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{"created":"2022-01-31T15:39:06.967925+00:00","id":"lit36101","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Strauss, Kurt","role":"author"},{"name":"Herbert v. Versen","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 58: 166-174","fulltext":[{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"(Aus der I. Med. Klinik der Charit\u00e9 Berlin)\nUntersuchungen \u00fcber die Reizschwellen des\nTemperatursinnes\nVon\nKurt Strauss und Herbert v. Versen Mit einer Abbildung im Text\nEinleitung\nAus seinen Untersuchungen \u00fcber die Reize und Reizbedingungen des Temperatursinnes hat Hahn1 geschlossen, dafs den ad\u00e4quaten Reiz f\u00fcr die Temperaturnerven die tats\u00e4chliche Temperatur der nerv\u00f6sen Endorgane bildet, nicht, wie bisher meist gem\u00e4fs der bekannten Theorie Webers angenommen wurde, ihre Temperaturver\u00e4nderung. Hahn konnte den Beweis erbringen, dafs die maximale Intensit\u00e4t einer Temperaturempfindung so gut wie in \u00fcberhaupt keiner Abh\u00e4ngigkeit von der Gr\u00f6fse bzw. Ge* schwindigkeit der Temperaturver\u00e4nderung der Haut steht, sondern in recht vollkommener Weise der objektiven Temperatur des Reizobjektes entspricht. Ebenso soll auch f\u00fcr die Reizschwellen des Temperatursinnes die Gr\u00f6fse und Geschwindigkeit der Temperaturver\u00e4nderung ganz belanglos, nur die tats\u00e4chliche Reiztemperatur mafsgebend sein. Weitere experimentelle Beweise f\u00fcr seine Anschauungen hat Hahn mit seinen Mitarbeitern Bos-ttAmur und Ingeborg Goldscheider an regenerierenden Hautnerven und am erstmalig untersuchten Temperatursinn des Kaltbl\u00fcters erbracht. F\u00fcr die Anschauungen Hahns sprechen ferner seine Beobachtungen, dafs Unterbrechung der Blutzirkulation des Versuchsgebietes die Temperaturreizerfolge nicht beeinflufst. Auch den Anforderungen einer mathematischen Pr\u00fcfung der\n1 H. Hahn, Deutsche med. Wochenschr. 13.\t1927.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Reizschwellen des Temperatursinnes 167\nW\u00e4rmebewegungen in der Haut wurden die Versuche Hahns vollauf gerecht. Der danach unabweisbare Schlufs einer \u00e4ufserst oberfl\u00e4chlichen Hautlage der Endorgane der Temperaturnerven ist bereits von P\u00fctter 1 anerkannt und experimentell best\u00e4tigt worden.\nIm folgenden beschreiben wir Versuche, die sowohl eine Erg\u00e4nzung des von Hahn erbrachten Tatsachenmaterials bilden, als auch dazu dienen sollen, eine klare Begriffbestimmung der \u201eEmpfindlichkeit\u201c des Temperatursinnes vorzunehmen. Untersucht wurden die Beziehungen zwischen Reizst\u00e4rke und Temperaturempfindlichkeit an lokalan\u00e4sthesierten Hautstellen w\u00e4hrend 4er R\u00fcckkehr ihrer Empfindlichkeit zur Norm.