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Eine neue Tasttäuschung und ihre Beziehung zum Körperschema

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{"created":"2022-01-31T15:04:24.422206+00:00","id":"lit36013","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Schilder, Paul","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 60: 284-289","fulltext":[{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nEine neue Tastt\u00e4uschung und ihre Beziehung zum\nK\u00f6rperschema\nVon\nProf. Dr. med. et phil. Paul Schilder (Wien)\nMit 1 Abbildung im Text\nIch habe vor mir einen Schl\u00fcssel, den ich vertikal stelle, ich erzeuge nun durch Starren in die Ferne Doppelbilder. Nunmehr ber\u00fchre ich das Ende des Schl\u00fcssels oder den Schl\u00fcsselbart von oben her mit dem Finger der anderen Hand und zwar so, dafs ich auch klare Doppelbilder des Fingers habe. Ich sehe dann deutlich zwei Finger beide den Schl\u00fcssel ber\u00fchrend. Ich gebe das Bild schematisch wieder.\nAbbildung 1\nNach einiger Zeit (manchmal auch sofort) stellt sich der zwingende Eindruck ein, dafs zwei Schl\u00fcssel nicht nur gesehen sondern auch getastet wTerden. Dieser Eindruck wird manchmal","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Tastt\u00e4uschung und ihre Beziehung zum K\u00f6rperschema 285\nlebhafter wenn der Finger mehrfach abgehoben und dann wieder niedergesetzt wird. Doch bleibt der genannte Eindruck auch bestehen, wenn der Finger l\u00e4ngere Zeit auf dem Objekt ruht. Tritt die Verdoppelung des Tasteindrucks auf, so sind die optischen Eindr\u00fccke einander gleichwertig, auch das \u201eLebensgef\u00fchl\" in jedem der gesehenen Finger ist dasselbe. Es sind dann eben zwei belebte Finger da. Der Widerspruch zur gewufsten Erfahrung wird hierbei nicht unmittelbar erlebt.\nDie Verdoppelung tritt auch ein, wenn es sich um einen taktilen Eindruck, dem Schmerz zugef\u00fcgt wird, handelt, wenn ich etwa die Fingerkuppe auf eine Nadelspitze aufdr\u00fccke, so dafs Schmerz entsteht. Es werden dann zwei schmerzende Nadelspitzen wahrgenommen. Die Verdoppelung tritt sogar bei reinen Schmerz-Temperaturerlebnissen auf. Wenn ich etwa das Doppelbild einer brennenden Zigarette erzeuge und den Finger soweit ann\u00e4here, dafs W\u00e4rmeschmerz entsteht so ist auch dieser W\u00e4rmeschmerz doppelt; doch ist es etwas schwieriger dieses Ph\u00e4nomen zu beobachten.\nDie wichtigste Bedingung f\u00fcr diese Ph\u00e4nomene ist, dafs optisch gut gesonderte Doppelbilder entstehen, ist das optische Bild un\u00fcbersichtlich, so kommt es nicht zur Verdoppelung der Tastwahrnehmung. Die Verdoppelung ist besser ausgepr\u00e4gt wenn ich mich auf das Objekt, als wenn ich mich auf meine Empfindung einstelle. Gelegentlich erh\u00e4lt man die taktile Doppelwahrnehmung des Schl\u00fcssels auch dann, wenn keine klare optische Doppelwahrnehmung der Finger sondern nur eine klare Wahrnehmung der \u201ezwei Objekte\u201c gegeben ist. Wenn ich an meinem Finger einen nachdauernden Schmerz erziele, so gelingt mir die Verdoppelung dieser Schmerzempfindung nicht. Bemerkenswerterweise wird der Schmerz sehr h\u00e4ufig gar nicht an einem der beiden Finger erlebt sondern an einem Punkte, der in der Mitte der beiden Finger liegt, also an jenem Punkt an welchem man die ber\u00fchrte Stelle sehen w\u00fcrde, wenn der Finger fixiert w\u00fcrde. Beide Doppelbilder erscheinen dann irgendwie \u201eirreal\u201c und unk\u00f6rperlich.