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{"created":"2022-01-31T14:58:38.062076+00:00","id":"lit36051","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Scripture, E. W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 59: 83-102","fulltext":[{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"8\u00bb\nDie Natur der Vokale\nVon\nProf. Dr. E. W. Scripture (Wien)\nMit 6 Abbildungen im Text\nDie Vokalprofile und ihre Gesetze\nIn Abbildung 1 sind St\u00fccke aus Registrierungen von gesprochenen Vokalen wiedergegeben, welche durch Abschreiben von einer Grammophonplatte gewonnen wurden (Scripture,.\nAbbildung 1\nStudy of Speech Curves, Plate X). Betrachten wir zun\u00e4chst die Kurve in der ersten Zeile. Sie besteht aus einer Reihe von Teilen, welche eine gewisse \u00c4hnlichkeit miteinander haben. Das Profil des ersten Teiles scheint sich in einer ausgepr\u00e4gteren Form, im zweiten zu wiederholen usw. Im Laufe der Wiederholungen wird es jedoch allm\u00e4hlich ver\u00e4ndert. In der zweiten Zeile besteht jedes Profil aus zwei wellen\u00e4hnlichen Biegungen. Auch hier \u00e4ndert es sich bei jeder Wiederholung. \u00c4hnliche Verh\u00e4ltnisse befinden sich bei den anderen Kurven. Die eigent\u00fcmlichen","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"S4\nE. W. Scripture\nBiegungen wollen wir die Profilform und die Zeitl\u00e4nge eines Profilst\u00fcckes die Profildauer nennen.\nVergleiche zwischen den Profilformen verschiedener Vokale zeigen, dafs sie mehr oder weniger verschieden sind. Die Profildauer wird durch Messen der Entfernung zwischen den entsprechenden Punkten benachbarter Profilst\u00fccke bestimmt. Es stellt sich heraus, dafs die Profildauer sich immer allm\u00e4hlich w\u00e4hrend des Verlaufs des Vokals ver\u00e4ndert. Es lassen sich demnach folgende S\u00e4tze aufstellen :\n1.\tEin Vokal besteht aus einer Anzahl aneinander gereihter Profilst\u00fccke, also\nV = F\u00b1 + F% + FZ + ... = 2F,\nwobei V den ganzen Vokal und F\u00b1, F2, F3, ... die einzelnen Profilst\u00fccke bezeichnen. 2 ist das Summenzeichen.\n2.\tF\u00fcr verschiedene Vokale sind die Profile verschieden, also\nwobei fx das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltnis angibt.\n3.\tDie Profilform innerhalb eines Vokals \u00e4ndert sich allm\u00e4hlich und stetig, also\nF = ft (0,\nwobei t die Zeit angibt.\n4.\tDie Profildauer innerhalb eines Vokals \u00e4ndert sich allm\u00e4hlich und stetig, also\nD = fs(t),\nin welcher Formel B f\u00fcr die Dauer steht.\nAbbildung 2 gibt St\u00fccke aus Oszillographenkurven von gesprochenen Vokalen, welche von Crandall (The Sounds of Speech) ver\u00f6ffentlicht worden sind. Jede Zeile enth\u00e4lt zwei Profilst\u00fccke \u2022aus a (father), resp. a (ta), u (put) und i (Up). Aus ihnen lassen sich nicht nur die schon angef\u00fchrten vier S\u00e4tze, sondern auch ein weiterer ableiten, n\u00e4mlich:\n5.\tDie Profilform eines gesprochenen Vokals ist abklingend, d. h. die Gr\u00f6fse ihrer Biegungen vermindert sich w\u00e4hrend des Verlaufs des Profilst\u00fcckes. Das Abklingen sei durch Einsetzen -des Gliedes e~\u00e4x zum Ausdruck gebracht; die Formel lautet dann\nF = f1 (<x er *),\nwobei e = 2,718 .. . und (5 der Abklingungsfaktor sind.\nDiese S\u00e4tze gelten f\u00fcr alle Registrierungen von gesprochenen Vokalen und sind als Grundgesetze anzusehen.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n85\nMathematische Ausdr\u00fccke f\u00fcr die Vokalprofile\nEs soll jetzt versucht werden, eine allgemein anwendbare mathematische Formel f\u00fcr die Profilformen zu finden.\nDie Sommerfeldsche Reihe\nDer allgemeinste Ausdruck f\u00fcr eine zwischen den Grenzen a und b liegende Kurve ist die Somme RFELDsche Reihe\nCO\tb\ny = f (x) = VJe-fo d kJf (\u00c7) cos 1 (| \u2014 x) d\t(1)\no\ta\n2 n\nin welcher -j- die Periode von l = 0 bis oo in jedem Gliede und | der bei Berechnung der Konstanten benutzte Wert von x sind.\nAbbildung 2\nVorausgesetzt wird, dafs die Kurve nur einen Wert f\u00fcr jedes \u25a0x hat und dafs nicht eine unendliche Zahl von Unstetigkeiten Vorkommen. Die Gleichung lehrt, dafs man f\u00fcr alle Werte von -x eine gegebene Funktion als die Summe einer unendlich grofsen Anzahl von goniometrischen Funktionen betrachten kann, deren Amplituden unendlich klein sind, w\u00e4hrend die Perioden unendlich wenig voneinander verschieden sind und alle m\u00f6glichen Werte haben k\u00f6nnen. Jede Kurve, eine gebrochene Linie usw. k\u00f6nnen","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86\nE. W. Scripture\n\u2014 unter den angegebenen Voraussetzungen \u2014 mittels dieser Gleichung ausgedr\u00fcckt werden.\nDiese Formel ist ein rein mathematischer Ausdruck f\u00fcr ein System von Zahlen. Es k\u00f6nnten Tafeln \u2014 etwa nach der Art yon Logarithmentafeln \u2014 ausgerechnet werden, aus welchen sich bei gegebenen Konstanten f\u00fcr jedes x der betreffende Wert f\u00fcr y finden l\u00e4fst.