\nMethode\nZur An\u00e4sthesierung bedienten wir uns der von Kein1 2 verbesserten und ihrem Wesen nach als Elektrosmose gedeuteten sog. Kataphorese. Vermittels dieser lassen sich die Hautsinnesnerven ohne Verletzung der Haut in beliebigem Ausmafs funktionsunf\u00e4hig machen. Ausgangspunkt der Sensibilit\u00e4tsuntersuchung bildete die totale Unempfindlichkeit der Versuchsstelle gegen Temperaturreize zwischen 0 und 45\u00b0. Als An\u00e4sthetikum verwandten wir 2% Kokain in 80 % Alkohol. Die Dosierung und die Dauer der Kataphorese wurde nach dem Gesichtspunkt vorgenommen, dafs die Kauer der totalen An\u00e4sthesie nur kurz ausfiel, so dafs die Untersuchung der Temperaturempfindlichkeit bei der R\u00fcckbildung der An\u00e4sthesie m\u00f6glichst bald erfolgen konnte.\nAls Reizobjekt diente ein Temperator, den uns Herr Dr. Hahn zur Verf\u00fcgung stellte (Temperator III3, Durchmesser der Reizfl\u00e4che 2,6 cm). Bestimmt wurde, um einen wie grofsen Betrag der Temperator jeweils erw\u00e4rmt bzw.4 abgek\u00fchlt werden mufste, damit er bei verschiedenen Adaptationstemperaturen gerade eben eine deutliche W\u00e4rme- bzw. K\u00e4lteempfindung ausl\u00f6ste. Aus der Gr\u00f6fse dieses Betrages und seinen Beziehungen zu der physikalischen Temperaturskala lassen sich die beabsichtigten Schl\u00fcsse auf die Empfindlichkeit der Temperaturnerven und der Richtigkeit der Auffassungen Hahns ziehen.\n1\tA. P\u00fcttee, Zeitschr. f. Biologie 87, 89. 1927.\n2\tH. Rein, Zeitschr. f. Biologie 81. 141.\t1924.\n3\ts. H. Hahn, Pfl\u00fcgers Archiv 215, 166. 1926.\n12*","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168\nKurt Strauss und Herbert v. Versen\nVersuche\nVersuchsgebiet war stets die Volarseite eines Unterarms. Auf die Versuchsstelle wurde eine dreifache Lage Filtrierpapier gelegt, das mit der Kokainalkoholl\u00f6sung ausgiebig getr\u00e4nkt war. Dar\u00fcber wurde mit einem 3 cm breiten Gurt die Anode geschnallt, eine kreisrunde Zinkplatte von 3 cm Durchmesser. Der Rand des Filtrierpapiers ragte \u00fcberall um ca. 1 mm \u00fcber die Elektrode hinaus. Zur Ableitung war die Hand des freien\nArmes in eine Wasserschale getaucht, die mit der Kathode in\n\u2022 \u2022\nVerbindung stand. Uber die Stromentnahme aus dem Stadtnetz, Einschaltung eines Regulierwiderstandes und Milliamperemeters siehe Hahn, Pfl\u00fcgers Arch. a. a. O., S. 158.\nIn einer Anzahl orientierender Versuche hatte sich uns als zweckm\u00e4fsigste Anordnung eine Dauer der Kataphorese von 10 Minuten bei einer Stromst\u00e4rke von 3\u20144 Milliampere erwiesen. Sofort danach werden Temperaturreize zwischen 0 und 45 0 nicht empfunden, auch nicht als schmerzhaft oder brennend. Bereits nach ca. 4 bis 10 Minuten, gelegentlich erst sp\u00e4ter, treten dann auf Temperaturreize die im folgenden zu besprechenden Empfindungen auf.\nNach Beendigung der Kataphorese wurde der Arm bequem mit der Volarseite nach oben gelagert und auf der Versuchsstelle der Temperator mit der Bodenfl\u00e4che mittels eines Statives befestigt. Bei einem Versuch wurde jeweils nur entweder auf W\u00e4rmeempfindungen oder auf K\u00e4lteempfindungen gepr\u00fcft, die gegensinnigen Empfindungsqualit\u00e4ten nicht protokolliert.