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Über impressionistisches Sehen und impressionistische Weltansicht. (Zusatz zu der Arbeit von Thea Cramer [, Zeitschr. f. Sinnesphysiol., 1923, Bd. 54, S. 215-242])

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{"created":"2022-01-31T16:46:28.545123+00:00","id":"lit36081","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Jaensch, E. R.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 54: 243-250","fulltext":[{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber impressionistisches Sehen und impressionistische\nWeltansicht.\n(Zusatz zu der Arbeit von Thea Cramer.)\nt\nVon\nE. R. Jaensch.\t\u00ab\nDie Arbeit von Fr\u00e4ulein Gramer ist geeignet, einige Fragen/1 des impressionistischen Sehens zu kl\u00e4ren, und damit zugleich Fragen des Impressionismus \u00fcberhaupt.\t;\n1. Impressionismus beansprucht, das dem Auge unmittelbar Gegebene festzuhalten, unter Ausschaltung aller denkenden Verarbeitung, aller Reflexion auf die dargestellten Dinge. Den Dingen schreibt die nat\u00fcrliche Weltansicht feste Farben zu; der Schnee ist weifs, die Wiese ist gr\u00fcn. Der Maler, den wesentlich die Dinge interessieren, wird sie immer angen\u00e4hert in diesen ihren best\u00e4ndigen \u201eEigenfarben\u201c malen. Demgegen\u00fcber will der Impressionismus zeigen, dafs das Auge, wenn es sich selbst \u00fcberlassen und durch Reflexion nicht beeinflufst wird, an jedem Ding eine viel reichere Farbenskala sieht; dafs die Wiese zwar gr\u00fcn sein kann, aber auch gelb oder blau, dafs die reichsten und wechselndsten F\u00e4rbungen vor allem ein optisches Etwas zeigt, das gar kein Gegenstand ist, das den gegenst\u00e4ndlich gerichteten Maler darum \u00fcberhaupt nicht interessiert, aber gleichwohl den weitaus gr\u00f6fsten Teil des Gesichtsfeldes f\u00fcllt und aufs st\u00e4rkste zu unserer Stimmung spricht: der leere Raum zwischen den Dingen, die ruhig-heitere oder unruhevoll-zitternde Sonnenatrao-sph\u00e4re, das alle Gegenst\u00e4nde weich umh\u00fcllende oder wie ein Alpdruck belastende Dunkel.","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nE. B. Jamsch.\n2, Wir haben nun fr\u00fcher gezeigt1, dafs unter gewissen Ver-haltungsweisen und Beobachtungsbedingungen, die sich eindeutig charakterisieren lassen, die F\u00e4rbung des Zwischenmediums deutlicher hervortritt und dann die Erscheinungsweise annimmt, In der es die impressionistischen Maler darzustellen pflegen. Der andere Grundzug der impressionistischen Malerei besteht, wie schon erw\u00e4hnt wurde, darin, dafs sie im Gegensatz zu \u00e4lteren Richtungen die \u201eFarbenkonstanz der Sehdinge\u201c zur\u00fccktreten l\u00e4fst und die Ph\u00e4nomene in ihren wechselnden Farben zeigt. Die experimentelle Untersuchung von Fr\u00e4ulein Gramer ergibt nun, dafs beides nicht in einem zuf\u00e4lligen Nebeneinander, sondern in einem notwendigen Zusammenhang steht ; ihre Arbeit zeigt, dafs die \u00e4ufseren Beobachtungsbedingungen oder inneren Verh\u00e4ltungsweisen, die die F\u00e4rbung des Zwischenmediums deutlicher hervortreten lassen, zugleich unausweichlich und zwangsl\u00e4ufig die Farbenkonstanz der Sehdinge zur\u00fcckdr\u00e4ngen.2 Der Grundzug der impressionistischen Kunst besteht also in der Einhaltung gewisser \u00e4ufserer und innerer Beobachtungsbedingungen. Sind sie erf\u00fcllt, dann zeigt die Welt ganz von selbst und zwangsl\u00e4ufig diejenigen Seiten, die der Impressionismus an ihr hervorhebt.