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{"created":"2022-01-31T13:46:17.923940+00:00","id":"lit36106","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie","contributors":[{"name":"Guttmann, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Sinnesphysiologie 58: 247-262","fulltext":[{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"247\n(Aus dem Physiologischen Institut der Universit\u00e4t Berlin)\nDie Genauigkeit der Intonation beim\nInstrumentalspiel\nVon\nAlfred G\u00fcttmann Mit 4 Abbildungen im Text\nHinsichtlich des Versuchsplanes und der Methodik sei auf die vorhergehende Arbeit, diese Zeitschrift 59, S. 209ff., verwiesen\nI. Versuche mit Streichinstrumenten\nInstrumente mit festen Tonh\u00f6hen bieten f\u00fcr die Intonation h\u00f6chstens insofern ein Interesse, als man an ihnen feststellen kann, wie genau und in welcher Stimmung sie von ge\u00fcbten Musikern gestimmt werden. Jedermann kennt (und f\u00fcrchtet) die Klavierstimmer, die eine sehr bemerkenswerte, aber auf mancherlei Kniffe (Schwebungen u. a.) gest\u00fctzte Technik des Intonierens haben. Auch gilt es als selbstverst\u00e4ndlich, dafs alle Streicher, deren Saiten in Quinten stehen, \u201erein\u201c stimmen. Der exakte Beweis daf\u00fcr ist aber nicht geliefert. Und ich halte es auch f\u00fcr m\u00f6glich, dafs er mifslingt, da ja die temperierte Quint nur minimal von der reinen verschieden ist. Eher k\u00f6nnte ein Instrument, wie die Laute resp. Gitarre, die u. a. die Terz g-h als leere Saiten enth\u00e4lt, hier klare Resultate liefern. Jedenfalls haben meine diesbez\u00fcglichen Versuche, auf die ich nachher komme, eher dagegen gesprochen, als daf\u00fcr. Dafs ein Meister, wie Joachim, nach Helmholtzs Feststellung, sicher rein intonieren konnte (Lehre v. d. Tonempf. S. 525) beweist, wie Helmholtz selber zugibt, noch nichts f\u00fcr die Allgemeinheit der Streicher. Etwas schwieriger ist es f\u00fcr die Bl\u00e4ser, die Tonh\u00f6he zu treffen.\nEs war von gr\u00f6fster Bedeutung, hierf\u00fcr nur hervorragende Virtuosen heranzuziehen, nachdem meine eigenen Violinspiel-","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nAlfred Guttmann\naufnahmen, sowie die einer guten Dilettantin, die mir ebenfalls zur Verf\u00fcgung stand, ziemliche Fehler in der Reinheit des Into-nierens von Intervallen, sehr geringe im Unison ergeben hatten. Dies gelang mir, indem zwei sehr bekannte Streicher, (Mitglieder eines Quartetts, das oft Vierteltonmusik \u00f6ffentlich vorf\u00fchrt), sich mir f\u00fcr mehrere Versuche freundlichst zur Verf\u00fcgung stellten. Beide Herren wurden zur Pr\u00fcfung ihrer U.-E. zun\u00e4chst am Stekn-schen Tonvariator vor die Aufgabe gestellt, erst das Unison, dann eine Halb tondifferenz und danach eine Viertelton differ enz einzustellen, resp. die ihnen durcheinander unwissentlich dargebotenen eigenen Einstellungen zu beurteilen. Schon hierbei ergab sich eine unerwartete Unsicherheit des einen Herren, der z. B. ein Unison einstellte, das langsame, dem Versuchsleiter deutliche Schwebungen zeigte. Damit stimmte \u00fcberein, dafs diese Vp. sich subjektiv unsicher f\u00fchlte und wiederholt die Anwesenden (den Experimentator, den Assistenten und seinen Kollegen) fragte, ob das denn richtig sei. Nach Einstellen eines \u201eVierteltons\u201c gab er nachtr\u00e4glich an, es sei ihm so vorgekommen, wie wenn es ein \u201eDrittelton\u201c sei. Man kann ja aber unterstellen, dafs dies vielleicht zum Teil auf den ungewohnten Klang des Tonvariators zutrifft, um so mehr, als auch die Bl\u00e4ser zuerst geneigt waren, zwei genau schwebungsfrei eingestellte T\u00f6ne f\u00fcr ungleich hoch zu halten, da die beiden Flaschen etwas ungleich scharf klangen. Doch bald hatten sich die Vpn. eingeh\u00f6rt. . Der Versuch, den Geiger den Kammerton auf dem eigenen und auf meinem Instrument einstimmen zu lassen, gelang vollkommen und schwebungsfrei. Somit war es am besten, die Streicher auf ihren gewohnten Instrumenten die Tonh\u00f6hen angeben zu lassen und diese zu photographieren. Hier kann ich nat\u00fcrlich nicht mit so zahlreichen Versuchen auf warten, wie im ersten Teil der Arbeit. Ich mufste vielmehr froh sein, alle 5 Herren mehrfach zu den sehr zeitraubenden Untersuchungen in das entlegene Institut zu bekommen. Der herzlichste Dank geb\u00fchrt ihnen allen. Es sind im ganzen 27 Versuche, die ich als brauchbar erhalten, berechnet und bewertet habe.\nVorher hatte ich nat\u00fcrlich durch zahlreiche eigene und mit einer guten Violinspielerin gewonnene, hier aber nicht ber\u00fccksichtigte Vor-Versuche die Apparatomie soweit ausprobiert, dafs nun alle Instrumentalisten ohne Fehlerquellengefahren und in bequemer Stellung spielen konnten, nachdem sie die auf einem","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\n249\nResonanzkasten stehende und auf einem grofsen (die Resonanz beg\u00fcnstigenden) Holzstativ befestigte Stimmgabel geh\u00f6rt und vom Experimentator ihren \u201eEinsatz\u201c bekommen hatten. Der N.-T. wurde f\u00fcr die Spielenden, da sie vor einem grofsen Holztrichter standen, so gut wie unh\u00f6rbar. Andernfalls h\u00e4tten sie eventuelle Schwebungen h\u00f6ren und danach ihre Tonh\u00f6he zu korrigieren versuchen k\u00f6nnen. Wir betrachten zuerst wieder die U nison- V ersuche.\nVioline :\nPeriode 1:\tStatt\tN.-T.\tvon\t45,5\twird\tgespielt: 46.5\t= +2,2%\n\u201e\t2:\t\u201e\t\u201e\t\u201e\t32\t\u00bb\t\u201e :31\t=^3,2%\n\u201e\t3:\t\u201e\t\u201e\t\u201e\t47\t\u201e\t\u201e : 47\t=\u00b10,0%\n\t\tDurchschnitt 124,5\t124,5 =\t= + 0,0%\n\t\tViolincello. Versuch 1\t\t\nPeriode\t1:\tStatt N.-T. von 50 wird gespielt: 50 \u2014\t\t=b 0,0%\nn\t2:\t^0 55\t\u00bb\t55\t55\t55\t: 49 =\t- 2,0%\n55\t3:\t55\tn\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t: 51 =\t+ 2,0%\n\u00bb\t4:\tFSO 55\t55\t\u00bb\t\u00bb\t\u00bb\t: 50 =\tdb 0,0%\n\t\tDurchschnitt 200\t200 =\tdb 0,0%\n\t\tVersuch 2\t\t\nPeriode 1\tStatt N.-T. von 64 wird gespielt:\t\t61 =\t- 4,9%\n\u201e 2\t\tn\t>5\tr>\tr>\tn\t51\t=\t+ 2 %\n\u00bb\t3\t\t60 55\t55\t\u00bb\t\u00ab\tJ\u2019\t49\u2018/, =\t-1 %\n\u00bb\t4\t\t55\t55\t55\t^\t55\t\u201d\t49 Vs =\t-1 %\nDurchschnitt 214\t211\t= \u20141-4%\nEs zeigt sich also auch bei den beiden Instrumentalisten eine Ungenauigkeit der Intonation, ein Um-den-Ton-Herumspielen, was ganz das gleiche Bild wie bei den S\u00e4ngern ergibt. Aber und dies ist wieder bei der Betrachtung der Resultate das Wich tigste : diese wechselnde Intonationsh\u00f6he zeigt sich erst dann, wenn man die Photogramme in kleine Perioden aufteilt und diese einzeln