\nErzeuge ich von meinem Finger ein Doppelbild so ist eines der Bilder von dem anderen ausgezeichnet. Es ist das k\u00f6rperliche, w\u00e4hrend das andere als Phantom gleichsam schwebt. Der optische Eindruck ist gleichfalls verschieden, der \u201ek\u00f6rperlich\u201c erlebte Finger ist optisch distinkter gesehen. Man kann ohne Blick\u00e4nderung durch innere Umstellung erzielen, dafs der fr\u00fcher","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nPaul Schilder\nunk\u00f6rperliche Finger k\u00f6rperlich wird und umgekehrt. F\u00fcr mich ist es wesentlich, ob ich mich davon \u00fcberzeuge, ob der Finger mit dem \u201e\u00fcbrigen K\u00f6rper\u201c in Verbindung steht oder nicht. Der Finger, welcher mit dem \u201e\u00fcbrigen K\u00f6rper\u201c in Verbindung gebracht wird, ist der k\u00f6rperliche und enth\u00e4lt auch \u201edas Lebensgef\u00fchl\u201c. Die spontane Differenz h\u00e4ngt von der jeweiligen optischen Gestaltung ab. Doch kann willk\u00fcrlich die Verbindung des einen oder andern Fingers mit dem K\u00f6rper hergestellt werden. Deckt man die Verbindung des optisch verdoppelten Fingers mit der \u00fcbrigen Hand ab, so wird das \u201eLebensgef\u00fchl\u201c wiederum sehr h\u00e4ufig zwischen den optischen Bildern erlebt. Diese selbst erscheinen als unwirklich, als Phantome.\nSoweit meine Selbstbeobachtung. Ich habe 7 Vpn. herangezogen. Bei dreien trat die taktile Verdoppelung nicht auf, bei 4 Vpn. wrar sie deutlich. Bei den Vpn. bei denen die Verdoppelung nicht eintrat, waren bei einer die Doppelbilder nicht ausreichend, die Vp. wTar nicht f\u00e4hig auf das Objekt zu achten ohne zu konvergieren. Bei einer Vp. war die taktile Empfindung an keiner der beiden gesehenen Finger, sondern dazwischen (offenbar wiederum dort, wo bei Fixation die ber\u00fchrte Stelle gesehen w\u00fcrde). Bei den vier anderen Vpn. war die Verdoppelung in derselben Weise nachweisbar wie bei mir. Bei zweien erwies sich die Ann\u00e4herung des Fingers seitlich an den Schaft des Schl\u00fcssels als wirksamer.\nDies die Befunde.\nDas Ph\u00e4nomen bietet insofern ein allgemeines Interesse, als es uns einen weiteren Einblick erlaubt in die Frage, wie das Wissen vom eigenen K\u00f6rper aufgebaut wird.\nIm allgemeinen liegt die Anschauung nahe, die taktilen Eindr\u00fccke seien verl\u00e4fslicher besonders in bezug auf die Wahrnehmung des eigenen K\u00f6rpers und man glaubt auch wohl, dafs vom taktilen her ein Bild des eigenen K\u00f6rpers aufgebaut werden k\u00f6nne. Goldstein und Gelb, sowie Goldstein haben auf die Bedeutsamkeit des optischen Erlebens f\u00fcr die Kenntnis des eignen K\u00f6rpers verwiesen. Neben dem Optischen spielt wohl das Kin\u00e4sthetische eine sehr wesentliche Rolle. Goldstein und Gelb verweisen auf die Rolle der Tastzuckungen f\u00fcr das Lokalisieren von Hauteindr\u00fccken. In unserem Versuch fallen kin\u00e4sthetische Eindr\u00fccke aus, die Ab\u00e4nderung des optischen Bildes gen\u00fcgt, um eine taktile Wahrnehmung zweier Objekte","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Tastt\u00e4uschung and ihre Beziehung zum K\u00f6rperschema 287\nund damit zwei Tasteindr\u00fccke zu vermitteln. Es ist bemerkenswert, dafs mit der