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{"created":"2022-01-31T14:03:50.409055+00:00","id":"lit36028","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Hausmann, Theodor","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 62: 141-157","fulltext":[{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"141\n(Ans der 2. med. Klinik in Minsk, Wei\u00dfru\u00dfland)\nTastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich\nan\u00e4sthesierten Finger\nVon\no. Professor Dr. Theodor Hausmann (Direktor d. Klinik) Unter Mithilfe von M. M. Pismarew\n(Mit 2 Abbildungen im Text)\nAllgemein ist die Ansicht verbreitet, da\u00df der Erfolg des Tastens von der Tastempfindlichkeit der Fingerspitzen abh\u00e4ngt. Seit mehr wie 25 Jahren vertrete ich nun auf Grund praktischer Beobachtungen, wie vor mir der russische Kliniker Obrastzow (1), die Lehre, da\u00df der Erfolg des \u00e4rztlichen Tastens keineswegs von der individuellen Tastempfindlichkeit der Fingerspitzen abh\u00e4ngt, sondern von der Tastmethode, in erster Linie von richtig ausgef\u00fchrten Bewegungen. Ich lehre, da\u00df die Bewegungen ausgef\u00fchrt werden m\u00fcssen: 1. am richtigen Ort, 2. in der richtigen Richtung, 3. im richtigen Ausma\u00df, 4. in der richtigen Tiefe und 5., wenn es sich um die Bauchh\u00f6hle handelt, in der richtigen Atemphase (2) (3) (4) (5). Diese Ansicht hat in meiner Monographie \u201eDie methodische Gastrointestinalpalpation\u201c (2) Ausdruck gefunden. In letzter Zeit habe ich diese Ansicht mit Nachdruck in der Arbeit \u201eDas Tastproblem\u201c (4) betont und k\u00fcrzlich in meiner Karlsbader Fortbildungsvorlesung 1930 (5). \u2014 Die gro\u00dfe Bedeutung der Bewegung beim Tasten hat schon Weber in seinem Buch \u201eDer Tastsinn\u201c hervorgehoben. In der Folge haben aber die Sinnesphysiologen, besonders seit Entdeckung der Druckpunkte durch Blix, sich fast ausschlie\u00dflich mit der Erforschung der taktilen Tastqualit\u00e4ten befa\u00dft. Das gilt auch f\u00fcr die sonst sehr wertvollen Forschungen v. Freys (6), welcher viel M\u00fche und Scharfsinn auf dem Gebiet der von ihm sogenannten Tangorezeptoren an den Tag gelegt hat. Auch der klinische Sinnesphysiologe Gold-","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nTheodor Hausmann\nscheider legt das Schwergewicht beim Tasten anf den Drucksinn (7) und konzentriert sich auf die Erforschung desselben (8). Eine solche atomistische Analyse der Hautsinne brachte aber, wie der Psychologe Katz richtig bemerkt, die Psychologie des Tastens nicht weiter. Ganz in meinem Sinne spricht Katz von der sch\u00f6pferischen Kraft der Bewegung beim Tasten (9). Unter den Physiologen sind es nur wenige, wie z. B. Basler (10) und Kassowitz und Schilder, die die Bewegung in geb\u00fchrender Weise als wesentlichen Faktor beim Tasten w\u00fcrdigen. Viel weiter darin sind die Psychologen, wie aus dem Buche Katz\u2019 und der Monographie Gieses \u201eDie Arbeitshand\u201c (11) zu ersehen ist. Auch die Blindenlehrer haben abseits von dem Strom akademischer Forschung eine Tastpsychologie geschaffen, die ganz von der Bewegung beherrscht wird (Heller, Kuntz, Zech, B\u00fcrklen (12), Hocheisen, Grasemann).\nIn der Tat, die Energetik des Tastens liegt in der Bewegung der Finger.\nDa\u00df die individuelle Tastempfindlichkeit der Fingerspitzenhaut, ihre Empfindungsschwellen, beim Tasten keine entscheidende Rolle spielen k\u00f6nnen, mu\u00df uns klar werden, wenn wir uns vergegenw\u00e4rtigen, da\u00df nach Zwaardemaker beim Tasten des t\u00e4glichen Lebens, wie auch beim \u00e4rztlichen Tasten, die Empfindungsschwellen stets \u00fcberschritten werden. In diesem Sinne ist auch der Hinweis Katz\u2019 aufzufassen, da\u00df es im Laufe des langen menschlichen Lebens kaum jemals dazu kommt, da\u00df ein Druckpunkt isoliert gereizt w\u00fcrde, wie es in den Versuchen der Sinnesphysiologen geschieht.\nIch habe mir nun die Aufgabe gestellt, vorurteilsfrei der Frage nachzugehen, wie weit das Tastverm\u00f6gen der Finger erhalten bleibt oder wie weit es verloren geht, wenn der Finger g\u00e4nzlich an\u00e4sthesiert wird. Nun erwiesen sich die fr\u00fcher angewandten An\u00e4sthesierungsmethoden mittels Kokaininjektionen (Goldscheider) oder mittels Chlor\u00e4thylspr\u00e4y (Hacker (13)) als durchaus unzul\u00e4nglich: Dagegen schien mir die von Rein (14) empfohlene elektrosmotische An\u00e4sthesierung, welche von Frey mit Erfolg an anderen K\u00f6rperstellen angewandt worden ist, sehr geeignet auch f\u00fcr die An\u00e4sthesierung der Finger, die bisher in dieser Weise noch von niemandem angewandt worden ist.