\nDie Konstanten aus einer Vokalkurve nach dieser Formel zu gewinnen, ist nur einmal versucht worden (Scripture, Study of Speech Curves, K. IX). Die Schwierigkeiten dabei sind nicht un\u00fcberwindbar. Als allgemeinste Formel ist die SommereeldscIio den folgenden vorzuziehen.\nDie FouRiERsche Integralreihe\nNach Fourier l\u00e4fst sich jede Kurve \u2014 unter der Voraussetzung, dafs keine zweideutigen Werte Vorkommen und dafs die Zahl der Un Stetigkeiten nicht unendlich ist \u2014 durch folgende Gleichung ausdr\u00fccken:\n00 6\ny = f (x) \u2014J*f (\u00c7) cos \u00c4 (\u00a7\u2014(2)\no\ta\nwobei I und \u00a3 dieselben Bedeutungen wie in Gleichung (1) haben. Diese Reihe unterscheidet sich von der SoMMERFELDschen durch Ausschaltung der Abklingungsfaktoren. Daher liefert sie auch ganz andere Werte f\u00fcr die Konstanten. Bei beliebigem x aber gibt sie genau denselben Wert f\u00fcr das zugeh\u00f6rige y wie die andere Formel.\nAnalysen nach dieser Gleichung k\u00f6nnen nach der Methode von Crandall und Sacia gemacht werden (A Dynamical Study of the Vowel Sounds). Eine Profilform wird vergr\u00f6fsert und auf einem Streifen Film photographiert. Der Raum unterhalb der Kurve wird undurchsichtig gemacht. Die zwei Enden des Films werden zusammengeklebt. Das Band wird um zwei Rollen gelegt und mittels eines Motors praktisch unendlich viel mal vor einem Schlitz vorbeibewegt. Hinter dem Schlitz befindet sich eine photoelektrische Zelle (Selenzelle) in Verbindung mit einem elektrischen Resonanzsystem. Dieses System kann auf jede beliebige Periode eingestellt werden. Nach dem Ausschlag eines Galvanometers wird die Amplitude f\u00fcr die betreffende Periode bestimmt. Einige von diesen Autoren ver\u00f6ffentlichte Resultate \u2014 Durch-","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n87\nschnittszahlen von mehreren Personen nach Umrechnung in Empfindungswerte \u2014 sind in Abbildung 3 wiedergegeben.\n\u2014..... ausgezogene Linie : M\u00e4nner\n--------gestrichelte Linie: Frauen\n\u00fc(pool)\nu(put)\n\u00f6(tone)\n6 (talk)\no(ton)\na( father)\n90\t128\t181\ni------r\n256\t362\ni------1------!------1------1------1-----r\n512\t724\t1024\t1448\t2048 2896 4096 5792\nAbbildung 3\nDie FouRiEBsche harmonische Reihe\nFourier hat bewiesen, dafs jede Kurve \u2014 vorausgesetzt, dafs sie eindeutig bestimmt ist und dafs eine unendliche Zahl von Unstetigkeiten nicht vorkommt \u2014 durch folgende Gleichung darstellbar ist:\ny \u2014 f(x) = A0 + Ax sin x \u2014 0^ + A3 sin (^\u00df x \u2014\n, A . /2 7t\t\\ ,\t(3)\n+ As sin [jjj x \u2014 0SJ + \u2022 \u2022\nwobei A0 die H\u00f6he der Kurvenachse \u00fcber Null, Al9 A\u00e7, A8i .. . die Amplituden der einzelnen Komponenten, l die Wellenl\u00e4nge der ersten Komponente und 019 #2, 6>8, . . . die Phasenkonstanten\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 59.\t^","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88\nE. W. Scripture\nsind. Letztere h\u00e4ngen von dem Anfangspunkt f\u00fcr die Berechnung von x ab.\nWegen Fortlassen der Abklingungsfaktoren und Beschr\u00e4nkung der m\u00f6glichen Wellenl\u00e4ngen auf die harmonische Reihe Z, */2 Z, !/s\t. . . sind die f\u00fcr diese Reihe gewonnenen Werte der Kon-\nstanten ganz andere als in den anderen Reihen. Wenn aber die Konstanten in die Formel eingestellt sind, liefert sie f\u00fcr jedes x genau denselben Wert f\u00fcr y wie die anderen Formeln.\nDeutung der Resultate der Analysen nach der harmonischen\nReihe\nDie Analyse einer Kurve liefert eine Anzahl von Zahlen. Es mufs untersucht werden, was diese Zahlen bedeuten.\nEine Versuchsreihe in dieser Richtung habe ich mit dem MADE\u00dfschen Analysator gemacht. Man f\u00e4hrt mit einer Spitze \u00fcber die Kurve und dann der X-Achse entlang zur\u00fcck. Mittels eines rechtwinkligen Hebels und eines fahrbaren Schlittens werden diese Bewegungen in vertikale Bewegungen einer Zahnstange um gesetzt. Die Z\u00e4hne greifen in diejenigen eines Zahnrades ein, dessen Achse mit dem Schlitten verbunden ist. Das Rad bewegt sich nicht nur in vertikaler Richtung, sondern dreht sich um seine eigene Achse. Verbunden ist es mit einem Planimeter, den man dann nur abzulesen braucht, um die Amplitude der betreffenden Sinus- oder Cosinus-Komponente zu erfahren. F\u00fcr das erste Glied der harmonischen Reihe wird das gr\u00f6fste Rad gebraucht, f\u00fcr das zweite das Rad Nr. 2, usw. Auf diese Weise bekommt man die Werte f\u00fcr Alt A2, As, ...