\nIn der Tat l\u00e4fst sich nun zwischen den \u00e4ufseren und inneren Beobachtungsbedingungen, die die GrameRsche Arbeit ben\u00fctzt, und denen, die das impressionistische Schaffen einh\u00e4lt, der engste Parallelismus nach weisen. In den Versuchen jener Arbeit tritt die F\u00e4rbung des Zwischenmediums deutlicher hervor und zugleich die sog. Farbenkonstanz der Sehdinge st\u00e4rker zur\u00fcck, wenn die Anordnung aus gr\u00f6fserer Ferne, wenn sie fl\u00fcchtig, wenn sie im seitlichen oder ein\u00e4ugigen Sehen oder auch mit ungew\u00f6hnlicher Kopfhaltung betrachtet wird ; vor allem aber dann, wenn in dem unter abnormer Beleuchtung stehenden Teil der Anordnung keine interessanten Gegenst\u00e4nde vorhanden sind, die sich durch ihre Konturen oder ihre sonstige Bedeutsamkeit der Aufmerksamkeit aufdr\u00e4ngen. Dies sind nun aber gerade die\n1\t\u00dcber die Wahrnehmung des Raumes. Leipzig 1911.\n2\tVgl. das im Eingang der C\u00dfAME\u00dfschen Arbeit formulierte Hauptergebnis. Das optische Resultat der \u201eFarbenkonstanz der Sehdinge\u201c ist daselbst, wie in allen Arbeiten des hiesigen Instituts, \u201eTransformation\u201c srenannt.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Impressionistisches Sehen und impressionistische Weltansicht.\n245\nBedingungen; die der Impressionist bei seinem Schaffen einh\u00e4lt. F\u00fcr ihn gilt \u201edie Forderung, den Gegenstand so unwichtig als m\u00f6glich zu nehmen . . . Ganz l\u00e4fst sich im Bilde die Andeutung von Gegenst\u00e4nden nicht unterdr\u00fccken, aber man w\u00e4hlt unbedeutende, wenig Beziehungen ausl\u00f6sende Gegenst\u00e4nde und diese oft nur allgemein als Ger\u00e4te erkennbar, aber nicht, ob es ein Glas oder eine Frucht ist, oder gar was f\u00fcr eine Blume.\u201c 1 * Ein anderes Mittel ist, \u201edie Z\u00fcge so zu geben, als h\u00e4tte man sie im Vorbeigehen fl\u00fcchtig gesehen, nur mit einem Blick gestreift, oder auch, als h\u00e4tte man, \u201eauf die Ferne . . . eingestellt\u201c, die Gegenst\u00e4nde erblickt. Nebel wird gern dargestellt, atmosph\u00e4rischer Dunst, D\u00e4mmerung, Nacht, flimmernde, zitternde Luft, alles Bedingungen, unter denen die F\u00e4rbung des Zwischenmediums hervortritt und zugleich die Farbenkonstanz der Sehdinge zur\u00fcckgedr\u00e4ngt wird. Selbst die in der CRAMERschen Arbeit aufgewiesene Beziehung zwischen Glanzerscheinungen und Zwischenmedium findet sich in den impressionistischen Sch\u00f6pfungen wieder. Die Erscheinung des Zwischenmediums kann gleitend in die des Glanzes \u00fcbergehen, wenn sich an einer Stelle des Sehraums zwei Gesichtseindr\u00fccke in Wettstreit befinden und keiner ein entscheidendes \u00dcbergewicht \u00fcber den anderen besitzt. Diesen \u00dcbergangsfall von Zwischenmedium und Glanz, diesen Eindruck der gl\u00e4nzenden und leuchtenden Atmosph\u00e4re bringt die impressionistische Malerei durch den Pointillismus hervor, den Hamann als \u201edie charakteristischste Leistung des Impressionismus'4 bezeichnet. Der Pointillismus erreicht die Mischung der Farben