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{"created":"2022-01-31T16:16:24.843892+00:00","id":"lit36046","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Elze, Curt","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 59: 11-14","fulltext":[{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"11\n(Aus dem Anatomischen Institut der Universit\u00e4t Rostock.)\nBeobachtungen \u00fcber den mefsbaren Unterschied des Gr\u00f6fsen- und Tiefeneindruckes bei binokularem und\nmonokularem Sehen\nVon\nCuet Elze\nBetrachtet man die photographische Aufnahme eines Kircheninneren zun\u00e4chst binokular, dann monokular, so erscheint das Bild kleiner und gewinnt eine \u00fcberraschende Tiefe, einen ausgesprochen stereoskopischen Charakter. Der Eindruck wird verst\u00e4rkt, wenn dem Auge die zur Bohre gebogenen Finger oder ein t\u00fctenf\u00f6rmig zusammengerolltes Blatt Papier oder eine Leselupe vorgesetzt wird (Prinzip des Plastoskopes von Zoth bzw. des Veranten von Gullsteand-Zeiss). Setzt man in ein Stereoskop 2 Kopien einer und derselben Aufnahme und betrachtet zun\u00e4chst binokular, dann monokular, so hat dies dementsprechend die paradoxe Folge, dafs das Bild bei ein\u00e4ugigem Sehen plastischer erscheint als bei beid\u00e4ugigem.\nAn Bildern von tiefen B\u00e4umen mit blickf\u00fchrenden Linien ist die stereoskopische Wirkung der monokularen Betrachtung am eindringlichsten. Aber auch beim ein\u00e4ugigen Besehen (nach dem beid\u00e4ugigen) der Aufnahme eines Zimmers l\u00f6sen sich die M\u00f6bel von Fufsboden und Wand und stehen frei im Baume, und auf dem Bilde eines lichten Waldes befreien sich die Baumst\u00e4mme aus dem Gewirr der Linien, und der Blick wandelt frei zwischen ihnen hindurch.\nSo wie diese oft beobachtete Erscheinung ist es gleichfalls bekannt, dafs auch Gem\u00e4lde monokular betrachtet an Plastik gewinnen, wie etwa die Landschaften und Kirchenbilder der holl\u00e4ndischen Maler oder die St\u00e4dtebilder von Canaletto, aber ebensogut manches Bild von Impressionisten und sogar Expressionisten. Offenbar haben die meisten Maler monokular gemalt, will sagen monokular ihre Bilder gepr\u00fcft, wie man sich","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nCurt Elze\nja gern den Maler bei der Arbeit (und den Kunstkenner bei der Beurteilung) vorstellt, wie er einige Schritte von der Staffelei zur\u00fccktritt und das Werk betrachtet, indem er ein Auge schliefst. Viele Maler scheinen jedoch nur beid\u00e4ugig gearbeitet zu haben wie die meisten deutschen Romantiker, etwa C. D. Friedeich, Wasmann und wie Mancher auch in neuerer und neuester Zeit. Ich glaube dies daraus schliefsen zu d\u00fcrfen, dafs deren Bilder dem einen Auge kaum oder gar nicht plastischer erscheinen als beiden Augen. Wie denn auch die wissenschaftliche Zeichnung eines k\u00f6rperlichen Gegenstandes bei vergleichender beid- und ein\u00e4ugiger Betrachtung sofort erkennen l\u00e4fst, ob der Zeichner seine Arbeit st\u00e4ndig monokular kontrolliert hat oder nicht. Den italienischen Malern der Renaissance war der Unterschied zwischen ein- und beid\u00e4ugigem Sehen ganz bewufst wie ihre Bilder zeigen und wie Leonardo da Vincis Vorschriften im Malerbuch erkennen lassen. Und als \u201eNachahmer der Natur\u201c handelten sie in ihren Werken danach.