Open Access
{"created":"2022-01-31T16:43:34.539450+00:00","id":"lit36082","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Jaensch, E. R.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 54: 251-254","fulltext":[{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Uber den Schlufs von Gesetzesanalogien auf kausale\nAbh\u00e4ngigkeiten.\n(Methodologische Bemerkungen zur Lehre von den Farbenempfindungen und Gestaltwahrnehmungen, als Zusatz zu der Arbeit\nvon Thea Cramer).\nVon\nE. K. Jaensch.\n1. Noch eine Bemerkung ganz anderer Art sei an die Ver-suche von Th. Cramer angekn\u00fcpft, In den fr\u00fcheren Abhandlungen dieser Serie von Farbenarbeiten haben wir den Wesenszusammenhang von Kontrast- und Transformationserscheinungen dargetan, indem wir durch unsere \u201eMethode der Parallelversuche\u201c, d. h, durch analoge Versuche in beiden Erscheinungsgebieten, zeigen konnten, dafs beide Gebiete bis ins einzelste hinein von analog gebauten Gesetzen beherrscht sind. Trotz weitgehender Zustimmung, die unsere Ergebnisse erfahren haben, scheint es mir, dafs unser Beweisgang noch eine L\u00fccke zeigt und noch ein gewichtiges Bedenken offen l\u00e4fst. Es lassen sich n\u00e4mlich Gebiete aufzeigen, die von \u00fcberraschend analog gebauten Gesetzen beherrscht sind und doch in keinem inneren Wesenszusammenhang stehen, so dafs es jedenfalls nicht in allen F\u00e4llen berechtigt w\u00e4re, von der Strukturgleichheit der Gesetze, welche zwei Gebiete beherrschen, auf einen inneren Wesenszusammenhang und eine kausale Abh\u00e4ngigkeit dieser beiden Gebiete zu schliefsen. Eben weil dieselben, in Gleichungen auszudr\u00fcckenden Relationen in den verschiedensten Gebieten des Geschehens immer wiederkehren, darum wurde die Ausbildung der Lehre von den Differentialgleichungen oder der Potentialtheorie eine Forderung auch der realen Wissenschaften. Es ist im gegenw\u00e4rtigen Entwicklungsstadium der Sinnesphysiologie und -psychologie wichtig, auch","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"E, R. Jaensch.\n252\nden Grund n\u00e4her aufzuzeigen, weshalb jener Schluls von der Gesetzes-Strukturgleiehheit auf den Kausalzusammenhang zweier Gebiete nicht ohne andersartige Verifizierung gestattet ist. Die Frage ist \u00fcber unseren besonderen Gegenstand hinaus von Bedeutung; denn ganz neuerdings hat die Schule der sog. Gestaltpsychologen bei Anwendung jener Methode der Vergleichung von Gesetzesstrukturen einen Fehlschlufs begangen, indem sie von einer recht allgemeinen und nicht einmal ins einzelne gehenden Strukturverwandtschaft zwischen den Gesetzen gewisser physikalischer Vorg\u00e4nge und den Gesetzen der Gestaltwahrnehmung zu der Folgerung fortschritt, dafs sich jene physikalischen Vorg\u00e4nge im Gehirn und Nervensystem abspielen und dem Vorgang der Gestaltwahrnehmung zugrunde\nliegen.\n2. Die Frage, deren allgemeine Behandlung hier zu weit f\u00fchren w\u00fcrde, mag an der Hand eines Beispiels klargestelli werden.1 Funktionen, deren wesentlicher Bestandteil eine Potenz der Zahl e, der Basis des nat\u00fcrlichen Logarithmensystems ist, finden sich mit \u00fcberraschender Gleichf\u00f6rmigkeit in den verschiedensten Gebieten des Geschehens, die sicher nicht alle in sachlichem Kausalzusammenhang stehen: in der Lehre von der ged\u00e4mpften Pendelschwingung, in der von der Lichtabsoiption und der chemischen