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{"created":"2022-01-31T15:37:07.979034+00:00","id":"lit36100","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Poschoga, N.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 58: 153-165","fulltext":[{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"153\nEinige noch nicht beschriebene optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie\nder Bewegungswahrnehmungen\nVon\nDr. phil. et med. N. Poschoga (Kischinew)\nI. Einleitung\nDiese kleine Arbeit verdankt ihre Entstehung nicht plan-m\u00e4lsigen Versuchen in einem gut ausger\u00fcsteten Laboratorium, sondern nur manchen w\u00e4hrend einiger Eisenbahnfahrten gemachten Beobachtungen. Die Bewegungst\u00e4uschungen, die vom Fenster eines Eisenbahnzuges w\u00e4hrend dessen Bewegung beobachtet werden k\u00f6nnen, sind tats\u00e4chlich interessant genug, um eine wissenschaftliche Bearbeitung beanspruchen zu d\u00fcrfen. Diese Erscheinungen beobachtete ich systematisch, zuerst w\u00e4hrend der Eisenbahnfahrten, sp\u00e4ter aber auch w\u00e4hrend der Fahrten in einer Droschke und sogar w\u00e4hrend des Zufufsgehens. Sie h\u00e4tten gewifs in manchen Einzelheiten einer experimentellen Untersuchung unterworfen werden sollen. Nun besitze ich leider seit dem Jahre 1921 nicht mehr die M\u00f6glichkeit in einem Laboratorium zu experimentieren und habe also diese Aufgabe nicht erf\u00fcllen k\u00f6nnen. Da die Tatsachen selbst aber bis jetzt, soviel ich weifs, noch nicht gen\u00fcgend studiert worden sind, und da andererseits ihr Studium uns an die Grundfragen der Lehre von der BewegungsWahrnehmung zur\u00fcckf\u00fchrt, wage ich es, diese kleine Skizze zu ver\u00f6ffentlichen, damit sie Anlafs zu den weiteren ersch\u00f6pfenden Untersuchungen geben k\u00f6nnte.\nDie Erscheinungen, um die es sich handeln wird, sind die allt\u00e4glichen f\u00fcr jedermann gut bekannten Tatsachen. Es sind dies haupts\u00e4chlich die Scheinbewegungen der Gegenst\u00e4nde, an denen der Beobachter sich vorbeibewegt. Die nahen Gegenst\u00e4nde scheinen sich dabei naturgem\u00e4fs schnell, die entfernteren","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nN. Poschoga\netwas langsamer zu bewegen, die entferntesten auch eventuell stillzustehen. So wird es wahrgenommen bei der Fixation der entferntesten Gegenst\u00e4nde. Sobald wir aber einen sich irgendwo in der Mitte zwischen dem Horizont und dem Beobachter befindenden Gegenstand zu fixieren anfangen, scheint dieser Stillstehen zu bleiben, die entferntesten Gegenst\u00e4nde aber sich in der mit der Bewegung des Beobachters gleichen Richtung zu bewegen. Man kann sich sofort davon \u00fcberzeugen, dafs weder das direkte Sehen noch die Akkommodation f\u00fcr die Wahrnehmung dieser Scheinbewegung n\u00f6tig sind.\nDer systematischen Erforschung dieser wohlbekannten Erscheinungen lag zwar der Wunsch zugrunde, einem Problem von allgemeiner Bedeutung auf diesem Wege n\u00e4her zu kommen. Dieses Problem wurde schon von W. Steen ber\u00fchrt.1 * Ihm zufolge k\u00f6nnen wir die Bewegung auf doppelte Weise bemerken: 1. mittels eines Vergleiches und 2. mittels einer unmittelbaren Anschauung der Bewegung selbst. So haben wir z. B. von der Bewegung des Stundenzeigers einer Uhr nur eine mittelbare Kenntnis, indem wir sie nicht unmittelbar wahrnehmen, sondern uns von ihrer Bewegung auf Grund der Ortsverschiedenheit zu verschiedenen Zeiten \u00fcberzeugen. Dagegen nehmen wir die Bewegung des Sekundenzeigers unmittelbar wahr. Das ist die eigentliche Bewegungswahrnehmung.