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Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale

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{"created":"2022-01-31T15:56:44.986616+00:00","id":"lit36104","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Scripture, E. W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 58: 195-208","fulltext":[{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"195\nZur Psychophysik und Physiologie der Vokale\nVon\nProfessor Dr. E. W. Scripture (Wien)\nMit 9 Abbildungen\nEs sei zuerst an einen alten Versuch von Savart erinnert. Eine Karte wird gegen die Z\u00e4hne eines Zahnrades gehalten; jedesmal wenn ein Zahn vorbeigegangen ist, schl\u00e4gt die Karte gegen den n\u00e4chsten Zahn und verursacht eine pl\u00f6tzliche Luftbewegung. Diese Luftbewegung wird als ein Klicks geh\u00f6rt. Solange das Rad sehr langsam rotiert, werden die einzelnen Klickse geh\u00f6rt. Bei etwas schnellerer Umdrehung wird nicht nur die Klicksreihe, sondern auch etwas ganz Neues geh\u00f6rt, n\u00e4mlich ein tiefer Ton. Wenn das Rad sich noch schneller dreht, werden die Klickse nicht mehr als eine Reihe, sondern als eine Klicksqualit\u00e4t geh\u00f6rt. Dabei ist der Ton immer vorhanden und wird allm\u00e4hlich h\u00f6her. Bei jeder Geschwindigkeit ist der physikalische Vorgang derselbe, n\u00e4mlich, eine Reihe von Luftst\u00f6fsen. Physikalisch gibt es weder Ton noch Klicksqualit\u00e4t. Diese sind psychologische bzw. physiologische Erzeugnisse, welche keine physikalische Existenz haben. Der Ton entspricht dem Wiederholungsintervall der Luftst\u00f6fse; die Qualit\u00e4t entspricht der Form dieser Luftst\u00f6fse. Die Verh\u00e4ltnisse sollen schematisch in Abbildung 1A ausgedr\u00fcckt werden.\nJetzt sei ein alter Versuch von Seebeck aus dem Jahr 1844 erw\u00e4hnt. Durch einen Gummischlauch bl\u00e4fst man gegen eine rotierende mit L\u00f6chern versehene Scheibe. Jedesmal wenn ein Loch an der \u00d6ffnung des Schlauchs vorbeigeht, h\u00f6rt man einen leisen Puff. Mit zunehmender Geschwindigkeit kommen diese Puffe schneller und schneller. Bei einer gewissen Schnelligkeit entsteht ein tiefer Ton, welcher zu gleicher Zeit mit den Puffen geh\u00f6rt wird. Etwas sp\u00e4ter werden die einzelnen Puffe nicht","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nJE. W. Scripture\nmehr geh\u00f6rt, sondern es kommt eine Puffqualit\u00e4t zustande. Dabei steigt der Ton stetig in die H\u00f6he. Auch hier besteht physikalisch immer nur eine Reihe von runden Luftst\u00f6fsen. Physikalisch existiert weder ein Ton noch eine Puffqualit\u00e4t. Die psychologische bzw. physiologische Tonh\u00f6he entspricht dem Wiederholungsintervall der Luftbewegungen; die Puffqualit\u00e4t entspricht ihrer Form. Die Verh\u00e4ltnisse sind schematisch in Abbildung 1B angedeutet.\nAbbildung 1\nIm Jahre 1876 hat R. Koenig folgenden Versuch ausgef\u00fchrt. Er liefs eine Stimmgabel vor den L\u00f6chern einer SEEBECKschen Sirene t\u00f6nen. Jedesmal wenn ein Loch vorbeiging, h\u00f6rte man ein kleines Teilchen des Stimmgabeltones. Wenn die Scheibe sich schneller drehte, h\u00f6rte man nicht nur dieses Teilchen, sondern oberhalb einer gewissen Geschwindigkeit auch ein zweiter Ton. Bei wachsender Geschwindigkeit stieg dieser Ton in die H\u00f6he. Der Ton von der Gabel blieb aber konstant. Der neue Ton hat keine physikalische, sondern nur eine psychologische bzw. physiologische Existenz. Die Verh\u00e4ltnisse sind in Abbildung 1C schematisch dargestellt.