u201ein der Brust\u201c, \u201eim Herzen\u201c, und niemand wird nach der Nadel oder dem Messer ernsthaft suchen, das ihn sticht. Auf nicht immer eindeutig angebbarer physiologischer Grundlage findet sich also eine dritte Form des Schmerzesr die sch\u00e4rfer lokalisiert ist als die bisherigen und sich nur auf kurze Zeit in den Ablauf eines sonst ungest\u00f6rten Bewufstseins einschiebt.\n4. Die Hautschmerzen pflegt man als gesonderte Gruppe den Schmerzen in den inneren Organen gegen\u00fcberzustellen, weil man dabei einseitig an die im Experiment erzielten \u201eEmpfindungen\u201c denkt. Im Leben sind diese Schmerzempfindungen aber grofse Seltenheiten, wTenn sie \u00fcberhaupt je Vorkommen. Entweder gleicht der Hautschmerz in allen wesentlichen Z\u00fcgen dem Typus des wahnsinnigen oder dem des Peritonitisschmerzes oder er ist von","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n47\nder Art, die als Reflexschmerz uns im folgenden noch besch\u00e4ftigen mufs. Es ist die gew\u00f6hnliche Reaktion, dafs man zur\u00fcckzuckt, wenn man dem heifsen Ofen zu nahe gekommen ist oder gestochen wird; selbst auf einen Insektenstich reagiert man mit einer pl\u00f6tzlichen Handbewegung. Der physiologische Vorgang ist damit klar gegeben: ein Reflex mit afferenter und efferenter Bahn und einem kleinen Teil des R\u00fcckenmarks als Zentrum. \u2014 Psychologisch betrachtet ist dieser Schmerz analog dem Herzstechen in ein Bewufstsein eingef\u00fcgt, das in seiner Struktur und seiner Beziehung zur Umwelt keine Ver\u00e4nderung zeigt. Auch die scharfe Umgrenzung und deutliche Lokalisation an bestimmten K\u00f6rperstellen scheint auf den ersten Blick die gleiche zu sein. Eine genauere Analyse zeigt aber, dafs im ersten Augenblick des Zur\u00fcckzuckens nicht der lokalisierte Schmerz, sondern Schmerz anderer Art empfunden wird. Ber\u00fchrt man den heifsen Ofen und zuckt zur\u00fcck, so weifs man nicht sofort, an welchem Finger man sich verbrannt hat. Man kennt aber sofort die Richtung, die man zu meiden hat. Es ist ein Schmerz, dessen Beziehung zur Aufsenwelt darin besteht, dafs in ihm die Richtung auf einen sonst gegebenen Gegenstand oder Richtung \u00fcberhaupt aufgefafst wird. Diese Form, der eigentliche Reflexschmerz, scheint in seiner eigenartigen Struktur bisher gar nicht bemerkt zu sein, weil man nie die verschiedenen Formen des Schmerzes unter Einbeziehung der k\u00f6rperlichen Erscheinungen auch nur beschrieben hat. Nachdem man einmal im Nadelexperiment so etwas wie eine Schmerzempfindung erzeugt hatte, nahm man diese Empfindung als ein festes, unver\u00e4nderliches Element, als einen psychischen Baustein, aus dem man durch Anf\u00fcgung \u00e4hnlicher Bausteine das Bewufstsein konstruieren wmllte. Wenn man aber einmal die ganze F\u00fclle der Bewufst-seinserlebnisse sich wirklich vergegenw\u00e4rtigt hat, wird man es kaum noch verstehen, wie es je versucht werden konnte, mit einem Begriff den Schmerz wissenschaftlich zu erfassen.\n5. Als letztes Beispiel mufs noch auf einen Fall von Haut-\n\u2014 \u201e , \u2022 \u2022\nschmerz kurz hingewiesen werden, der die meiste \u00c4hnlichkeit mit der experimentellen Schmerzempfindung zeigt : der Fall einer kleinen Verletzung oder Brandblase an der Hand. Genaue Lokalisation, keinerlei Aufsenweltsbeziehung, dauerndes Vorhandensein im Bewufstsein neben einem sonst unver\u00e4nderten Ablauf sind seine Hauptmerkmale.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nJohann Daniel Achelis.\nMit diesen Beispielen ist die Ph\u00e4nomenologie des Schmerzes keineswegs ersch\u00f6pft. Sie gen\u00fcgen aber, um klar zu machen, was unter Schmerz hier verstanden wird, und sind so gew\u00e4hlt, dafs sich die Haupthinsichten und ihre Deutung daraus gewinnen lassen.\nIII. Theorie des Schmerzes.\na) Vorl\u00e4ufige Abgrenzung.\nBei allen angef\u00fchrten Beispielen mufs auf den ersten Blick auffallen, dafs k\u00f6rperliche Reaktion und Schmerzerlebnis in engster Verbundenheit auftreten: liefsen sich doch die verschiedenen Formen nach Auftreten und Art der k\u00f6rperlichen Reaktion beschreiben. Reflexschmerz (Beispiel 4) und starke Magenschmerzen (Beispiel 2) unterscheiden sich offenbar sowohl in ihrem k\u00f6rperlichen wie psychischen Gegebensein, und ich sehe keine M\u00f6glichkeit, K\u00f6rper und Seele in ein Fr\u00fcher und Sp\u00e4ter, Ursache und Wirkung, auseinanderzulegen. In demselben Augenblick, w7o der k\u00f6rperliche Vorgang ge\u00e4ndert wird, ist auch das Schmerzerlebnis in irgendeiner Richtung anders geworden : Mackenzie 1 berichtet in seinem Lehrbuch der Herzkrankheiten von verschiedenen F\u00e4llen von Angina pectoris mit den charakteristischen Schmerzen im Bereich eines oder mehrerer spinaler Innervationsgebiete. Die Angaben der Patienten mit starken Schmerzen \u2014 zum Teil warfen sie den Oberk\u00f6rper vorw\u00e4rts und r\u00fcckw\u00e4rts, w\u00e4lzten sich auf dem Boden herum \u2014 sind immer unbestimmt (\u201eSchmerzen in der Brust\u201c, entsprechend unserm Beispiel 2) und nur bei starker Willensanspannung kann man Angaben \u00fcber die genauere Lokalisation erlangen. Dann sind aber gleichzeitig mit der sch\u00e4rferen Lokalisation auch die Bewegungen geschwunden, der Schmerz hat die Struktur des 3. Beispiels angenommen. Schmerzbeschreibung geht also auf einen k\u00f6rperseelischen Zustand, oder besser noch, um auch in der Bezeichnung den hier undurchf\u00fchrbaren Dualismus zu vermeiden, auf einen Zustand des bewufsten Lebens. Sie mufs also alle k\u00f6rperlichen und psychischen Vorg\u00e4nge, die nicht nachweislich in keinem direkten Zusammenhang mit dem Schmerz stehen, mit ber\u00fccksichtigen.\n1 Mackenzie, Lehrbuch der Herzkrankheiten. Deutsch von Rothacker. Berlin 1923.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n49\nDie Physiologie hat schon recht, wenn sie den Ablauf dieser Erscheinungen nach dem Schema des Reflexbogens aufbaut. In dem auffassenden Sinnesorgan, der zentralen Erregung und der motorischen Reaktion vollzieht sich der physiologische Vorgang in vielen F\u00e4llen. Das bewufste Erleben Schmerz ist aber nicht nur dem auffassenden, sondern auch dem handelnden Teil zugeordnet. Wenn sich mit Ver\u00e4nderung der motorischen Reaktion das Schmerzerlebnis \u00e4ndert, ist der Schlufs unausweichlich, dafs auch diese durch den Schmerz mit repr\u00e4sentiert wird. Diese Tatsache widerlegt also die Meinung, Schmerz sei eine Empfindung und alles andere unbewufster Reflex. Wie k\u00f6nnte der un-bewufste Reflex von Einflufs auf die Struktur des bewufsten Erlebens sein? Muskelempfindungen, Lageempfindungen, die man heranziehen k\u00f6nnte, sind im starken Schmerz radikal nicht zu finden, und nicht empfundene Empfindungen sind keine zul\u00e4ssigen Erkl\u00e4rungsmittel ! Der Einwand, dafs die Hautschmerzempfindung im Experiment ohne jede motorische Reaktion verliefe, kann nicht als Widerlegung gelten. Er beweist nur, dafs Schmerz unter gewissen Bedingungen auch einmal reine Auffassung sein kann, berechtigt aber nicht zu dem Schlufs, dafs es immer so ist. Es kann wohl niemand leugnen, dafs zwischen Hautstichschmerz und Kolikschmerzen erhebliche Unterschiede bestehen, wenn man nicht in theoretischer Voreingenommenheit den Blick f\u00fcr das tats\u00e4chlich Vorliegende verloren hat. Man darf sich hier durch das Wort Schmerz nicht t\u00e4uschen lassen. Schmerz bezeichnet auch den seelischen Schmerz, der psychologisch von jeher gesondert behandelt wurde, die Wortbedeutung f\u00e4llt also nicht mit den psychologischen Einteilungen zusammen. Die Erkl\u00e4rung des Wortes Schmerz kann nicht Aufgabe des Psychologen sein, er hat nur das gemeinte Erlebnis in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zu zergliedern. Das erste Ergebnis einer derartigen Analyse ist, dafs Schmerz wohl reine Auffassung sein kann, in der Mehrzahl der F\u00e4lle aber das bewufste Erleben eines komplizierten k\u00f6rperlichen Vorganges ist. Es wird sich zeigen, dafs eine derartige Struktur nicht so selten ist, wie es scheinen mag. F\u00fcr die Tierpsychologie wie Kinderpsychologie ist sie sogar grundlegend. Doch das wird im einzelnen noch zu erweisen sein.