z\u00e4hlt. Dann erst erkennt man, dafs in den beiden ersten Unison-Resultate von scheinbar gr\u00f6fster Treffsicherheit (0 %), sich aus abwechselnd viel zu hohem und viel zu tiefem Intonieren zusammensetzen. Ebenfalls unseren Singversuchen entsprechend ist das Hinauftreiben des zuerst viel zu tief intonierten Tones im 2. Violoncelloversuch, der in Periode 2 wieder \u00fcber das Ziel hinausschiefst und zu hoch wird, um dann erst in Periode 3 und 4 innerhalb der erlaubten Fehlergrenze zu bleiben. Denn auch hier ist nat\u00fcrlich alles bis zu 1 % als innerhalb der U.-E. des Ohres liegend anzusehen, also \u201enormal\u201c. Kurz gesagt:","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nAlfred Guttmann\nschon diese wenigen Resultate zeigen identische Bilder mit denen der S\u00e4nger. Was also theoretisch vorausgesagt werden konnte, dafs die Intonation nicht besser sein kann, als es der Geh\u00f6rsleistung entspricht, wird hier best\u00e4tigt. Ferner: auch die Intonation der Streicher, die es viel leichter haben, als die S\u00e4nger, um \u201erein\u201c zu intonieren, schwankt innerhalb weiter Grenzen zwischen Distonieren, Richtig-Intonieren und Destonieren. Vermutlich ist der sog. Vibrato-Effekt mitschuldig daran, wobei nicht nur periodische Intensit\u00e4ts-, sondern auch Tonh\u00f6henschwankungen entstehen. Hier aber konnten wir nun noch weitere, f\u00fcr die moderne Entwicklung der Musik bedeutsame Versuche anschliefsen. Wenn sich bisher schon ergab, dafs die Intonation des Unisono innerhalb so weiter Grenzen schwankte, so mufsten spezielle Versuche mit der Aufgabe, m\u00f6glichst kleine Intervalle zu intonieren, erweisen, inwieweit es praktisch gelingt: 1. einen Halbtonschritt zu intonieren, 2. einen Vierteltonschritt zu intonieren \u2014 das neue und kleinste Intervall, in dem man nunmehr versucht, unsere Jahrhunderte alte Tonleiter zu \u201everfeinern\u201c. Gerade hierf\u00fcr war mir die Mitwirkung zweier Musiker, die sich der Propagandierung solcher Musik in der \u00d6ffentlichkeit widmen, sehr wichtig. Konnten doch beide Herren mit Bestimmtheit aussagen und im Experiment beweisen, was sie unter einem Halbton, was unter Vierteltonschritt verstehen und wie sie diese Intervalle intonieren.\nDie orientierenden Halbtonversuche f\u00fcr Geige wurden mit dem N.-T. von 331 Schw. ausgef\u00fchrt. Die chromatische Sekunde dazu ist: 344,8 Schw., die kleine Sekunde: 353 Schw. (es ist anzunehmen, dafs der Musiker nur die letzte intonieren will). Der Geiger spielte nun als Sekunde 352 Schw. Damit ist der kleine Halbton sehr exakt getroffen.\nDie Halbtonversuche f\u00fcr Violoncello wurden mit dem N.-T. von 250 Schw. vorgenommen. Die chromatische Sekunde ist\n260.4\tund die kleine Sekunde ist : 266,4 Schw. Der Cellist spielte :\n264.5\tSchw., w\u00e4hlte also, wie der Geiger, offenbar die kleine Sekunde und erreichte sie fast richtig, wenn auch etwas niedriger, als der Geiger. Beide Resultate sind aber v\u00f6llig innerhalb der als normal zu erkl\u00e4renden Grenzen.