\nF\u00fcr die ersten Versuche wurden Sinuskurven\n2 7t\ny = a sm ~-j- x\nmit verschiedenen Werten f\u00fcr a und Z ausgerechnet undauf Papier auf gezeichnet ; jede solche Kurve wurde dem Analysator vorgelegt. Die Analyse ergab jedesmal genau den urspr\u00fcnglichen Wert der Amplitude f\u00fcr die betreffende Wellenl\u00e4nge und Null f\u00fcr alle anderen. In weiteren Versuchen wurden zwei Sinuskurven mit verschiedenen Wellenl\u00e4ngen aus der Reihe Z, 1/2 Z, 3/8 Z, . . . addiert und die resultierende Kurve dem Analysator vorgelegt. Die Analyse ergab jedesmal die urspr\u00fcnglichen Amplituden f\u00fcr die betreffenden Wellenl\u00e4ngen und Null f\u00fcr alle anderen. \u00c4hnliche Resultate ergaben sich aus den Analysen von aus drei","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n89\noder mehr Kurvenkomponenten zusammengesetzten Kurven. Die Versuche f\u00fchrten also im allgemeinen zu folgendem Resultat:\nSatz I der harmonischen Analyse: Eine Kurve, welche aus Sinuskurven mit Wellenl\u00e4ngen nach der harmonischen Reihe entstanden ist, liefert bei der Analyse die urspr\u00fcnglichen Amplituden f\u00fcr die betreffenden Wellenl\u00e4ngen und Null f\u00fcr alle anderen.\nEs wurde nun die Kurve\n.\t2 7t\ny = a sm - x h 1\n<lem Apparat vorgelegt. Die Analyse ergab Amplituden f\u00fcr alle Wellenl\u00e4ngen der harmonischen Reihe (Abb. 6). F\u00fcr die Wellenl\u00e4nge 2/7 l war nichts vorhanden, weil der Apparat f\u00fcr sie keine Analysierm\u00f6glichkeit besafs. Das Vorhandensein der \u00fcber tille Wellenl\u00e4ngen zerstreuten Amplituden war ein Beweis f\u00fcr das Vorhandensein einer Kurve, deren Wellenl\u00e4nge nicht zu der harmonischen Reihe geh\u00f6rte. Die gr\u00f6fsten Amplituden gruppierten sich um 1/g l und 1/41 ; durch eine Schwerpunktsberechnung kam man ann\u00e4hernd zu dem Wert 2/7 l. Entsprechende Resultate ergaben sich f\u00fcr andere Kurven mit Wellenl\u00e4ngen aufserhalb der harmonischen Reihe und auch f\u00fcr Kurven, welche in ihrer Zusammensetzung eine unharmonische Komponente enthielten. Es ergab sich also folgender\nSatz II der harmonischen Analyse: Eine Kurve, welche aus Sinuskurven mit Wellenl\u00e4ngen innerhalb und aufserhalb der harmonischen Reihe entstanden ist, liefert bei der Analyse Amplituden f\u00fcr alle Wellenl\u00e4ngen der harmonischen Reihe, wobei die gr\u00f6fseren Amplituden um die tats\u00e4chlich vorhandenen Wellenl\u00e4ngen gruppiert sind.\nEs wurden nun abklingende Sinuskurven\n*\t.\t2 7t\ny \u2014 a e~dx sm y x\nmit verschiedenen Werten f\u00fcr \u00f4 analysiert. Es ergaben sich dabei jedesmal Amplituden f\u00fcr alle Perioden der harmonischen Reihe mit Gruppierung der Werte um l. F\u00fcr Kurven, welche aus einer Summierung von anderen entstanden waren, wobei eine oder mehrere solcher abklingenden Kurven vorhanden waren, ergaben sich jedesmal Amplituden f\u00fcr alle Wellenl\u00e4ngen\nmit entsprechenden Gruppierungen. Das Resultat ist also der\n7*","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90\nE. W. Scripture\nSatz III der ha rmonischen Analyse: Eine Kurve* welche aus Sinuskurven entstanden ist, wobei eine oder mehrere der urspr\u00fcnglichen Kurven abklingend sind, liefert bei der Analyse Amplituden f\u00fcr alle Wellenl\u00e4ngen der harmonischen Reihe, wobei die gr\u00f6fseren Werte um die tats\u00e4chlich vorhandenen Wellenl\u00e4ngen gruppiert sind.\nBeispiel einer harmonischen Analyse\nDie harmonische Analyse eines Profilst\u00fcckes aus der Kurve eines Vokals a ergab Amplituden f\u00fcr alle Elemente. Die Gruppierung deutete auf das Vorhandensein von f\u00fcnf Komponenten. Die Schwerpunktsberechnungen lieferten Perioden in den Verh\u00e4ltnissen 4,3, 9,3, 11,5, 17,5, 19,5 f\u00fcr diese Komponenten. Dazu stand die Profildauer in dem Verh\u00e4ltnis 1. Das Profilst\u00fcck und die Amplituden sind schon in dieser Zeitschrift (58, 204. 1927) mitgeteilt worden.\nDie physikalische Profilgleichung\nAus den Vokalanalysen l\u00e4fst sich der Schlufs ziehen, dafs die Profilform als das Resultat einer Summe von einer kleinen Zahl von abklingenden Sinusschwingungen aufgefafst werden kann, also\ny = 2 om e~0x sin \u2014 8mj \u00bb\t(4)\nwobei m die Werte f\u00fcr die einzelnen Komponenten bezeichnet. Die m Werte f\u00fcr a, \u00f6, l und 6 stehen untereinander und miteinander in keinerlei Beziehungen.\nSchl\u00fcsse auf die physikalische Herstellungsweise der Vokale\nEs soll jetzt versucht werden, aus den mathematischen Analysen Schl\u00fcsse \u00fcber das Zustandekommen der Profilformen zu ziehen.\nEine Vokalkurve ist die bildliche Darstellung der Entfernung eines Luftpartikels aus seiner Gleichgewichtslage in bezug auf die Zeit. Sie ist ein Raumzeitverh\u00e4ltnis, eine Raumzeitkurve, welche irgendeinem Gesetz folgt und durch eine Gleichung ausgedr\u00fcckt werden kann.\nUnter der Voraussetzung, dafs die physikalischen Vorg\u00e4nge denselben Verlauf wie die mathematischen Elemente haben, l\u00e4fst sich aus der SoMMERFELDschen Gleichung der Schlufs ziehen*","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n91\nxiafs jede Profilform aus einer Summe von abklingenden Sinus-bewegungen mit entsprechenden Abklingungskoeffizienten entstehen kann. Unter derselben Voraussetzung ist aus der Fourier-schen Integralgleichung der Schlufs zu ziehen, dafs dieselben Profilformen aus nichtabklingenden Sinusschwingungen mit entsprechenden Perioden entstehen k\u00f6nnen. Endlich ist aus der harmonischen Gleichung ebenfalls zu erschliefsen, dafs genau dieselben Profilformen aus nichtabklingenden auf die harmonische Reihe beschr\u00e4nkten Sinusschwingungen entstehen k\u00f6nnen. In allen drei F\u00e4llen sind die Entstehungsweisen verschieden; die als Elemente festgestellten Kurven haben ganz verschiedene Wellenl\u00e4ngen und Amplituden. Das Endergebnis ist der Schlufs, dafs die Profilform auf mehrfacher Weise zustande kommen k a n n.