\nIch habe eine Silberh\u00fclse in Form eines langen, weiten Fingerhutes, der bis \u00fcber das erste Interphalangealgelenk reicht, anfertigen lassen. Die An\u00e4sthesierung geschieht durch eine der von Rein angegebenen","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 143\nL\u00f6sungen, u. z. eine 2\u00b0/0 Kokainl\u00f6sung in 96\u00b0/0 Alkohol. Der Boden der H\u00fclse wird mit Gazestreifen, die mit der L\u00f6sung durchtr\u00e4nkt sind, ausgepolstert. Der Finger wird mit 6\u20148 Lagen Gaze, die ebenfalls mit der L\u00f6sung durchtr\u00e4nkt wurden, umwickelt, so weit, da\u00df der umwickelte Finger fest in der H\u00fclse liegen kann, ohne Hohlraumbildung. Es hat sich gezeigt, da\u00df, wenn gr\u00f6\u00dfere Hohlr\u00e4ume sich bilden und diese Hohlr\u00e4ume mit der freien L\u00f6sung ausgef\u00fcllt sind, oder wenn der mit Gaze nicht umwickelte Finger in die mit der L\u00f6sung gef\u00fcllte H\u00fclse gesenkt wurde, die An\u00e4sthesierung schlecht resp. gar nicht gelingt. \u2014 Die Silberh\u00fclse wird mit der Anode verbunden, die breite Plattenkathode kommt auf den Oberschenkel. Nach Kein st\u00f6rt ein zu starker Strom den An\u00e4sthesierungsverlauf, Kein gibt als Optimum bei An\u00e4sthesierung breiter K\u00f6rperfl\u00e4chen etwa 2 Milliamp\u00e8re pro qcm an. \u00dcber 4\u20145 Milliamp\u00e8re bin ich wegen der starken Schmerzen bei gr\u00f6\u00dferer Stromst\u00e4rke bei der An\u00e4sthesierung des Fingers nicht hinausgegangen. Es wurde mit 1 Milliamp\u00e8re begonnen und allm\u00e4hlich bis zur H\u00f6chstst\u00e4rke gesteigert, da beim pl\u00f6tzlichen Beginn der Elektrosmose mit 4\u20145 Milliamp\u00e8re am Finger ein unertr\u00e4glicher Schmerz entsteht, der beim Einschleichen des Stromes gering ist. Wenn w\u00e4hrend der Elektrosmose die Milliamp\u00e8rezahl sinkt, weist das auf Trockenwerden der Gaze hin. In diesem Fall mu\u00df wieder L\u00f6sung nachgegossen werden.\nEine v\u00f6llige An\u00e4sthesierung des Fingers ist gew\u00f6hnlich in 11I2\u201413/4 Stunden erreicht. Dann wird an der Fingerbeere und auch an den h\u00f6heren Partien des Fingers keine Ber\u00fchrung mit Watte oder Pinsel gef\u00fchrt. Es wird auch die Ber\u00fchrung mit der Stecknadelspitze oder dem Stecknadelkopf nicht gesp\u00fcrt. Auch ein st\u00e4rkeres Eindr\u00fccken des Stecknadelkopfes ruft keine Empfindung hervor. Das tiefe Eindr\u00fccken des stumpfen Endes eines Bleistiftes ruft nicht die geringste Druckempfindung hervor. Erst wenn der Druck ein so starker ist, da\u00df der Druck bis zum Periost reicht, wTird ein leiser, dumpfer Schmerz empfunden. Somit wird durch die beschriebene Elektromose eine L\u00e4hmung der Ber\u00fchrungsempfindung, der oberfl\u00e4chlichen und der tiefen Druckempfindung erreicht. Beim leichten Aufdr\u00fccken der Fingerbeere auf die Tischplatte wird nicht die geringste Empfindung ausgel\u00f6st, die H\u00e4rte des Tisches wird nicht gesp\u00fcrt, der Widerstand wird als weich empfunden, eine Beobachtung, die auch von Goldscheidee bei An\u00e4sthesierung der Haut gemacht wurde. Erst wenn der steil auf die Tischplatte gesetzte Finger einen starken Druck aus\u00fcbt, kommt es zu einer Empfindung der H\u00e4rte, wahrscheinlich, weil dann die Widerstandsempfindung hinzutritt. Mit dem in genannter Weise an\u00e4sthesierten Finger wurden an 3 Vpn. wiederholt Tastversuche angestellt, die im folgenden beschrieben werden.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nTheodor Hausmann\n1. Das Erkennen der Oberfl\u00e4chenstruktur mit dem an\u00e4sthesierten Finger\nKatz hat in seinem bekannten Buch \u201eDer Aufbau der Tastwelt\u201c, wie fr\u00fcher schon Webee, festgestellt, da\u00df, wenn der Finger auf die Oberfl\u00e4che eines K\u00f6rpers dr\u00fcckt, ohne Bewegungen auszuf\u00fchren, die Oberfl\u00e4chenstruktur eines K\u00f6rpers, wie Gl\u00e4tte und Rauhigkeit, nicht erkannt wird, wohl aber, wenn der Finger auf der Oberfl\u00e4che des K\u00f6rpers Bewegungen ausf\u00fchrt. So konnten seine Versuchspersonen nicht nur Marmor, Metall, Stoff und Papier voneinander unterscheiden, sondern auch die verschiedensten Papiersorten mit scheinbar geringen Strukturunterschieden, und nicht nur Gl\u00e4tte und Rauhigkeit als solche, sondern auch feinere Qualit\u00e4ten der Rauhigkeit. Katz spricht der Vibrationsempfindung eine Hauptrolle beim Wahrnehmen der Oberfl\u00e4chenstrukturen zu. Es sollen beim Gleiten der Finger \u00fcber die Oberfl\u00e4che des zu pr\u00fcfenden K\u00f6rpers feine Ger\u00e4usche entstehen, deren Wellen sich dem Finger mitteilen, wodurch die Vibrationsempfindung erregt wird. Da\u00df nicht der Drucksinn bei der Wahrnehmung feiner Oberfl\u00e4chenstrukturen beteiligt ist, ergibt sich nach Katz daraus, da\u00df auch ein mit einem Kollodiumh\u00e4utchen umspannter Finger die Oberfl\u00e4chenstruktur ausgezeichnet wahrnimmt und sogar ein in einem Gummihandschuh steckender Finger recht gut dieses zu vollbringen vermag. Nach Katz kann auch die kin\u00e4sthetische Empfindung bei der Wahrnehmung feiner Oberfl\u00e4chenstrukturen keine Rolle spielen. W\u00e4hrend Eggee und Bing meinen, da\u00df die Knochen die Vibrationen empfangen und leiten und Feank die Vibrationsempfindung in die motorischen Elemente der peripheren Nerven auf Grund seiner an neuropathologischen F\u00e4llen gemachten Studien verlegt, sucht v. Feey die Empf\u00e4nger der Vibrationsempfindung in der Haut. Katz kann sich mit der Ansicht Feeys nicht einverstanden erkl\u00e4ren. Wie dem auch sei, der Vibrationsempfindung kommt eine weit gr\u00f6\u00dfere Bedeutung zu, als man meinen wollte. Sie ist es, die beim Tauben