\nIndessen ist auch diese einmalige gute Leistung insofern einzuschr\u00e4nken, als Untersuchungen im Beurteilen von dargebotenen Halbt\u00f6nen dem Cellisten doch erhebliche Schwierigkeiten boten. Trotz seines ganz ausgezeichneten Geh\u00f6rs war er","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\n251\nsehr unsicher beim Einstellen des Halbtones am STERNschen Tonvariator und ebenfalls unsicher beim Beurteilen der ihm danach zu Geh\u00f6r gebrachten eigenen Einstellungen. Er konnte nicht von harmonischen Vorstellungen abstrahieren und bat, ihm die beiden T\u00f6ne gleichzeitig zu geben, wobei er den oberen Halbton (der cis war) als Leitton zum d auffafste.\nGerade hierin liegt aber eine andere Klippe f\u00fcr das richtige Intonieren, die Abraham 1 in ihrer ganzen Bedeutung bewiesen hat. Er hat n\u00e4mlich (1. c. S. 14 ff.) gezeigt, dafs gerade die Intonation des Leittons besonders fehlerhaft ausf\u00e4llt. Der diesem Ton folgende melodische Hauptton \u00fcbt eine \u201emagnetische Wirkung auf einen dicht neben ihm liegenden Ton aus\u201c. Und in seiner Tabelle (1. c. S. 4) findet man in den Angaben, wie oft in den Aufnahmen in einer bestimmten Richtung destoniert wird, bei der Stelle mit den Noten: e\u2014e\u2014fis\u2014fis\u2014g (auf den Text: \u201e .... Etsch bis an den Belt\u201c) den zweiten identischen Ton meist zu hoch intoniert : das zweite e wird nur 1 mal zu tief, 2 mal richtig, aber 13mal zu hoch intoniert; das zweite fis wird stets zu hoch aber niemals zu tief oder richtig intoniert. Umgekehrt werden alle Ton Wiederholungen bei sinkender Melodie in \u00fcberwiegender Zahl zu tief gesungen. Hier mischen sich also reinmusikalische Vorstellungen st\u00f6rend ein. Und gerade solche verwenden ja gute Instrumentalisten, wie unser Cellist.\nImmerhin sind die Differenzen, die von diesem hochmusikalischen Streicher am Tonvariator als \u201erichtig\u201c anerkannt worden, sehr interessant. Zeigen sie doch einmal, was f\u00fcr T\u00e4uschungen unter den praktischen Musikern in bezug auf ihre Leistungsf\u00e4higkeit im H\u00f6ren Vorkommen \u2014 und beleuchten sie umgekehrt die Frage, inwieweit die auf Streichinstrumentkl\u00e4nge nicht gut einge\u00fcbten H\u00f6rer (und diese bilden das \u00fcberw\u00e4ltigende Heer der Konzertbesucher, wie des Musikinteressierten \u00fcberhaupt !) dabei so feine Unterschiede, wie Viertelt\u00f6ne, erkennen sollen. Unser Cellist stellte z. B. eine \u201eGleichung\u201c zwischen den beiden T\u00f6nen her, in der beide in der Tat schwebungsfrei \u00fcbereinstimmten. Nun sollte er den Halbton einstellen. Dabei stellte er statt des richtigen Skalenteiles 555 als gr\u00f6fste Abweichung nach unten ein: 541. Seine h\u00f6chste Einstellung des Vierteltones ist aber Skalenteil 539. Zwischen beiden Einstellungen dieser, von ihm als verschiedene Tonstufen aufgefafsten Intervalle liegen also\n1 Vgl. S. 245 dieses Hefts.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nAlfred Guttmann\nnur 3 Skalenteile: d. h. 15 Schw.! Bei Abweichungen von 2 Skalenteilen in dieser Gegend hatten beide Streicher \u00fcberhaupt keinen Unterschied erkannt (auch die anderen Vpn. nicht).1 Unzweideutige Ergebnisse lieferten dann die photographischen Aufnahmen der Intonationen, die unsere Vp. auf ihren gewohnten Instrumenten spielten:\nVioline: Beim N.