\nAuf diese Weise wurde vor mehr als hundert Jahren folgende Tatsachen konstatiert: 1. eine Tonempfindung h\u00e4ngt von einer physikalischen Wiederholung ab, und 2. die Tonh\u00f6 henempfin-\ndung wird durch die K\u00fcrze des Wiederholungsintervalls bestimmt.\nIm Jahre 1830 ver\u00f6ffentlichte Willis seine Untersuchungen \u00fcber die Vokalkl\u00e4nge. Er liefs eine aufschlagende Zunge an-blasen und zylindrische Orgelpfeifen mit verschiedenen Eigen-","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\n197\nPerioden durch die Luftst\u00f6fse anregen. Durch passende Wahl der Pfeifen erzielte er vokal\u00e4hnliche Kl\u00e4nge. Er zeigte, dafs die Vokalqualit\u00e4t von der Eigenperiode der Pfeife herr\u00fchrte und dafs der geh\u00f6rte Grundton von dem Wiederholungsintervall der Zungenschl\u00e4ge abhing. Die zwei Empfindungen \u2014 Vokalqualit\u00e4t und Grundton \u2014 sind also voneinander unabh\u00e4ngig. Hiermit hat er f\u00fcr die Vokale dasselbe bewiesen, was Savart und Seebeck fr\u00fcher f\u00fcr die Ger\u00e4uscht\u00f6ne und Koenig sp\u00e4ter f\u00fcr die klingenden T\u00f6ne bewiesen hatten.\nNach der Erfindung des Phonautographen (Scott) liefs Donders (1864) verschiedene Vokale registrieren, und stellte fest, dafs die Vokalqualit\u00e4t von der Form der Kurve herr\u00fchrt und von dem Grundton unabh\u00e4ngig ist. Erst 1890 gewann Hermann genaue Vokalkurven und f\u00fchrte sorgf\u00e4ltige Analysen aus.\nEs soll zuerst die Natur des Vokals in der Luft festgestellt werden. Die beste Methode hierzu ist, die Vokale zu registrieren und die Kurven zu analysieren. In Abbildung 2 werden die Kurven von zwei Vokalen reproduziert. Jede Vokalkurve besteht aus einer Reihe von Gruppen von kleinen mehr oder minder unregelm\u00e4fsigen Wellen. Eine solche Gruppe soll eine Vokal-wellengruppe oder \u2014 kurz \u2014 eine Vokalwelle heifsen.\n* .________________________________________________\n\u2014 -------\u2014\u25a0\u2014------\u2014\u2014\u2014\u2014\u2014\u2014-------------\\A/~ \n*------\u2014\nAbbildung 2\nJede Vokalwelle hat ihre eigene besondere Form. Je nach der Form bekommt der Vokal seinen eigent\u00fcmlichen Klang. Man bemerkt sofort nicht nur, dafs die Formen f\u00fcr die als verschieden aufgefafsten Vokale verschieden sind, sondern auch, dafs innerhalb eines einzigen Vokals die Form sich allm\u00e4hlich\n\u00e4ndert.\nIn einer Vokalkurve wird die Vokalwelle mit mehr oder minder ver\u00e4nderter Form wiederholt. Durch Messungen zwischen \u00e4hnlichen Stellen aus benachbarten Vokalwellen kann das Wiederholungsintervall T bestimmt werden. Bei einem gesungenen Vokal bleibt dieses Intervall ann\u00e4hernd konstant.\nEs soll die Natur der Wellenform bestimmt werden. Die FouRiERsche Analyse mit harmonischen Gliedern liefert brauchbare Resultate.\n14\nZeitschrift f. Sinnesphysiol. 58.