\nDer Temperator stand durch einen Dreiwegehahn mit zwei Schl\u00e4uchen in Verbindung, die in Gef\u00e4fse von 6 1 Fassungsverm\u00f6gen tauchten. Aus ihnen entleerte sich das enthaltende Wasser durch Heber Wirkung \u00fcber den Temperator in den Abzugsschlauch, dessen Ausflufs\u00f6ffnung ca. 130 cm unterhalb des Wasserspiegels, 100 cm unterhalb der Bodenfl\u00e4che des Temperators lag.\nBei der Pr\u00fcfung auf W\u00e4rmeempfindung flofs nach Beendigung der Kataphorese 15\u00b0 kaltes Wasser aus dem einen Beh\u00e4lter durch den Temperator. Meist ca. alle 60 Sekunden wurde der Dreiwegehahn so umgestellt, dafs durch den zweiten Schlauch aus einem anderen Beh\u00e4lter Wasser von 39\u00b0 flofs. War nach 20 Sekunden keine W\u00e4rmeempfindung aufgetreten, so wurde wieder das","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Reizschwellen des Temperatursinnes\t169\nkalte Wasser eingeschaltet. Hiermit wurde so lange weiter gewechselt, bis die Einschaltung des Wassers von 39\u00b0 zwei Mal eine eben deutliche W\u00e4rmeempfindung verursachte, was meist nach 10 Minuten der Fall war.\nUnterdessen war ein dritter Beh\u00e4lter vorbereitet, der Wasser von 38\u00b0 enthielt. Hatte das Wasser von 39\u00b0 zweimal eine eben deutliche W\u00e4rmeempfindung vermittelt, so wurde der zuf\u00fchrende Schlauch abgeklemmt, und aus dem Wasser von 39\u00b0 in das Wasser von 38\u00b0 getaucht. Nachdem etwas von letzterem Wasser durch den Temperator geflossen, aus dem Schlauchsystem mithin das Wasser von 39\u00b0 ausgeschwemmt war, wurde wieder (f\u00fcr 40\u2014220 Sekunden) durch den Dreiwegehahn \u00fcber den anderen Schlauch das kalte Wasser eingeschaltet. Hierauf schaltete erneutes Umdrehen des Hahnes nunmehr das Wasser von 38\u00b0 durch den Temperator, anfangs, wie vorweggenommen sei, ohne eine W\u00e4rmeempfindung auszul\u00f6sen. War nach 20 Sekunden keine W\u00e4rmeempfindung aufgetreten, so wurde entweder durch den Dreiwegehahn wieder f\u00fcr ca. 60 Sekunden das k\u00e4lte Wasser, danach nochmals f\u00fcr 20 Sekunden das Wasser von 38\u00b0 eingeschaltet. Oder aber es wurde unter Abklemmung des Schlauches dieser aus dem Wasser von 38 in 39\u00b0 getaucht und das Auftreten einer W\u00e4rmeempfindung bei Durchfliefsen des 39 0 warmen Wassers abgewartet. Seltener wurde der Temperator zwischendurch auch vom 15\u00b0 kalten Wasser und unmittelbar danach von 390 durchflossen. Auf diese Weise wurde abwechselnd die Reizfl\u00e4che des Temperators in verschiedener Reihenfolge entweder von 15 auf 390 oder von 15 auf 380 oder von 38 auf 390 erw\u00e4rmt.\nTrat schon bei 38\u00b0 eine W\u00e4rmeempfindung auf, so wurde das Wasser von 390 durch solches von 370 ersetzt. Mit dem gleichen Verfahren wurde nunmehr in derselben Weise das Auftreten von W\u00e4rmeempfindungen bei Erw\u00e4rmung des Temperators von 150 auf 370 oder 38# bzw. von 370 auf 380 untersucht. Sobald 37\u00b0 zweimal eine deutliche W\u00e4rmeempfindung ausgel\u00f6st hatte, wurde das Wasser von 38\u00b0 durch solches von 36\u00b0 ersetzt Sobald 36\u00b0 als warm empfunden wurde, trat Wasser von 35\u00b0 an Stelle des Wassers von 37\u00b0 usw.