dadurch, dafs er die verschiedenfarbigen Flecke nebeneinander auf die Leinwand setzt. Bei Betrachtung aus hinreichendem Abstand entsteht dann sine Mischung der benachbarten F\u00e4rb* flecke, die aber doch keine glatte und restlose ist, sondern \u2014 schon wegen der binokularen und darum in beiden Augen etwas abweichenden Abbildung \u2014 einen mehr oder weniger starken Wettstreit \u00fcbrig l\u00e4fst; unter seinem Einflufs treten dann jene \u00dcbergangsf\u00e4lle von Zwischenmedium- und Glanzerscheinung auf, die in den Beobachtungen am Schl\u00fcsse der CRAMERschen Arbeit als Folge eines Wettstreits aufgezeigt wurden. So gewinnt z. B. die helle Luft eines heiteren Fr\u00fchlingstags, die nicht mit\n1 Richard Hamann, Der Impressionismus im Leben und Kunst.\nK\u00f6ln 1907.","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"E. R. Jaeusch.\nWeife gemalt, sondern gleichsam in spektraler Zerlegung durch Nebeneinandersetzen der Regenbogenfarben hervorgebracht wird, den bewegten, flimmernden Glanz, den wir in jenen Wettstreitbeobachtungen kennen gelernt haben.\n3.\tImpressionismus als Malerei ist nur eine Teilerscheinung. Nun besteht die Kunst der Psychologie darin, in den hohen und verwickelten Gebilden des geistigen Lebens diejenigen einfachen Grundformen aufzufinden, die einer strengen Untersuchung mit einzelwissenschaftlichen Mitteln zug\u00e4nglich sind. Bo wird auch der allgemeinere Fragenkreis des Impressionismus am besten an die Frage des impressionistischen Sehens anzukn\u00fcpfen sein.\n4.\tImpressionismus als Malerei war ja nur Teilerscheinung einer ganzen impressionistischen Kultur, die in allen ihren Hervorbringungen S\u00fchne sein wollte f\u00fcr den S\u00fcndenfall des konstruierenden Denkens, Aschermittwoch nach seinen \u00fcppigen Festen, zugleich aber Wiedergeburt in das Reich des so lange verdunkelten unmittelbar-gegebenen Wirklichen, Freude an seiner Herrlichkeit. Wie in der Kunst, so sollten in der Wissenschaft und in allen Gebieten des Lebens die das Unmittelbargegebene verdunkelnden Konstruktionsgebilde des Denkens verscheucht werden. Gleichzeitig mit den Malern wandten sich die Natur-forscher, die Physiker, von den \u201eDingen\u201c ab, den nur \u201ehinzugedachten\u201c unver\u00e4nderlichen Tr\u00e4gem der Erscheinungen. Wie der Maler die farbenkonstanten Dinge f\u00fcr ein f\u00e4lschendes Konstruktionsprodukt des Denkens erkl\u00e4rte, so waren f\u00fcr Ernst Mach die \u201eDinge\u201c, die die Physik jahrhundertelang den Naturerscheinungen zugrunde gelegt hatte, nur ein f\u00e4lschendes und auszumcrzendes Produkt unseres metaphysischen Triebes.1 Nicht\n1 Impressionismus ist Teilerscheinung einer Weltansicht, die in einer gewissen Zeitphase nicht nur Kunst und Wissenschaft, sondern auch das Leben beherrschte. Bei allem Abstand zwischen dem wahrhaft grofsen Forscher und jenen Angeh\u00f6rigen der neuen Jugend, die zuweilen mehr die Suche nach dem \u201eErlebnis\u201c als die Liebe zur \u201eblassen\u201c Welt der Dinge in die H\u00f6rs\u00e4le trieb, wird man Z\u00fcge eines gleichen Geistes erkennen k\u00f6nnen. Ein Gelehrter des kartesianischen Zeitalters h\u00e4tte folgende S\u00e4tze Machs nicht schreiben k\u00f6nnen: \u201eEtwa 2 oder 3 Jahre (nach der Lekt\u00fcre von Kants Prolegomena) empfand ich pl\u00f6tzlich die m\u00fcfsige Rolle, welche das \u201eDing an sich\u201c spielt. An einem heiteren Sommertage im Freien erschien mir einmal die Welt samt meinem Ich als eine zusammenh\u00e4ngende Masse von Empfindungen, nur im Ich st\u00e4rker zusammenh\u00e4ngend. Obgleich die eigent-","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Impressionistisches Sehen und impressionistische Weltansicht.