Reaktionsgeschwindigkeit, in der Zinseszinsrechnung \u2014- wenn sie nach J. Bernoulli mit \u201eAugenblicksven zinsung\u201c rechnet \u2014, in den Berechnungen des Baumwachstums und des Waldertrags seitens der Forstwissenschaft; 2 sehliefslich sogar in den Formeln der Psychophysik, wenn man sie etwas anders, als \u00fcblich, ausdr\u00fcckt. Diese \u00dcbereinstimmung wird sofort verst\u00e4ndlich, wenn man die Eigenschaften der e-Potenz ins Auge fafst. Die Funktion aex ist die einzige Funktion, die mit ihrem Differentialquotienten \u00fcbereinstimmt. Ist y = a e x3\nso ist ^2=aex = y. Aus diesem besonders einfachen dx\nVerhalten des Differentialquotienten folgt, dafs jeder Zuwachs (dy) von y in besonders einfacher Weise von y, d. h. dem Ausgangswert abh\u00e4ngt. Eben diese Eigenschaft zeigen aber auch alle\n1\tEine ersch\u00f6pfende Er\u00f6rterung ist nat\u00fcrlich an dieser Stelle nicht m\u00f6glich.\n2\tVgl. M. Cantor, Politische Arithmetik. 2. \u00c4ufl. 1903. 57 S.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fcber den Schlu\u00df von Gesetzesanalogien auf kausale Abh\u00e4ngigkeiten. 253\neinfachen Funktionen von e x. Bei y = aex selbst ist wegen = y\nder Zuwachs (dy) von y stets proportional zum Ausgangswert (y), und diese einfache Form des Fortschreitens, bei der der Zuwachs \u2014 oder auch die Abnahme \u2014 proportional zum Ausgaugswert erfolgt, findet sich in den verschiedensten, sachlich beziehungslosen Gebieten der physikalischen, chemischen, biologischen, psychophysischen, \u00f6konomischen Wirklichkeit. So k\u00f6nnen also auch ganz heterogene Gebiete durch Gesetze von \u00fcbereinstimmendem Bau beherrscht sein, wenn die Ver\u00e4nderungen in ihnen einer rein mathematisch formulier baren, nicht in besonderen Sachverhalten gr\u00fcndenden und darum in den verschiedensten Wirklich keits-gebieten wiederkehrenden Strukturform gehorchen. So ist es auch zu verstehen, wenn Wellstein 1 erw\u00e4hnt, Ceristoffel habe einmal in einer Vorlesung \u00fcber partielle Differentialgleichungen die Differentialgleichungen der W\u00e4rmeleitungstheorie auf die Theorie des Welthandels begr\u00fcndet und diese Gleichungen so abgeleitet, dafs ihre G\u00fcltigkeit f\u00fcr beide Probleme unmittelbar einleuchtet. Ist somit die Struktur\u00fcbereinstimmung hier eine vollst\u00e4ndige, die \u00dcbereinstimmung zwischen den psychologischen Gestaltgesetzen und den zur Erkl\u00e4rung herangezogenen physikalischchemischen Gesetzen erwiesenermalsen eine unvollst\u00e4ndige und l\u00fcckenhafte, so d\u00fcrften wir eher hoffen, den Welthandel durch W\u00e4rmetheorie zu erkl\u00e4ren und vielleicht seinen erkalteten Beziehungen durch Physik der W\u00e4rme wiederaufzuhelfen, als dafs wir Aussicht h\u00e4tten, den Vorgang der Gestaltwahrnehmung physikalisch-chemisch zu erkl\u00e4ren; immer vorausgesetzt, dafs man die Methode der Gesetzesstrukturvergleichung zur Richtschnur nimmt. Unserem jungen Wissensgebiet mufs hier als Warnung vor Augen schweben, dafs solche formale \u00dcbereinstimmungen ohne sachlichen Zusammenhang selbst in \u00e4lteren und entwickelteren Disziplinen zuweilen sachliche Zusammenh\u00e4nge vorget\u00e4uscht und dann zu Irrt\u00fcmern gef\u00fchrt haben. So glaubten Gordan und Alexe Jeff 2 die Chemie auf Invarianten theorie zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen. Study s hat dann gezeigt, dafs der angebliche \u201er\u00e4tsel-\n1\tWeber-Wellsteis, Enzyklop\u00e4die der Elementarmathematik. II. Bd. S. 114.