\nErgebnisse\n\u00dcber den typischen Verlauf der Versuche gibt die nachfolgende Abbildung und Tabelle Auskunft, in denen wir die","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170\nKurt Strauss und Herbert v. Versen\nErgebnisse eines gut gegl\u00fcckten Versuches \u00fcber W\u00e4rme-empfindungen aufgezeichnet haben. In der Abbildung sind auf der Abszisse die Zeiten zwischen Beendigung der Kataphorese und dem Augenblick des Auftretens einer W\u00e4rmeempfindung eingetragen, auf der Ordinate die diese W\u00e4rmeempfindung ausl\u00f6sende Temperatur des Temperators, und zwar die tats\u00e4chliche Temperatur der physikalischen Temperaturskala in Grad Celsius. Die durchgezogene Linie in der Abbildung verbindet die Werte f\u00fcr alle die Temperaturen, die im gegebenen Augenblick nach vorheriger Abk\u00fchlung gerade eine deutliche W\u00e4rmeempfindung ausl\u00f6sten; die punktierte Linie f\u00fcr alle Temperaturen, die unter gleichen Verh\u00e4ltnissen zum Ausl\u00f6sen einer W\u00e4rmeempfindung mit Sicherheit noch nicht gen\u00fcgten.\nI\tI I I!I\tI\tI\n0\t10\t20\t30 W 50\t60\t70 Min.\nAbbildung 1\nIn der Tabelle sind unter Z. die Zeiten in Minuten nach Beendigung der Kataphorese eingetragen; unter A.-Z. gesondert die jeweiligen Adaptationszeiten in Sekunden, w\u00e4hrend derer das k\u00e4ltere Wasser durch den Temperator flofs bis zum Eintritt der erneuten W\u00e4rmereizung; unter A. die Temperaturen des zur Adaptation dienenden Wassers, unter R. die Reiztemperaturen; unter X die von der Vp. angegebenen Empfindungen, n\u00e4mlich : \u2014 = es ist keine Empfindung vorhanden, W = es ist mit Sicherheit eine W\u00e4rmeempfindung vorhanden, Br. = es wird Brennen bzw. Schmerz empfunden, ? = das Vorhandensein einer W\u00e4rmeempfindung ist fraglich.\nEinen Teil der Einzelreizungen haben wir aus Gr\u00fcnden der Raumersparnis in der Tabelle fortgelassen. Ihr Fortfall ist durch ein * bei den Zahlen unter Kolonne Z. vermerkt, das besagt, dafs in den dem * vorangehenden Zwischenzeiten eine Anzahl nicht vermerkte W\u00e4rmereize mit entsprechenden Ergebnissen vorgenommen wurden.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Reizschwellen des Temperatur Sinnes 171\nTabelle\nW\u00e4rmeversuch vom 6. III. 1927. Yp. Dr. Hahn, Katapliorese 10 Min.\n4 Milliampere, Zimmertemperatur 17\u00b0\nz. Min.\tA.-Z. Sek. i |\tA. GradC\tR. GradC !\tX\tI z. Min.\tA.-Z. Sek.\tA. GradC\tR. GradC\tX\ni i i\t! 60\t15\t39\t\t\t! 26\t100\t15\t38\t?\n3\t100\t15\t39\u2014:\t\u2014\t27\t40\t15\t38\tw.\n4\t40\t15\t39 1\t\u2014\t29\t| j\t100\t15\t37\t\u2014\n6\t100\t15\t39\t\u2014\t\t20\t37\t38\tw.\n8\t100\t15\t39\tBr.\t39*\t100\t15\t37\tw.\n9\t40\t15\t39\tBr.\t42\t140 '\t15\t36\t\u2014\n11\t100\t15\t39\tBr.?\t\t20\t36\t37\tw.\n12\t40\t15\t39\tBr.W.\t56*\t100\t15\t36\tw.\n13\t40\t15\t39\tw.\t59\t140\t15\t35\t\u2014\n16\t160\t15\t38\t\t\t20\t35\t36\tw.\n\t20\t38\t39\tW.Br.\t63*\t40\t15\t35\tw.\n18\t100\t15\t38\t\u2014\t68*\t140\t15\t34\tw.\n\t20\t88\t39\tW.Br.\t73*\t40\t15\t33\tw.?\n20\t100\t15\t! 39\tW.\t100*\t180\t15\t33\tw.\n24\t220\t15\t38\t\u2014\t\t\t\t\t\n\t20\t38\t39 i\tW.