\n247\nErgr\u00fcndung dieser ungegebenen, eingebildeten Dinge erschien jetzt als Aufgabe, sondern nur Beschreibung der gegebenen physikalischen Ph\u00e4nomene; aber \u00f6konomische Beschreibung, d. h. Beschreibung, die ganz dem aufnehmenden Organ, hier dem der Vorstellungen angemessen ist, so wie die Darstellung der impressionistischen Kunst \u201eMalerei f\u00fcr das Auge\u201c sein will. Und wie der k\u00fcnstlerische, so beansprucht auch der wissenschaftliche Impressionismus zugleich eine Befreiung zu sein : Befreiung von Konstruktionsgebilden des Denkens. Ist die Dingwelt der klassischen Mechanik in Wahrheit keine Realit\u00e4t, sondern nur ein \u201eModell\u201c oder \u201eBild\u201c zum Zwecke der Beschreibung \u2014 entsprechend etwa einer beliebig w\u00e4hlbaren Maltechnik \u2014, so\nliehe Reflexion sich erst sp\u00e4ter hinzugesellte, so ist doch dieser Moment f\u00fcr meine ganze Anschauung bestimmend geworden.\u201c\nDasselbe Erlebnis aufgel\u00f6ster Dingwelt kehrt, etwas weniger naturwissenschaftlich, etwas mehr hymnisch geschildert und gedeutet, in den Schriften des Wandervogelkreises immer wieder, zuweilen verkn\u00fcpft mit einer ausdr\u00fccklichen Empfehlung der HussERLSchen Ph\u00e4nomenologie, die auch die dinglichen Konstruktionen zur\u00fccknehme und das Unmittelbargegebene wiederherzustellen suche, oder der \u00dfERGSONSchen Philosophie, die man in ihrem Heimatland \u201eImpressionismus des Gedankens\u201c nennt. Impressionismus in Kunst und Wissenschaft ist ja nur Sonderausdruck einer umfassenden Weltansicht, die sich schon im Alltagsleben, in der ganzen Wesensart, selbst in der Sprache verraten kann. Etwa der Gegenpol der damals aufkommenden impressionistischen Sprache ist der vielgescholtene Stil Kants. Er ist, gemessen an der Einstellung auf die Sachen, nicht schlecht; denn er richtet seine Konstruktionen ganz nach ihnen ein, gibt den Hauptgedanken in einem Hauptsatz, den Nebengedanken in einem Nebensatz, den Untergedanken des Nebengedankens in einem Untersatz des Nebensatzes wieder. Gedanken freilich kommen nicht so sachlich und pedantisch genau, weshalb solcher Stil nicht p\u00e4dagogisch ist. Gedanken auszudr\u00fccken, wie sie kommen, sie als Ph\u00e4nomene hinzunehmen mit allen ihren nat\u00fcrlichen Unterbrechungen, Gedankenstrichen, Frage-, Ausrufungszeichen, sie nicht zu biegen nach dem Schema einer gedanklich konstruierten Welt von Sachverhalten, das alles ist Impressionistenart. Gegeben sind immer nur Ph\u00e4nomene, konstruiert wie die \u00e4ufseren, sind auch die inneren Dinge; \u201edas Ich ist unrettbar\u201c, so bekennt sich der Impressionist Bahr zur Lehre Machs. Erst recht unrettbar erscheint das allen individuellen Ichs gemeinsame \u201eVernuftich\u201c mit seinem einheitlichen Strebensziel. Aufgabe jedes einzelnen kann darum nur sein, den individuellen \u201eStil des Lebens\u201c zu finden, wie H. Cornelius ausf\u00fchrte, der die MACnschen Lehren zu einer Welt- und Ibebensansicht ausweitete und damit herrschenden Zeitgedanken Ausdruck gab.