\n2\tZeitschr. f. physikal Chemie 35. 1900. S. 610. \u2014 At.fxejkff, Ebenda 36. 1901. vS. 741.\n* Beibl\u00e4tter z. d. Annalen d, Physik 25.\t1901. S. 87. - Zeitsehr. f.\nphyxikal. Chemie 37.\t1901. S. 546.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nK. R. Jaemch.\n\u2022 \u2022\nhafte\u201c Zusammenhang auf der \u00dcbereinstimmung rein formaler,, n\u00e4mlich kombinatorischer Beziehungen beruht. Kombinatorische Prozesse gelangen in den chemischen Strukturformeln ebenso wie in der Invariantentheorie zur Verwendung, und darum m\u00fcssen die Beziehungen der Kombinatorik in beiden Gebieten wiederkehren. Das Fehlen eines sachlichen Zusammenhangs geht schon daraus hervor, das sich nicht einmal f\u00fcr einfache Identit\u00e4ten der Invarianten eine chemische Deutung geben l\u00e4fst.\n3. Wenn nun auch \u2014 im Gegensatz hierzu -\u2014 die Struktur-; \u00dcbereinstimmung der Gesetze bei den Kontrast- und Transformationserscheinungen bis ins einzelste geht und schwerlich als eine rein formale zu deuten sein wird, so haben wir es uns doch von Anfang angelegen sein lassen, den schon durch die Struktur\u00fcbereinstimmung der Gesetze nahegelegten Wesenszusammenhang beider Gebiete noch durch eine andere, jedem Zweifel entr\u00fcckte Beweisf\u00fchrung darzutun. Ein einwandfreier Nachweis f\u00fcr den Wesenszusammenhang zweier Erscheinungen ist erbracht, wenn sich zeigen l\u00e4fst, dafs beide durch gleitende \u00dcberg\u00e4nge miteinander verkn\u00fcpft sind und durch kontinuierliche Abwandlung der Versuchsbedingungen ineinander \u00fcberf\u00fchrt werden k\u00f6nnen. Darum habe ich sogleich im Beginn meiner Farbenuntersuchungen \u2014 erstmals in meinem Strafsburger Seminar (1912) \u2014 Versuche angestellt, bei denen der Eindruck eines Infeldes in farbigem Umfeld \u00fcberf\u00fchrt wird in denjenigen eines Infeldes in farbig beleuchtetem Baum, so dafs also dasselbe Umfeld, welches vorher als Oberfl\u00e4chenfarbe gesehen wurde, nun als farbiges Zwischenmedium erscheint, und darum das eine Mal als \u201eKontrasterregens\u201c, das andere Mal als ,,Transformationserreger\u201c zu bezeichnen w\u00e4re. Im 3. Kapitel der Arbeit von Th. Cramer (\u201ePh\u00e4nomenologischer Nachweis der \u00dcbergangsf\u00e4lle usw.\u201c) sind diese Versuche wiedergegeben Und etwas weiter ausgebaut. Hier sollte nur auf ihre theoretische Bedeutung hingewiesen werden. Sie erg\u00e4nzen unseren zun\u00e4chst \u201enomologischen\u201c, auf die Strukturvergleichung der Gesetze\ngegr\u00fcndeten Beweisgang durch den \u201eph\u00e4nomenologischen\u201c, in-\n\u2022 \u2022\ndem sie die Uberf\u00fchrbarkeit beider Erscheinungskreise ^ und damit ihren Wesenszusammenhang, auch f\u00fcr die unmittelbare Beobachtung aufzeigen.","page":254}],"identifier":"lit36082","issued":"1923","language":"de","pages":"251-254","startpages":"251","title":"\u00dcber den Schlu\u00df von Gesetzesanalogien auf kausale Abh\u00e4ngigkeiten. (Methodologische Bemerkungen zur Lehre von den Farbenempfindungen und Gestaltwahrnehmungen, als Zusatz zu der Arbeit von Thea Cramer [, Zeitschr. f. Sinnesphysiol., 1923, Bd. 54, S. 215-242])","type":"Journal Article","volume":"54"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:43:34.539455+00:00"}