\nAls zweites zur Abgrenzung des Problemkreises ebenso wichtiges Moment mufs die Nichtobjektivierbarkeit gelten. An\nZeitschr. f. Siunesphysiol. 56.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"oO\nJohann Daniel Achelis.\nStelle dieses mifsverst\u00e4ndlichen Terminus werde ich im folgenden Nichtgegenst\u00e4ndlichkeit sagen. Was damit gemeint ist, wird in der Einleitung und der vorl\u00e4ufigen Beschreibung klar geworden sein.\nDies beides, die eigenartige Erlebnisform und die Nichtgegenst\u00e4ndlichkeit, findet sich beim Menschen am deutlichsten beim Schmerz verwirklicht. Der Schmerz steht damit seltsam isoliert zwischen all den anderen Ph\u00e4nomen, mit denen sich die Psychologie und Physiologie besch\u00e4ftigt. Da finden wir sonst gegenst\u00e4ndliche, isolierte Auffassungen bei Erregung der Sinnesorgane, finden \u201eWillensvorg\u00e4nge\u201c mit den entsprechenden Bewegungen, aber selten die Einheit von Auffassung und Handlung in einem Erlebnis gegeben.1 Der Schmerz spielt nun aber eine zentrale Rolle beim Menschen, seine biologische Bedeutung ist von jeher anerkannt worden. Das legt die Vermutung nahe, dafs es sich hier um die Bewufstseins- und Reaktionsform des Tieres handelt, die beim Menschen noch in Erscheinung tritt, wenn er von Gefahren bedroht ist. L\u00e4fst sich dieser Nachweis erbringen, wird nicht nur die Biologie des Schmerzes, sondern auch die Tierpsychologie ein St\u00fcck gef\u00f6rdert sein.2\nb) Schmerz als komplexes Erlebnis.\nIm vorigen Abschnitt war zur vorl\u00e4ufigen Abgrenzung gezeigt worden, dafs das Schmerzerlebnis von der Seite der Auffassung, vom Reiz her, nicht eindeutig zu fassen ist. Immer war es der motorische und viszerale Teil, der seine Formen wesentlich ab\u00e4nderte. Es war schon darauf hingewiesen worden, dafs die in der Physiologie \u00fcbliche Gliederung der Vorg\u00e4nge in vom Reiz bedingte Empfindung und anschliefsenden unbewufsten Reflex unhaltbar wird. Man wird darauf erwidern, dafs damit die Grenzen der exakten Physiologie \u00fcberschritten w\u00e4ren, dafs man als Physiologe sich an die vom Reiz her exakt mefsbaren Vorg\u00e4nge im Zentralnervensystem halten m\u00fcsse, und das seien eben Reflexe und Empfindungen. Nun hat aber erstens bis heute niemand den Reflex im weiteren Sinne v\u00f6llig zureichend\n1\t\u00dcber die Gef\u00fchle, die z. T. \u00e4hnliche Struktur haben, vgl. unten.\n2\tDie Methode wird damit zu einer vergleichend-genetischen, wie sie in der neueren Psychologie schon vielfach mit Erfolg angewandt wird. Hierzu siehe besonders F. Krueger, \u00dcber Entwicklungspsychologie. Leipzig 1915.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n51\nund einwandfrei definieren k\u00f6nnen, noch ist bei den komplizierteren Formen die Analyse vom Reiz her so ganz sicher. \u201eDer einfache Reflex ist eine bequeme, wenn auch nicht wahrscheinliche Fiktion\u201c (Sherrington). F\u00fcr die Empfindungen kann man sich auf v. Kries berufen, der am Ende seiner \u201eAllgemeinen Sinnesphysiologie\u201c 1 zu dem Ergebnis kommt, dafs Empfindungen in reiner Form beim Erwachsenen nie nachweisbar w\u00e4ren. Immer sind sie mit anderen psychischen Ph\u00e4nomenen untrennbar verbunden \u2014 \u201ewenigstens f\u00fcr den Erwachsenen\u201c, setzt v. Kries hinzu. F\u00fcr die Psychologie des Tieres und des Kindes steht aber heute zum mindesten so viel fest, das hier von einem Auftreten isolierter Empfindungen am allerwenigsten die Rede sein kann, dafs die Entwicklung vom komplexen undifferenzierten zum differenzierten und isolierten l\u00e4uft. Es entspricht also dem Reiz niemals eine isolierte Empfindung. Nur wenn das der Fall w\u00e4re, k\u00f6nnte man zur Not die Sinnesphysiologie von der Psychologie trennen, indem man eine im psychischen vorhandene Grenze zur Scheidelinie zweier Wissenschaften machte. Da diese aber nicht existiert, gibt es vom Gegenstand der Wissenschaft her keine Trennung zwischen beiden. Ihr augenblickliches Verh\u00e4ltnis ist \u2014 um es noch einmal zu betonen \u2014, nicht das zweier Wissenschaften wie Physik und Kunstgeschichte, sondern ein historisches zweier Theorien, wie etwa zwischen Korpuskulartheorie des Lichtes und elektromagnetischer Theorie. So wenig wie es jemand einfallen wird, auf die Korpuskulartheorie als der \u201eeigentlich exakten\u201c eine Wissenschaft zu gr\u00fcnden und alles, was im Laufe der Zeit neu erforscht wird und in die Begriffe der Theorie nicht mehr eingeht, als Begleiterscheinung oder dergleichen einer anderen Wissenschaft zuzuweisen, ebensowenig ist man berechtigt, auf Grund des Empfindungsbegriffes (der eine bestimmte psychologische Theorie voraussetzt), eine Wissenschaft zu statuieren und alles, was auf Erweiterung der Fragestellung dr\u00e4ngt, nicht zu beachten und der Psychologie zu \u00fcberlassen. Kurz gesagt, die heutige offizielle Sinnesphysio-. logie ist mit wenigen Ausnahmen die piet\u00e4tvoll aufbewahrte Psychologie der Zeit vor 40 Jahren.\nMan hat also als Physiologe nicht nur die Berechtigung, sondern sogar die Verpflichtung, sich mit der heutigen Psycho-\n1 v. Kries, Allgemeine Sinnesphysiologie. Leipzig 1923.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nJohann Daniel Achelis.\nlogie zu besch\u00e4ftigen, will man Sinnesphysiologie treiben, und da zeigt sieb, dafs dergleichen Erscheinungen, wie wir sie beim Schmerz fanden, nicht so v\u00f6llig unbekannt sind, wie es zun\u00e4chst scheinen mag. Es handelte sich darum, dafs im Bewufstsein ein Erlebnis auftrat, dafs mit den von der Physiologie her zu erwartenden Komponenten keinerlei \u00c4hnlichkeit zeigte. Motorischviszerale Vorg\u00e4nge gaben dem Schmerz ein anderes Aussehen, waren als solche aber nicht im Bewufstsein gegeben, so dafs man Schmerz als eine Einheit von Auffassen und Handeln bezeichnen konnte. \u2014 Kurze Hinweise m\u00fcssen hier gen\u00fcgen, die in keiner Richtung ersch\u00f6pfend sein wollen. Ausf\u00fchrliche Darstellungen finden sich in den angef\u00fchrten psychologischen Arbeiten. Zun\u00e4chst ist das bereits von Wundt 1 in immer st\u00e4rkerem Mafse zur Grundlage seiner Psychologie gemachte Prinzip der \u201esch\u00f6pferischen Synthese\u201c zu erw\u00e4hnen, die er in allem Erleben auf zeigen konnte. Er meint damit, dafs im Bewufstsein immer das aus einer Anzahl von Elementen entstandene Produkt mehr ist als die Summe dieser Elemente, dafs mit ihrer Vereinigung ein wesentlich neues, qualitativ und quantitativ anders geartetes Gebilde entsteht, das vorher in den Elementen nicht nachweisbar angelegt war.