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"E. R. Jaensch.\n248\nist Raum f\u00fcr ein elektrodynamisches, f\u00fcr ein relativistisches und \u00fcberhaupt f\u00fcr jedes Naturbild, das kommen mag.\n5. Impressionismus ist R\u00fcckschlag und Widerspiel gegen vorangehende Anschauungen, die Wissenschaft und Leben allein au! Gebilde des Denkens begr\u00fcnden wollten und in den von Kant ausgehenden Weltanschauungen ihren sch\u00e4rfsten Ausdruck gefunden haben. Aber wie es bei einander abl\u00f6senden und bek\u00e4mpfenden Ansichten oftmals ist, so ruhte auch hier Spiel und Widerspiel auf einer gemeinsamen Voraussetzung, in diesem Fall auf einer \u00fcbereinstimmenden Ansicht von der Struktur des Be-wufstseins und der Erfahrung. Das Weltbild Machs stimmt mit demjenigen Kants in der \u00dcberzeugung \u00fcberein, dafs zuerst eine reine Erfahrung\" gegeben sei, die nur eine Funktion der Aufsen-reize ist, in der uns noch nicht einmal \u201eDinge\u201c entgegentreten und in der \u00fcberhaupt alle Verbindungen und Synthesen, die angeblich erst das Denken stiftet, noch fehlen. Der Unterschied ist nur der, dafs der Impressionismus in dieser synthetischen T\u00e4tigkeit eine immer zunehmende Verf\u00e4lschung der \u201ereinen Erfahrung\u201c sieht, die r\u00fcckg\u00e4ngig gemacht werden mufs, w\u00e4hrend umgekehrt nach den kantischen Weltanschauungen erst die synthetische Funktion des Denkens das anf\u00e4ngliche Chaos in das geordnete Weltph\u00e4nomen umwandelt, die Erkenntnis eist zur Wahrheit, das praktische Leben erst zur Verwirklichung des h\u00f6chsten Gutes f\u00fchrt. Nun erwiesen aber unsere Untersuchungen \u201e\u00dcber den Aufbau der Wahrnehmungswelt\u201c die dem Kantianis-mus und Impressionismus gemeinsame psychologische Grundvoraussetzung als irrig. Am Anfang liegt gar nicht eine \u201ereine Erfahrung\u201c, die nur eine Funktion der \u00e4ufseren Reize sein soll und von allen jenen Synthesen noch frei ist, die der Kantianis-mus auf das\u201e Denken\u201c zur\u00fcckf\u00fchrte. Wie insbesondere diese Serie von Farbenunter\u00e8uchungen zeigt, folgen Grundgesetze der Lichtempfindung aus der Farbenkonstanz der Sehdinge ab; diese Farbenkonstanz der Sehdinge, die eine der wichtigsten Seiten unserer Dingvorstellung bildet, ist also nicht ein sekund\u00e4res Produkt denkender Verarbeitung, sondern umgekehrt das Allerurspr\u00fcnglichste. Das impressionistische Sehen, das in der Arbeit von Fr\u00e4ulein Cramer zergliedert wird, tritt nun bei Bedingungen und Verhaltungsweisen auf, die die \u201eFarbenkonstanz der Sehdinge\u201c zur\u00fcckdr\u00e4ngen. Es ist also weit davon entfernt, den ur-","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Impressionistisches Sehen und impressio'nistische Weltansicht. 