den Kontakt mit der Au\u00dfenwelt zu einer so gehaltreichen macht, da\u00df sogar musikalische Erregungen empfunden werden, wie die Beispiele von Helen Kellee und Sutee-meistee zeigen, wie auch die von Rousseau in seinem Emil mitgeteilten Beobachtungen. Was ergaben nun die Versuche mit dem an\u00e4sthetischen Finger beim Erkennen von Oberfl\u00e4chenstrukturen?","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 145\nEs verbot sich leider von selbst, so weit angelegte und langdauernde Versuche anzustellen, wie sie Katz ausgef\u00fchrt hat. Denn die An\u00e4sthesie l\u00e4\u00dft nach Beginn der Versuche allm\u00e4hlich nach. Die Versuche Katz\u2019 konnten daher blo\u00df in beschr\u00e4nkter Weise wiederholt werden unter Reduzierung der Tastobjekte auf drei, und zwar 1. v\u00f6llig glattes Papier, 2. weniger glattes, leicht faseriges Papier, 3. Tuchstoff mit st\u00e4rkerer, k\u00f6rniger Rauhigkeit (Schreibtischtuch). Nach der Vorschrift Katz\u2019 schlossen die Vpn. die Augen, die Ohren wurden zur Ausschaltung der bei der Reibung entstehenden akustischen Ph\u00e4nomene und ihrer Wahrnehmung verstopft.\nEs ergab sich nun, da\u00df beim Gleiten des an\u00e4sthesierten Fingers auf dem Tastobjekt die Vpn. prompt angeben konnten, ob der Finger auf dem ganz glatten, dem leicht faserigen Papier oder auf dem rauhen Stoff glitten, wenn die drei Objekte vorher, nach dem Vorgehen Katz\u2019, gezeigt wraren. Doch auch wenn letzteres nicht getan war, konnten die Vpn. angeben, ob sie auf einer ganz glatten, etwas rauhen oder stark rauhen Fl\u00e4che glitten.\nWenn das nach v\u00f6lligem Ausschlu\u00df der taktilen Qualit\u00e4ten einschlie\u00dflich der tiefen Druckempfindung m\u00f6glich ist, und wenn wir mit Katz zudem die kin\u00e4sthetische Empfindung als Empfindungselement bei der Erkennung feiner Strukturen nicht gelten lassen, so bleibt uns tats\u00e4chlich nichts \u00fcbrig, als Katz Recht zu geben, wenn er annimmt, da\u00df es die Vibrationsempfindung ist, die uns das Wahrnehmen feiner Oberfl\u00e4chenstrukturen m\u00f6glich macht.\nDie Tatsache aber, da\u00df nach v\u00f6lliger An\u00e4sthesierung der Finger Oberfl\u00e4chenstrukturen erkannt werden k\u00f6nnen, wenn wir mit dem Finger Bewegungen ausf\u00fchren, ist von weittragendster erkenntnispsychologischer Bedeutung. Sie best\u00e4tigt die Anschauung Webeks von der Bedeutung der Bewegung beim Tasten, sie best\u00e4tigt meine Lehre, da\u00df die Energetik des Tastens in der Bewegung liegt, sie macht die Worte Katz zur Wahrheit, da\u00df der Bewegung beim Tasten eine sch\u00f6pferische Kraft innewohnt! Die erw\u00e4hnte Tatsache schr\u00e4nkt in hohem Ma\u00dfe die Lehre ein, der ausschlaggebende Faktor beim Tasten w\u00e4re in der Tastempfindlichkeit der Fingerspitzen zu suchen, in der Druckempfindung und anderen taktilen Qualit\u00e4ten.\nVorl\u00e4ufig, ehe es gelingt, ein An\u00e4sthesierungsverfahren nebst entsprechender Versuchsanordnung zu schaffen, die es erm\u00f6glicht,","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nTheodor Hausmann\nalle Versuche Katz\u2019 in l\u00fcckenloser Vollst\u00e4ndigkeit getreulich mit dem an\u00e4sthesierten Finger nachzumachen, vorl\u00e4ufig vermag ich nicht zu sagen, wie weit die Leistungsf\u00e4higkeit des an\u00e4sthesierten Fingers beim Erkennen von Oberfl\u00e4chenstrukturen mit Hilfe des isolierten Vibrationssinnes geht und ob damit die Leistungen des nicht an\u00e4sthesierten Fingers erreicht werden oder nicht. A priori nehme ich an, da\u00df sie nicht erreicht wird.\nSind doch die meisten Tasterlebnisse komplexer Natur, wodurch die Vollkommenheit der Tastgestalt bedingt wird. Bei dem Erkennen der feinen Oberfl\u00e4chenstruktur d\u00fcrfte daher die Vibrationsempfindung durch die taktilen Qualit\u00e4ten der Haut unterst\u00fctzt werden. F\u00e4llt aus diesem vibratorisch-taktilen Komplex die taktile Quote aus, so w\u00e4re es wohl zu verstehen, wenn die Oberfl\u00e4chenstruktur in nicht so vollkommener Weise erkannt w\u00fcrde, wie beim Zusammenwirken beider Teilquoten des Komplexes. Es w\u00e4re interessant zu erfahren, wie weit Oberfl\u00e4chenstrukturen mit Hilfe taktiler Empfindungsqualit\u00e4ten allein erkannt werden k\u00f6nnen, wenn' die Vibrationsempfindung ausgeschaltet wird. Doch fehlt uns einstweilen die M\u00f6glichkeit, die Vibrationsempfindung allein auf dem Versuchswege auszuschalten. Es w\u00e4re aber m\u00f6glich, an neuropathologischen F\u00e4llen, wo die Vibrationsempfindung erloschen ist, die taktilen Qualit\u00e4ten jedoch erhalten sind, einschl\u00e4gige Versuche machen. Hierbei k\u00f6nnten uns die Arbeiten von Schwaner und Frank, welche an neuropathologischen F\u00e4llen den Vibrationssinn gepr\u00fcft haben, als Vorlage dienen.