\nEs soll jetzt versucht werden, Schl\u00fcsse auf die tats\u00e4chlichen Entstehungsweisen zu ziehen.\nS\u00e4mtliche von Hermann, Crandall, Miller, mir selbst und allen anderen Forschern gemachte Analysen haben f\u00fcr die Periode l = D den Wert Null (!) geliefert. Nach Satz I der harmonischen Analyse \u2014 welcher f\u00fcr die anderen Analysiermethoden seine G\u00fcltigkeit beibeh\u00e4lt \u2014 ergibt sich folgender\nSatz I der physikalischen Vokalanalyse: Bei der Erzeugung einer Vokalbewegung kommt nie eine Schwingung mit der Periode der Profildauer vor.\nDasselbe gilt f\u00fcr die Perioden 1/2Z> und 1ISD. Es folgt daraus der \u00fcberaus wichtige und grundlegende\nSatz II der physikalischen Vokalanalyse: Der Vorgang, welcher sich mit der Profildauer wiederholt, ist gar keine Schwingung.\nAlle sorgf\u00e4ltig ausgef\u00fchrten Analysen haben Amplituden f\u00fcr alle Wellenl\u00e4ngen; aufserdem erscheinen die gr\u00f6fseren Amplituden in Gruppen. Nach Satz I der harmonischen Analyse ist zu schliefsen: Bei der Erzeugung einer Vokalbewegung sind nie Schwingungen aus der harmonischen Reihe allein vorhanden. Durch Anwendung von Satz II und Satz III der harmonischen Analyse gewinnt man den\nSatz III der physikalischen Vokalanalyse: Bei der Erzeugung einer Vokalbewegung sind immer Schwingungen vorhanden, welche abklingend sind und aufserhalb der harmonischen\nReihe stehen.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nE. W. Scripture\nNun ist die Entfernung eines Luftpartikels aus der Gleichgewichtslage jedesmal das Resultat einer ein wirkenden Kraft*. Die Wiederholung der Profilform mit dem Intervall D beweist, dafs die Kraft mit dem Intervall B sich wiederholt. Dafs in der Bewegung nichts mit der Periode B zum Ausdruck kommt, zeigt, dafs nur die St\u00e4rke der Kraft und nicht ihre Form in Betracht kommt. Eine solche Kraft wird eine Stofs kraft genannt. Sie erteilt einem elastischen System eine Summe Energie, ohne aber auf die Art der ausgef\u00fchrten Bewegung einen Einflufs zu haben* Diese h\u00e4ngt nur allein von den Eigenschaften des Systems ab. Hiermit sind wir zu dem eigentlichen Grundgesetz gelangt, n\u00e4mlich, zu dem\nSatz IV der physikalischen Vokalanalyse: Bei der Erzeugung einer Vokalbewegung wirkt eine mit einem Intervall gleich der Profildauer wiederholte Stofskraft auf ein elastische\u00bb System, dessen Eigenschaften allein die Profilform bestimmen.\nDynamische Bestimmungen \u00fcber die Herstellungsweise der Profilformen\nJetzt ist es m\u00f6glich, die physikalische Bildungsweise der Vokale genau anzugeben.\nIn einem elastischen System ist eine konservative Kraft vorhanden, welche einen aus seiner Gleichgewichtslage entfernten Massenpunkt nach der Gleichgewichtslage zur\u00fccktreibt. Die Entfernung soll mit y bezeichnet werden. Die konservative Kraft wird \u2014. in \u00dcbereinstimmung mit der Erfahrung \u2014 im allgemeinen als proportional der Entfernung angenommen. Sie wird durch \u2014ly ausgedr\u00fcckt, wobei k eine Konstante ist und das Minuszeichen die r\u00fccktreibende Natur der Kraft angibt. Aufserdem sind dissipative Kr\u00e4fte vorhanden, welche nach der Erfahrung als proportional der Geschwindigkeit anzusehen sind. Sie werden durch \u2014C'dyj dt ausgedr\u00fcckt, wobei c eine Konstante ist und das Minuszeichen die verhindernde Wirkung angibt.\nDie von dem Stofs erteilte Kraft wird durch das Produkt von Masse mal Beschleunigung, als durch m-d2yjdt2 gemessen. Auf diese erteilte Kraft antwortet das elastische System mit einer Bewegung, welche der erhaltenen Kraft entspricht. Die beiden m\u00fcssen gleich sein, also\nd2y\t7 dy","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n93\nF\u00fcr die Bewegungsgleichung, d. h. das Verh\u00e4ltnis von y zu t, ergibt sich\nd2y Je c\tdy\ndt2\tm ^ m dt\noder bequemer\nde2\n= \u2014 2\u00f6y \u2014 nH,\nJm\tQ\nwobei 2d =\u2014 und w2 = \u2014 sind. Unter der Voraussetzung, dafs m\tm\nder Faktor f\u00fcr die dissipativen Kr\u00e4fte nicht \u00fcberm\u00e4fsig grofs ist, ist die L\u00f6sung dieser Gleichung\ny = a er~\u00f4 sin t- t \u2014 #),\n*\tInt\u20149\noder, wenn y \u2014 0 f\u00fcr t = 0,\n*t .\t27t\ny = a e~\u00f6t sin r.