-T. von 279,5 Schw. ist die chromatische Sekunde: 291,1 Schw., die kleine: 298,1. Der auf die erste bezogene Viertelton ist danach: 285,3 Schw., der zweite 288,8 Schw. Der Violinist intonierte: 281,5 Schw. Hier zeigt sich also ein erhebliches Destonieren, ganz gleichg\u00fcltig, auf welches der beiden Intervalle man diesen \u201eViertelton\u201c bezieht. Im ersten Fall (der nicht anzunehmen ist), w\u00e4re der Fehler des Destonierens : 1,1 %, im zweiten (wahrscheinlichen) Falle w\u00e4re das Destonieren: 2,3 \u00b0/0. Anders ausgedr\u00fcckt: nicht ein Viertelton, sondern ein Zwanzigstelton ist gespielt worden!\nVioloncello: Beim N.-T. von 250 Schw. w\u00e4re die chromatische Sekunde : 260,4 Schw., die kleine Sekunde 266,6 Schw. Demnach der auf die erste bezogene Viertelton: 255,2 Schw., der auf die zweite: 258,3 Schw. Der Cellist hat als Viertelton gespielt: 259,5 Schw. Umgerechnet auf die H\u00e4lfte des chromatischen Halbtons w\u00e4re das ein Distonieren um 4,3%, bezogen auf den kleinen Sekundenschritt: 0,5% zu hoch.\nMan erkennt also, dafs im Treffen des Vierteltones beide Spieler unter sich erheblich differieren. Sie weichen nach oben und unten um Differenzen ab, die so nahe an andere Tonh\u00f6hen als die des intendierten Vierteltones herankommen, dafs man sie auch als andere Intervalle auffassen kann\u2014 oder besser gesagt: dafs es kaum m\u00f6glich ist, sie als Viertelt\u00f6ne aufzufassen!\nDie folgenden Zeichnungen zeigen viel \u00fcbersichtlicher, als alle Zahlen und Erkl\u00e4rungen, wie ungenau alle Intonationen sind. Noch mehr: sie zeigen, innerhalb wie weiter Grenzen \u00fcber den Viertelton hinaus intoniert wird, wenn man Halbt\u00f6ne oder Viertelt\u00f6ne intonieren will.\nAuf der Abszissenachse sind die Schw.-Zahlen in gleichen Abst\u00e4nden auf getragen. Oberhalb sind der Grundton (N.-T.), die\n1 Die gleichen Versuche mit dem Geiger vorzunehmen war leider wegen seiner vielen Konzertreisen und umfangreichen amtlichen Lehrt\u00e4tigkeit unm\u00f6glich.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\n253\nkleine Sekunde und der zugeh\u00f6rige Viertelton eingetragen, unterhalb noch die chromatische Sekunde und der ihr zugeh\u00f6rende Viertelton. Mit dem grofsen Strich mit Kreuzen, der oberhalb und unterhalb die Tonlage des wirklich gespielt en \u201eVierteltones\u201c angibt, hat man eine optische Vorstellung, wo dieser V.-T. liegt.\nAbbildung 1\nZeichnung I. Intonationen von Violine und Violoncello\nWenn man annimmt, dafs beabsichtigt war, die kleine Sekunde in zwei gleiche Teile zu teilen, so sind die Abweichungen zwischen den beiden (miteinander sonst v\u00f6llig eingespielten) Streichern aufserordentlich grofs. Der Cellist hat ein etwas gr\u00f6fseres Intervall, als den wirklichen Viertelton intoniert, der Violinist dagegen hat nur 1/20-Ton \u00fcber dem Grundton gespielt, ihm fehlen also noch. 4/5 zu der erstrebten Tonh\u00f6he des wirklichen Vierteltones!\nW\u00fcrde man die chromatische Sekunde als die zu halbierende ansehen, so w\u00fcrde der Cellist den gleichen Betrag \u00fcber den Viertelton zu hoch, wie er hier zu tief intoniert hatte, gespielt haben. Der Fehler des Violinisten hingegen w\u00fcrde sich wesentlich reduzieren.