\nDie Erkenntnis erlangt nun nach unseren Versuchen die Bedeutung einer unanfechtbaren Wahrheit, da\u00df die Haut nicht als Empf\u00e4nger der Vibrationsempfindung gelten darf, da\u00df vielmehr diejenigen Recht haben, die im Knochen den Empfangsapparat daf\u00fcr suchen. Die an\u00e4sthesierten Weichteile des Fingers leiten die Vibration bis zum Knochen, wo die Vibration empfunden und weitergeleitet wird. Nicht umsonst hat der Knochen den wunderbar harmonischen architektonischen Bau, der es bedingt, da\u00df Tauben die Ger\u00e4usche, die auch vom Ohr als unangenehm empfunden werden, ebenfalls unangenehm sind, w\u00e4hrend harmonisch klingende Musik auch von Tauben angenehm empfunden werden, wie Sutermeisters Selbstdarstellung zeigt.","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 147\n2. Die Wahrnehmung von Niveaudifferenzen mit dem an\u00e4sthesierten Finger\nNachdem Glenard (15) gezeigt hatte, da\u00df Kolonteile in gewissen, von ihm als pathologisch bezeichneten F\u00e4llen mit Hilfe seines Glissement (Gleitbewegung \u00fcber das Kolon hin\u00fcber) tastbar sind, zeigte Obrastzow, da\u00df mit Hilfe von quer zur L\u00e4ngsachse des Kolonabschnittes gerichteter gleitender Bewegungen der Finger ganz normale Dickdarmabschnitte getastet werden k\u00f6nnen. Diese Befunde konnte ich nicht nur best\u00e4tigen, sondern auch dahin erweitern, da\u00df mit Hilfe der von mir inaugurierten Tiefenpalpation, kombiniert mit der Gleitpalpation, nicht nur volumin\u00f6sere und konsistentere Dickdarmabschnitte, sondern auch weiche und schlaffe Teile des Dickdarms zu tasten sind, weiter auch normale Magenteile, wie z. B. die gro\u00dfe Kurvatur. Die gro\u00dfe Kurvatur wird bei der Tiefenpalpation bei der Gleitbewegung der Hand auf der Wirbels\u00e4ulenfl\u00e4che als Duplikatur, als Stufe auf der hinteren Bauchwand getastet. Nachdem ich mit J. Meinerts den r\u00f6ntgenologischen Nachweis gef\u00fchrt hatte, da\u00df es sich um nichts anderes als eben die gro\u00dfe Kurvatur bei meinen Befunden handeln kann, wor\u00fcber wir 1912 auf dem Kongre\u00df f\u00fcr innere Medizin in Wiesbaden Bericht erstattet haben, besch\u00e4ftigte mich die Frage, ob die Druckempfindung oder der Muskelsinn beim lasten der gro\u00dfen Kurvatur in Frage kommt. In meinem \\ ortrag 1913 in der medizinischen Gesellschaft in Berlin sprach ich die bestimmte Ansicht aus, da\u00df die gro\u00dfe Kurvatur nicht mit Hilfe der Druckempfindung, sondern mit Hilfe des Muskelsinnes zur Wahrnehmung kommt, sofern die gro\u00dfe Kurvatur auf der hinteren BauchwTand eine Niveaudifferenz bildet, bei deren \u00dcberschreiten die Hand passive Bewegungen ausf\u00fchren mu\u00df. Diesen Standpunkt habe ich in der Folge wiederholt mit Nachdruck betont, auch in meiner Monographie \u201eDie methodische Gastrointestinalpalpation\u201c. In besonders eingehender Weise habe ich die Frage des Tastens von Niveaudifferenzen in meiner Arbeit \u201eAnalyse der Tastempfindungen\u201c beleuchtet. In dieser Arbeit habe ich vorgeschlagen, den Muskelsinn, welcher auch Bewegungsempfindung, von Ziehen kin\u00e4sthetische Empfindung genannt wird, als endokinetische Empfindung zu bezeichnen, zum Unterschied von der von mir sog. exokinetischen Empfindung, welche dann entsteht, wenn \u00e4u\u00dfere taktile Reize sich auf der Haut bewegen.","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nTheodor Hausmann\nBeim \u00dcberschreiten von Niveaudifferenzen f\u00fchrt die Hand passive Bewegungen aus, wodurch die endokinetische Empfindung erregt wird. Wie fein diese Empfindung ist, haben Sander und Lippert nachgewiesen, insbesondere konstatierten diese Autoren eine ganz \u00fcberraschende Unterschiedsempfindlichkeit mit Hilfe des Kinemotometers Me\u00fcmanns, w\u00e4hrend Frey auch f\u00fcr Gewichtsunterschiede \u00e4u\u00dferst niedrige Unterschiedsschwellen fand. So kann es uns nicht Wunder nehmen, da\u00df die kleine Niveaudifferenz, die auf der Wirbels\u00e4ulenfl\u00e4che durch die gro\u00dfe Kurvatur gebildet wird, getastet werden kann.\nUm die Frage zu entscheiden, ob tats\u00e4chlich, wie ich annahm, die gro\u00dfe Kurvatur mit Hilfe der endokinetischen Empfindung wahrgenommen wird und nicht mit Hilfe der Druckempfindung, habe ich auf die Haut, dort wo die Kurvatur zu tasten war, eine Bleiplatte (3X1 cm) gelegt, die Finger auf die Bleiplatte gesetzt und die Gleitbewegungen der Finger mit der Platte und mit der Haut zusammen ausgef\u00fchrt (bei den Gleitbewegungen der Finger beim Tasten von Abdominalorganen werden dieselben mit der Hand auf dem glatten Muskelfaszienlager ausgef\u00fchrt). Es\nwurde die gro\u00dfe Kurvatur auch durch die Bleiplatte hindurch\n\u2022 \u2022\ngetastet, weil eben der obere Rand der Platte beim \u00dcberschreiten der Niveaudifferenz eine kleine Bewegung macht, die sich dem Finger mitteilt. Das spricht daf\u00fcr, da\u00df die Kurvatur mit Hilfe der endokinetischen Empfindung getastet wird.\nDie Bedeutung der endokinetischen Empfindung beim Tasten der gro\u00dfen Kurvatur l\u00e4\u00dft sich an einem Phantom (Abb. 1) gut demonstrieren, wie ich es in meinem Vortrag in Wiesbaden 1912 und an anderen Stellen getan habe.