\nEr findet dies Prinzip verwirklicht in allen psychischen Ph\u00e4nomenen, mag nun aus einem Ton mit seinen Obert\u00f6nen ein Klang mit Klangfarbe werden, oder Wahrnehmungen durch Erinnerungsvorstellungen, reproduktive Elemente, assimilativ be-einflufst werden. Die Obert\u00f6ne spielen dann keine selbst\u00e4ndige Rolle mehr im Bewufstsein, sie sind v\u00f6llig in dem Klangerlebnis untergegangen und modifizieren es nur; die reproduktiven Elemente treten auch nicht isoliert ins Bewufstsein, sondern beeinflussen nur die einzelne Wahrnehmung, so wie v. Kries zu dem Ergebnis kam, dafs jede Empfindung beim Erwachsenen in irgend einem Sinn von dem fr\u00fcher Erlebten beeinflufst ist.\nIn sch\u00e4rferer Fassung gewinnt dies Prinzip der sch\u00f6pferischen Synthese oder der \u201esch\u00f6pferischen Resultanten\u201c in der neueren Psychologie immer zunehmende Bedeutung.\nMit dem Begriff Gestaltqualit\u00e4t, Komplexqualit\u00e4t1 2 oder Ge-\n1\tWundt, Physiologische Psychologie III, 755 ff.\n2\tz. B. F. Krueger, Psychologische Studien I, II ff. \u2014 F. Krueger, Die Tiefendimension und die Gegens\u00e4tzlichkeit des Gef\u00fchlslebens. Volkelt Festschrift. M\u00fcnchen 1918.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n53\nSamtqualit\u00e4t werden jene Eigenschaften gemeint, die einem psychischen Ganzen vor aller Analyse zukommen und die nicht seinen Teilen anhaften. Die Tonpsychologie ist voll von Beispielen daf\u00fcr. Melodien, Konsonanz und Dissonanz zeigen deutlich derartige Komplexqualit\u00e4ten, denn Melodie wie Konsonanz ist nicht an die Teilt\u00f6ne gebunden, sondern ergibt sich erst im Augenblick ihres Zusammenbestehens. Nach den KRUEGERschen Arbeiten1 lassen sich aus einem Zweiklang aufser den beiden Grundt\u00f6nen eine ganze Anzahl von Ober- und Differenzt\u00f6nen herausanalysieren, die beim ersten H\u00f6ren nicht vorhanden waren, die sich aber beim Konsonanzerlebnis in der experimentellen Analyse konstant nachweisen lassen. Konsonanz ist dann die Komplexqualit\u00e4t, in der die einzelnen, in der Analyse gefundenen Teilt\u00f6ne v\u00f6llig aufgegangen sind, ohne dafs man sie einzeln erleben w\u00fcrde. Auf dem Gebiet der sogenannten optischen T\u00e4uschungen zeigen sich analoge Erscheinungen, das Auffassen der Tiere wird neuerdings als ein derartig komplexes bestimmter Art nachgewiesen.\nMan wird also Synthesen \u00fcberhaupt, in denen die Elemente auf den ersten Blick nicht mehr nachweisbar sind, wohl kaum noch leugnen k\u00f6nnen. Es ist aber zun\u00e4chst zu fragen, ob die Komplexqualit\u00e4ten im KRUEGERschen Sinne und die Form des Schmerzes identisch sind, oder worin sie sich unterscheiden. \u2014 Krueger findet bei seiner Analyse als Teile des Konsonanzerlebnisses andere Tonw ahrnehmungen (die Differenzt\u00f6ne z. B.). Es handelt sich hier also um einen Komplex von einzelnen Ton-wahrnehmungen, und in ihm wird eine irgendwie gestaltete Aufsenwelt, im vorliegenden Falle eine Konsonanz, wahrgenommen. Das gleiche gilt f\u00fcr die Wahrnehmungskomplikationen Wundts, bei denen Elemente verschiedener Sinnesgebiete zu einem Komplex etwa der r\u00e4umlichen Wahrnehmung verschmelzen. Es handelt sich hier immer um Wahrnehmungen, und die in der Analyse gewonnenen Teile sind wieder Wahrnehmungen.\nDen Schmerz wird man vergeblich in analoger Weise zu zergliedern versuchen. Es gibt da keine Teilschmerzen, die zusammen den Schmerzkomplex ausmachten. Unsere beschreibende Darstellung f\u00fchrte uns einen anderen Weg. Wir fanden in den\n1 Psychol. Studien I, II ff.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nJohann Daniel Achelis.\nk\u00f6rperlichen Vorg\u00e4ngen die Teile, die im Schmerzerlebnis zu-sammengefafst sind, fanden da Auffassung, \u201eAffekt\u201c, Handlung k\u00f6rperlich gegeben. Die Teile sind also nicht in gleicher Weise experimentell zu erforschen wie bei der Komplexqualit\u00e4t im engeren Sinn. Diese neue Form von Komplexqualit\u00e4ten w\u00e4re Trieb komplex zu nennen, eine Bezeichnung, die sich im folgenden noch bew\u00e4hren wird. Es ist also zu unterscheiden zwischen Komplexqualit\u00e4t im engeren Sinn, die eine gestaltete Aufsenwelt durch ein oder mehrere Sinnesorgane vermittelt, der G est alt-qualit\u00e4t und der erlebten Einheit von Auffassung und Handlung, dem T rie bkomplex. In diesem Sinn ist im folgenden die Bezeichnung Gestalt, Trieb und, beide umfassend, Komplex gebraucht. Eine Analvse des Triebes l\u00e4fst sich durchaus durch-f\u00fchren. Die Hautschmerzexperimente der Physiologen isolieren den auffassenden Teil, ein Kranker, der sich zusammennimmt und ohne sich zu regen oder die Muskeln anzuspannen, Schmerzen ertr\u00e4gt, zeigt wohl die viszeralen Aufserungen einer starken sensiblen Reizung, die ja dein Willen nicht unterworfen sind; d. h. hier ist Auffassung und Affektteil in einer Einheit gegeben. W\u00e4lzt sich der Kranke im Bett umher, ist der ganze Komplex verwirklicht. Man kann also im Experiment bzw. durch Beobachtung von Kranken, auf die man beim Schmerz immer angewiesen sein wird, den Aufbau des Schmerzes in seinen einzelnen Teilen verfolgen. Man sieht dabei gleichzeitig, dafs mit dem Vollst\u00e4ndiger werden des Triebes die Struktur des Schmerzerlebnisses sich \u00e4ndert. Es mufs aber immer wieder betont werden, dafs von der isolierten Schmerzempfindung im Experiment her das Problem ebensowenig erfafst wird, wie man aus Differenzt\u00f6nen allein ohne den Komplexbegriff zu einer Theorie der Konsonanz kommen kann. Schmerzempfindungen kommen im Leben fast gar nicht vor, da gibt es nur Schmerzen der geschilderten komplexen Form. Empfindungen sind immer ein Erzeugnis der wissenschaftlichen Analvse. \u2014 Es wird nunmehr verst\u00e4ndlich sein, wenn wir sagen: der Schmerz ist ein Komplexerlebnis von der Art eines Triebes, das schon im Leben bisweilen in seine Teile zerlegt wird.\nAuch der zwreite Punkt der vorl\u00e4ufigen Abgrenzung bedarf noch sch\u00e4rferer Fassung. Als Nichtgegenst\u00e4ndlichkeit bezeich-neten wrir die Tatsache, dafs Schmerz nie Eigenschaft eines Dinges sein kann. Gewonnen wrar dieser Gesichtspunkt aus der","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n55\nGegensetzung gegen andere Sinnesgebiete, also f\u00fcr ein isoliertes Schmerzerlebnis inmitten eines sonst ungest\u00f6rten Bewufstseins-ablaufs. Gezeigt war ferner, dafs im Schmerzerlebnis die Subjekt-Objekttrennung v\u00f6llig fehlt, die sich bei den Sinnen immer deutlich aufweisen liefs. Es folgt daraus mit logischer Evidenz, dafs in allen F\u00e4llen, wo der Schmerz den einzigen Bewufstseins-inhalt bildet, der Unterschied zwischen Ich und Aufsenwelt f\u00fcr den Erlebenden nicht existiert. Es ist dies unser Fall des wahnsinnigen Schmerzes, bei dem wir sagten, dafs keinerlei Aufsenwelt aufgefafst wird. Die gleiche Aufhebung der Subjekt - Objekttrennung (nicht immer ganz vollst\u00e4ndig) fanden wir im zweiten Beispiel. Da wird auch die Aufsenwelt, das Zimmer, die Pflegerin, der Arzt nicht wirklich aufgefafst, aber f\u00fcr den Kranken, der, wie man zu sagen pflegt, halb bewufstlos ist, ist es doch wichtig, dafs es im Zimmer ruhig oder das Licht nicht zu grell ist.