249\n\u00bbapr\u00fcnglieben Zustand des Sehens, das optisch Unmittelbargegebene, wiederherzustellen ; vielmehr ist es lediglich ein B\u00fcndel von Methoden und Yerhaltungsweisen des Sehens, das nur dadurch zusammengehalten wird, dafs es immer einen Erfolg herbeif\u00fchrt, den eine unzutreffend psychologische Theorie f\u00fcr den urspr\u00fcnglichen Zustand des Sehens hielt. Dazu stimmt die von Hamann hervorgehobene historische Tatsache, dafs der Impressionismus in der Kunst am Abschlufs von Kulturepochen als Alterserscheinung aufzutreten pflegt, im Hellenismus, im Rokkoko, und wie man jetzt hinzuf\u00fcgen kann, vor der europ\u00e4ischen Katastrophe. Auch die parallellaufende ph\u00e4nomenalistische Erkenntnistheorie beeinflufst die zuversichtlich vordringende Naivit\u00e4t und Urspr\u00fcnglichkeit des Erkenntnisstrebens eher hemmend als f\u00f6rdernd. D\u00fcrfte ich von meinen eigenen bescheidenen Erfahrungen sprechen, so m\u00fcfste ich gestehen, dafs sich einst die Bekanntschaft mit der ph\u00e4nomenalistischen Erkenntnistheorie und das zeitweilige \u00dcberzeugtsein von ihrer Richtigkeit beinahe wTie ein l\u00e4hmender Druck auf meine physikalischen Studien legte. Gelangt alle Theorienbildung nicht einmal in eingeschr\u00e4nktem Sinne zur Erfassung von Sachverhalten, sondern immer nur zu Bildern und Gleichnissen, so erscheint das Erkenntnisstreben wie ein Unterfangen, das sein Ziel stets verfehlt, den M\u00fcheaufwand nicht lohnt und zu einer grofsen Entt\u00e4uschung f\u00fchrt. Am st\u00e4rksten trifft den Anf\u00e4nger dieser Ausfall an Urspr\u00fcnglichkeit und Zuversicht des Erkenntnisstrebens ; den Meister entsch\u00e4digt die Freude an der Bet\u00e4tigung schon erworbener Virtuosit\u00e4t und der nachlassende Druck eingewurzelter Lehrmeinungen, so dafs er nur die Befreiung sp\u00fcrt.\nDas impressionistische Sehen und Malen l\u00e4fst nur mit besonderer Deutlichkeit einen Tatbestand erkennen, der f\u00fcr den Impressionismus als Ganzes gilt. Denn wie das impressionistische Sehen zur urspr\u00fcnglichen Lichtempfindung, so verh\u00e4lt sich die impressionistische Wissenschaft und das impressionistische Weltbild zur urspr\u00fcnglichen Wahrnehmung \u00fcberhaupt. Das impressionistische Weltbild beruht auf der nicht haltbaren Ansicht, dafs das unverf\u00e4lschte Unmittelbargegebene wiederhergestellt werde, wenn man alle jene Synthesen auf hebt, die die Kantischen","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"260\nE. B. Jaensch, Impressionistisches Sehen usw.\nWeltanschauungen \u2014 freilich ebenfalls irrt\u00fcmlich \u2014 dem Denken zuschrieben.1\n\u00bb\n? r* r\u201c ~\t\u2022\ti\n1 Vgl. unsere gleichzeitig in der Zeitschr. f. Psychologie erscheinende Abhandlung \u201eDer Umbau der Wahrnehmungslehre und die Kantischea Weltanschauungen\u201c (nebst einer Er\u00f6rterung \u00fcber J. von Kkibs* Grundlegung der Wahrnehmungslehre), der zu diesen Darlegungen im Verh\u00e4ltnis wechselseitiger Erg\u00e4nzung steht. \u2014 In obige Ausf\u00fchrungen wurden Bruchst\u00fccke \u00fcbernommen aus einer geplanten Arbeit \u00fcber die Philosophie E. Maos\u00bb, die ich \u2014 nicht zuletzt auch im Gebiet der Naturforschung \u2014 f\u00fcr eine der bedeutsamsten und zugleich anfechtbarsten Erscheinungen der Gegenwart halte.","page":250}],"identifier":"lit36081","issued":"1923","language":"de","pages":"243-250","startpages":"243","title":"\u00dcber impressionistisches Sehen und impressionistische Weltansicht. 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