\nAuf einem Brett B ist ein, auf seiner dem Brett zugewandten Seite mit einer glatten Materie beklebter, dicker Tuchstoff an 4 Sperrkn\u00f6pfen K befestigt. Das Brett stellt die hintere Bauchwand vor, der Tuchstoff die vordere Bauchwand. Zwischen Brett und Tuchstoff liegt ein d\u00fcnnes, gefaltetes Tuch T, dessen Umschlagsstelle U die Duplikatur der gro\u00dfen Kurvatur vorstellt. Der eine, der Umschlagsstelle gegen\u00fcberliegende, einen Eisenstab E f\u00fchrende Rand des Tuches ragt \u00fcber den Rand des Brettes hin\u00fcber. An diesem Rand des Tuches l\u00e4\u00dft sich das Tuch fortziehen, also es l\u00e4\u00dft sich die Umschlagsstelle auf diese Weise in Bewegung setzen. An einer durch 3 Ringe R laufenden Schnur S l\u00e4\u00dft sich das Tuch zur\u00fcckziehen (Abb. 1).","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 149\nAn Stelle dieses Phantoms k\u00f6nnen wir ein zusammengelegtes Taschentuch auf den Tisch legen und dasselbe mit einem dicken Tuchstoff bedecken (Abb. 2).\nWenn wir auf die Stelle des dicken Tuchstoffes, wo unter diesem die Umschlagsstelle des d\u00fcnnen Tuches liegt, die Finger aufdr\u00fccken, f\u00fchlen wir von derselben gar nichts, doch wenn wir unter den aufgesetzten Fingern die Umschlagsstelle sich vorbeibewegen lassen, sp\u00fcren die Finger sofort eine sich vorbeibewegende feine Stufe. Wenn wir nun, anstatt da\u00df die Umschlagsstelle sich bewegt, die Finger an entsprechender Stelle auf dem dicken Tuchstoff, quer zur L\u00e4ngsrichtung der Umschlagsstelle, Gleit-\nAbb. 1.\nAbb. 2.\na \u2014 gefaltetes, d\u00fcnnes Tuch ; b = dicker Tuchstoff; U = Umschlagstelle des d\u00fcnnen Tuches; m = Metallplatte.\nbewegungen ausf\u00fchren lassen, f\u00fchlen wir die Stufe nicht. Wir nehmen an, da\u00df die bei dem Gleiten auf dem Stoff durch Reibung entstehenden Empfindungen die endokinetische Empfindung \u00fcbert\u00f6nten und ausl\u00f6schten. Diese Annahme wird durch folgenden Versuch best\u00e4tigt : Kn\u00f6pfen wir den dicken Tuchstoff ab und f\u00fchren die Finger zusammen mit dem Stoff die Gleitbewegung quer \u00fcber die Umschlagsstelle des d\u00fcnnen Tuches hin\u00fcber aus, so nehmen wir die Stufe aufs deutlichste wahr. So wird es evident, da\u00df die Stufe mit Hilfe der endokinetischen Empfindung getastet wird.\nLegen wir nun, wie vorher schon beim Tasten der gro\u00dfen Kurvatur, eine Bleiplatte m auf den Tuchstoff, so k\u00f6nnen die auf","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nTheodor Hausmann\ndie Bleiplatte aufgesetzten Finger die sich unter dem Tuch vorbeibewegende Stufe deutlich tasten. Alles spricht also daf\u00fcr, da\u00df hier nur die endokinetische Empfindung in Frage kommen kann.\nDoch um den Einwand zu entkr\u00e4ften, da\u00df dennoch in irgendeiner Weise taktile Empfindungsqualit\u00e4ten bei unseren Versuchen im Spiele sind, mu\u00dften dieselben mit an\u00e4sthesiertem Finger wiederholt werden.\nEs wurde die oben beschriebene Elektrosmose zu diesem Zweck verwandt.\nEs zeigte sich, da\u00df der g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierte Finger bei s\u00e4mtlichen Vpn. die Stufe f\u00fchlen konnte, sowohl beim Vorbeigleiten der Stufe bei ruhendem Finger, als auch dann, wenn der Finger mit dem dicken Tuchstoff an der ruhenden Stufe vor\u00fcberglitt. Dasselbe Resultat wurde erzielt, wenn zwischen Tuchstoff und Finger eine Bleiplatte gelegt wurde. Da\u00df der Empfindungston ein etwas anderer, ein weniger pr\u00e4gnanter war, als beim Tasten mit f\u00fchlendem Finger, ist wohl verst\u00e4ndlich, weil ja aus dem Empfindungskomplex die beim Druck auf das Tuch entstehende Empfindung ausf\u00e4llt und dadurch die Wahrnehmungsgestalt sich etwas \u00e4ndern mu\u00df.\nDamit ist bewiesen, da\u00df beim Tasten der gro\u00dfen Kurvatur, wie beim Tasten der Umschlagsstelle des unter dem dicken Tuchstoff liegenden d\u00fcnnen Tuches, die endokinetische Empfindung die Hauptrolle spielt, und nicht taktile Qualit\u00e4ten.\nEs ist sehr unwahrscheinlich, da\u00df dabei die Vibrationsempfindung in Frage kommt, weil die vibratorischen Wellen durch den filzigen Tuchstoff nicht durchgeleitet werden k\u00f6nnen, wie ja auch Schallwellen durch solche Stoffe gewaltig ged\u00e4mpft werden.\nNun kann gegen die Annahme, da\u00df die endokinetische Empfindung die Wahrnehmung der Stufe vermittelt, eingewandt werden, da\u00df die Empf\u00e4nger der endokinetischen Empfindung doch in den Geweben des Fingers liegen, da\u00df aber die Gewebe an\u00e4sthesiert sind und daher die endokinetische Empfindung bei der Wahrnehmung der Stufe nicht in Frage kommen k\u00f6nne. Darauf ist folgendes zu antworten: Wenn Goldscheider Recht hat, da\u00df die Bewegungen der Glieder in den Gelenken empfunden werden und wenn die Gelenke an der An\u00e4sthesie nicht teilnehmen, so ist dadurch das Erhaltensein der endokinetischen Empfindung bei an\u00e4sthetischem Finger aufs beste erkl\u00e4rt. Wenn aber Frey Recht","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 151\nhat, da\u00df die Gelenkfl\u00e4chen an der Kin\u00e4sthesie nicht teilnehmen\n(was mir sehr wahrscheinlich erscheint), so sind wir auch in diesem\nFall um eine Antwort nicht verlegen : die An\u00e4sthesie betrifft nur\n\u2022 \u2022\n2 Fingerglieder, an der Bewegung beim \u00fcberschreiten der Stufe nehmen aber au\u00dfer den 2 Gliedern auch das dritte und weitere Teile der Hand teil, weshalb die Bewegung trotz An\u00e4sthesie da der 2 Glieder empfunden werden mu\u00df.