\nEr weifs freilich nichts von diesen Einzelheiten, aber er f\u00fchlt sich ein St\u00fcck wohler, seine Schmerzen sind dann etwas gebessert. Er erlebt also wohl die Aufsenwelt, als subjektive Stimmung, k\u00f6nnte man sagen, wenn es \u00fcberhaupt noch Sinn h\u00e4tte, von subjektiv zu sprechen, wo der Gegenbegriff des objektiven fehlt, aber jedenfalls nicht als eine gegenst\u00e4ndlich gegliederte Welt. Wir gewinnen so einen zweiten wesentlichen Punkt f\u00fcr die Struktur des Schmerzerlebnisses und, wie mir scheint, f\u00fcr alle reinen Triebkomplexe: Es gibt da keine Aufsenwelt und damit auch kein subjektives Erleben, Subjekt und Objekt sind zu einer Einheit verschmolzen. Im gleichen Augenblick, wo neben dem Schmerz Aufsenwelt erlebt wird, ist sie dinghaft gegliedert. Das war ja der Sinn der l\u00e4ngst bekannten Tatsache, dafs Sinnesempfindungen stets objektiviert gegeben sind, d. h. als Eigenschaften eines Dinges, und mit den dinglichen Eigenschaften ist dann jedesmal auch das Ding selbst da. In zwei grundverschiedenen Arten kann der Mensch also in der Welt stehen: einmal kann er in Gestaltkomplexen Welt auffassen und in bewufsten Willenshandlungen in sie hineingreifen; oder aber er kann, ohne dafs sein \u201eWille\u201c etwas dazu t\u00e4te, in unteilbarer Einheit Welt und Ich, Auffassen und Handeln erleben. Es w\u00fcrde schwer sein, diese zweite Erlebnisform begreiflich zu machen, da man sich in der Psychologie allzusehr auf erkenntnistheoretische Objekt- und Subjektbegriffe festgelegt hat, wenn nicht der Schmerz als konkretes, jedem bekanntes Beispiel f\u00fcr derartige Komplexformen dienen k\u00f6nnte.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nJohann Daniel Achelis.\nEr wurde deshalb auch zum Gegenstand der Untersuchung gew\u00e4hlt.\nUnser Ergebnis ist also : Schmerz ist ein Komplexergebnis* ein \u201eTrieb\u201c im oben festgelegten Sinn und es ist ein wesentliches Charakteristikum dieser Erlebnisform, dafs die Subjekt-Objekttrennung aufgehoben ist, dafs keine dinghaft gegliederte und damit \u00fcberhaupt keine Aufsenwelt existiert.\nc) Struktur des Schmerzkomplexes.\nEs ist nun die Aufgabe, psychologisch diese neue Erlebnisform n\u00e4her zu bestimmen und dann die zugeh\u00f6rigen physiologischen Vorg\u00e4nge aufzusuchen, um auf diesem Wege zu einer nicht auf dem Empfindungsschema aufgebauten Theorie des Schmerzes zu gelangen. Zugrunde gelegt werden dabei in erster Linie die Erlebnisse, bei denen die motorische Reaktion vorhanden, der Trieb also ganz verwirklicht ist.\n1. Isolierung.\nDem ersten oben angef\u00fchrten Beispiel ist nicht viel hinzuzuf\u00fcgen. Es zeigt am deutlichsten die v\u00f6llige Aufhebung der Subjekt-Objekttrennung, zeigt das Fehlen jeder Gliederung nach irgendeiner Seite hin, der Schmerz ist nicht lokalisiert, so dafs man diese Form als v\u00f6llig ungegliedert und diffus bezeichnen kann.\nVon diesem Grenzfall gibt es dann fliefsende \u00dcberg\u00e4nge zu der zweiten Form, in der der Schmerz unscharf auf einen K\u00f6rperteil bezogen wird und gleichzeitig an Stelle der ungegliederten diffusen Masse eine erste Gliederung getreten ist. Wir beschrieben diese erste Gliederung, indem wir sagten, dafs der Schmerz sich (freilich mit unscharfen Grenzen) und in breiten weichen \u00dcberg\u00e4ngen aus dem dumpfen Daseinsgef\u00fchl (Stimmung oder dgl.) heraushebt. Beginnende Lokalisation und angedeutetes Herausheben im Bewufstsein erweisen sich hier als identisch: man kann die Form der Abgrenzung sowohl inhaltlich beschreiben, indem man die schmerzende K\u00f6rperstelle, die Art der Lokalisation angibt, oder formal, indem man von mehr oder minder deutlicher Abgrenzung des Schmerzes von dem \u00fcbrigen Bewufstseins-inhalt spricht. Es handelt sich in diesem Fall um einen Komplex mit unscharf abgegrenztem f\u00fchrenden Moment (Komplexdominante), sowie etwa im komplexen Erlebnis eines Klanges der angeschlagene Grundton die f\u00fchrende Rolle spielt und Klangfarbe","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\nhl\nnur modifizierend wirkt. Schmerz k\u00f6nnte man als den Grundton, das mitklingende, noch v\u00f6llige diffuse Daseinsgef\u00fchl als nur modifizierende Klangfarbe bezeichnen. H\u00f6chstens soweit die Klangfarbe modifizierend wirkt, \u00e4ndert hier die Stimmung, die komplexe Umwelt-Auffassung (das ruhige Zimmer) das Schmerzerlebnis. Die Subjekt-Objekttrennung bleibt auch hier noch aufgehoben. In unserer Terminologie: Triebkomplex mit f\u00fchrendem Moment.\nEs ist jedem, der nicht starke Schmerzen der geschilderten Art erlebt hat, gel\u00e4ufiger, dafs neben dem andauernden Schmerz das bewufste Leben in mehr oder minder abge\u00e4nderter Form, aber mit gegenst\u00e4ndlicher Auffassung und nicht ziellosen Handlungen weiterl\u00e4uft. Es ist dann nicht mehr die Frage nach der Struktur des Schmerzerlebnisses selbst, das bisher identisch war mit der Struktur des Bewufstseins \u00fcberhaupt, da kein anderer Inhalt vorhanden war. Es mufs vielmehr jetzt wieder nach dem Gesamtbewulstsein gefragt werden, will man die logisch entsprechende Darstellung geben. Die Beziehungen des Schmerzes zum Ganzen des Bewufsseins, seine Abgrenzung gegen die anderen Inhalte sind die zu untersuchenden Punkte. Es ist deutlich, dafs hier zwischen starken Bauchschmerzen und kurzdauerndem Stichschmerz in verschiedener Dichtung noch wesentliche Unterschiede bestehen. Gemeinsam ist ihnen, dafs im Gegensatz zur vorigen Gruppe nicht alles in den einen Schmerzkomplex einbezogen wird, dafs sie aber als Triebkomplexe in ein sonst anders geartetes Bewufstsein eingef\u00fcgt sind. Sie unterscheiden sich aber voneinander darin, dafs sie in verschiedenem Grade das \u00fcbrige Erleben qualitativ beeinflussen. Es l\u00e4fst sich eine Linie ziehen von starken Bauchschmerzen, bei denen jede Auffassung, jede Handlung stark unlustbetont ist, der Schmerz also alles beherrscht, bis zum Schmerz einer kleinen Wunde, neben dem alle Auffassungen ungest\u00f6rt weiter bestehen. Die Beziehung zum Ganzen des Bewufstseins wird zunehmend gelockert und der Schmerz immer st\u00e4rker isoliert. Ganzheitsbezug und Isolierung sind die Begriffe, unter denen die Schmerzformen in dieser Gruppe sich begreifen lassen. Ein anderes unterscheidendes Merkmal ist die Art der Lokalisation. Ungenau lokalisierte Bauchschmerzen, Verbrennungen an der Hand, und schliefslich scharf umschriebener Schmerz an einer kleinen Hautstelle sind Beispiele daf\u00fcr. Bei der ersten Gruppe von Schmerzen, wo der Komplex noch der","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"\u00dc8\nJohann Daniel Achelis.