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nE. W. Scripture\nDie FouEiERsche Analyse ist eine Methode, um eine mathematische Formel f\u00fcr irgendwelche in einem Intervall abgegrenzte Linie zn finden. Von der Natur dieser Formal braucht man nichts zu wissen. Die Analyse selbst wird von einem Apparat automatisch gemacht. Der Laboratoriumsdiener, der von derFouRiER-schen Analyse niemals geh\u00f6rt hat, kann eine Linie mit dem Apparat ebensogut analysieren wie der Mathematiker selbst. Das Resultat der Analyse ist eine Reihe von Zahlen. Als Beispiel kann eine Analyse nach Miller angef\u00fchrt werden. Mit dem HENRicischen Analysator hat er die Kurve links in Abbildung 3 analysiert. Er bekam die Resultate 49,6, 17,4, 13,8, usw. Was die \u00fcbrigen Bezeichnungen in der Formel bedeuten, hat f\u00fcr uns nicht das geringste Interesse. Miller hatte einen Synthesierapparat mit Zahnr\u00e4dern gebaut. Nun stellt er die Zahnr\u00e4der nach den Zahlen der Formel ein und drehte an der Kurbel ; der Apparat zeichnete mit dem Bleistift die Kurve rechts. Seine Analvse war also eine ganz genaue.\nAbbildung 3\nHat diese FouRiERsche Analyse \u00fcber die Herstellung der urspr\u00fcnglichen Kurve etwas ausgesagt? Nein! Hat sie bewiesen, dafs diese Kurve aus Sinusschwingungen entstanden ist? Nein! In der Abbildung zwischen den zwei Kurven ist ihre Quelle angegeben, n\u00e4mlich das Profil einer Dame. Obwohl die FouRiERsche Analyse ihr Profil in einer Reihe von Sinusfunktionen ausdr\u00fccken kann, darf man nicht behaupten, dafs es aus Sinusschwingungen besteht oder dafs die Dame es mittels Sinusschwingungen gewonnen hat. Das W, welches ich jetzt auf dem","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\n199\nPapier schreibe, oder eine Vokalwelle aus Abbildung 2, kann ebensogut durch eine FouaiEEsche Formel ausgedr\u00fcckt werden. Dies beweist aber nicht im mindesten, dafs ich Sinusschwingungen in meinem Arm habe oder dafs meine Stimme Sinusschwingungen beim Erzeugen eines Vokals gebraucht. Wie jeder Mathematiker weifs, ist die FouKiERsche Reihe eine reine Formel, welche nur dann \u00fcber physikalische Tatsachen Kenntnisse liefert, wenn die richtigen Grundlagen gegeben sind.\nJetzt wollen wir der Formel eine Grundlage geben. Ich lege dem Apparat eine Sinuskurve mit der L\u00e4nge l und der Amplitude ax vor (Abb. 4A). Der Apparat antwortet : es liegt eine Sinuskurve mit der L\u00e4nge l und der Amplitude vor, und es sind keine Kurven von der L\u00e4nge 1/2 l, Vs V V* l usw. vorhanden. Jetzt lege ich eine Kurve mit der L\u00e4nge l vor, welche aus zwei Wellen mit der L\u00e4nge J/a ^ besteht (Abb. 4B). Der Apparat antwortet: es liegt keine Kurve mit der L\u00e4nge l vor, aber eine Kurve mit der L\u00e4nge 1j2 l, und sonst nichts. Auf \u00e4hnliche Weise bekomme ich vollst\u00e4ndig wahre Antworten in bezug auf alle Sinuskurven mit den L\u00e4ngen Vs l, 1/4 l (Abb. 4 C, D), usw. Wenn so eine Kurve vorhanden ist, antwortet der Apparat mit \u201eJa\u201c; wenn sie nicht\nl\nAbbildung 4\nvorhanden ist, antwortet er mit \u201eNein\u201c, letzt biete ich dem Apparat eine Kurve mit Wellen von der\nL\u00e4nge 1 (Abb 5)- Der APParat antwortet : Das kann ich eigent-31/2\nlieh nicht: ich besitze Kugel und R\u00e4der nur f\u00fcr die L\u00e4ngen Z, 1j2 l,\n3/3 Z, V4 usw.: mit einer solchen Zahl wie weifs ich eigent-\n/ 2\n14*","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nE. W. Scripture\nlieh nicht viel anzufangen. Der Apparat versucht es doch, und liefert Amplituden f\u00fcr eine ganze Gruppe harmonischer Wellen, welche gar nicht vorhanden sind, aber welche sich um die Werte Vs l und V4 l sammeln (Abb. 6A). Die Resultate erkl\u00e4ren sehr deutlich, dafs harmonische Wellen nicht vorhanden sind, sondern eine unharmonische (Abb. 6B).