\nln der Tat ist der Unterschied bei beid- und ein\u00e4ugigem Betrachten auch der Natur sehr deutlich und typisch nicht nur der Gr\u00f6fse des Gesichtsfeldes und der Plastik nach. Die physiologische und psychologische Literatur habe ich trotz der freundlichen Hilfe der beiden hiesigen Fachm\u00e4nner vergeblich nach ausdr\u00fccklichen Angaben durchsucht, obgleich ich wohl alle Lehr-und Handb\u00fccher, die Monographien \u00fcber physiologische Optik und \u00fcber den Raumsinn, und zahlreiche Einzelabhandlungen nachgesehen habe. Ich habe \u00fcber das, was hier zur Rede steht, aus ihnen nur Andeutungen in der einen oder anderen Richtung herauslesen k\u00f6nnen. Ich kann deshalb darauf verzichten, diese kurze Mitteilung mit vielen Zitaten zu belasten. Die ausf\u00fchrlichsten Hinweise fand ich nachtr\u00e4glich in Georg Hirths Aufgaben der Kunstphysiologie, auf welche mich mein Hamburger Fachgenosse Prof. Brodersen aufmerksam machte. Im folgenden teile ich in K\u00fcrze meine Beobachtungen mit, es Berufeneren \u00fcberlassend sie zu vervollst\u00e4ndigen und die theoretische Deutung zu geben. Auch sehe ich ab von den Unterschieden der Farben (nicht nur ihres Glanzes), auf welche Leonardo da Vinci hinweist: ich kann dar\u00fcber f\u00fcr meine Person keine sicheren Erfahrungen machen, da durch das langj\u00e4hrige Mikroskopieren die Farbenempfindlichkeit meiner Augen verschieden geworden ist. \u2014\nDie R\u00e4ume in der Natur erscheinen dem monokularen Blick","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Beobachtungen \u00fcber den me\u00dfbaren Unterschied usw.\n13\ntiefer als dem binokularen, die Gegenst\u00e4nde kleiner und entfernter. Betrachtet man einen Raum von einiger Tiefe, ein entfernt stehendes Geh\u00f6ft oder Geb\u00fcsch, ein Schiff auf dem Meer, eine lange Strafse oder einen langen Hausflur zun\u00e4chst eine Weile mit einem Auge, indem man das andere mit der Hand verdeckt, und gibt dann das zweite Auge frei, so erscheinen die fernen Gegenst\u00e4nde breiter, n\u00e4her und plastischer, der Raum selbst weniger tief : der Hintergrund scheint n\u00e4her zu kommen. Umgekehrt r\u00fccken die Gegenst\u00e4nde weiter ab, und der Raum erscheint tiefer, wenn nach beid\u00e4ugigem Betrachten das eine Auge verdeckt wird (selbstverst\u00e4ndlich gleiche Brechkraft beider Augen vorausgesetzt). Der Eindruck wird verst\u00e4rkt, wenn man die zu R\u00f6hren geschlossenen H\u00e4nde vorsetzt, oder besser R\u00f6hren aus Papier; noch mehr, wenn man einen Feldstecher zu Hilfe nimmt, dessen eines Rohr man abwechselnd mit der Hand verschlielst und wieder frei l\u00e4fst.\nDiese Beobachtungen sind jederzeit in den verschiedensten Abwandlungen, auch bei D\u00e4mmerung und an den laternenbeleuchteten R\u00e4umen und Gegenst\u00e4nden bei Dunkelheit, ebenso mit um 90 Grad geneigtem Kopf so leicht anzustellen, dafs sich eine n\u00e4here Schilderung er\u00fcbrigt. Die abwechselnde Abflachung und Vertiefung des Raumes beim Wechsel von monokularem und binokularem Betrachten ist sehr eindringlich, ebenso das Gr\u00f6fser- und Kleinerwerden der entfernteren Gegenst\u00e4nde. Dafs das Gr\u00f6fserwerden beim \u00dcbergang zum binokularen Sehen in erster Linie ein Breiterwerden ist, ist kein Zweifel. Ob die Gegenst\u00e4nde auch h\u00f6her werden, habe ich nicht mit Sicherheit entscheiden k\u00f6nnen. Sollte es wirklich der Fall sein, so ist der Unterschied im H\u00f6henmafs jedenfalls erheblich kleiner als im Breitenmafs.