\t103\t180\t15\t32\t\nAn der Versuchsstelle war vor der Kataphorese mit dem Temperator gepr\u00fcft worden, welche niederste Temperatur nach 3 Minuten langer Adaptation auf 15\u00b0 gerade eben als warm empfunden wurde. Es war das ebenso wie 100 Min. nach Beendigung der Kataphorese eine Erw\u00e4rmung des Temperators\nauf 33\u00b0.\nZeitlich schon etwas fr\u00fcher nach Beendigung der Kataphorese, als die verzeichneten Empfindungen auftraten, l\u00f6sten extremere Reiztemperaturen bereits Schmerzen und Brennen aus. Da derartige Sensationen die Wahrnehmung von Temperaturempfindungen verdr\u00e4ngen k\u00f6nnten, auch zu T\u00e4uschungen Anlafs geben, so verzichten wir auf die Protokollierung der Empfindungen, die von Reiztemperaturen oberhalb 39\u00b0 ausgel\u00f6st wurden. In einem Teil der Versuche l\u00f6ste auch 39\u00b0, hin und wieder sogar 38\u00b0, noch Brennen bzw. Schmerzen neben den Temperaturempfindungen aus, doch waren letztere so einwandsfrei deutlich, dafs wir sie in die Ergebnisse mit auf nahmen.","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nKurt Strauss und Herbert v. Versen\nZur analogen Untersuchung auf Kaltempfindungen war das Verfahren das gleiche. Die mit der Methode gewonnenen Ergebnisse sind indessen wenig \u00fcberzeugend. Im Gegensatz zu unseren Beobachtungen bei W\u00e4rmeempfindungen ging n\u00e4mlich die R\u00fcckkehr der K\u00e4lteempfindlichkeit nach der totalen An\u00e4sthesie so rasch vor sich, dafs die zu Untersuchungen verf\u00fcgbare Zeit schlecht ausreichte, um sorgf\u00e4ltige Sensibilit\u00e4tspr\u00fcfungen vorzunehmen. Bei den Versuchen diente als Adaptationstemperatur 37\u00b0, als Reiztemperatur zun\u00e4chst 10\u00b0. Diese Temperatur wurde ungef\u00e4hr zu demselben Zeitpunkt nach Beendigung der Kata-phorese als kalt empfunden, zu dem 39\u00b0 bereits eine W\u00e4rmeempfindung vermittelte. W\u00e4hrend aber stets ann\u00e4hernd eine Stunde verstrich, bevor die W\u00e4rmeempfindlichkeit zur Norm angestiegen war, kehrte die K\u00e4lteempfindlichkeit bereits innerhalb weniger Minuten vollkommen zur\u00fcck. Wir waren daher gezwungen, zu ihrer Untersuchung uns mit k\u00fcrzeren Adaptationszeiten von 30 Sekunden und darunter zu begn\u00fcgen und mit den Reiztemperaturen nicht um einzelne Grade, sondern um gr\u00f6fsere Betr\u00e4ge zu wechseln. Der Versuch gl\u00fcckte schliefslich einiger-mafsen so, dafs als Reiztemperaturen 10 bzw. 15\u00b0, dann 15 bzw. 20\u00b0, 20 bzw. 25\u00b0 und 25 bzw. 30\u00b0 angewandt wurden. Innerhalb der zur Verf\u00fcgung stehenden 3\u20145 Minuten liefsen sich so gen\u00fcgend h\u00e4ufige Reizungen vornehmen, um die grunds\u00e4tzliche \u00dcbereinstimmung der Ergebnisse mit den W\u00e4rme versuchen sicherzustellen.\nDie Beobachtungen wurden in 4 Versuchen von Herrn Dr. Hahn nachgepr\u00fcft und best\u00e4tigt. Die Vp. wurde ausnahmslos unwissentlich hinsichtlich der Reizst\u00e4rke und des Reizeintritts gepr\u00fcft; sie war nur \u00fcber die Reizqualit\u00e4t orientiert. Die Klarheit der Versuchsanordnung ergibt sich daraus, dafs wir zwar einzelne unsicher abgegebene Urteile, aber kein einziges Fehlurteil zu verzeichnen haben.