\n12 3 4 5 6\nA\n12 3 4 5 6\nB\nAbbildung 5\nAbbildung 6\nNun lege ich eine Stimmgabelkurve von der L\u00e4nge l vor den Apparat. Er antwortet: es liegt eine Sinusschwingung von der L\u00e4nge l vor, aber sonst nichts. Jetzt mache ich den Versuch mit einer Kurve von einer Violine. Der Apparat antwortet: Diese Violinekurve mit der L\u00e4nge l enth\u00e4lt eine Sinuskurve mit der L\u00e4nge l und der Amplitude alj und auch eine Sinuskurve mit der L\u00e4nge 1j2 l und der Amplitude a2, wiederum auch Kurven mit den L\u00e4ngen Vs V 1U V usw. mit verschiedenen Amplituden. Wegen meiner Erfahrungen mit den einfacheren Kurven nehme ich die Antwort des Apparats als wohl begr\u00fcndet an.\nJetzt biete ich dem Apparat eine Vokalwelle mit der L\u00e4nge l an. Ich bekomme die Antwort: In dieser Welle ist gar keine Sinusschwingung mit der L\u00e4nge l vorhanden, auch keine mit der L\u00e4nge Va ^ vorhanden ist aber eine Gruppe von hohen Schwingungen. Tausende solcher Analysen sind von verschiedenen Forschern gemacht worden. In kaum einer einzigen ist jemals eine Sinusschwingung mit der L\u00e4nge l gefunden. Ein Vokal besitzt niemals eine Grundschwingung. Auch aus den Erfahrungen weifs man, was der Apparat mit der Gruppe hoher","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\n201\nSchwingungen sagen will, n\u00e4mlich, dafs eine hohe unharmonische Schwingung da ist.\nDas Gesamtergebnis aller Vokalanalysen ist, daCs ein Vokal ausschliefslich aus Bewegungen mit hohen Schwingungszahlen besteht und dafs eine Grundschwingung niemals vorhanden ist. Auch wenn man eine Reihe von Vokal wellen zusammen mit dem Wiederholungsintervall T nimmt, bekommt man dasselbe Resultat. Eine Schwingung mit der Periode T ist niemals vorhanden. Vorhanden sind nur abklingende Schwingungen mit hohen Perioden h, hj, usw. Die Perioden der hohen Schwingungen stehen in keinem einfachen Verh\u00e4ltnis zu der Wiederholungsperiode.\nPhysikalisch also besteht ein Vokal aus einer Summe von hohen Schwingungen mit den Perioden \\ hj usw., welche am Anfang jedes Zeitintervails T wiederholt werden. Die Wiederholung macht auf das Ohr den Eindruck des Stimmtons; die hohen Schwingungen erzeugen die Vokalempfindung. Die hohen Vokalschwingungen lu, hj, usw. sind vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngig von dem Wiederholungsintervall T. Ein Vokal a z. B., kann auf jeder Note der Skala gesungen werden; er beh\u00e4lt seine hohen Schwingungen \\ hj, usw. vollkommen konstant, w\u00e4hrend der Stimmton mit dem Wiederholungsintervall 1 beliebig variiert wird. Wenn die Vokalt\u00f6ne von dem Stimmton abh\u00e4ngig w\u00e4ren \u2014 z. B. harmonisch \u2014 dann m\u00fcfste der Vokal selbst bei jeder neuen Note sich \u00e4ndern.