\nUnsere Versuche scheinen auf den ersten Blick die Annahme Freys, da\u00df die Empf\u00e4nger der Kin\u00e4sthesie nur in der Haut zu suchen sind, zu widerlegen. Doch aus dem eben genannten Grunde kann diese Lehre durch unsere Versuche nicht aus der Welt geschafft werden, obzwar sie apriori wenig wahrscheinlich ist, da der komplexe Charakter in der Natur der Tastwelt liegt.\nWie dem auch sei, unsere Grundversuche zeigen, da\u00df den taktilen Qualit\u00e4ten beim Tasten nicht die ausschlaggebende Rolle zukommt, die ihnen vielfach noch zugesprochen wird. Er zeigt, da\u00df der endokinetischen Empfindung eine gewaltige Bedeutung beim Tasten zuf\u00e4llt, da\u00df Niveaudifferenzen ganz allein mit Hilfe der endokinetischen Empfindung nach Ausschlu\u00df taktiler Qualit\u00e4ten erkannt werden k\u00f6nnen. Unsere Versuche beweisen auch, da\u00df der Erfolg des Tastens nicht von der individuellen Tastempfindlichkeit der Fingerspitzen abh\u00e4ngen kann, sondern von richtig ausgef\u00fchrten Bewegungen der Finger.\n3. Das Tasten mit dem Nagelrand des an\u00e4sthesierten Fingers\nIn meiner Karlsbader Vorlesung, auf die ich in der Einleitung hingewiesen habe, habe ich als Beleg daf\u00fcr, da\u00df der Erfolg des Tastens nicht von tastempfindlichen Fingerspitzen abh\u00e4ngt, darauf hingewiesen, da\u00df manche Tastaufgaben gelingen, wenn wir nicht mit der Fingerkuppe, sondern mit dem Nagelrand tasten.\nSo habe ich gezeigt, da\u00df das Rohr der Arteria radialis in plastischer Weise wahrgenommen wird, auch nach dem durch Anlegung der Armmanschette erreichten Schwinden der Pulswellen. Weiter habe ich darauf hingewiesen und es demonstriert, da\u00df der ganz allgemein und auch nach Cohn (16) als nicht tastbar geltende ductus stenonianus (Ausf\u00fchrungsgang der Oberspeicheldr\u00fcse), welcher von hinten nach vorn zu, direkt unter der","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nTheodor Hausmann\nHaut, auf dem Muskelboden des gro\u00dfen Kaumuskels (M. masseter) quer \u00fcber die Backengegend hinweg verl\u00e4uft, sehr gut als z\u00fcndholzdicker, runder, derber Strang getastet werden kann. Zu diesem Zweck lassen wir die Z\u00e4hne zusammenbei\u00dfen, wobei der M. masseter sich anspannt. Auf dem oberen Teile des vorderen, stufenf\u00f6rmig nach vorn abfallenden, dicken und harten Randes des Muskels f\u00fchren wir dann mit den Fingerkuppen unterhalb des Os zygo-maticus Gleitbewegungen von unten nach oben und von oben nach unten, auf und ab, aus. Dabei f\u00fchlen die Finger den ductus stenonianus, als runden Strang. Noch besser aber gelingt das Tasten desselben, wenn wir nicht mit den Fingerbeeren tasten, sondern mit dem aufgesetzten Nagelrande. Meine Zuh\u00f6rer in Karlsbad haben das gleich an sich selbst best\u00e4tigen k\u00f6nnen.\nEs erweist sich, da\u00df der ductus stenonianus ein ausgezeichnetes Testobjekt f\u00fcr Tastversuche ist. Denn fast jeder Mensch kann ihn an sich selbst und bei anderen tasten. Nur allzufette oder \u00f6demat\u00f6se Backen verhindern das Tasten dieses Gebildes. Dieser Umstand er\u00fcbrigt es f\u00fcr entsprechende Tastprobleme k\u00fcnstliche, experimentelle Versuchsanordnungen zu treffen.\nEs lag die Aufgabe vor, zu entscheiden, ob der ductus stenonianus auch mit der Fingerkuppe oder mit dem Nagelrand des v\u00f6llig an\u00e4sthesierten Fingers getastet werden kann.\nEs erwies sich, da\u00df die Vp. mit der Kuppe der an\u00e4sthesierten Fingers den ductus stenonianus als z\u00fcndholzdicken Strang sehr wohl f\u00fchlte, wenn der Finger vorschriftsm\u00e4\u00dfig \u00fcber denselben hinwegglitt. Somit war es klar, da\u00df bei diesem Tasterlebnis die Fingerspitzen, d. h. taktile Empfindungsqualit\u00e4ten keine Rolle spielen konnten. Es bleibt die Vibrationsempfindung und die endokinetische Empfindung.\nWas die Vibrationsempfindung anlangt, so sind die vorbeigleitenden Fl\u00e4chen so glatt und geschmeidig, da\u00df Ger\u00e4usche und Reibungen, die Vibrationen ausl\u00f6sen, nicht entstehen k\u00f6nnen, wenigstens dann nicht, wenn das Vorbeigleiten nicht zu rasch und ohne starken Druck erfolgt. Wenn das Vorbeigleiten bei st\u00e4rkerem Druck und sehr rasch erfolgt, h\u00f6rt man ein leises Knipsen, derart, da\u00df hierbei Vibrationen wohl ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnten. Doch f\u00fcr gew\u00f6hnlich geht der Vorgang ganz lautlos vor sich, so da\u00df f\u00fcr Vibrationen keine Ger\u00e4usche als Substrat vorhanden sind. Es ist auch nicht zu verstehen, wie die Vibrationsempfindung den","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 153\nplastischen Eindruck eines runden Stranges vermitteln kann. Daher glaube ich nicht, da\u00df hier die Vibrationsempfindung eine ma\u00dfgebende Rolle spielen kann.\nEs bleibt also die endokinetische Empfindung als Hauptfaktor bei dem Tasten des Ductus stenonianus. Da\u00df das Tasterlebnis bei an\u00e4sthesiertem Finger ein anderes ist, als bei f\u00fchlendem Finger, ist selbstverst\u00e4ndlich, da aus dem Empfindungskomplex die Druckempfindung ausgefallen ist und daher die Wahrnehmung sich auf die Bewegungsgestalt beschr\u00e4nkt.