\nSo entsteht die Idee, die Bewegungswahrnehmungen von den Bewegungsvorstellungen als grunds\u00e4tzlich verschiedene Ph\u00e4nomene zu trennen. Zu diesem Zwecke gilt es aber den Beweis daf\u00fcr zu liefern, dafs die Bewegungswahrnehmung als etwas Elementares und Urspr\u00fcngliches der Bewegungsvorstellung als einem Zusammengesetzten und Abgeleiteten gegen\u00fcbersteht. Nun d\u00fcrfen wir es schon hier antizipieren, dafs gerade die Ph\u00e4nomene der Scheinbewegungen sehr geeignet sind, diesen Beweis zu liefern.\nII. Die Beobachtungen\n1. Wir haben die einfachste Bewegungswahrnehmung vor uns, indem wir uns mit direkt nach vorn gerichtetem Blick bewegen und dabei die an sich unbeweglichen Gegenst\u00e4nde im\n1 W. Steen, Die Wahrnehmung von Bewegungen vermittels des Auges.\nZeitschr. f. Psychologie 7. 1894. S. auch Fk\u00f6bes, Lehrbuch der experimen-\ntellen Psychologie I3. S. 395.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie usw. J.55\nindirekten Sehen beobachten. Die letzteren scheinen sich dann in entgegengesetzter Richtung zu bewegen. Dieses Experiment k\u00f6nnen wir jeden Tag in einem Eisenbahnzug, oder in der elektrischen Strafsenbahn, oder schliefslich auch beim Zufufsgehen leicht ausf\u00fchren. Die Bewegung, die dabei wahrgenommen wird, ist im h\u00f6chsten Grade kontinuierlich, oder schwebend, so dafs man gerade sagen m\u00f6chte, dafs der Gegenstand in unserem Sehfeld gleichsam schwebt oder schwimmt. Dabei erleben wir beinahe nichts mehr als eine reine elementare Bewegung. Nat\u00fcrlich nehmen wir in demselben Augenblick auch den sich zu bewegen scheinenden Gegenstand wahr, er bildet aber nichts anderes als nur einen unwesentlichen Nebenteil der gesamten Wahrnehmung. Schon hier k\u00f6nnen wir also bemerken, dafs die einfachste Bewegungswahrnehmung auch im indirekten Sehen m\u00f6glich ist, dafs sie an sich etwas Charakteristisches besitzt, und namentlich von dem Inhalt verh\u00e4ltnism\u00e4fsig unabh\u00e4ngig, also gleichsam rein\nformell ist.\t_\n2. Dasselbe wird nun in einer viel komplizierteren Form\nbeobachtet, wenn wir in der Strafse einer Groisstadt oder besser inmitten eines belebten Platzes unseren Blick in die Ferne richten, die Aufmerksamkeit aber dem in dem indirekten Sehen vor sich Gehenden zuwenden. Das indirekte Sehen belebt sich dann gleichsam auf einmal durch das gleichf\u00f6rmige Durcheinander verschiedener Bewegungen. Auf einmal erkennen wir auch hier den eigenartigen elementaren Charakter dieser Bewegungswahrnehmungen. Nun lassen sich an diesen elementaren Bewegungen Geschwindigkeit und Richtung unterscheiden.. Was nun die Richtung anbetrifft, so k\u00f6nnen wir deren viele Sinne aber immer nur an uns vorbei unterscheiden. Die Richtungen von uns her und gegen uns hin sind uns in dieser elementaren Wahrnehmung nicht gegeben. Wenn es erlaubt ist sich der vollkommen entwickelten geometrischen Vorstellungen zu bedienen, so k\u00f6nnen wir sagen, dafs die Richtungen der Bewegungen, die durch die oben beschriebenen einfachen Wahrnehmungen gegeben sind, s\u00e4mtlich in einem zweidimensionalen Raum liegen, d. h. in einer Ebene. Wenn sich ein Gegenstand sogar aus der Ferne uns n\u00e4hert, auch dann nehmen wir als seine Richtung nur die Projektion in die oben erw\u00e4hnte Ebene wahr. Die Wahrnehmung der Ann\u00e4herung und Entfernung eines Gegenstandes ist sowohl im direkten, wie auch im indirekten Sehen keine elementare","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156\nN. Poschoga\nBe wegungs Wahrnehmung, und man d\u00fcrfte sogar sagen, \u00fcberhaupt eher eine Vorstellung als Wahrnehmung.