\nLehrreich ist ein Vergleich der von Miller ausgef\u00fchrten Analysen, deren Resultate in Abbildung 7 wiedergegeben sind. F\u00fcr eine Stimmgabel (oberste Linie in der Abbildung) war nur eine Grundschwingung vorhanden. Bei der Fl\u00f6te war die Grundschwingung verh\u00e4ltnism\u00e4fsig schwach, w\u00e4hrend die zweite harmonische Teilschwingung (erste harmonische Oberschwingung) \u00fcberwiegend stark vertreten war. Bei dem Waldhorn war die Grundschwingung die st\u00e4rkste, w\u00e4hrend die harmonischen Oberschwingungen der Reihenfolge nach schw\u00e4cher waren. Bei einem Vokal fehlte nicht nur die Grundschwingung, sondern auch die erste und die zweite harmonische Oberschwingung. In der Gegend um die Stelle oder etwas oberhalb derselben f\u00fcr die sechste Teilschwingung befand sich eine ganze Gruppe von Teilschwingungen. Nach obigen Versuchen mit der Fourier-schen Analyse weifs man, dafs diese Gruppe das Vorhandensein","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nE. W. Scripture\neiner unharmonischen Komponente in dieser Gegend anzeigt. Sehr bemerkenswert war das Resultat f\u00fcr die Oboe. Hier auch fehlten Grundschwingung und erste und zweite Oberschwingung vollst\u00e4ndig. Es befand sich aber eine Gruppe in der Gegend um 4, 5 und 6; es lag also eine unharmonische Komponente in\nStimm-\ngabel\nVokal\nFl\u00f6te\nVioline\nWaldhorn\nKlari-\nnette\nOboe\ni\n. i\t...\u2014\tf\ti\ti k i , .\nJ\t1\ti\ti\t\u2022\t.\t\u2022\t\u25a0\tt\t\u25a0\ni\t\tL\t1 1\t\u00b1. . .\n1\ti\ti .\t\nJ\t\t1\tt\ti i 1 1 \u00bb t .\n\t\t. i\t\u25a0 f\t9\t9\tt\t9\n1\t1\t1\t1\t1\t1\t1\u20141 1 TTTTTl\t\t\t\n1\t2\t3\t4\t5\t6\t7\t8 9 10\t15\nAbbildung 7\nder Gegend unterhalb 5. Bei der Klarinette befand sich eine hohe Gruppe in der Gegend um 8, 9 und 10, und auch eine \u2014 obwohl nicht starke \u2014 Grundschwingung und eine zweite Obertonschwingung. Bekanntlich klingt die Oboe der menschlichen Stimme am \u00e4hnlichsten; die Klarinette geh\u00f6rt eher zu der Gruppe Stimme-Oboe als zu den anderen Instrumenten.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\n203\nAlle Analysen von Vokalkurven \u2014 Hermann, Scripture, Liddell, Miller, Fletcher, Crandall, Trendelenburg usw. haben Resultate geliefert, worin die Grundschwingung vollst\u00e4ndig fehlte oder bedeutungslos war. F\u00fcr eine Vokalkurve mit der Wellenl\u00e4nge 1 ist also eine Schwingung mit der Wellenl\u00e4nge 1 nicht vorhanden. Als erster Satz einer Vokaltheorie gilt also: in einem Vokal gibt es physikalisch keine Grund-Schwingung.\nAbbildung 8\nDieser Satz ist neulich auf das schlagendste durch einen Versuch von Fletcher best\u00e4tigt worden. Er l\u00e4fst einen Vokal in ein Telephonsystem hineinsingen. Durch elektrische Filterung schliefst er die M\u00f6glichkeit der \u00dcbertragung von ganzen Schwingungsbereichen aus und beurteilt den Vokal am anderen Ende des Systems (Abb. 8). Ein typischer Versuch ist in Tabelle 1\nwiedergegeben.\nTabelle 1\nGesungener Vokal und Stimmton\tAusgeschlossener Schwingungs- bereich\tGeh\u00f6rter Grundton\t\u00c4nderung der Vokalqualit\u00e4t\na 145\t0\t145\t0\na 145\t0 bis 250\t145\tnicht bemerkbar\na 145\t0 \u201e 500\t145\tklein\na 145\t0 \u201e 750\t145\tgrofs\na 145\t0 \u201e 1250\t145\tsehr grofs\na 145\t0 \u201e 1500\t?\tnur Ger\u00e4usch\nZwischen dem Empf\u00e4ngertelephon bzw. Lautsprecher und dem Ohr des H\u00f6rers existiert der Vokal als eine Luftbewegung. In dieser Luftbewegung \u2014 welche als ein vollkommen korrekter Vokal mit Grundton geh\u00f6rt wird \u2014 war \u00fcberhaupt keine physi-","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nE. W. Scripture\nkalische Grundschwingung vorhanden. Die Empfindung des Tons war also vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngig von irgendwelcher physikalischer Schwingung. Ein Grundton von 145 wurde geh\u00f6rt, obwohl keine physikalische Schwingungen unterhalb 1250 vorhanden waren. Der Ton entstand durch die Wiederholung des physikalischen Ereignisses. Dagegen war die Qualit\u00e4tsempfindung ganz und gar von der physikalischen Erscheinung abh\u00e4ngig; durch \u00c4nderung der Wellenform mittels der Siebkette wurde die Qualit\u00e4tsempfindung ge\u00e4ndert.