Verdoppelung des Tasteindrucks auch das Lebendigkeitserlebnis des verdoppelt gesehenen Fingers verbunden ist. Ich darf hier an Resultate erinnern, die ich mit Klein bei der Untersuchung der sog. japanischen Illusion (der gekreuzten Hand Fingerstellungen) erhalten habe.1 Versucht man bei geschlossenen Augen sich einen Finger, der in abnormer Position ist, zu vergegenw\u00e4rtigen, so gelingt das nur sehr unvollkommen. Wird dieser Finger nunmehr ber\u00fchrt, so taucht nunmehr ein lebhaftes h\u00e4ufig optisch gesehenes Erlebnis der ber\u00fchrten Stelle und ihrer Umgebung auf. W\u00e4hrend sehr h\u00e4ufig ein gew\u00fcnschter Finger nicht bewegt werden kann, wenn der Auftrag in Worten gegeben ist, so werden niemals Fehler gemacht, wenn der Auftrag durch Ber\u00fchrung gegeben wird. Mit der Ber\u00fchrung wird also das Bewustsein des K\u00f6rpers verlebendigt. Damit ist nicht notwendig das Wissen oder Erleben des Zusammenhangs des so verlebendigten Gliedes mit dem \u00fcbrigen K\u00f6rper gegeben. In dem hier beschriebenen Versuche sind beide Finger gegeben, ohne dafs die Frage des Zusammenhanges mit dem \u00fcbrigen K\u00f6rper auftaucht. Der eigene K\u00f6rper wird hierbei nicht anders erlebt als die im Doppeltsehen verdoppelter Objekte, sie erhalten ihre volle Lebendigkeit erst dann, wenn die Doppelber\u00fchrung zum Doppelbild hinzutritt. Hier sei noch kurz eingef\u00fcgt, dafs es sogar m\u00f6glich ist, auch eine verdoppelte Widerstandsempfindung zu erhalten, wenn man einen verdoppelt gesehenen Gegenstand mit einem verdoppelt gesehenen Gegenstand st\u00f6fst, den man in der Hand h\u00e4lt. Die doppelte Widerstandsempfindung wird charakteristischerweise dort erlebt, wo die beiden K\u00f6rper zusammen-stofsen und nicht dort, wo der eine Gegenstand in der Hand gehalten wird.\nBeachtung verdient auch die Erfahrung, dafs der taktile Eindruck nicht an das optische Bild gebunden sein mufs. So wenn eine Vp. den taktilen Eindruck neben den ungewohnten optischen Bildern hat, etwa dort, wro sie den Finger sehen w\u00fcrde, wenn sie ihn fixierte. Ich selbst habe \u00e4hnliche Erfahrungen bei Schmerzeindr\u00fccken. Offenbar ist ein Bewufstsein gegeben wo das Glied bei Normalstellung der Augen sich befinden w\u00fcrde, das sich auf die Sinneseindr\u00fccke aufbaut, welche aus dem unbewegten Finger\nErscheint demn\u00e4chst im Journal of nervous and mental diseases.\n","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nPaul Schilder\nfliefsen. Eindr\u00fccke, welche offenbar leicht transponierbar sind. Ich m\u00f6chte daher nicht schlechthin von einer Vorherrschaft des Optischen \u00fcber das Taktile sprechen, sondern lediglich sagen, dafs das K\u00f6rperbild immer wieder sowohl aus dem optischen als auch dem taktilen (und kin\u00e4sthetischem) Material gestaltet wird und dafs f\u00fcr die Gesamtgestaltung jeweils entsprechend der Gesamtsituation verschiedene Materialien gew\u00e4hlt werden. Meistens wird in der Gestaltung allerdings das Optische \u00fcberwiegen \u00fcber das Taktile. Letzten Endes beruht ja auch die japanische Illusion darauf, dafs bei ungewohntem optischem Bilde die taktilen Eindr\u00fccke zur Entwirrung nicht ausreichen, wofern die taktilen Eindr\u00fccke nicht an der Aufsenwelt eine Orientierung erfahren.