\nEs kann Vorkommen, dafs ein Massenpunkt einer Anzahl gekoppelter elastischer Systeme angeh\u00f6rt und dafs er seine Bewegungen in der eben dargestellten Weise unter dem Einflufs jedes Systems ausf\u00fchrt. Das Resultat eines pl\u00f6tzlichen Stofses ist dann gleich der Summe der t\u00e4tigen Kr\u00e4fte. Die Gleichung ist\ny = lai e~\u00f4%1\nsin\n2 7t hi\n\nwobei i die einzelnen Werte f\u00fcr die vorhandenen Systeme bezeichnet. Hiermit ist die physikalische Bildungsweise der Vokale vollst\u00e4ndig gegeben. Es ergibt sich also der\nGrundsatz der Dynamik der Vokalbewegungen: Auf mehrere elastischen Systemen mit den Eigenperioden h, hh hk, . . . und den Abklingungskoeffizienten d,, dy, \u00f6k, ... wirkt eine Reihe von St\u00f6fsen mit den Intervallen Du Z>2, D8, . . .\nDie Kurven und die Analysen beweisen ausnahmlos den\nNebensatz der Dynamik der Vokalbewegungen. Zwischen den Eigenperioden der elastischen Systeme \u00c4,-, A;, hk, . . . und der Wiederholungsdauer der St\u00f6fse Dx, D2, D8, . . . bestehen keinerlei Beziehungen.\nDie durch die dynamische Betrachtung gewonnenen S\u00e4tze stimmen mit den Resultaten der Kurvenanalysen \u00fcberein (S. 88 ff.).","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94\nE. W. Scripture\nDie physiologische Erzeugung der Vokale\nDie erregende Kraft entsteht durch die Bewegungen der Stimmlippen im Kehlkopf. Wie jedermann durch Beobachtungen mittels des Laryngostroboskops sich sofort \u00fcberzeugen kann, schliefsen sich die Stimmlippen bei jeder Bewegung fest zusammen, um sich dann pl\u00f6tzlich zu \u00f6ffnen. Sie schwingen nie. Bei jeder \u00d6ffnung der Stimmritze entweicht die Luft in einem pl\u00f6tzlichen Stofs.\nEine Reihe solcher langsam nacheinander folgender St\u00f6fse\nkann man selbst erzeugen ; sie werden als eine Reihe von Glottis-\nschl\u00e4gen geh\u00f6rt. Jeder Schlag erzeugt eine bestimmte Vokalfarbe\nje nach der Einstellung des Mundes. Diese dauert nur einen\n\u2022 \u2022\nkurzen Augenblick. \u00c4hnliche kurz dauernde Vokalfarben kann man durch Ausschnappen des Daumens aus dem Mund erzeugen. Die Luft in den Hohlr\u00e4umen des Mundes und der Pharynx wird durch die pl\u00f6tzlichen St\u00f6fse zum Schwingen erregt; die Schwingungen klingen rasch ab. Die Hohlr\u00e4ume haben ihre Eigenperioden und k\u00f6nnen durch Zungenstellung usw. auf beliebige Perioden eingestellt werden, ganz ohne R\u00fccksicht auf die Wiederholungsintervalle der erregenden St\u00f6fse.\nDer physiologische Mechanismus stimmt also genau mit den Forderungen der Vokaldynamik \u00fcberein. Es ergibt sich der\nGrundsatz der physiologischen Vokalerzeugung: Eine Reihe von pl\u00f6tzlichen Luftst\u00f6fsen vom Kehlkopf mit den Intervallen Dj, Z>2, Ds, ... erregt Schwingungen in den Hohlr\u00e4umen des Mundes, Pharynx usw. mit den Eigenperioden hiy hj, hk, . \u2022 zwischen diesen Perioden und den Stofsintervallen besteht keinerlei Abh\u00e4ngigkeitsVerh\u00e4ltnis.\nDer Mechanismus im Ohr\nMan darf annehmen, dafs der Stapes die Luftbewegungen zeitlich ann\u00e4hernd unver\u00e4ndert wiederholt und dafs das unmittelbar dahinter liegende Labyrinthwasser Bewegungen macht, welche ann\u00e4hernd mit den Profilformen der Luftbewegungen \u00fcbereinstimmen.\nWenn das Wasser in einem geraden Kanal mit einer Membrane am Ende (Abb. 4A) eingeschlossen w\u00e4re, w\u00fcrde es in der\nMitte des Kanals und auch die Membrane am Ende die Stapes-bewegungen wiederholen. Der Kanal k\u00f6nnte auf sich zur\u00fcckgebogen werden (Abb. 4B); das Resultat w\u00fcrde dennoch das-","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n95\nselbe sein. Wenn aber die Scheidewand zwischen den zwei Biegungen durch einen Spalt durchbrochen wird (Abb. 4C), pflanzt sich die Bewegung nicht unver\u00e4ndert dem Kanal entlang, sondern auch durch den Spalt hindurch fort. Wenn der Spalt gleichm\u00e4fsig breit w\u00e4re, w\u00fcrde die Querbewegung haupts\u00e4chlich in der N\u00e4he des Stapes stattfinden. Im Ohr aber ist 4er Spalt am Stapesende sehr eng : er erweitert sich stetig mit der Entfernung vom Stapes. Die Querbewegung ist also dem Spalt entlang verteilt.\nAbbildung 4\nDas Vorhandensein des Spaltes verursacht ein sehr kompliziertes Muster von Wasserbewegungen. Die Wasserbewegungen finden nach allen Raumrichtungen hin statt; sie sind also dreidimensional. Die Bewegungen \u00e4ndern sich dabei von Augenblick zu Augenblick je nach der Bewegung des Stapes. Das dreidimensionale Master hat also f\u00fcr jedes Element einen Zeit verlauf, also eine dreidimensionale Profilform. Diese dreidimensionalen Profilformen sind aber Resultate der eindimensionalen Profilform der Luftbewegung des Vokals; jede Eigent\u00fcmlichkeit der letzteren zeigt sich in eine entsprechende Eigent\u00fcmlichkeit der ersten. Es besteht also f\u00fcr jede Partikel des Wassers im Spalt das Verh\u00e4ltnis\nd = f(F)\nF\u00fcr die ganze Wasserschicht im Spalt besteht das Verh\u00e4ltnis\n^3 = 2f(F)\nDies l\u00e4fst sich bequemer durch\n= *{F)\nausdr\u00fccken, wo bei <& eine andere Form f\u00fcr f je nach dem betreffenden Spaltpunkt hat.