\nNun zeigen alle von den obengenannten Forschern ge-* machten Analysen, dafs einzelne harmonische Elemente nie Vorkommen, sondern immer Gruppen benachbarter Elemente. Der Beweis des Satzes ist vollkommen und unantastbar: die hohen Vokalschwingungen sind unharmonisch zu der Grundp eriod e.\nAbbildung 9B\n1 2 3 4-5 6 7 8 9 10 11 12 13 14-15 16 17 18 19 20 Abbildung 9C\nAls Beispiel f\u00fchre ich die Resultate einer mit 20 Ordinaten gemachten Analyse einer Welle aus dem Vokal a in \u201ecalledu (Abb. 9 A) an. Die Amplitudenkarte nach der harmonischen Analyse wird in der Abb. 9B gegeben. Nach der Schwerpunktsberechnung Hermanns sind die Komponenten wie in Abb. 9C. Sie sind s\u00e4mtlich zu der Grundperiode unharmonisch. Eine Grundschwingung ist gar nicht vorhanden.\nZusammenfassend sind folgende S\u00e4tze als bewiesen anzusehen:","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\n205\n1.\tEine Tonempfindung entsteht psychophysisch als das Resultat einer Reihe von regelm\u00e4fsigen Wiederholungen von Luftbewegungen.\n2.\tDie Qualit\u00e4tsempfindung h\u00e4ngt von der Form der Luftbewegungen ab. Eine unregelm\u00e4fsige Luftbewegung erzeugt eine Ger\u00e4uschqualit\u00e4t, eine sinusf\u00f6rmige Luftbewegung erzeugt eine Stimmgabelqualit\u00e4t usw.\n3.\tBei einem Vokal erzeugt die Wiederholung einer Vokalwelle eine Grundtonempfindung. Die Form der Vokalwelle erzeugt die Qualit\u00e4tsempfindung. Die Wiederholung von Eigenschaften innerhalb der Vokalwelle erzeugt die h\u00f6heren Tonempfindungen, welche zur Vokalqualit\u00e4t geh\u00f6ren.\n4.\tDie Qualit\u00e4tsempfindung ist unabh\u00e4ngig von der Grundtonempfindung. Die h\u00f6heren Vokaltonempfindungen haben mit der Grundtonempfindung nichts zu tun.\nNun ist zu fragen, wie der menschliche Organismus die Vokalwellen erzeugt.\nDie Erzeugung einer einzigen Vokalwelle kann auf folgende Weise demonstriert werden.\nWenn man den Daumen aus einem Glaskolben pl\u00f6tzlich herauszieht, wird ein kurzer Ton geh\u00f6rt. Dieser Hohlraumton hat einen Charakter \u2014 Klangfarbe \u2014, welcher von der Kapazit\u00e4t des Hohlraums und von der Form und der Gr\u00f6fse seiner \u00d6ffnung abh\u00e4ngt. Wenn man den Daumen pl\u00f6tzlich aus dem Mund herauszieht, wird ein kurzer Vokal geh\u00f6rt, dessen Charakter von den Kapazit\u00e4ten der Hohlr\u00e4ume im Mund, Pharynx, usw. und aufserdem von den \u00e4ufseren und inneren \u00d6ffnungen abh\u00e4ngt. Ein solches kleines St\u00fcck Vokal liefert eine einzige Wellengruppe, also eine einzige Vokalwelle.\nDer geh\u00f6rte Charakter eines Vokals h\u00e4ngt von der Form der betreffenden Vokalwelle, also von Kapazit\u00e4t und Form dei inneren Hohlr\u00e4ume und von ihren \u00d6ffnungen ab. Zur Erzeugung der Empfindung des Vokalcharakters ist also nur das S\\stem der Hohlr\u00e4ume mit ihren \u00d6ffnungen n\u00f6tig. Ein Stimmton ist nicht n\u00f6tig.