\neinzige Bewu\u00dftseinsinhalt war, zeigte sich, dafs das Auftreten der Lokalisation zusammenging mit der Umwandlung des diffusen Komplexes in einen Komplex mit f\u00fchrendem Moment, So wie .auch nur irgendetwas da war, wogegen der Schmerz sich abheben konnte, war er auch lokalisiert. Bedeutet nun hier zunehmende Isolierung vom Bewufstseinsganzen, Selbst\u00e4ndigwerden des Schmerzes immer auch zunehmende Sch\u00e4rfe der Lokalisierung ? Die Frage ist offensichtlich in vielen F\u00e4llen zu bejahen. Eine Rifswunde, die scharf lokalisiert wird, l\u00e4fst den Bewufstseinsablauf fast unver\u00e4ndert, ein dumpfer Schmerz, unbestimmt lokalisiert im Unterleib, erzeugt schlechte Laune, verdirbt die Lust zu allem, macht jeden Akt unlustbetont. Die Frage ist f\u00fcr alle F\u00e4lle zu bejahen, wenn man noch folgendes beachtete: Schwache Schmerzen k\u00f6nnen sowohl scharf wie unscharf lokalisiert sein, starke Schmerzen sind nie scharf lokalisiert, solange sich nicht die Aufmerksamkeit1 auf sie richtet. Dies Richten der Aufmerksamkeit ist abei nichts anderes als Isolierung des Schmerzes vom \u00fcbrigen Bewufstsein. Man darf also nicht Isolierung mit geringer Intensit\u00e4t verwechseln. Eine analoge isolierende Funktion der Aufmerksamkeit finden wir bei der Analyse von Konsonanzen: hier werden aus dem einheitlichen Konsonanzerlebnis einzelne T\u00f6ne herausgeh\u00f6rt, das komplexe Erlebnis wird in Teile aufgel\u00f6st, so wie in unserem Fall aus dem vom Schmerz beetnflufsten Bewufstsein der Schmerz als einzelner Teil isoliert wird. (Im \u00fcbrigen sind nat\u00fcrlich beide F\u00e4lle wesentlich verschieden, einmal findet die Analyse neue Wahrnehmungen, das andere Mal wandelt sich der Schmerz selbst zum genau lokalisierten K\u00f6rpererlebnis.) Damit w\u00e4re Art der Einf\u00fcgung und ihre Beziehung zur Lokalisation f\u00fcr diese zweite Gruppe klar gestellt.\nIn einer dritten Gruppe findet sich als wichtigster Vertreter zun\u00e4chst der oben kurz charakterisierte Reflexschmerz, der wegen seiner eigenartigen Struktur und, wie mir scheint, besonderen entwickln ngspsychologischen Bedeutung ausf\u00fchrlichere Besprechung verlangt. Es vollzieht sich n\u00e4mlich hier der \u00dcbergang von triebartigem Komplexerlebnis zur gegenst\u00e4ndlichen Wahrnehmung. Schon eine oberfl\u00e4chliche Vergegenw\u00e4rtigung zeigt, dafs dies Er-\n1 Es ist mir wohl bewufst, dafs der Begriff der Aufmerksamkeit zu den bedenklichsten der Psychologie geh\u00f6rt, ich gebrauche ihn aber hier, da er das Gemeinte am leichtesten verst\u00e4ndlich macht und seine ausf\u00fchrliche Diskussion \u00fcber den Rahmen der Arbeit hinausgehen w\u00fcrde.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n59\nlebnis deutlich zwei Teile hat. Der eine ist dem Reflex zu^e-ordnet, derjenige, der uns hier interessiert, der andere schliefst sich dann an und besteht (bei einer leichten Verbrennung etwa) in einem isolierten Schmerzerlebnis von der in der zweiten Gruppe geschilderten Form. Der eigentliche Reflexschmerz charakterisiert sich durch folgendes: in dem Augenblick, wo ich zur\u00fcckzucke, findet sich im Bewufstsein eine deutliche Teilung in Subjekt und Gegenstand : \u201eSchmerz\u201c und \u201edort heifser Ofen\u201c. Im ersten Augenblick tritt der Schmerz noch stark zur\u00fcck, die gegenst\u00e4ndliche Seite \u00fcberwiegt, in schnellem Wechsel r\u00fcckt dann der Schmerz immer mehr in den Vordergrund, bis er allein ohne Gegenstandsbezug \u00fcbrig bleibt. Ich m\u00f6chte \u00fcber den Zusammenhang dieses Schmerzes mit dem \u00fcbrigen Bewufstsein im ersten Augenblick keine bestimmte Aussage machen, da der Vorgang zu schnell verl\u00e4uft, als das man ihn n\u00e4her beobachten k\u00f6nnte. Fast scheint es, als w\u00e4re im ersten Augenblick kaum Schmerz und wesentlich gegenst\u00e4ndliche Auffassung vorhanden. Die gegenst\u00e4ndliche Qualit\u00e4t ist in unserem Fall \u201eheifs\u201c. Das ist offenbar etwas anderes als warm, unterscheidet sich von der Warmqualit\u00e4t dadurch, dafs gleichzeitig Schmerz empfunden wird. Eine gegenst\u00e4ndliche Qualit\u00e4t wird durch den Schmerz variiert, Schmerz und Temperaturempfindung verschmelzen zu einer Wahrnehmungskomplikation im Sinne Wundts.\nDieser doppelte Inhalt im Erleben, Schmerz auf der subjektiven Seite, \u201eheifs\u201c auf der objektiven, findet sich in \u00e4hnlicher Form auch sonst hei Hautempfindungen. Bei der Temperaturempfindung wird eine gegenst\u00e4ndliche Qualit\u00e4t (etwa warm) und gleichzeitig eine bestimmte Hautstelle erlebt. Tritt die Schmerzempfindung hinzu, wird die Warmempfindung zu \u201eheifs\u201c, d. h. die urspr\u00fcngliche Empfindung wird nur abge\u00e4ndert, bleibt aber Temperaturauffassung. Schmerz spielt in dieser komplexen Wahrnehmung keine selbst\u00e4ndige, sondern nur eine nebens\u00e4chliche Rolle. Das ist der erste Unterschied gegen die anderen Hautempfindungen, die alle dominierend sein k\u00f6nnen, w\u00e4hrend Schmerz nur als modifizierender Bestandteil auftritt. Ein weiterer wichtiger Unterschied besteht darin, dafs auf der subjektiven Seite nicht nur Lokalisation nachzuweisen ist, sondern Schmerz an der ber\u00fchrten K\u00f6rperstelle. \u201eWarm\u201c und \u201elinker Zeigefinger\u201c sind die Erlebnisbestandteile in dem einen Fall, im anderen \u201eheifs\u201c und \u201eSchmerz am linken Zeigefinger\u201c; die subjektive Seite ist also","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nJohann Daniel Achelis.\nqualitativ erf\u00fcllt. Es zeigt sich hier noch einmal, dafs Schmerz nie gegenst\u00e4ndlich werden kann, dafs er immer andere Empfindungen braucht, mit denen er verschmelzen kann. Die F\u00e4lle, in denen also scheinbar der Schmerz eine gegenst\u00e4ndliche Bedeutung hat, lassen sich darauf zur\u00fcckf\u00fchren, dafs das Gemeingef\u00fchl Schmerz als modifizierendes Element mit einer durch andere Sinne vermittelten Wahrnehmung verschmilzt. Es vollzieht sich hier in isolierter Form das Gleiche, was w7ir oben f\u00fcr die ausgesprochen gef\u00fchlsartigen Formen feststellen konnten; der Schmerz machte dort jede Auffassung unlustbetont, hier variiert er eine isolierte gegenst\u00e4ndliche Auffassung. Beim vollzogenen Reflex, der analog ist dem vollzogenen Trieb (im idealen Fall der Flucht) findet sich aufser dem beschriebenen noch deutlich ein Richtungserlebnis, das wir oben mit dem \u201edort\u201c (sc. heilser Ofen) bezeichneten. Dies \u201edort\u201c ist ebenso wesentlich an das Erlebnis gekn\u00fcpft wie das \u201efort\u201c an das Erlebnis panischer Flucht.\nWir haben bisher den Schmerz geschildert als komplexes Erlebnis, wenn er das Bewufstsein v\u00f6llig erf\u00fcllte, haben verfolgt, wie er sich auf einem unbestimmten Hintergrund allm\u00e4hlich heraushob, wie dann weiter der dauernde Schmerz in enger Verbindung mit einem gegenst\u00e4ndlichen Bewufstsein sich immer mehr isolierte. Wir mufsten in diesen F\u00e4llen den ganzen Bewufstseins-ablauf mit heranziehen, weil der Schmerz in irgendeiner Weise alle anderen Erlebnisse beeinflufste, der Punkt war um den sie sich in abnehmenden Grade gruppierten, Man h\u00e4tte also die Fragestellung zu eng gefafst, wenn man vom Schmerz allein gesprochen h\u00e4tte. Hier beim Reflexschmerz ist aber die Isolierung vollkommen vollzogen, wenn nicht eine k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderung zur\u00fcckbleibt, die den Schmerz andauern l\u00e4fst. Wir sind also berechtigt, hier nur das Schmerzerlebnis selbst zu beschreiben, da der Zusammenhang mit dem sonstigen Erleben nicht mehr vorhanden ist. Dieser Schmerz setzt pl\u00f6tzlich ein und schwindet ebenso pl\u00f6tzlich wieder, und das Leben kann gleich darauf weiterlaufen, als w\u00e4re nichts geschehen.