\nWir sehen nun, dafs die Bedingungen f\u00fcr die Entstehung einer Bewegungswahrnehmung sowohl bei der ersten wie auch bei der zweiten Beobachtung die folgenden sind: 1. der Blick ist unbeweglich und nach vorn gerichtet; 2. die Bewegung der Gegenst\u00e4nde wird im indirekten Sehen wahrgenommen, also entsteht die Bewegungswahrnehmung nicht durch die Verfolgung der Gegenst\u00e4nde mit unserem Blick; 3. das Bild des Gegenstandes verschiebt sich auf der Netzhaut. Die anderen Bedingungen, n\u00e4mlich ob sich der Beobachter, oder das Beobachtete bewegt, sind wesentlich nur insofern, als sie die Verschiebung des Netzhautbildes bedingen.1 Sonst sind sie, jede an sich einzeln genommen, unwesentlich f\u00fcr die Entstehung der Bewegungsvorstellung, wohl aber f\u00fcr die Geschwindigkeit und evtl, auch f\u00fcr die Richtung der Bewegung. So wird z. B. das beobachtete Objekt an der Stelle zu bleiben scheinen, wenn es sich mit dem Beobachter gleich schnell bewegt. Umgekehrt wenn es sich in der entgegengesetzten Richtung bewegt, w\u00e4chst dadurch die Geschwindigkeit der wahrgenommenen Bewegung. \u00dcbrigens sind diese Verh\u00e4ltnisse zu wohlbekannt um hier n\u00e4her besprochen zu werden.\nDie wesentlichste von diesen Bedingungen ist also die Verschiebung des Netzhautbildes haupts\u00e4chlich im indirekten Sehen, ohne dafs der Gegenstand mit dem Blick verfolgt w\u00e4re. Die aufserordentliche Bedeutung des indirekten Sehens f\u00fcr die Entstehung der \u201ereinen, einfachen\u201c Bewegungswahrnehmung scheint darin zu stecken, dafs das indirekte Sehen einen gr\u00f6fseren Umfang besitzt, und wir die Bewegung dadurch l\u00e4nger beobachten k\u00f6nnen.\n3. Dafs dem so ist, kann aus der folgenden paradoxalen Tatsache ersehen werden. Wenn der stillstehende Beobachter einen sich bewegenden Gegenstand kontinuierlich mit seinem Blick verfolgt, so scheinen ihm eher die unbewegten Gegenst\u00e4nde, an denen sich der erstere vorbei bewegt, sich zu bewegen, als dieser selbst. Von jenen erh\u00e4lt er eben eine reine, elemen-\n1 Wenn z. B. der beobachtete Gegenstand sich selbst bewegt, ist unsere eigene Bewegung f\u00fcr die Entstehung der Bewegungswahrnehmung nat\u00fcrlich nicht mehr n\u00f6tig.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie usw. 157\ntare Bewegungswahrnehmung. Mittels dieser Beobachtung k\u00f6nnen wir deutlich genug zwei grundverschiedene Weisen, die Bewegungen wahrzunehmen, kennen lernen. M\u00f6ge der Beobachter A den Wagen T der elektrischen Strafsenbahn beobachten (Abb. 1). Gew\u00f6hnlich verfolgt dabei sein Auge den sich\ni fk,&1\nAbbildung 1\nbewegenden Gegenstand nicht kontinuierlich, sondern stofsweise, so dafs der Blickpunkt etwa so seinen Weg durchmacht\nNat\u00fcrlich wird dabei die Bewegung des Wagens ganz deutlich wahrgenommen. Diese Wahrnehmung ist aber ihrem Inhalt nach anders als die oben besprochene einfache Bewegungswahrnehmung und vor allem nicht urspr\u00fcnglich und einfach, sondern sozusagen abgeleitet und kompliziert. Nun \u00e4ndert sich unsere Wahrnehmung ganz wesentlich, sobald wir anfangen den bewegten Gegenstand kontinuierlich mit dem Blick zu verfolgen, und die Aufmerksamkeit dem indirekten Sehen zuzuwenden. Dann nehmen wir auf einmal wahr, dafs die Strafsenlaterne L1? H\u00e4user Hx und H2 und anderes sich ganz gleichm\u00e4fsig im indirekten Sehen zu bewegen anfangen. Die Richtung dieser in Wirklichkeit scheinbaren, psychologisch aber reellen, Bewegung ist der wirklichen Bewegung des vom Blick verfolgten Gegenstandes entgegengesetzt. Jetzt erst haben wir eben eine einfache, elementare Bewegungswahrnehmung vor uns. Nat\u00fcrlich bleiben wir uns dabei auch der wirklichen Bewegung der Strafsenbahn voll-","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nN. Poschoga\nkommen bewufst. Dieses Bewufstsein der wirklichen Bewegung stellt aber nicht ein unmittelbares, unbedingtes, elementares Bewegungserlebnis dar, sondern es wird durch die Augenbewegung bedingt, und ist ihrem Tatbest\u00e4nde nach kompliziert.