\nBequemer als mit dem Daumen l\u00e4fst sich eine Vokalwelle durch einen Glottisluftstofs (coup de glotte) erzeugen. Bei jedem Glottisstofs wfird ein Vokal geh\u00f6rt, dessen Charakter beliebig durch die Mundstellung ge\u00e4ndert werden kann.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nE. W. Scripture\nF\u00fcr die Sprache gen\u00fcgt eine einzige Vokalwelle nicht; der Laut mufs mehr oder minder lang dauern. Statt einer Welle mufs eine ganze Wellenreihe erzeugt werden. Um mehr als eine einzige Welle zu bekommen, mufs der Stofs wiederholt werden. Mit dem Daumen oder mit einem Schlag auf den Backen w\u00e4re dies unbequem. Die einfachste Methode ist eben die Glottisluft-st\u00f6fse rasch zu wiederholen. Der Mechanismus ist da und l\u00e4fst sich bequem handhaben.\nDie Stimmlippen sind Muskelw\u00fclste, welche keine \u00c4hnlichkeit mit schwingenden K\u00f6rpern haben. Wie schon Ewald gezeigt hat, k\u00f6nnen sie durch Luftdruck in der Trachea momentan auseinandergeprefst werden, wobei sie einen pl\u00f6tzlichen Luftstofs in den Pharynx erzeugen, um dann sofort zu schliefsen. Schwingen in dem gew\u00f6hnlichen Sinn tun sie aber nicht. Beim Singen oder Sprechen erzeugt der Kehlkopf eine Reihe von Glottisluftst\u00f6fsen.\nPhysiologisch besteht ein Vokal also aus Hohlraumschwingungen, welche durch Glottisluftst\u00f6fse erzeugt werden. Die Hohlraumschwingungen haben ihre eigenen Frequenzen und Formen und sind unabh\u00e4ngig von den Wiederholungsperioden der Glottisluftst\u00f6fse.\nDie Ergebnisse unserer Betrachtung k\u00f6nnen wie folgt zu-sammengefafst werden.\nDer erste Versuch, die physikalische Natur der Vokale festzustellen, wurde von Willis gemacht. Durch physikalische Versuche bewies er, dafs die Vokalqualit\u00e4t von besonderen Schwingungen herr\u00fchrt und dafs der Vokalton von der Wiederholung stammt, auch dais die Perioden der Vokalschwingungen nichts mit dem Wiederholungsintervall zu tun hat. Seine Versuche gerieten in Vergessenheit. Sechzig Jahre sp\u00e4ter analysierte Hermann die Kurven einer ganzen Anzahl Vokale. Die Resultate ergaben eben dasselbe Resultat: jeder Vokal hat seine Eigent\u00f6ne, welche er unter allen Umst\u00e4nden beh\u00e4lt, solang er dieselbe Qualit\u00e4t besitzt. Jeder Vokal kann auf jeder Tonh\u00f6he gesungen oder gesprochen werden ohne ver\u00e4ndert zu werden. Die Vokalschwingungen sind von dem Stimmton vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngig. Seine Analysen bewiesen, dafs eine Grundschwingung entsprechend dem Stimmton nie vorhanden ist. Der geh\u00f6rte Stimmton ist ein Erzeugnis der Wiederholung :und nicht einer physikalischen Schwingung.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\n207\nUngl\u00fcckseligerweise hat Ohm den Satz aufgestellt, dafs eine Tonempfindnng nur durch eine sinusoidale (stimmgabelartige) Schwingung erzeugt werden kann. Dieser Satz ist vollst\u00e4ndig unwahr. Schon Savaet und Seebeck hatten gezeigt, dafs eine Tonempfindung aus einer Wiederholung getrennter Eindr\u00fccke werde entstehen k\u00f6nnen. Der OHMsche Satz wurde aber allgemein angenommen und f\u00fchrte zu der Obertontheorie der Vokale.\nStatt des OHMschen Satzes w\u00e4re folgender aufzustellen: eine Tonempfindung entspricht einer Wiederholung eines Geh\u00f6rseindrucks.