\nAm klarsten wird die Erscheinung in folgendem einfachen Versuch: man rollt zwei Bl\u00e4tter Papier zu kurzen T\u00fcten und betrachtet durch sie mit beiden Augen einen nicht zu grofsen Gegenstand, etwa eine M\u00fcnze von Dreimarkstiickgr\u00f6fse, welche auf einem glatten ungemusterten Karton liegt. Die Papierr\u00f6hren m\u00fcssen so eng sein, dafs neben der M\u00fcnze nur wenig von ihrer Unterlage zu sehen ist, damit sie von ihrer Umgebung losgel\u00f6st und jede Vergleichsm\u00f6glichkeit f\u00fcr Gr\u00f6fse und Entfernung ausgeschaltet wird (sind die R\u00f6hren so eng, dafs gerade nur die M\u00fcnze selber ihre \u00d6ffnung auszuf\u00fcllen scheint, so wird","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14 Curt Elze, Beobachtungen \u00fcber den me\u00dfbaren Unterschied usw.\nunwillk\u00fcrlich die R\u00f6hren\u00f6ffnung als Vergleichsmafs benutzt, was zu T\u00e4uschungen f\u00fchrt). Dann schaltet man das eine Auge aus : die M\u00fcnze erscheint deutlich kleiner und weiter entfernt als vorher, im ersten Augenblick auch etwas verschm\u00e4lert und darum oval. Alsbald jedoch erscheint sie wieder kreisf\u00f6rmig und nur kleiner und weiter entfernt. \u2014 Hat man sich durch wiederholtes beid- und ein\u00e4ugiges Anschauen hiervon gen\u00fcgend \u00fcberzeugt, so betrachte man nunmehr binokular die M\u00fcnze so lange, dafs man ihre Gr\u00f6fse im Ged\u00e4chtnis beh\u00e4lt. Schaltet man jetzt das eine Auge aus, so mufs man n\u00e4her an die nun kleiner und entfernter erscheinende M\u00fcnze herangehen oder besser durch einen Gehilfen den Karton mit der M\u00fcnze dem Auge n\u00e4hern lassen, damit sie ebenso grofs erscheint wie vorher bei binokularer Betrachtung.\nAuf diese Weise kann man zugleich ohne Schwierigkeit ein ann\u00e4herndes Mafs gewinnen f\u00fcr den Unterschied des Gr\u00f6fsen-und Tiefeneindruckes bei binokularer und monokularer Betrachtung. Bei einer Entfernung von 1\u20142 Metern zwischen Auge und M\u00fcnze betr\u00e4gt dieses Mafs etwa ein Drittel, bei manchen Personen fast die H\u00e4lfte der Entfernung.\nMancher hat Schwierigkeit, den Unterschied in der Gr\u00f6fse der M\u00fcnze sofort zu erkennen. Er m\u00f6ge durch die Papierr\u00f6hren zun\u00e4chst ein Bild an der Wand binokular und monokular betrachten, um sich zu \u00fcberzeugen, dafs wirklich ein deutlicher Gr\u00f6fsenunterschied bemerkbar ist. Auch hierbei kann er diesen Unterschied ann\u00e4herungsweise messen: bei der ein\u00e4ugigen Betrachtung mufs er n\u00e4her an das Bild herangehen (ein Drittel bis die H\u00e4lfte der Entfernung), damit es ebenso grofs erscheint wie bei der beid\u00e4ugigen.\nIch m\u00f6chte glauben, dafs es dem in der sinnesphysiologischen Methodik Erfahrenen gelingen k\u00f6nnte, dies Mafs genauer zu bestimmen.\nKurz: die photographische Aufnahme eines Raumes zeigt monokular gesehen gr\u00f6fsere Tiefe und Plastik als binokular. Der Raum selbst, in natura betrachtet, erscheint monokular tiefer, die entfernteren Gegenst\u00e4nde kleiner. Ein einzelner Gegenstand, losgel\u00f6st von der Umgebung betrachtet, erscheint monokular kleiner und entfernter als binokular, ein Unterschied, f\u00fcr welchen\nsich in einem einfachen Versuch ein ann\u00e4herndes Mafs gewinnen l\u00e4fst.","page":14}],"identifier":"lit36046","issued":"1928","language":"de","pages":"11-14","startpages":"11","title":"Beobachtungen \u00fcber den me\u00dfbaren Unterschied des Gr\u00f6\u00dfen- und Tiefeneindruckes bei binokularem und monokularem Sehen","type":"Journal Article","volume":"59"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:16:24.843898+00:00"}