\nWiederholen wir noch einmal denselben Versuch, aber verl\u00e4ngern wir unsere Beobachtung bis zu der zweiten Laterne L2 und halten wir dann auf einmal unseren Blick auf L2 haften. Solange unser Blick sich mit T von Lx bis L2 bewegt, beobachten wir, dafs sich Lx und L2 naturgem\u00e4fs in der entgegengesetzten Richtung bewegen. Sobald aber unser Blick an L2 h\u00e4ngt, f\u00e4ngt T an sich zu bewegen, w\u00e4hrend und L2 still stehen bleiben.\nAuch diese Beobachtung best\u00e4tigt also die Annahme, dafs die physiologische Bedingung f\u00fcr die Entstehung einer elementaren Bewegungswahrnehmung in einer Verschiebung des Netzhautbildes im indirekten Sehen besteht, unabh\u00e4ngig davon, ob es eine wirkliche oder nur eine Scheinbewegung ist. Darin besteht ein ohne weiteres klarer physiologischer Unterschied zwischen der elementaren Bewegungswahrnehmung im indirekten Sehen, und einer Wahrnehmung mittels des verfolgenden Blickes. Ein noch viel gr\u00f6fseres Interesse bieten aber diese Beobachtungen in rein psychologischer Hinsicht. Wir erleben n\u00e4mlich diese zwei verschiedenen Bewegungsarten ganz anders. Die eine nehmen wir rein passiv, unmittelbar, elementar und sogar in einer objektiveren Weise wahr, als die zweite, obwohl sie eventuell auch eine Scheinbewegung sein kann. Die zweite Bewegungswahrnehmung ist dagegen aktiv, ihrem Inhalt nicht elementar, und als Bewegungserlebnis nicht unmittelbar, nicht so evident wie die erste. Indem bei der ersten Wahrnehmung die Bewegung selbst ihr Inhalt oder ihr Objekt ist, bildet ihn bei der zweiten nicht die objektive Bewegung selbst, sondern eher der sich bewegende Gegenstand. Da die Bewegung aber kein Gegenstand, sondern ein Zustand ist, k\u00f6nnen wir diese elementare Bewegungswahrnehmung auch als eine formelle bezeichnen. Die zweite Bewegungswahrnehmung ist aufserdem noch um so komplizierter, als in ihr noch ein Vorstellungskomplex darinsteckt. Dies sollte \u00fcbrigens noch experimentell untersucht werden.\n4. Die passive Entstehungsweise der einfachsten Bewegungswahrnehmungen kann auch aus der folgenden Serie von Beobachtungen verfolgt werden. Stellen wir uns vor, dafs wir uns auf irgend welche Weise, jedoch besser passiv fortbewegen, und","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie usw. 159\ndabei unseren Blick seitw\u00e4rts etwa senkrecht zur Bewegungsrichtung richten. Die allzu grofse Geschwindigkeit eines Eisenbahnzuges eignet sich jedoch weniger f\u00fcr die Beobachtung als die m\u00e4fsige eines mit Pferden bespannten Wagens. Wenn wir dabei einfach in die Feme \u00fcber den Horizont H H hinblicken (Abb. 2), ohne einen bestimmten Gegenstand zu fixieren, scheinen\nc\nAbbildung 2\ndie Gegenst\u00e4nde A, B, C sich in der unserer Bewegung entgegengesetzten Richtung zu bewegen. Die Geschwindigkeit dieser Bewegung ist der Entfernung von uns umgekehrt proportional. An dieser Erscheinung erkennen wir leicht denselben passiven elementaren und unmittelbaren Charakter der Bewegungswahrnehmung.