\nBesprechung der Versuchsergebnisse\nDas Bemerkenswerte an den Versuchen ist die Unabh\u00e4ngigkeit des Eintritts einer Temperaturempfindung von der Gr\u00f6fse der relativen Temperaturver\u00e4nderung des Temperators. Bei den Versuchen, die der obigen Abbildung zugrunde liegen, wurde der Temperator in den Zwischenzeiten zwischen den W\u00e4rmereizen von 15\u00b0 kaltem Wasser durchstr\u00f6mt. Wenn nun 39\u00b0 als","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Untersuchungen \u00fcber die Reizschwellen des Temperatursinnes\t173\nwarm empfunden wurde, und wir uns \u00fcberzeugt hatten, dafs die Erw\u00e4rmung des Temperators von l\u00f6 auf 38\u00b0 noch nicht die geringste Empfindung ausl\u00f6ste, so fanden wir regelm\u00e4fsig, dafs die Erw\u00e4rmung von 38 auf 39\u00b0 mit derselben Sicherheit eine W\u00e4rmeempfindung ausl\u00f6ste, wie die Erw\u00e4rmung von 15 auf 39\u00b0. (Nur tritt die W\u00e4rmeempfindung bei letzterer Anordnung sp\u00e4ter \u2014 bis zu ca. 10 Sekunden \u2014 auf, da die Erw\u00e4rmung des Temperators um einen gr\u00f6fseren Betrag etwas l\u00e4ngere Zeit beansprucht.) Wir haben auch sonst im Verlauf eines Versuches h\u00e4ufig die Adaptationstemperaturen ausgiebig ver\u00e4ndert, bei W\u00e4rmeversuchen zwischen 10 und 25\u00b0 adaptiert. Mit absoluter Sicherheit \u00e4nderte der Wechsel der Adaptationstemperaturen nichts an der Wirksamkeit der Reiztemperaturen. Unwirksame Reiztemperaturen blieben unter allen Umst\u00e4nden unwirksam, ein wirksamer Reiz l\u00f6ste stets die entsprechende Empfindung aus, gleichg\u00fcltig, um einen wie grofsen Betrag der Temperator erw\u00e4rmt oder abgek\u00fchlt wurde.\nDie zuletzt geschilderte Unabh\u00e4ngigkeit der Wirksamkeit eines Temperaturreizes von der Gr\u00f6fse und Geschwindigkeit der Temperaturver\u00e4nderung, durch die die Reiztemperatur hergestellt wird, ist ein weiterer klarer Beweis f\u00fcr die Allgemeing\u00fcltigkeit des von Hahn aufgestellten \u201eGesetzes der konstanten Summe\u201c. Nach diesem Gesetz ist f\u00fcr die Intensit\u00e4t einer Temperaturempfindung, also auch f\u00fcr die Reizschwellen des Temperatursinnes, allein die tats\u00e4chliche Reiztemperatur mafsgebend. ln Zahlen ausgedr\u00fcckt bildet der zu einer bestimmten Empfindungsintensit\u00e4t ben\u00f6tigte Betrag an Temperaturver\u00e4nderung an einer und derselben Hautstelle + der Adaptationstemperatur eine konstante Summe. Die Gr\u00f6fse dieser Summe soll nach Hahn so gut wie ausschliefslich von der Empfindlichkeit der betreffenden Hautstelle abh\u00e4ngen. Wurde bei unseren Versuchen beispielsweise bei Adaptation auf 15\u00b0 eine Erw\u00e4rmung des Temperators um 24\u00b0 zu einem bestimmten Zeitpunkt gerade als eben warm empfunden, so wurde dieselbe W\u00e4rmeempfindung nach Adaptation auf 38\u00b0 mit einer Erw\u00e4rmung des Temperators um nur einen einzigen Grad erzielt. In beiden F\u00e4llen ist der arithmetische Wert von Adaptationstemperatur -f- dem Erw\u00e4rmungsbetrag (15 + 24 bzw. 38 +1) eine konstante Summe von 39.