\nNicht ganz so leicht ist die Frage zu entscheiden, ob beim Tasten des ductus stenonianus mit dem Nagelrand ebenfalls die endokinetische Empfindung als Hauptfaktor zu betrachten ist.\nZwar konnten die Vp. auch mit dem Nagelrand des v\u00f6llig an\u00e4sthesierten Fingers den Strang deutlich tasten, doch ist es dadurch nicht entschieden, ob die endokinetische Empfindung hier den Tasterfolg bedingt. Denn wenn auch der Finger selbst bei tiefem, starken Druck, v\u00f6llig an\u00e4sthetisch war, so konnte doch ein Empfindungsrest in dem vom Nagel bedeckten Nagelbett Zur\u00fcckbleiben. Zwar sp\u00fcrten die Vpn. beim Dr\u00fccken auf die Nagelfl\u00e4che gar nichts, ebensowenig auch beim Dr\u00fccken auf den Nagelrand. Doch wenn der Nagel an seinem Rand gefa\u00dft und dorsalw\u00e4rts abgehoben wurde, sp\u00fcrten die Vpn. diesen Akt. Beim schwachen Beklopfen des Nagelrandes sp\u00fcrten die Vpn. nichts, doch bei st\u00e4rkerem Beklopfen gaben sie an, da\u00df sie das Beklopfen sp\u00fcren. Es kann also sein, da\u00df im Nagelbett ein Empfindungsrest geblieben war, der m\u00f6glicherweise beim F\u00fchlen des Ductus stenonianus in Betracht kommt. Doch ist folgender Analogieschlu\u00df erlaubt: Wenn wir mit der Fingerkuppe trotz v\u00f6lliger An\u00e4sthesierung den Ductus f\u00fchlen, wenn somit hier allein die Bewegungsempfindung das Tasten vermittelt, so ist es nicht anders beim Tasten mit dem Nagelrand und ist es nicht n\u00f6tig bei Letzterem zur Erkl\u00e4rung des Tasterfolges einen Empfindungsrest im Nagelbett heranzuziehen. Zudem erfolgt das Tasten mit dem Nagelrand des an\u00e4sthesierten Fingers nicht nur dann, wenn wir volarw\u00e4rts gerichtete Flexionsbewegungen des Fingers ausf\u00fchren, wobei der Nagel abgehoben wird, sondern in gleicher Weise auch dann, wenn wir die Bewegung dorsalw\u00e4rts, also eine Streckbewegung ausf\u00fchren. Somit scheint es ausgemacht, da\u00df auch beim Tasten mit dem Nagelrand die endokinetische Empfindung eine ma\u00dfgebende Rolle spielt.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 62\n12","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nTheodor Hausmann\nSchlu\u00dfwort\nDie oben angef\u00fchrten Versuche zeigen alle, da\u00df bei einer Reihe von Tastaufgaben die taktilen Tastqualit\u00e4ten eine nur nebens\u00e4chliche Rolle spielen, da\u00df vielmehr bei diesen Tastaufgaben andere Faktoren, wie die Vibrationsempfindung bei der Erkennung der Oberfl\u00e4chenstruktur oder die endokinetische Empfindung (kin\u00e4sthetische Empfindung Ziehens) beim Erkennen von Niveau differenzen, ausschlaggebend sind. Bei diesen Tastaufgaben liegt die Energetik des Tastens in der Bewegung, wTie auch bei allen anderen Tastaufgaben. Beim Tasten kommt es nicht auf die individuelle Tastempfindlichkeit der Fingerspitze an, nicht auf die Empfindungsschwellen der Fingerspitzenhaut, sondern auf richtig ausgef\u00fchrte Bewegungen, gleichviel, ob bei der konkreten Tastaufgabe die Vibrationsempfindung, die endokinetische Empfindung oder die Druckempfindung in Frage kommt. Die Erregung dieser Empfindungsqualit\u00e4ten bleibt steril, ruft keine irgendwie nennenswerte Tasterlebnisse hervor, wTenn sie nicht mit Bewegung einhergeht. Jede der Tastqualit\u00e4ten hat ihre ganz besonderen, umgrenzten Aufgaben, auch die Druckempfindung, welche dann in Frage kommt, wenn es gilt Tastobjekte herauszufinden, die sich durch ihre Konsistenz von der Umgebung unterscheiden, so z. B. den Leberrand, wie ich es in einer Arbeit gezeigt habe.\nDas Tasten von Niveaudifferenzen stellt die einfachste, eindimensionale Stereognose dar, welche ohne Mitwirkung anderer Tastqualit\u00e4ten, allein mit Hilfe der endokinetischen Empfindung gelingt. Die komplizierte multidimensionale Stereognose, das Erkennen der Gr\u00f6\u00dfe, der Form und Gestaltung eines K\u00f6rpers aber gelingt, wie schon Hoeemann vor langer Zeit gezeigt hat, nur beim Zusammenwirken von taktilen Tastqualit\u00e4ten und inneren Tastfaktoren (Bewegungsempfindung, Lageempfindung usw.). Es ist daher selbstverst\u00e4ndlich, da\u00df eine multidimensionale Stereognose mit v\u00f6llig an\u00e4sthetisch gemachten Fingern nicht gelingen wird. Solche Versuche, die das An\u00e4sthesieren vieler Finger verlangt, stehen noch aus. Es ist anzunehmen, da\u00df die Versuche im Sinne Hoeemanns ausfallen werden, welcher zu seinen Versuchen Subjekte mit pathologischer Empfindungsl\u00e4hmung bei Erkrankungen der nerv\u00f6sen Zentralorgane herangezogen hat.