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96\nE. W. Scripture\nDie quer in dem Spalt liegende Basilarmembran ist gezwungen, alle Querbewegungen des Wassers mitzumacben. Es gelten also f\u00fcr die einzelnen Punkte der Membrane sowie auch f\u00fcr die ganze Membrane die soeben gegebenen Gleichungen f\u00fcr die Bewegung des Wassers im Spalt. Selbst wenn die Membrane so z\u00e4he wie Gummi w\u00e4re, k\u00f6nnte sie sich in entgegengesetzter Richtung nicht bewegen. In Wirklichkeit aber ist sie ein Gewebe von zartester Art.\nY\tY\tY\t\n\t\\n~\t\t\\n-\nAbbildung 5\nT\nDie Deformation einer schlitzdeckenden Membran durch\nDruck l\u00e4fst sich auf folgende Weise demonstrieren. Ein kleiner\nGummiballon wird in eine etwas zu enge Schachtel hineingelegt.\n\u2022\u2022\nIn dem Deckel wird eine spaltf\u00f6rmige \u00d6ffnung geschnitten. Durch eine grofse Spritze wird Luft in den Ballon und aus ihm heraus bef\u00f6rdert. Der Ballon ragt durch den Spalt hindurch und macht die Bewegungen des Stempels nach, indem er seine Form \u00e4ndert. Die eindimensionalen Bewegungen des Stempels werden in die dreidimensionalen des Ballonst\u00fcckes umgewandelt, wobei also das Abh\u00e4ngigkeitsVerh\u00e4ltnis genau eingehalten wird.\n9\t\u00bb \u00bb\nDas Verh\u00e4ltnis zwischen den Luftbewegungen und den Membrandeformationen wird in Abbildung 5 und 6 veranschaulicht. In beiden Abbildungen ist die horizontale Achse der Zeitachse. In Abbildung 5 f\u00fchrt ein Punkt wiederholt eine eindimensionale Bewegung aus. In Abbildung 6 f\u00fchrt eine Fl\u00e4che wiederholt eine dreidimensionale Bewegung aus.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n97\nUm Kenntnisse \u00fcber die Membrandeformationen dem Zentralnervensystem zu \u00fcbermitteln, sind sensorische Zellen \u00fcber die ganze Oberfl\u00e4che zerstreut. Um diese und ihre Nebenorgane zu tragen, sind kleine Verdickungen (Querfasern) zwischen den beiderseitigen kn\u00f6chernen Lamellen vorhanden. Jede Faser tr\u00e4gt vier sensorische Zellen. Von jeder Zelle f\u00fchrt ein Faser zum Gehirn. Auf diese Weise wird ein System von Nervenerregungen in jedem Augenblick je nach dem Zustand der Membrane dem Gehirn \u00fcbermittelt. Das Gehirn empf\u00e4ngt also eine Profilform\nvon Erregungen, welche genau von der Profilform der Membran-\n\u2022 \u2022\t_\nbewegungen abh\u00e4ngt. Uber die Natur dieser Erregungen ist nichts bekannt.\nDiese Deformationstheorie hat der Physiologe Waller schon 1896 geahnt :\n\u201eMan darf die Basilarmembran als ein langes schmales Trommelfell betrachten, welches die komplizierten Bewegungen der Membrana tympani wiederholt und welche in ihre ganze Ausdehnung schwingt \u2014 obwohl in einigen Teilen mehr als in anderen \u2014 wrobei sie zwischen der Membrana tectoria und den benachbarten Haarzellen das erzeugt, was man als akustische Druckfiguren bezeichnen kann. Statt einer Analyse des zusammengesetzten Schalles durch irgendwelche spezifische Radialfasern, kann man sich denken, dafs verschiedene Kombinationen des Schalles verschiedene Druckmuster hervorrufen, welche den verschiedenen Figuren auf der Netzhaut von \u00e4ufserlichen Objekten analog sind\u201c (Lehrbuch der Physiologie).\nDie Schallbildertheorie von Ewald stimmt mit der Deformationstheorie insoweit, als sie die Deformationen der Basilarmembran als Resultate der Luftbewegungen annimmt. Sonst ist sie grundverschieden. Bei der EwALDschen Theorie entspricht die Form der Deformation dem Wiederholungsintervall; bei meiner Theorie entspricht sie der Profilform; diese zwei Dinge haben aber nichts miteinander zu tun.\nDie Beziehungen zwischen den verschiedenen Theorien sind in folgender Tabelle dargelegt.\nVergleich zwischen den Theorien \u00fcber die Bewegung der\n\tMembrana basilaris\t\n\tDem Wiederholungsintervall\tDer Profilform\n\tentspricht\tentspricht\nEwald\tein Schallbild\t?\nWaller\t?\tein Schallbild\nScripture\tdas Wiederholungsintervall der Schallbilder\tein Schallbild\n\t\tResonanz von\nHelmholtz\tResonanz einer Faser\tharmonischen Fasern","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98\nE. W. Scripture\nDie psychologische Natur der Vokale\nDie Versuche von Savart haben gezeigt, dafs die regelm\u00e4fsige Wiederholung von einem scharfen Tick eine Tonempfindung mit Tickqualit\u00e4t erzeugt, sobald die Frequenz der Wiederholung eine obere Grenze \u00fcberschreitet, und dafs die Tonh\u00f6henempfindung von der physikalischen Frequenz abh\u00e4ngt. Die Sirene von Seebeck erzeugt eine Reihe von Puffempfindungen ; sobald die Wiederholungsfrequenz die obere Grenze \u00fcberschreitet, werden die Puffe als ein Ton mit Puffqualit\u00e4t geh\u00f6rt. In den sehr wichtigen Versuchen von K\u00f6nig wurde eine ganz kurze Strecke von Stimmgabelschwingungen wiederholt durch L\u00f6cher in einer Sirenenscheibe gef\u00fchrt. Bei langsamer Rotation der Scheibe wurde jede solche Strecke als ein kurzer Ton mit konstanter H\u00f6he geh\u00f6rt. Bei gen\u00fcgend schneller Rotation wurden zwei T\u00f6ne empfunden, einer mit konstanter H\u00f6he entsprechend der Frequenz der Stimmgabelschwingungen und ein zweiter mit ver\u00e4nderlichen H\u00f6he, entsprechend der Frequenz der kleinen Strecken, also der vorbeigehenden L\u00f6cher (vgl. Scripture, Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale, Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 58, 195. 