\nDas bisherige kurz zusammengefafst : Schmerz der ersten Gruppe ist fafst reiner Trieb, in der zweiten Gruppe steckt er im Gef\u00fchlsbestandteil jedes Aktes und ist aufserdem f\u00fcr sich lokalisiert gegeben, in der dritten Gruppe modifiziert er andere isolierte Wahrnehmungen, die an der gleichen Hautstelle lokalisiert sind und ist aufserdem als isolierte Schmerzempfindung nach'","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n61\nzuweisen. Trieb, Gef\u00fchl, Auffassung sind schlagwortartig die drei Formen des Schmerzes, die er im ganzen des Bewufstseins annimmt und die Sch\u00e4rfe der Lokalisierung ist eine Frage der Isolierung im Bewufstsein.\nEs war nun aber unsere zur Problemabgrenzung aufgestellte Behauptung, dafs Schmerz immer ein Triebkomplex sei. Es ist nachzupr\u00fcfen, ob diese Struktur sich bei allen drei Gruppen nach-weisen l\u00e4fst, das Verh\u00e4ltnis also so ist, dafs der Schmerz als Triebkomplex immer erhalten bleibt, wenn man ihn isoliert betrachtet, und dafs er nur durch Einf\u00fcgung in das Gesamtbewufst-sein oder physiologisch je nach Ausdehnung auf einen gr\u00f6fseren oder kleineren Teil des Organismus eine verschiedene Rolle spielt.\nEs ist zun\u00e4chst f\u00fcr alle Schmerzformen zu bemerken, dafs stets eine Tendenz zum Fliehen, zum Zur\u00fcckziehen, zum \u201efort\u201c \u00fcberhaupt mit erlebt wird, mag nun die Flucht vollzogen werden oder nicht. Schmerz wendet sich immer ab so wie Freude sich immer zuwendet. Diese Richtungstendenz findet sich in jedem echten Gef\u00fchl, und ich m\u00f6chte vermuten, dafs die Gef\u00fchlsdimension Lust-Unlust (Wtxndt wesentlich diesen Bestandteil meint. Die Tendenz \u00e4ufsert sich nun motorisch in verschiedener Weise, und ihre Verwirklichung macht den einen Teil des Triebkomplexes, die Handlung im Gegensatz zur Auffassung aus.\n\u25a0 \u2022\nDie motorischen Aufserungen unterscheiden sich auf den ersten Blick durch die Art ihrer Ausdehnung am K\u00f6rper. Die wilden Bewegungen im rasenden Schmerz spielen sich fast in der gesamten Muskulatur ab, \u00fcber Herumwerfen im Bett f\u00fchrt dann die Reihe zum Zusammenkr\u00fcmmen bei Magenschmerzen, bis im reflektorischen Zur\u00fcckzucken die Beschr\u00e4nkung auf nur wenige R\u00fcckenmarkssegmente vollzogen ist. Dieser Reihe l\u00e4uft deutlich das zunehmende Herausheben des Schmerzes aus dem Gesamt-bewufstsein parallel. Der h\u00f6chsten Isolierung entspricht auch die eindeutige Beschr\u00e4nkung auf wenige Muskelgruppen. Die motorische Reaktion ist also als \u201eTendenz\u201c psychologisch immer nachweisbar. Wird sie auch k\u00f6rperlich vollzogen, so ist sie immer dem Ausmafs der psychischen Isolierung entsprechend.\nAus der Beschreibung des Schmerzes nach Ganzheitsbezug und Isolierung gewinnen wir also folgendes: Schmerz ist ein komplexes Trieberlebnis, vergleichbar der Flucht des Tieres, und\n1 W\u00fcndt, Physiologische Psychologie II, 216 ff.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nJohann Daniel Achdis.\nkann im Bewufstsein eine mehr oder weniger f\u00fchrende Rolle spielen. Einmal ist er der einzige Inhalt, im anderen Grenzfall ein v\u00f6llig isoliertes Moment inmitten anderer Inhalte. Dem entspricht auf der einen Seite zunehmende Sch\u00e4rfe der Lokalisation, auf der anderen Seite Beschr\u00e4nkung der motorischen Reaktion auf wenige R\u00fcckenmarkssegmente. Will man den Vergleich mit der Flucht durchf\u00fchren, kann man sagen: einmal flieht der ganze Organismus, das andere Mal fliehen nur wenige K\u00f6rpersegmente. K\u00f6rperliche Isolierung ist das eine Moment, was zur psychischen Isolierung beitr\u00e4gt. Der \u201eReiz'* spielt dabei, wenn er \u00fcberhaupt nachweisbar ist, nur die Rolle eines ausl\u00f6senden Faktors; erlebt wird nicht die direkte Wirkung des Reizes, sondern der durch ihn ausgel\u00f6ste k\u00f6rperliche Zustand bzw. Vorgang.\nExkurs mr Tierpsychologie.\nDas mag schwer zu denken sein, wenn man an den Begriffen der Sinnesphysiologie als den zur Beschreibung einzig m\u00f6glichen festh\u00e4lt. Es ist die hier vertretene und wie ich hoffe auch hinl\u00e4nglich bewiesene Meinung, dafs diese Begriffe beim Schmerz danebengreifen. In der Tierpsychologie finden wir durchgehend solche Erlebnisformen, wenn wir nicht die Auffassungsart des Menschen, so wie sie sich in der Sinnesphysiologie darstellt, v\u00f6llig kritiklos aufs Tier \u00fcbertragen. Es wird in der sogenannten Sinnesphysiologie der Tiere immer gefragt, ob das Tier dies oder jenes sieht, einen Riechstoff riecht usw., ohne dafs man die Vorfrage \u00fcberhaupt gestellt h\u00e4tte, ob denn ein Tier wirklich in der Weise des Menschen seine Welt erlebt. Was ist denn das rote Tuch f\u00fcr den Stier? \u2014 doch wohl Gegenanrennen, was ist Wasser f\u00fcr ein junges Teichhuhn anderes als Tauchen und Schwimmen, was die Antilope f\u00fcr den L\u00f6wen anderes als Jagd- und Beutetier, was die Hirschkuh f\u00fcr den br\u00fcnstigen Hirsch anderes als Wesen zur Paarung? Das sieht doch alles ziemlich anders aus als beim Menschen. Wir fressen nicht die Landschaft, sondern leben in ihr und betrachten sie, wir machen das Wasser uns nutzbar und Haustiere aus den Tieren \u2014 von anderm ganz zu schweigen. Das Tier lebt wesentlich in Instinkten und Trieben, der Mensch im gegenst\u00e4ndlichen Erfassen der Welt und zielbe-wufstem Handeln. Dieser Unterschied ist so evident, das man sich wundern mufs, dafs erst nach langer Arbeit die Tierpsychologie dahin gelangt ist, die wahre Struktur des tierischen Be-","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n6\u00a3\nwufstseins zu finden. Das tierische Bewufstsein ist ein diffuser Komplex von Auffassungen und Handlungen, ein \u201eSituations-bewufstsein\u201c, in dem es dinghafte Gliederung nicht gibt. Der Beweis f\u00fcr diese These ist von H. Volkelt1, wie mir scheint, ausf\u00fchrlich gef\u00fchrt worden, nur dafs es zum mindesten irref\u00fchrend ist, hier die Wahrnehmungskomplexe des Menschen allzusehr zum Vergleich heranzuziehen. Auch Volkelt kommt schliefslicli dahin, dafs er das Eingehen \u201eemotionaler\u201c und \u201emotorisch-viszeraler Elemente\u201c in diesen Komplex mit heranziehen mufs. Richtig w\u00e4re es vielmehr, dieses komplexe Situations-bewufstsein nicht mehr von der Auffassung her zu beschreiben. Die Trennung von Auffassung und Handeln ist eine wesentlich menschliche Eigenschaft, von den \u201eVorstellungen\u201c der Tiere zu sprechen zum mindesten gef\u00e4hrlich. Doch enth\u00e4lt die VoLKELische Theorie die wesentliche Punkte des hier vertretenen Triebbegriffs : Nicht-Dinghaftigkeit und diffuse Komplexnatur. \u00dcbersehen oder nicht gen\u00fcgend betont wird nur, dafs damit jede Subjekt-Ob jekt-trennung wegf\u00e4llt, motorisch - viszerale Elemente und Sinneselemente also keine Unterschiede mehr zeigen. Diese Gewichtsverschiebung von der komplexen Auffassung mit anschliefsender Handlung zu der triebm\u00e4fsigen Einheit beider erm\u00f6glicht eine noch reibungslosere Deutung der tierischen Handlung, als es bei Volkelt m\u00f6glich war. Es darf dabei nur nicht \u00fcbersehen werden, dafs zwischen dem Nervensystem der Spinne und den eines S\u00e4ugetiers ganz erhebliche Unterschiede bestehen, d. h. die Art des Zusammenarbeitens von Bewegung, Auffassung und viszeralen Elementen notwendig verschieden ist. Diese Fragen bed\u00fcrfen noch gr\u00fcndlicher vergleichend - anatomischer Durcharbeitung.