\nWenn die beiden Streicher nun zur gleichen Zeit diesen Halbton gespielt h\u00e4tten, so w\u00e4ren starke Schwingungen rollender Art h\u00f6rbar geworden. Und nun stelle man sich vor, dafs noch","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nAlfred Guttmann\nzwei weitere Mitglieder des Quartetts (die 2. Violine und die Bratsche) ebenfalls zugleich denselben 74-Ton intonierten, und im gleichen Sinne Abweichungen produzieren w\u00fcrden. Soll man in einem solchen Falle vom H\u00f6rer erwarten k\u00f6nnen, dafs er aus diesem Wirrwarr von Schwingungen, das den v\u00f6lligen Eindruck eines Tremolos machen w\u00fcrde, die Vorstellung einer Tonh\u00f6he gewinnen soll?! Allen diesen Intervallen ist also nur das eine gemeinsam: dafs sie gr\u00f6fser als ein Unisono, kleiner als ein Halbton sind. Aber ob man 74-Ton oder 1l10-Ton spielt, liegt nicht mehr im Bereich der Ausf\u00fchrungsm\u00f6glichkeit der Spielenden.\nUnsere, aus den Gesangsversuchen abgeleitete theoretische Annahme, dafs es bei den so aufserordentlich geringen Tonh\u00f6henunterschieden von Viertelton einerseits und (chrom. resp.) kleiner Sekunde andererseits nicht m\u00f6glich sein kann, bei unserer immerhin beschr\u00e4nkten U.-E. in dem in Betracht kommenden Tongebiet und mit unserem unvollkommenen Nervenmuskelapparat diese feinen Unterschiede zu treffen, best\u00e4tigt sich also auch hier. Selber ausgesuchte, hervorragend geeignete Musiker und Virtuosen, die sich dauernd auf diese Intervalle einge\u00fcbt haben, versagen. Wie verheerend mufs also Vierteltons-Musik gar in einem grofsen Orchester von Streichern wirken !\nIch komme, um an einem Beispiel die Parallele zu zeigen, noch einmal auf unsere Gesangs versuche zur\u00fcck. Wenn man die extremen F\u00e4lle von Distonieren (z. B. auf einem h) und Des-tonieren (auf dem dar\u00fcber liegenden c) berechnet, die bei einer und derselben Vp. vorgekommen sind, so findet man ganz identische Verh\u00e4ltnisse \u2014 obwohl die Aufgabe, absichtlich einen Viertelton zu treffen, nicht direkt gestellt war. Ich gebe zuerst eine \u00dcbersichtstabelle \u00fcber die gr\u00f6fsten Abweichungen der Intonationen beim Singen von Unisono (in \u00b0/0).\nVp. 1 Vp. 2 Vp. 3 Vp. 4 Vp. 5 Vp. 6 Zu hoch:\t2,8\t4,4\t2,5\t1,0'\t1,2\t1,7\nZu tief:\t2,9\t2,6\t3,1\t3,5\t4,1\t\u2014\nBetrachten wir zun\u00e4chst Vp. 3 und rechnen wir alles auf Tonh\u00f6hen um, so wird die Tonh\u00f6he h statt mit 247 Schw. intoniert mit 253 Schw. Die Tonh\u00f6he c statt mit 261,6 Schw. wird intoniert mit 253,5 Schw. Es ist also das von Vp. 3 am meisten distonierte h genau so hoch, wie sein am meisten destoniertes c!\nNoch krasser wird die Unsicherheit des Vierteltones sichtbar,","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\n255\nwenn man die gr\u00f6fsten \u00fcberhaupt vorkommenden Fehler des Detonierens zusammenstellt.\nVp. 2 distoniert das h mit 257,9 Schw.\n\u201e 4 destoniert \u201e c \u201e 252,5\t\u201e\nDas \u2018heifst: das h\u00f6chste h vonVp. 2 ist h\u00f6her \u2014 und zwar um reichlich 2 \u00b0/0 h\u00f6her \u2014 a ls das tiefste c von Vp. 4! Soll man da an die M\u00f6glichkeit glauben, dafs ein S\u00e4nger nun den sogenannten Viertelton, der hier 254,3 Schw. betragen w\u00fcrde, treffen kann?\nV.T.:h\nV.T : c\nAbbildung 2 Streuungsbereich\nZeichnen wir nach dem gleichen Prinzip und ebenfalls mafs-st\u00e4blich auf dieser Achse der Schw.