1927). Aus diesen und \u00e4hnlichen Versuchen sind folgende Schl\u00fcsse zu ziehen:\nSatz I der Psychologie der Vokale: Eine wiederholte Schallempfindung erzeugt die Empfindung eines Toens.\nIndem man diesen Satz erweitert, kommt man zu dem\nSatz II der Psychologie der Vokale: Die Wiederholung irgendeiner Eigenschaft innerhalb einer Scballempfindung gibt dieser Empfindung einen ton\u00e4hnlichen Charakter.\nAusdr\u00fccklich ist zu bemerken, dafs die Tonempfindung etwas rein Psychologisches ist und dafs sie aus den wiederholten Sinnesempfindungen entsteht. Physikalisch ist nichts Entsprechendes vorhanden. Die Tonh\u00f6henqualit\u00e4t entsteht ebenfalls aus den Sinnesempfindungen; sie entspricht etwas rein Zeitlichem, n\u00e4mlich der Frequenz der Wiederholungen. Eine entsprechende physikalische Eigenschaft ist aber auch hier nicht vorhanden.\nAus der Erfahrung mit Sprachkurven gewinnt man den\nSatz III der Psychologie der Vokale: Jeder Profilform entspricht eine besondere Vokalqualit\u00e4t.\nWenn man den durch das Wiederholungsintervall erzeugten Ton als Stimmton bezeichnet, beweisen viele Erfahrungen und besonders die Versuche von Koenig folgenden","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n99\nSatz IV der Psychologie des Vokals: Die Vokalqualit\u00e4t ist von dem Stimmton unabh\u00e4ngig.\nDieser Satz hat nat\u00fcrlich nichts mit den Sprechorganen zu tun. Die bekannte Tatsache, dafs ein S\u00e4nger gewisse Vokale in bestimmten Tonlagen besser erzeugen kann, h\u00e4ngt von der Beschaffenheit seiner Organe ab und hat nichts mit der Physik und der Psychologie der Vokale zu tun.\nBei Anwendung dieser S\u00e4tze mufs man bedenken, dafs jedes Profilst\u00fcck nicht als ein zeitlicher Verlauf von irgendetwas, sondern als eine Vokalqualit\u00e4t im Bewufstsein erscheint. Je nach dem Verlauf des Profils \u2014 also je nach dem Profilform \u2014 ist die Vokalqualit\u00e4t anders. Die Wiederholung der Profilst\u00fccke erzeugt eine Tonempfindung mit der Eigenschaft der Tonh\u00f6he. Diese Tonempfindung ist etwas Neues, das in der physikalischen Bewegung nicht enthalten war. Die Qualit\u00e4t der Tonh\u00f6he entspricht der Zeitl\u00e4nge des Wiederholungsintervalls.\nAuch ist zu bemerken, dafs die Vokalqualit\u00e4ten etwas Ton-\u00e4hnliches an sich haben. Wie die Vokalkurven zeigen, geh\u00f6ren Wiederholungen von Merkmalen innerhalb einer Profilform zum Wesen der Vokale.\nZusammenfassung\nIn folgender Tabelle enth\u00e4lt die erste Spalte eine Darstellung der physiologischen T\u00e4tigkeit bei der Erzeugung eines Vokals, die zweite die Analyse der erzeugten Luftbewegungen, die dritte eine Beschreibuzg der Bewegungen der Basilarmembran und die vierte die Summe der hervorgerufenen Empfindungen.\nLary ngologisch Physikalisch\tOtologisch\tPsychologisch\n1.\tregelm\u00e4fsige Wie- 1. regelm\u00e4fsige Wie- 1. regelm\u00e4fsige Wie- 1. Stimmtonempfinderholungen von\tderholungen von\tderholungen\tvon\tdung\nKehlkopfluftst\u00f6fsen\tVokalformen\tSchallbildern\n2.\tWiederholungs- 2. Wiederholungs- 2. Wiederholungs- 2. Tonh\u00f6hederStimm-\nintervall der Kehl- intervall der Vokal- intervall der Schall- tonempfindung kopfluftst\u00f6fse\tformen\tbilder\n3.\tHohlraumschwin- 3. Verlauf des Vokal- 3. Verlauf des Schall- 3. Vokalqualit\u00e4t\ngungen\tprofils\tbildes\n4.\tPerioden der Hohl- 4. regelm\u00e4fsige Wie- 4. regelm\u00e4fsige Wie- 4. Tonh\u00f6hen inner-\nraumschwingungen\tderholungen inner-\tderholungen\tinner-\thalb der Vokalqua-\nhalb des Vokalpro-\thalb eines Schall-\tlit\u00e4t\nfils\tbildverlaufs\nDie Helmholtzsche Theorie\nNach der \u00dcELMHOLTZschen Theorie schwingen die Stimmlippen als ganzes, in H\u00e4lften, in Dritteln usw. und erzeugen","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"ioo\nE. W. Scripture\n\u25a0dabei eine Reihe von harmonischen Teilschwingungen. Die Beobachtungen mittels des Laryngostroboskops zeigen jedoch, dafs die Stimmlippen niemals schwingen ; sie schliefsen sich vielmehr zusammen, bleiben einen Augenblick zusammengeprefst und fahren dann wieder auseinander. Dabei erzeugen sie eine Reihe von kurzen Luftst\u00f6fsen, und niemals Schwingungen irgend-welcher Art.\nNach dieser Theorie stellen sich ferner die Hohlr\u00e4ume so ein, dafs sie auf den Teilschwingungen resonieren. Dabei m\u00fcssen nat\u00fcrlich ihre Eigenschwingungsperioden mit den Perioden der Teilschwingungen \u00fcbereinstimmen. Wenn man portamento singt, \u00e4ndert sich \u2014 nach dieser Theorie \u2014 das ganze System von Perioden der Teilschwingungen von einer Kehlkopfschwingung zur n\u00e4chsten. Um denselben Vokal in verschiedenen Tonh\u00f6hen zu singen, m\u00fcssen die Eigenperioden sich genau Schritt f\u00fcr Schritt von einer Schwingung zur n\u00e4chsten \u00e4ndern \u2014 nein, das geht aber doch nicht; wenn der Vokal derselbe bleiben mufs, d\u00fcrfen die Eigenperioden sich nicht \u00e4ndern. Aber wenn sie sich nicht \u00e4ndern, k\u00f6nnen sie nicht resonieren! Die Hypothese f\u00fchrt zu einer Unm\u00f6glichkeit und widerlegt sich selbst.