\n\nAbbildung 3\nWenn wir jetzt einen Gegenstand G auf der Horizontlinie zu fixieren anfangen, \u00e4ndert sich das Ph\u00e4nomen gar nicht wesentlich. Wenn wir dagegen einen Punkt P, der in der Mitte zwischen uns und dem Horizont liegt, zu fixieren anfangen, dann \u00e4ndert sich das Ph\u00e4nomen auf einmal sehr wesentlich (s. Abb. 3). Die jenseits des Blickpunktes liegenden Gegenst\u00e4nde A, B fangen n\u00e4mlich an, sich in der mit der Bewegung des Beobachters","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nN. Poschoga\ngleichen Richtung zu bewegen, indem die diesseits liegenden Gegenst\u00e4nge C sich in der entgegengesetzten Richtung zu bewegen fortfahren. Die Gegenst\u00e4nde scheinen sich also um den fixierten Punkt P wie um einen Mittelpunkt zu drehen, indem der letztere selbst aber unbeweglich zu bleiben scheint. Freilich bemerken wir schliefslich, dafs auch der fixierte Punkt sich von uns entfernt. Diese Bewegung wird aber eher erschlossen, als wahrgenommen. Und wenngleich hier von dem eigentlichen Schlufs im logischen Sinne des Wortes auch wohl kaum die Rede sein kann, ist die Wahrnehmungsweise eine ganz andere. Indem wir uns n\u00e4mlich der Bewegung des Fixationspunktes mittels eines ganzen Komplexes der aktiven Augen- und Kopfbewegungen bewufst werden, nehmen wir die Bewegungen der nicht fixierten Gegenst\u00e4nde passiv, unmittelbar, elementar und anschaulich wahr. Die physiologischen Bedingungen bleiben in dieser Beobachtung dieselben wie auch bei den obenerw\u00e4hnten.\n5.\tDem elementaren, unmittelbaren und passiven Charakter dieser Bewegungswahrnehmungen steht der komplizierte, mittelbare und aktive Charakter derjenigen Wahrnehmung gegen\u00fcber, die wir beobachten k\u00f6nnen, wenn die Gegenst\u00e4nde selbst sich an uns vorbeibewegen, wir aber dabei still stehen bleiben und sie mit unserem Blick verfolgen. Diese Wahrnehmungen wurden teilweise schon oben besprochen. Die Blickbewegungen vollziehen sich dabei stofsweise, so dafs schon die dabei entstehenden Muskelempfindungen ziemlich kompliziert sind. Diese Muskelempfindungen bilden nur eines der Elemente, aus welchen die Wahrnehmung von Bewegung dieses Gegenstandes konstruiert wird. Zu ihnen gesellen sich n\u00e4mlich noch die verschiedenen reproduktiven Elemente hinzu. Wenn wir dieses komplexe Ganze als eine Bewegungswahrnehmung bezeichnen, so d\u00fcrften wir wohl im Gegensatz hierzu jenes elementare und unmittelbare Erlebnis der Bewegung als eine Bewegungsempfindung bezeichnen.\n6.\tNoch deutlicher tritt uns der Unterschied zwischen einer unmittelbaren Bewegungsempfindung und einer die Bewegung konstruierenden Wahrnehmung an der folgenden Beobachtung entgegen. Stellen wir uns vor, dafs wir einen von der Ferne zu uns hin sich n\u00e4hernden Gegenstand beobachten, etwa einen Menschen, einen Wagen der elektrischen Strafsenbahn, oder einen Eisenbahnzug. An dieser ziemlich komplizierten Wahrnehmung von Bewegung nehmen die elementaren Be-","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie usw. 161\nwegungsempfindungen in Wirklichkeit beinahe gar keinen Anteil. Tats\u00e4chlich besteht eine solche Wahrnehmung : 1. aus einer allm\u00e4hlichen Vergr\u00f6fserung des Netzhautbildes, welche nat\u00fcrlich mit der unmittelbaren Bewegungsempfindung nicht identisch ist; 2. aus der Empfindung einer zunehmenden Akkommodationsanstrengung. Diese Elemente einer solchen Wahrnehmung, da sie durch die objektive Bewegung selbst bedingt sind, d\u00fcrfen wir wohl als die der letzteren ad\u00e4quaten bezeichnen. Aufser den ad\u00e4quaten Empfindungen, die selbst aber eben keine Bewegungsempfindungen sind, k\u00f6nnen nun noch wirkliche Bewegungsempfindungen in diese Wahrnehmungen als erg\u00e4nzende Elemente eintreten. Es sind dies z. B. 3. die \u00f6fters zu beobachtenden rhythmischen Seitw\u00e4rtsbewegungen des sich ann\u00e4hernden Objektes, also auch keine der wirklichen Bewegung ad\u00e4quaten, wenn auch sonst in unserem Sinne elementaren Bewegungsempfindungen. Es geh\u00f6ren hierher weiter die der Bewegung des Objektes entgegengesetzten Bewegungen der Schatten (z. B. von B\u00e4umen) an seiner Seitenfl\u00e4che, die entgegengesetzte