\nJedenfalls erweist es sich, dafs das \u201eLebensgef\u00fchl\u201c des Fingers gleichfalls bildsam ist. Eine genaue Analyse dieses Lebensgef\u00fchls kann hier nicht gegeben werden. Wahrscheinlich hat es folgende Komponenten: 1. Die vagen Temperaturempfindungen in Beziehung zu der Temperaturempfindung der anstofsenden K\u00f6rperteile. 2. Die taktilen Spannungsempfindungen. 3. Die Schwereerlebnisse und 4. wahrscheinlich jene Empfindungen, welche sich aus den unvermeidlichen kleinen Bewegungen zur Aufrechthaltung der Lage (-f- Tonusschwankungen) ergeben, wobei die Intention zur Aufrechthaltung der Lage gleichfalls von Belang ist. Alle diese Empfindungen haben keinen hohen Bewufstseins-grad.\nDie Bedingungen dieses Versuches liegen \u00e4hnlich wie die Bedingungen in dem Versuch von Stratton1, der durch ein Linsensystem, das er mehrere Tage trug, die Gesichtswelt auf den Kopf stellte. Aus dem zweiten Versuchstage sind folgende Angaben bemerkenswert. \u201eSchwang ich die gefalteten H\u00e4nde \u00fcber dem Kopf, so liefsen, obgleich ich die Richtung einer solchen Bewegung im vorexperimentellen Gesichtsfeld voraussah, doch das tats\u00e4chliche Verschwinden meiner H\u00e4nde unter dem unteren Gesichtsfeldrande und die dortige Fortsetzung der Bewegung unwillk\u00fcrlich die Gegend zeitweise unbestimmt und leer erscheinen, in der ich bisher meine Brust und meine Schultern vorgestellt hatte\u201c. Besonders enge ber\u00fchren sich mit unserem Thema die folgenden vom sechsten Tag stammenden Beobachtungen: \u201eWenn beide Zeigefinger ins Gesichtsfeld gebracht wurden, aber der\n1 Zitiert nach Scholl.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Eine neue Tasttciuschung und ihre Beziehung zum K\u00f6rperschema '289\nrechte da, wo sonst der linke war, konnte eine fremde Ber\u00fchrung willk\u00fcrlich in dem einen oder andern gef\u00fchlt werden, z*eitweise sogar in beiden gleichzeitig.1 Eine Bewegung, ein leichtes Beugen und Strecken bewirkte aber einen deutlichen Unterschied und machte die willk\u00fcrliche Beziehung nach Ber\u00fchrungen unm\u00f6glich\u201c. Im ersten Beispiel \u00e4ndert also die optische Ab\u00e4nderung das \u201eGef\u00fchl\u201c des eigenen K\u00f6rpers. Im zweiten findet sogar eine Verdoppelung taktiler Eindr\u00fccke durch optische Umstellung statt.\nIch komme also zu dem Schlufs, dafs taktile Empfindungen und Wahrnehmungen von optischen Eindr\u00fccken entscheidend gestaltet werden k\u00f6nnen. Auch die Wahrnehmung des eigenen K\u00f6rpers, \u201edas Lebensgef\u00fchl\u201c ist von optischen Eindr\u00fccken be-beeinflufst.\nLiteratur\nGoldstein und Gelb: \u00dcber den Einflufs des vollst\u00e4ndigen Verlustes des optischen Vorstellungsverm\u00f6gens auf das taktile Erkennen. ZPs 88 (1919).\nSchilder: Das K\u00f6rperschema. Berlin. Springer 1923.\nScholl: Das r\u00e4umliche Zusammenarbeiten von Auge und Hand. Dtseh. Zschr. Nervenheilk. 92 (1926).\nStratton: Vision without inversion of the retinal image. The psychol. review 18% Vol. V.\n1 Von mir gesperrt.","page":289}],"identifier":"lit36013","issued":"1930","language":"de","pages":"284-289","startpages":"284","title":"Eine neue Tastt\u00e4uschung und ihre Beziehung zum K\u00f6rperschema","type":"Journal Article","volume":"60"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:04:24.422212+00:00"}

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