\nEs gibt nun ein Musikinstrument, welches genau nach der HELMHOLTzschen Theorie funktioniert. Bei dem Gebrauch einer Maultrommel wird eine metallene Zunge vor dem offenen Mund zum Schwingen gebracht. Die Schwingungen enthalten eine harmonische Reihe von Teilschwingungen. Je nach der Einstellung resoniert der Mundpharynxhohlraum auf eine der Teilschwingungen. Die anderen Teilschwingungen werden nicht geh\u00f6rt. Durch Umstellung kann der Hohlraum auf andere Teilschwingungen eingestellt werden. Auf diese Weise kann eine Melodie gespielt werden. Die Erzeugung der T\u00f6ne geschieht genau nach der HELHHOLTZschen Theorie f\u00fcr Vokale. Was herauskommt, sind aber keine Vokale, sondern musikalische T\u00f6ne.\nDer fundamentale Satz der HELMHOLTzschen physikalischen Theorie lautet: Die erregende Kraft ist eine Summe von Sinusschwingungen mit Perioden aus der harmonischen Reihe. Von diesen Schwingungen ist aber in den Vokalkurven nie eine Spur zu finden (vgl. oben S. 91). Der zweite Satz lautet: Diese Schwingungen erzeugen Resonanzschwingungen. Wenn aber solche Schwingungen \u00fcberhaupt nicht existieren, k\u00f6nnen sie auch","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Die Natur der Vokale\n101\nnichts erzeugen. Der dritte Satz lautet: Die Vokalbewegung soll aus einer Summe von einfachen Sinusschwingungen bestehen, welche Perioden nach der harmonischen Reihe besitzen. Die Analysen beweisen jedoch, dal's dies nie der Fall ist; die Komponenten der Summe sind nie einfache, sondern immer abklingende Sinusschwingungen und ihre Perioden liegen fast immer aufserhalb der harmonischen Reihe.\nDie HELMHOLTzsche Ohrentheorie ist ferner auf dem Wahn\n\u2022\u2022\naufgebaut, dafs die Fasern der Basilarmembrane eine \u00c4hnlichkeit mit den Saiten eines Klaviers haben. Die Fasern sind vielmehr ein Gewebe von zartester Art; sie sind eng zusammengebundene Teile einer d\u00fcnnen Membrane. Eine Faser kann sich nicht im geringsten bewegen, ohne eine ganze Strecke Membrane mit sich zu nehmen. Die Membran liegt im Wasser und ist gezwungen, dessen Bewegungen mitzumachen. Eine Bewegung gegen das Wasser ist undenkbar. Die Stahldr\u00e4hte eines Klaviers liegen frei in der Luft; mit einer Gummimembran zusammengebunden, w\u00fcrden auch sie \u00fcberhaupt nicht schwingen k\u00f6nnen. Wenn man einen Ton in ein Klavier hineinsingt, wird der h\u00f6lzerne Resonanzboden in Mitschwingungen gesetzt; er bewegt nun die St\u00fctzpunkte der Dr\u00e4hte und setzt die \u00fcbereinstimmende Saite in Schwingungen. Hier ist keine \u00c4hnlichkeit mit den Verh\u00e4ltnissen im Ohr. Wenn die Saiten zwischen steinernen St\u00fctzgebilden befestigt, aufserdem zusammengebunden und in Wasser gelegt w\u00e4ren, w\u00fcrden sie keine Eigenbewegungen gegen die Schwingungen des Wassers ausf\u00fchren k\u00f6nnen \u2014, obwohl sie starke Stahldr\u00e4hte und nicht spinngeweb\u00e4hnliche zarte Fasern sind.\nWenn man die Basilarmembrane unter einem Mikroskop oder in einer Abbildung betrachtet, sieht man eine Anzahl paralleler B\u00e4nder mit allm\u00e4hlich abnehmender L\u00e4nge. Es ist kaum verst\u00e4ndlich, wie man dabei an irgendein musikalisches Instrument denken k\u00f6nnte; aufser einer Anzahl paralleler Linien von verschiedener L\u00e4nge ist etwas Gemeinsames nicht vorhanden. Und so etwas wie ein Faserband mit den Massen des Endapparats darauf, gibt es in der musikalischen Welt nicht. Dennoch ist der Vergleich des inneren Ohres mit einem Klavier herangezogen und als Grundlage einer ganzen Vokaltheorie ben\u00fctzt worden. Diese Theorie widerspricht aber den Tatsachen und entbehrt jeder Grundlage.","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nJS. W. Scripture, Die Natur der Vokale\nLiteratur\nI. B. Cbandall, The Sounds of Speech. Bell System Technical Journal 4r 5\u00ab6. 1925.\nI. B. Crandall and C. F. Sacia, A Dynamical Study of the Vovel Sounds.\nBell System Technical Journal 3, 2.\t1924.\nC. F. Sacia, Photomechanical Wave Analyzer applied to Inharmonic Analysis. Joum. Optical Soc. America 9, 4. 1924.\nE. W. Scripture, The Study of Speech Curves. Carnegie Institution PubL No 44. Washington 1906, Plate X.\nE. W. Scripture, Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale. Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 48, 195. 1927.\nA. Sommerfeld, Die willk\u00fcrlichen Funktionen in der mathematischen Physik. Dies. K\u00f6nigsberg 1891.","page":102}],"identifier":"lit36051","issued":"1928","language":"de","pages":"83-102","startpages":"83","title":"Die Natur der Vokale","type":"Journal Article","volume":"59"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:58:38.062082+00:00"}