Bewegung des Erdbodens unter dem bewegten Gegenstand usw. 4. Es kann noch eine reproduzierte Vorstellung in diese komplexe Wahrnehmung eintreten, so etwa die Vorstellung desselben Objektes, als wenn es (z. B. der Eisenbahnzug) von uns von der Seite her beobachtet w\u00e4re. So ist, wie wir sehen, die Wahrnehmung von Ann\u00e4herung (evtl, von Entfernung) eines Gegenstandes nicht elementar, sondern komplex, nicht unmittelbar, sondern mittelbar oder abgeleitet, obgleich es sich dabei um eine wirkliche objektive Bewegung handelt. Dafs die an dieser Wahrnehmung Teilnehmenden ad\u00e4quaten Empfindungen keine Bewegungsempfindungen sind, und dafs sie uns \u00fcber die Bewegung des Gegenstandes keine Auskunft geben, ist leicht aus der folgenden Tatsache ersichtlich. Sehr oft sind wir nicht imstande zu entscheiden, ob der Gegenstand stehen bleibt oder ob er sich bewegt. \u00d6fters k\u00f6nnen wir in einer Entfernung von 150\u2014200 m nicht sofort erkennen, ob der Mensch sich uns n\u00e4hert oder ob er sich von uns entfernt, bis die oben beschriebenen erg\u00e4nzenden Momente hinzukommen.\nWenn also die Akkommodation und die Gr\u00f6fse des Netzhautbildes f\u00fcr die Wahrnehmung der Ann\u00e4herung des entfernten Gegenstandes nur eine h\u00f6chst bescheidene und unsichere Rolle zu spielen scheint im Vergleich mit den inad\u00e4quaten, erg\u00e4nzenden Momenten, so scheint es bei der Wahrnehmung der An-","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nN. Poschoga\nn\u00e4herung der nahen Gegenst\u00e4nde sich anders zu verhalten. Jedenfalls vermag die Akkommodation nicht jene urspr\u00fcngliche elementare Bewegungswahrnehmung zu vermitteln, welche wir verm\u00f6ge der Verschiebung des Netzhautbildes bekommen.\nIII. Schlufsfolgerungen\nAus den beschriebenen Beobachtungen k\u00f6nnen wir folgende Schl\u00fcsse ziehen.\n1.\tDie physiologische Bedingung einer elementaren Bewegungswahrnehmung ist die Verschiebung des Netzhautbildes haupts\u00e4chlich im indirekten Sehen, nicht aber die Verfolgung des bewegten Gegenstandes mit dem Blick, welche umgekehrt immer nur eine komplizierte und abgeleitete Bewegungswahrnehmung zu vermitteln vermag. F\u00fcr die Entstehung jener elementaren und unmittelbaren Bewegungswahrnehmung ist es dabei vollkommen gleichg\u00fcltig, ob sich der Beobachter bewegt, der Gegenstand aber stillsteht, oder umgekehrt, oder schliefslich ob sich die beiden gleichzeitig mit verschiedener Geschwindigkeit in verschiedenen Richtungen bewegen. Die Akkommodation spielt dabei gar keine Rolle.\n2.\tDiese elementare Bewegungswahrnehmung kann eben ihrem elementaren und urspr\u00fcnglichen Charakter zufolge mit vollem Recht als eine eigent\u00fcmliche Empfindung betrachtet werden (und zwar im Sinne Wundts als psychisches Element). Da in dieser Empfindung der eigentliche Empfindungsinhalt unwesentlich ist, so besitzt die Bewegungsempfindung gleichsam einen formellen Charakter. Anderseits, insofern die Bewegung selbst den Inhalt dieser Empfindung bildet, ist das Bewegungserlebnis in ihr von einem objektiveren und evidenteren Charakter, als in einer abgeleiteten Bewegungswahrnehmung. Diese Bewegungsempfindung tr\u00e4gt in sich schon den Kern der Prozessuali-t\u00e4t und so dient sie h\u00f6chstwahrscheinlich zur Bildung des Begriffes des Prozesses. In dieser Empfindung k\u00f6nnen wir zwei Eigenschaften unterscheiden: die Geschwindigkeit und die Richtung. Die Eigenschaften einer reellen und einer scheinbaren Bewegung sind in dieser Empfindung gar nicht enthalten. Die Scheinbewegung kann als Empfindung unter Umst\u00e4nden viel deutlicher erlebt werden als die etwa gar nicht zu erlebende reelle Bewegung, wie z. B. die des Uhrzeigers, der Erde um ihre Achse usw.