\nEs ist daran festzuhalten, da\u00df das Tastresultat keineswegs von der individuellen Tastempfindlichkeit der Fingerspitzen respek-","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 155\ntiv von ihren Empfindungsschwellen abh\u00e4ngt, weil die Tastreize des t\u00e4glichen Lebens immer \u00fcberschwellig sind. Besonders gilt das von dem Tasten durch zwischengelagerte Medien hindurch, z. B. die Bauchdecken, weil hier der erforderliche Druck auf das Medium die Empfindungsschwelle immer gewaltig \u00fcberschreitet. Wie wenig beim Tasten die Empfindungsschwelle der Fingerspitzen in Betracht kommen kann, beweist indirekt die von mir konstatierte Tatsache, da\u00df es mit der Zungenspitze, deren Empfindungsschwellen noch niedriger sind, als die der Fingerspitzen, nicht gelingt, den Radialpuls zu f\u00fchlen (3) (17) (18), auch k\u00f6nnen wir mit der Zungenspitze bei dem oben beschriebenen Tuchversuch zum Erkennen einer Niveaudifferenz, die Stufe, die durch das dicke Tuch von dem an\u00e4sthetischen Finger erkannt wird, nicht wahrnehmen. Es fehlen also der Zunge trotz der \u00e4u\u00dferst fein entwickelten taktilen Empfindlichkeit der Schleimhautoberfl\u00e4che, andere Tastqualit\u00e4ten. Das zeigt uns aufs evidenteste eine wie beschr\u00e4nkte Rolle die Empfindungsschwellen beim Tasten des t\u00e4glichen Lebens spielen.\nDie erkenntnispsychologische Bedeutung dieser Feststellungen liegt darin, da\u00df wir nicht mehr fatalistisch auf die Fingerspitzen unser ganzes Hoffen beim Tasten stellen, sondern auf die bewu\u00dfte Ausn\u00fctzung der im konkreten Fall in Betracht kommenden Empfindungsqualit\u00e4ten, unter zielbewu\u00dfter Bet\u00e4tigung der sich sinngem\u00e4\u00df bewegenden Hand.\nDas \u00e4rztliche Tasten soll ein Bewegungsspiel mit der Hand sein und wird, wenn es als Spiel betrieben wird, zu einer Katharsis im Sinne von Gross, zu einer Freude, zu einer lustbetonten Besch\u00e4ftigung.\nDie Bewegungen der Hand aber werden gerichtet von der dominanten Funktion h\u00f6herer, geistiger Betriebe, im Sinne Gieses (38), wie Intelligenz, Aufmerksamkeit, Konzentration u. a., darum h\u00e4ngt das Tastresultat auch von diesen Dominanten ab, ohne welche eine vollst\u00e4ndige Wahrnehmungsgestalt nie erhalten werden kann. Von der gro\u00dfen Bedeutung speziell der Aufmerksamkeit, der Konzentration f\u00fcr den Erfolg von Sinnesleistungen sprechen die Arbeiten von Bruckner, Weber, Boudouin, Henning u. a. nachzulesen. Dar\u00fcber habe auch ich mehrfach im Anschlu\u00df an das Tastproblem geredet und geschrieben.\n12*","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nTheodor Hausmann\nZusammenfassung\n1.\tMit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich, einschlie\u00dflich der Tiefendruckempfindung, an\u00e4sthesierten Finger k\u00f6nnen wir bis zu einem gewissen Grade, mit Hilfe der intakten Vibrationsempfindung Oberfl\u00e4chenstrukturen bei Bewegung des Fingers wahrnehmen und unterscheiden. Die Empf\u00e4nger der Vibrationsempfindung hegen nicht in der Haut, sondern wahrscheinlich im Knochen.\n2.\tNiveaudifferenzen kommen auch nach v\u00f6lliger An\u00e4sthesierung des Fingers mit Hilfe der endokinetischen Empfindung (Kin\u00e4sthesie) zur Wahrnehmung, wenn der Finger \u00fcber die Niveaudifferenz hinwegbewegt wird.\n3.\tMit dem Nagelrand des v\u00f6llig an\u00e4sthesierten Fingers verm\u00f6gen wir ebenfalls Niveaudifferenzen zu erkennen, und zwar mit Hilfe der endokinetischen Empfindung.\n4.\tBeim Ausnutzen der endokinetischen Empfindung unter Ausf\u00fchrung bestimmter Bewegungen der Hand, k\u00f6nnen wir Gebilde tasten, die allgemein als der Tastung nicht zug\u00e4nglich gegolten haben, wie z. B. die gro\u00dfe Kurvatur, den Ductus stenoni-anus.\n5.\tDer Erfolg des Tastens h\u00e4ngt nicht von tastempfindlichen Fingerspitzen ab, sondern von richtig ausgef\u00fchrten Bewegungen der Hand. Beim Tasten geh\u00f6rt der Primat sicher nicht der Fingerspitzenhaut.\n6.\tAls Dominanten bei der Tastarbeit funktionieren geistige Qualit\u00e4ten, wie Intelligenz, Aufmerksamkeit, Konzentration, um das Tastresultat wesentlich zu bestimmen.\nLiteratur\n1.\tObrastzow, Arch. klin. Med. 43, S. 417. 1888.\n2.\tTh. Hausmann, Die methodische Gastrointestinalpalpation. 2. Aufl. 1918.\nS. Karger, Berlin.\n3.\t\u2014, Z. Neur. 84, S. 96. 1923.\n4.\t\u2014, Arch. Verdgskrkh. (Festnummer f\u00fcr Boas), 24, S. 544. 1918.\n5.\t\u2014, Pr\u00e4zisionspalpation. Karlsbader \u00e4rztliche Vortr\u00e4ge, Bd. 12. G. Fischer,\nJena.\n6.\tM. yon Frey, Tangorezeptoren. Handb. d. norm. u. path. Physiologie,\nXI/1, S. 94. 1926.\t.\n7.\tA. Goldscheider, Klin. Wschr. 1923, S. 961.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger 157\n8.\t\u2014 und P. Hoeker, Pfl\u00fcgers Arch. 199, S. 292. 1923.\n9.\tD. Katz, Der Aufbau der Tastwelt. Leipzig, J. A. Barth, 1925.\n10.\tA. Basler, Pfl\u00fcgers Arch. 158, S. 353. 1913.\n11.\tF. Giese, Psychologie der Arbeitshand. Abderhaldens Handb. d. biol.\nArbeitsmeth. 6, 2., Lief. 260.\n12.\tK. B\u00fcrklen, Blindenpsychologie. Leipzig 1924.\n13.\tF. Hacker, Z. Biol. 61, S. 231. 1913.\n14.\tH. Rein, Z. Biol. 81, S. 125. 1924. 84, S. 118. 1926.\n15.\tGlenard, Les ptoses viscerales. Paris 1899.\n16.\tT. Cohn, Die tastbaren Gebilde des menschlichen K\u00f6rpers. Berlin 1911.\n17.\tTh. Hausmann, Klin. Wschr. 1925, S. 1645.\n18.\t\u2014, Pfl\u00fcgers Arch. 206, S. 511. 1924.","page":157}],"identifier":"lit36028","issued":"1932","language":"de","pages":"141-157","startpages":"141","title":"Tastversuche mit dem elektrosmotisch g\u00e4nzlich an\u00e4sthesierten Finger","type":"Journal Article","volume":"62"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:03:50.409064+00:00"}