\nDas Gesetz der konstanten Summe erm\u00f6glicht also, wie wir mit unsern Versuchen weiter sicher stellen wollten, f\u00fcr","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174 Kurt Strauss u. Herbert v. Versen, Untersuchungen \u00fcber die Reizschwellen\ndie Temperaturempfindlichkeit einer K\u00f6rperstelle einen klaren zahlenm\u00e4fsigen Mafsstab anzugeben, der bisher gefehlt hat. Es ist n\u00e4mlich nach dem Gesetz m\u00f6glich, die Empfindlichkeit auch f\u00fcr den Temperatursinn durch den Reizschwellenwert zu bestimmen, wie es w\u00fcnschenswert und auch sonst \u00fcblich ist. Im obigen Beispiel stellt 39\u00b0 die niedrigste Temperatur vor, mit dem eine W\u00e4rmeempfindung \u00fcberhaupt ausl\u00f6sbar war. Mit zunehmender R\u00fcckbildung der An\u00e4sthesie gen\u00fcgten dazu immer tiefere Temperaturen. Je empfindlicher eine Hautstelle also gegen Temperaturreize wird, um so tiefer liegt die Temperaturgrenze, unterhalb derer ad\u00e4quate Temperaturreize unter keinen Umst\u00e4nden W\u00e4rmeempfindungen auszul\u00f6sen verm\u00f6gen (bzw. oberhalb derer K\u00e4lteempfindungen). Die Ermittlung dieser Temperaturgrenzen, von Hahn als HERiNGsche Minimaltemperaturen bezeichnet, bestimmt also als Reizschwellenwert die tats\u00e4chliche Empfindlichkeit sowohl von normalen wie von funktionell gesch\u00e4digten Temperaturnerven.\nAlle Forscher, die sich bisher mit dem Begriff der Empfindlichkeit des Temperatursinnes auseinandergesetzt haben, haben mit ihm auch das Adaptationsproblem kaum trennbar verbunden. Die Grundelemente aller bisherigen Anschauungen vom Temperatursinn, die bekannten Theorien Goldschneiders \\ Herings und Webers, erm\u00f6glichten als Mafsstab f\u00fcr die Empfindlichkeit des Temperatursinnes nur die Auswertung des Abstandes der Adaptationstemperatur von der Reiztemperatur. Das Adaptationsproblem ist aber ein recht verwickeltes und noch ganz ungekl\u00e4rtes, worauf immer wieder hingewiesen zu haben als ein besonderes Verdienst Goldschneiders betrachtet werden mufs. Das Gesetz der konstanten Summe erlaubt dagegen den Begriff der Empfindlichkeit von dem der Adaptation g\u00e4nzlich abzutrennen und damit f\u00fcr die Empfindlichkeit des Temperatursinnes analoge Begriffsbestimmungen zu treffen wie f\u00fcr die h\u00f6heren Sinnesnerven.\nZusammenfassung\n1.\tDie Empfindlichkeit einer Hautstelle l\u00e4fst sich auch gegen\u00fcbe Temperaturreizen durch den Reizschwellenwert bestimmen.\n2.\tDas von Hahn auf gestellte Gesetz der konstanten Summe trifft auch f\u00fcr funktionell gesch\u00e4digte Temperaturnerven zu.\n1 \u00dcber diese siehe auch E. Hummel, Archiv f. d. gesamte Psychologie 57, 305. 1926.","page":174}],"identifier":"lit36101","issued":"1927","language":"de","pages":"166-174","startpages":"166","title":"Untersuchungen \u00fcber die Reizschwellen des Temperatursinnes","type":"Journal Article","volume":"58"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:39:06.967930+00:00"}