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Oytische Scheinbeivegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie usw. 103\n3.\tDiese unmittelbare Bewegungserlebnisse darstellenden Empfindungen werden sowohl im Leben wie auch gew\u00f6hnlich in der Wissenschaft verkannt, und man versteht unter Bewegungswahrnehmungen im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch auch nicht die Bewegungserlebnisse, sondern Bewegungssymbole, welche ihren Sinn mehr der Erfahrung, d. h. den reproduktiven Elementen, als den unmittelbaren Bewegungsempfindungen, verdanken. Es geh\u00f6ren hierher die Wahrnehmungen der sich an uns vorbeibewegenden, oder sich uns ann\u00e4hernden oder von uns entfernenden Objekte, welche durch die verfolgende Fixation entstehen. Die dieser objektiven Bewegung ad\u00e4quaten Bestandteile einer solchen Wahrnehmung sind, wie wir sahen, keine Bewegungsempfindungen, sondern Muskelempfindungen (der verfolgende Blick, die Akkommodation). Im Gegensatz zur Bewegungsempfindung erscheint also die Bewegungswahrnehmung kompliziert, abgeleitet und ohne unmittelbares Bewegungserlebnis.\n4.\tManchen reellen Bewegungen entspricht \u00fcberhaupt kein ad\u00e4quates Element, d. h. keine Empfindung, so z. B. der Bewegung eines Uhrzeigers. Dann d\u00fcrfen wir von keiner Bewegungswahrnehmung reden, sondern ausschliefslich von einer Bewegungsvorstellung. Den h\u00f6chsten Grad der Abstraktion bildet schliefslich der wissenschaftliche Begriff der Bewegung als Ver\u00e4nderung des Ortes mit seinen Attributen von Richtung, Geschwindigkeit, Beschleunigung. Die n\u00e4here Untersuchung dar\u00fcber ist aber nat\u00fcrlich nicht meine Aufgabe.\nIY. Schlufswort\nEs bleibt mir nur noch \u00fcbrig, in aller K\u00fcrze auf die Frage einzugehen, ob und inwieweit die von mir erhaltenen Ergebnisse mit den in der Literatur herrschenden Ansichten \u00fcbereinstimmen. Schon H. Aubeet betont den grunds\u00e4tzlichen Unterschied zwischen einer Empfindung und einer Wahrnehmung von Bewegung. \u201eVon vornherein wird aber\u201c, sagt er, \u201ebei diesen Beobachtungen die Aufmerksamkeit darauf gerichtet, ob es sich um eine besondere Empfindung von Bewegung, oder um einen reinen Wahrnehmungs-prozefs handelt, bei welchem zwei verschiedene Empfindungen zu einem Schlufs kombiniert werden\u201c.1 Darauf antwortet er:\n1 H. Aubert, Die Bewegungsempfindungen. Archiv f. d. g. Physiologie 39. 1886.","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nN. Poschoga\n\u201eAufserdem mufs ich aber ganz besonders hervorheben, dafs der\nEindruck, dafs das Objekt sich bewegt, ein ganz unmittelbarer\n\u2022 \u2022 ___________________\nist, ohne dafs eine \u00dcberlegung oder ein Zweifel stattfindet und deswegen halte ich die Bezeichnung ,Bewegungsempfindung1 f\u00fcr eine v\u00f6llig zutreffende.\u201c Dieselbe Ansicht wird unter anderen auch in einer der neuesten experimentellen Arbeiten n\u00e4mlich von Annie Steen ge\u00e4ufsert: \u201eIn den obigen Tatsachen wird nicht der Bewegungseindruck durch die Wahrnehmung der einzelnen Punkte vermittelt, sondern gerade umgekehrt: nur darum wird \u00fcberhaupt etwas gesehen weil Bewegung gesehen. Das Bewegungsph\u00e4nomen ist hier prim\u00e4r.\u201c 1 Bei den erw\u00e4hnten Autoren wird das Problem vollkommen klar gefafst und in einem ganz bestimmten Sinne beantwortet. Meine Beobachtungen best\u00e4tigen vollkommen diese Ansicht von der Bewegungsempfindung als einer urspr\u00fcnglichen und elementaren.