\nJetzt wissen wir, dafs die Vokale physikalisch keine Grundschwingungen besitzen und auch keine Obert\u00f6ne, sondern aus ihren wiederholten Eigentonstrecken bestehen. Weiter ist folgendes festgestellt worden: die Vokale bestehen physiologisch nicht aus Stimmlippenschwingungen mit resonie-renden Hohlr\u00e4umen, sondern aus eigenen, durch Luftst\u00f6lse wiederholt erregten Hohlraumschwingungen.\nTabelle 2\nDie Bestandteile des Vokals\nPsychologisch\nPhysikalisch\nPhysiologisch\n1.\teine Qualit\u00e4ts- oder Klangempfindung F\n2.\teine Stimmtonempfindung S\nF und S sind voneinander unabh\u00e4ngig. Verschiedene Vokale k\u00f6nnen mit demselben Stimmton Vorkommen ; derselbe Vokal kann mit verschiedenen Stimmt\u00f6nen Vorkommen.\n1.\tabklingende Schwingungen mit den Perioden hi, hj, . . .\n2.\tWiederholungen mit dem Intervall T (eine Schwingung mit der Periode T ist nicht vorhanden).\nDie Kurvenanalyse zeigt, dafs h und T nichts miteinander zu tun haben.\n1.\tabklingend Hohlraumschwingungen mit den Perioden hi, hj, . . .\n2.\tGlottisluftst\u00f6fse mit dem Intervall T (Glottisschwingungen sind nicht vorhanden).\nDer S\u00e4nger kann verschiedene Vokale auf einer einzigen Note oder denselben Vokal beliebig hoch oder tief singen.\nDer Vokal besteht psychisch aus zwei Empfindungen: 1. einer Vokalempfindung, welche von den physikalischen Vokalschwingungen abh\u00e4ngig ist, und 2. einer Stimmtonempfindung, welche von dem Wiederholungsintervall abh\u00e4ngt. Die psychologischen, physikalischen und physiologischen Beziehungen sind in nebenstehender Tabelle angedeutet.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208 E- W. Scripture, Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale\nLiteratur\nJ. R. Ewald, Physiologie des Kehlkopfes. Heymanns Handbuch d. Laryngol. u. Rhin., I, 181. Wien 1898.\nT. J. Seebeck, \u00dcber die Erzeugung von T\u00f6nen durch getrennte Eindr\u00fccke. Ann. d. Phys. u. Chem. 63, 368. 1844.\nR. Koenig, \u00dcber den Zusammenklang zweier T\u00f6ne. Ann. d. Phys. u. Chem,. 157, 231. 1876.\nR. Willis, On vowel sounds, and on reed organ pipes. Trans. Carnb. Philos. Soc. 3, 231. 1830.\nF. C. Donders, Zur Klangfarbe der Vokale. Ann. d. Phys. u. Chem. 133, 528. 1864.\nL.\tHermann, \u00dcber das Verhalten der Vokale am neuen Edisonschen Phono-\ngraphen. Arch. f. d. ges. Physiol. 47, 42. 1890; Phonophotographische Untersuchungen, ebenda 47, 44, 347, 1890; 53, 1. 1893; 58, 264. 1894; 61, 169. 1895.\nD.\tC. Miller, The Science of Musical Sounds. New York.\nM.\tH. Lillell, The Physical Characteristics of Speech Sound, Bulletins No. 16\na. 23 of Purdue University, Engineering Dept., Lafayette, Indiana, U. S.A.\nH.\tFletcher, Physical Criterion for Determining Musical Pitch. Physical\nReview, 23, 2. Series. March 1924.\nI.\tB. Crandall und C. F. Sacia, A Dynamical Study of the Vowel Sounds.\nThe Bell System Technical Journal 3, No. 2. 1924.\nF. Trendelenburg, Objektive Klangaufzeichnung mittels des Kondensatormikrophons. Wiss. Ver\u00f6ff. aus dem Siemens-Konzern 3, 43. 1924; 4, 1. 1925.\nE.\tW. Scripture, The Study of Speech Curves. Carnegie Institution Publ.\nNo. 44. Washington 1906.","page":208}],"identifier":"lit36104","issued":"1927","language":"de","pages":"195-208","startpages":"195","title":"Zur Psychophysik und Physiologie der Vokale","type":"Journal Article","volume":"58"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:56:44.986622+00:00"}

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