\n\u2014\tHier kommt es nicht auf die Frage nach dem tierischen Bewufstsein an, die ausf\u00fchrlicherer Diskussion bed\u00fcrfte, sondern f\u00fcr die Physiologie nur auf den Hinweis, dafs derartige Reaktionsformen wie der Schmerz beim Tier zum mindesten wahrscheinlich sind, und f\u00fcr die neuere Tierpsychologie, dafs der Schmerz das beste Beispiel aus dem menschlichen Bewufstsein ist, an dem die Kategorien f\u00fcr die Triebe des Tieres gewonnen werden k\u00f6nnen.\n\u2014\tDie Triebstruktur ist das eine, was den Schmerz mit dem tierischen Erleben verbindet. Das andere seine Armut an quali-\n1 Hans Volkelt, \u00dcber die Vorstellungen der Tiere. Leipzig und Berlin 1914.","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nJohann Daniel Achelis.\ntativen Unterschieden trotz verschiedenster k\u00f6rperlicher Vorg\u00e4nge. Es gibt f\u00fcr jedes Tier eine Unzahl von Situationen, die nichts anderes f\u00fcr es bedeuten als Flucht, und so gibt es f\u00fcr den Menschen k\u00f6rperlich unz\u00e4hlige Formen des Trieberlebens mit der Richtung \u201efort\u201c, und sie alle sind Schmerz. \u2014 Das mag als kurze Bemerkung zur Tierpsychologie gen\u00fcgen.\n2. Gef\u00fchl.\nBest\u00e4nde der Organismus nur aus einer Anzahl aneinandergereihter Segmente, w\u00e4re unsere Aufgabe gel\u00f6st. Schmerz w\u00e4re der Fluchttrieb, der in einigen oder vielen Segmenten zum Ausdruck k\u00e4me. Eine volle Erkl\u00e4rung finden aber aus dem bisher dargelegten nur die v\u00f6llig isolierten Schmerzen mit motorischer Reaktion, wenn man noch ber\u00fccksichtigt, dafs die einzelnen Segmente verschiedene Ausbildung erfahren haben. Zu Schmerzen im Abdomen geh\u00f6rt eine defense musculaire, zu Schmerzen an der Hand ein Zur\u00fcckzucken, zu Gelenkschmerzen ein Anspannen der Gelenkmuskulatur. \u2014 In den F\u00e4llen, in denen der Schmerz alle anderen Erlebnisse wesentlich mit beeinflufste, gen\u00fcgt offenbar diese Erkl\u00e4rung noch nicht. Wie sollte es da zu deuten sein, dafs alle Auffassungen und Handlungen vom Schmerz beeinflufst sind, obgleich der Vorgang sich auf einen Teil des R\u00fcckenmarks beschr\u00e4nkt?1 Wir haben also die k\u00f6rperlichen Erscheinungsformen noch weiter zu analysieren, um das psychologische Ergebnis vollst\u00e4ndig erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen, d. h. wir haben noch eine neue Dimension zu suchen, die \u00fcber die quantitative Ausbreitung hinaus qualitative Unterschiede der Schmerzformen einschliefst. Wir gewinnen diese Dimensionen einmal aus der Beteiligung der viszeralen Elemente, aus dem, was wir oben \u201eAffektbeteiligung\u201c nannten, und weiter dann aus der Form der Bewegungen.\nDie physiologischen Grundlagen f\u00fcr das Zustandekommen von Affekten sind bisher aus den in der Einleitung angedeuteten Gr\u00fcnden wenig erarbeitet. Auch in der Neurologie, die in ihrer psychologischen Grundlage der Sinnesphysiologie durchaus entspricht, finden sich nur wenig f\u00fcr unseren Zweck verwertbare Angaben. Es ist daher nicht m\u00f6glich, auf sicher\u00e7r anatomischer Grundlage eine Beschreibung dieser Erscheinung zu geben. Ich\n1 Eine Beeinflussung der gleich lokalisierten Hautempfindungen, wie wir sie beim Reflexschmerz fanden, wird ja aus dem Zusammentreffen im gleichen R\u00fcckmarkssegment leicht verst\u00e4ndlich.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n65\nm\u00f6chte vermuten, dafs das Zentrum f\u00fcr diese Ph\u00e4nomene in der Gegend des Striatums zu suchen ist. Doch bedarf das noch ausf\u00fchrlicher experimenteller Untersuchung.\nImmerhin ist aus der experimentellen Psychologie der Gef\u00fchle sicher, dafs die k\u00f6rperlichen \u201eBegleiterscheinungen\u201c, wie die \u00c4nderung der Herzfrequenz, des Blutdrucks, der Atemfrequenz, der Atmungsform, wesentliche Bestandteile der Gef\u00fchle sind. Immer gehen Organempfindungen in das Gef\u00fchl ein, ohne dafs sie als einzelne Elemente erlebt w\u00fcrden. Einen Teil der Gef\u00fchle kann man also jedenfalls als komplexe und psychologisch nicht analysierbare Erlebnisse des K\u00f6rperzustandes bezeichnen. Von allen K\u00f6rperteilen gehen dauernd Erregungen irgendwelcher Art zum Zentralnervensystem, die mannigfachsten \u201eunbewufsten\u201c Regulationen spielen sich dauernd im K\u00f6rper ab, und dies ist es, was als Stimmung erlebt wird. F\u00fcr unser Problem heifst das, dafs die viszeralen \u00c4nderungen im starken Schmerz f\u00fcr die Beeinflussung aller Auffassungen und Handlungen verantwortlich zu machen sind. Kann man die gedr\u00fcckte Stimmung auf \u00c4nderungen im K\u00f6rper zur\u00fcckf\u00fchren, und findet sich andererseits, dafs solche Funktions\u00e4nderungen im K\u00f6rper mit dem Schmerz verbunden sind, so ist wohl der Schlufs unausbleiblich, dafs die gef\u00fchlsartige Struktur des Schmerzes darin physiologisch fundiert ist.\nWir finden also in der Tat in dem Affektteil des Triebes die noch fehlende Dimension zur Erkl\u00e4rung der nicht isolierten Schmerzerlebnisse. War der isolierte Schmerz dem Vorgang in wenigen Segmenten zugeordnet, so entspricht der nicht isolierte Schmerz zun\u00e4chst einem gr\u00f6fseren Abschnitt des R\u00fcckenmarks und, was wesentlicher ist, dem Mitbetroffensein der viszeralen Vorg\u00e4nge.\nNun stehen aber auch der motorische Teil im engeren Sinn und diese Gef\u00fchlsbestandteile nicht unverbunden nebeneinander. Bei allen Reflexschmerzen erreichen die Bewegungen wirklich, was zum Schutz des Organismus dient. Das schmerzende Gelenk wird fixiert, die Bauchdeckenspannung verhindert die schmerzhafte Untersuchung usw. Bei den anderen Bewegungen ist es offenbar nicht so, sie erreichen nichts, durch das Zusammenkr\u00fcmmen oder Umherwerfen werden die Schmerzen nicht gebessert noch dem Organismus irgendwie gedient. Sie sind deut-\nZeitschr. f, Sinnesphysiol. 56.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nJohann Daniel Achelis.\nlieh gleicher Art wie die mimischen Bewegungen der Gesichtsmuskulatur. Sie dr\u00fccken nur aus, was der Mensch erlebt. Als Ausdruckserscheinungen lassen sich alle k\u00f6rperlichen Vorg\u00e4nge hier begreifen, Mimik, \u00c4nderungen der Organfunktionen, Schreien und St\u00f6hnen so gut wie die Bewegungen der K\u00f6rpermuskulatur. Der motorische Ausdruck erstreckt sich nur \u00fcber gr\u00f6fsere oder kleinere Abschnitte der K\u00f6rpermuskulatur. Wir sehen also, dafs der Teil des K\u00f6rpers, der hier betroffen ist, in einem noch nicht n\u00e4her bestimmbaren Gef\u00fchlszentrum zusammengefafst ist. Da die hier zusammenkommenden Erregungen von den Organen her gleichzeitig die Gef\u00fchlsbestandteile f\u00fcr alle anderen Erlebnisse ergeben, erkl\u00e4rt sich so der Einfluls des Schmerzes auf das \u00fcbrige Bewufstsein.