\nDie anderen Autoren leugnen dagegen die Bewegungsempfindungen. So sagt z. B. Th. Ziehen: \u201eDie Annahme spezifischer Bewegungsempfindungen und -Vorstellungen schwebt ganz in der Luft\u201c.2 W. Wundt spricht von der Bewegungsempfindung nur in bezug auf den inneren Tastsinn. Im Gebiete des Gesichtssinnes spricht er dagegen von den Bewegungsvorstellungen.3 Jedoch besch\u00e4ftigt er sich dabei weniger mit der Analyse der Tatsachen selbst als mit der Frage nach der Wahrhaftigkeit der Bewegungsvorstellung, ob n\u00e4mlich die letztere einer wirklichen Bewegung entspricht, oder nicht, und wie die Bewegungsillusionen zustande kommen. So macht Wundt keinen Unterschied zwischen einer elementaren und unmittelbaren Bewegungsempfindung einerseits und einer komplizierten und abgeleiteten Bewegungsvorstellung andererseits. Weiter meint Wundt, dafs die Bewegungsvorstellung dadurch entsteht, dafs das Auge den bewegten Gegenstand fixierend verfolgt. Solange es von der Bewegungsvorstellung in dem schon \u00f6fters erl\u00e4uterten Sinne die Rede w\u00e4re, w\u00fcrde gegen diese Auffassung nichts einzuwenden sein. Sobald aber Wundt dabei das unmittelbare Bewegungs-\n1\tAnnie Stern, \u201eDie Wahrnehmungen von Bewegungen in der Gegend\ndes blinden Flecks.\u201c Psychologische Forschung 7.\t1925.\n2\tTh. Ziehen, \u201eExperimentelle Untersuchungen \u00fcber die r\u00e4umlichen Eigenschaften einiger Empfindungsgruppen.\u201c Fortschritte der Psychologie und ihrer Anwendungen. Bd. I. 1913. S. 331.\n3\tW. Wundt, Grundz\u00fcge der physiologischen Psychologie. Bd. II5. 577ff.","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie usw. 105\nerlebnis meint, m\u00fcssen wir sagen, dafs meine Beobachtungen dieser Behauptung widersprechen. Das unmittelbare Bewegungserlebnis, welches am besten passiv d. h. ohne Fixation im indirekten Sehen entsteht, ist in der durch die verfolgende Fixation entstehenden Vorstellung gar nicht enthalten. Manche von Wundt interpretierten Erscheinungen lassen sich mit den von mir erhaltenen Ergebnissen gut in Einklang bringen. So scheint z. B. der Mond sich zu bewegen, wenn in Wirklichkeit die Wolken an ihm vorbeiziehen, eben dadurch, dafs wir dabei die Wolken fixierend verfolgen, und das Netzhautbild vom Mond sich im indirekten Sehen kontinuierlich verschiebt.\nSonst m\u00fcssen wir in einer Beziehung Wundt vollkommen beistimmen, indem wir jedoch das von ihm Behauptete von den Vorstellungen auf die Empfindungen \u00fcbertragen. Wundt spricht n\u00e4mlich von der Relativit\u00e4t der Vorstellungen von Bewegungen. Diese Relativit\u00e4t der Entstehung eines Bewegungserlebnisses m\u00fcssen wir aber eben vor allen den Bewegungsempfindungen zuschreiben, wie uns unsere Beobachtungen gelehrt haben. In der Tat entsteht eine Bewegungsempfindung und bleibt eine solche ganz unabh\u00e4ngig davon, ob sie eine wahre oder illusorische ist, nur wenn eine Verschiebung des Netzhautbildes vorkommt. Auf diese Weise ist die urspr\u00fcngliche Bewegungsempfindung tats\u00e4chlich relativ und gibt die Realit\u00e4t nicht immer richtig wieder. Im Gegenteil dazu ist aber die Vorstellung berufen, die Fehler der Empfindung zu korrigieren. In dieser Hinsicht ist die Bewegungsempfindung als eine \u201eformelle\u201c Empfindung wohl vielmehr von einer wirklich relativen und \u00f6fters illusorischen Natur als die \u00fcbrigen inhaltlichen Empfindungen.\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 58.\n12","page":165}],"identifier":"lit36100","issued":"1927","language":"de","pages":"153-165","startpages":"153","title":"Einige noch nicht beschriebene optische Scheinbewegungen und ihre Bedeutung f\u00fcr die Theorie der Bewegungswahrnehmungen","type":"Journal Article","volume":"58"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:37:07.979040+00:00"}