\nWir fassen zun\u00e4chst noch einmal den bisherigen Gedankengang in seinen Hauptz\u00fcgen zusammen. Unser Ausgangspunkt war der Begriff des tierischen Triebes, der in einem Erlebnis Auffassung, Affekt und Handlung umfafst, und wir fanden, dafs dieser Schmerztrieb, den man am ersten noch der Flucht vergleichen k\u00f6nnte, beim Menschen in verschiedener Form auftreten kann. Einmal konnten wenige K\u00f6rpersegmente (im entwicklungsgeschichtlichem Sinn) isoliert sein und in ihnen allein der Trieb sich abspielen, oder es konnten unter Herrschaft eines h\u00f6heren Zentrums viszerale und motorische Bestandteile zu einer gef\u00fchlsartigen Form des Erlebens Zusammengehen. Damit ist nicht gemeint, dafs die isolierten Schmerzen ganz ohne h\u00f6here Zentren zustande k\u00e4men \u2014 dem widerspr\u00e4chen ja alle Erfahrungen \u00fcber Schmerzleitung im R\u00fcckenmark \u2014, sondern die Meinung ist die, dafs in diesem Fall das h\u00f6here Zentrum keinen Einflufs auf die Form und Art der Vorg\u00e4nge in den betreffenden Segmenten hat, sondern nur den Gesamtvorgang dort als unab\u00e4nderliche Tatsache gleichsam \u00fcbermittelt bekommt. Im anderen Fall wird erst das Zusammenbestehen der Vorg\u00e4nge im spinalen und vegetativen Nervensystem als Schmerz erlebt, und die motorische Reaktion hat in ihrer Form eine wesentliche Wandlung erfahren. Aus der zielstrebigen Bewegung ist Ausdrucksbewegung geworden. Hier f\u00fcgen sich auch die Ergebnisse Goldscheiders ein, der einmal den Tonus der sensiblen Nervenzelle \u2014 unser Fall des isolierten Schmerzes \u2014 und zum anderen den Gesamtzustand des K\u00f6rpers \u2014 bei uns der gef\u00fchlsartige Schmerz \u2014 als ausschlaggebend ansah.","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Der Schmerz.\n67\n3. Ausfall der motorischen Reaktion.\nEs bleiben nunmehr nur noch die F\u00e4lle zu behandeln, in denen die motorische Reaktion fehlt. Bisher wurde auf sie nicht besonderes Gewicht gelegt, weil es \u00fcberall in der Psychologie der einzig aussichtsreiche Weg ist, wenn man von den in allen Teilen deutlich ausgepr\u00e4gten F\u00e4llen ausgeht und an ihnen in analysierender Beschreibung die Bestandteile aufsucht. Die erw\u00e4hnte Tendenz des Schmerzes \u201efort\u201c z. B. wird man nie in ihrer urspr\u00fcnglichen Bedeutung erkennen, wenn man nicht von den wirklich vollzogenen Triebformen ausgeht. Aufserdem sind es entwicklungspsychologische Gesichtspunkte, die diese Art der Beschreibung nahe legen. W\u00e4hlt man reale Ph\u00e4nomene, wTie den Trieb des Tieres, als Ausgangspunkt und verfolgt die Entwicklung beim Menschen, wird man immer davor bewahrt bleiben konstruierte Elemente an die Stelle von Tatsachen zu setzen.\nIn der vorl\u00e4ufigen Beschreibung sind es Beispiel 3 und 5, die ohne motorische Reaktion verlaufen. Dazu kommen noch die F\u00e4lle, bei denen eine bewufste Einstellung die Bewegung unterdr\u00fcckt. Schmerz scheint hier reine Auffassung geworden zu sein, d. h. sich auf den afferenten Teil zu beschr\u00e4nken und in der Wahrnehmungsqualit\u00e4t heifs sogar eine gegenst\u00e4ndliche Qualit\u00e4t zu beeinflussen. An diese Erlebnisse k\u00f6nnen sich ganz beliebige Handlungen anschliefsen, die in keinerlei Zusammenhang mit dem Schmerz mehr zu stehen brauchen.\nDer Fluchttrieb des Tieres ist gerade in seiner motorischen\n\u2022 \u2022\nAufserung von vitaler Bedeutung (vielleicht gibt es auch in seltenen F\u00e4llen beim Menschen Schmerzen, die im w\u00f6rtlichem Sinn zum Davonlaufen sind, d. h. bei denen sich der alles beherrschende Schmerz im Fliehen \u00e4ufsert). In allen gef\u00fchlsartigen Formen beim Menschen haben die Bewegungen nur Ausdruckswert, keine vitale Bedeutung, und schliefslich fallen die Bewegungen ganz weg. Der Affektbestandteil, d. h. das Eingehen des gesamten K\u00f6rperzustandes in das Erlebnis kann zun\u00e4chst noch erhalten bleiben, wie bei starken Schmerzen, bei denen man ruhig liegt. Mit zunehmender psychischer Isolierung und k\u00f6rperlicher Beschr\u00e4nkung kann dann noch dieser Bestandteil schwinden. Es bleibt die reine isolierte Auffassung des Zustandes eines K\u00f6rperteils zur\u00fcck. Die vollkommene Isolierung aber, wie sie bei nicht von R\u00fcckenmarksnerven gebildeten Sinnen da ist, wird\nbeim Schmerz nie erreicht. In den hyper\u00e4stethischen Zonen Heads\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nJohann Daniel Achelis.\nund Goldscheiders bleibt immer ein Rest jener vom Segment und nicht vom Reizort bestimmten Erlebnisform erhalten. Wenn Goldscheider zu dem Ergebnis kam, dafs Schmerz eine mittelbare Empfindung sei, kann man dies Ergebnis f\u00fcr einen Teil der Schmerzerlebnisse durchaus best\u00e4tigen, denn auch wenn er den weiten Weg vom Trieb zur reinen Auffassung durchlaufen hat, bleibt ihm doch immer dies eine erhalten: dafs er das Be-wufstsein vom funktionalen Zustande des K\u00f6rpers oder eines K\u00f6rperteils ist, der niemals gegenst\u00e4ndlich werden kann, und er damit zum Reiz in keiner eindeutigen Beziehung steht.\nIY. Zusammenfassung.\nZum Schlufs suchen wir die Hauptgesichtspunkte der vorliegenden Auffassung noch einmal kurz zusammenzufassen. In der Einleitung erwies sich die Schmerzsinnestheorie als nicht mehr haltbar, wenn man mit einer sch\u00e4rferen Fassung des Sinnesbegriffs an sie heranging. Es wurde deshalb versucht auf Grund einer Ph\u00e4nomenologie einigen Schmerzformen zu einer anderen Schmerztheorie zu kommen. Es zeigte sich, dafs es unm\u00f6glich ist, die in ihrer Struktur wesentlich verschiedenen Formen des Schmerzes unter eine psychologische Kategorie zu begreifen, weil sie gleichsam die Stadien der Entwicklung vom Tier zum Menschen sind und daher auch nur in genetischer Darstellung verstehbar sind. Tierischer Trieb, Gef\u00fchl, Auffassung sind die Hauptpunkte dieses Weges, der im einzelnen an drei Momenten deutlich gemacht wurde: einmal ist es die zunehmende k\u00f6rperliche und psychische Isolierung des Schmerzes aus dem diffusen Ganzen des Triebes, der f\u00fcr diese Entwicklung mafsgebend ist, zum anderen das Biologisch-sinnloswerden der Bewegungen im Wandel von der Trieb- zur Ausdrucksbewegung, woran sich dann als dritter Punkt der vollkommene Ausfall des motorischen und schliefslich auch des viszeralen Teils geradlinig anschliefst. \u2014 Nur die Nicht-Gegenst\u00e4ndlichkeit bleibt all diesen strukturell verschiedenen Erlebnissen erhalten, bis heran an die Modifikation anderer gegenst\u00e4ndlicher Empfindungen wie beim \u201eheifs\u201c. Hier ist der Schmerz gleichsam auf dem Sprung, Sinnesempfindung im strengen Sinn des Wortes zu werden, erreicht aber dies Ziel niemals. Dafs man bisher von diesem Grenzfall ausging, erkl\u00e4rt die dann sehr naheliegende Auffassung des Schmerzes als den anderen gleichgestellten \u201eSinnes\u201c. \u2014 Eine Reihe von Nebenergebnissen der Arbeit werden am anderen Ort ihre Auswertung finden.","page":68}],"identifier":"lit35971","issued":"1925","language":"de","pages":"31-68","startpages":"31","title":"Der Schmerz","type":"Journal Article","volume":"56"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:38:58.624856+00:00"}

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