-Zahlen die Stellen ein, wo z. B. die T\u00f6ne h und c liegen und tragen wir (oberhalb der Achse) die h\u00f6chste Intonation von h und die tiefste von c von der gleichen Vp. ein, so ber\u00fchren sich diese Grenzen fast. Wenn wir aber (unterhalb der Achse) die \u00fcberhaupt h\u00f6chste Intonation (Vp. 2) und die \u00fcberhaupt tiefste Intonation (Vp. 4) eintragen, so \u00fcber* schneiden sich sogar diese beiden T\u00f6ne zum Teil, da das c des einen tiefer ist, als das h des anderen 1 Der Viertelton liegt mitten drin.\nN.T.:b N.T.:h\tNJ.:c\t/VJ.cis\nAbbildung 3 Streuungsbereich\nUnsere Abbildung 3 zeigt, wie weit innerhalb der chromatischen Tonleiter in dieser Tongegend die gesungenen Tonh\u00f6hen streuen, d. h. : was alles als b, h, c oder cis produziert wird ! (Die Grundlage hierf\u00fcr gibt die auf 5 \u00b0/o abgerundete Be-","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nAlfred Guttmann\nrechnung der Gesamtabweichungen aller 5 Vpn., aus obiger Tabelle.) Ich erinnere daran, dafs es sich hier um hochmusikalische, sehr sicher ausgebildete S\u00e4nger handelt.\nWenn man nun erw\u00e4gt, dafs moderne Komponisten Chorst\u00fccke schreiben, die Vierteltonunterschiede verlangen, \u2018so kann man ermessen, welche F\u00fclle von verschiedenen Tonh\u00f6hen da konkurrieren, wenn unge\u00fcbte Chors\u00e4nger mit den allerverschiedensten Vorstellungen von der Gr\u00f6fse des \u201eVierteltones\u201c gemeinsam singen, wobei sie solche Differenzen produzieren, wie sie sich hier zeigen. Gerade darum ist es wichtig, dafs unter meinen Vpn. so verschiedene S\u00e4ngertypen waren und dafs die Kunsts\u00e4nger sich dem Naturs\u00e4nger \u00fcberlegen gezeigt haben. In der Musikpraxis ist das ja im allgemeinen ebenso. Demnach mufs man den Versuch eines Chorsingens in Vierteltonmusik als Phantasieprodukt oder Mystifikation bezeichnen. Nur die Kritiklosigkeit und Suggestionsf\u00e4higkeit des Publikums gibt den \u201eViertel-ton-Chor-Komponisten\u201c recht. Ich habe, als ich zum erstenmal diese Chormusik h\u00f6rte (ohne vorher zu wissen, dafs Viertelt\u00f6ne gesungen werden sollten) ein geradezu peinigendes Gef\u00fchl des Unreinsingens dieses Chors gehabt. Und die Berechtigung dieses Gef\u00fchls wird durch diese Versuchsergebnisse nachtr\u00e4glich restlos best\u00e4tigt.\nII. Versuche mit Blasinstrumenten\nDer zweite Teil meiner Instrumentalversuche galt der Feststellung der Intonationen durch Bl\u00e4ser. Hier standen mir freund-lichst die besten Berliner Virtuosen zur Verf\u00fcgung, erste Vertreter der Instrumente an der Staatsoper und zugleich seit vielen Jahren Fachlehrer und Professoren an der Staatl. Hochschule f\u00fcr Musik. Alle drei, der Hornist, der Oboist und der Posaunist sind wegen ihres guten Geh\u00f6rs ber\u00fchmt (man kann auch sagen: \u201egef\u00fcrchtet\u201c \u2014 da sie die geringsten Fehler aus dem Gesamtklang im Orchester heraush\u00f6ren !). Auch bei ihnen wurde zuerst eine \u201eGeh\u00f6rspr\u00fcfung\u201c vorgenommen, weniger um sie zu \u201epr\u00fcfen\u201c, als um sie einzustellen auf die doch in manchem abweichende Art des Blasens mit Unterst\u00fctzung einer so ungewohnten Tonquelle, wie es die Stimmgabel ist. Die drei Herren h\u00f6rten sich sehr schnell ein und waren durch ihr lebhaftes Interesse f\u00fcr den Gegenstand der Experimente, sowie die zahlreichen Erl\u00e4uterungen, die sie mir \u00fcber die Feinheiten der Technik ihrer Instrumente m\u00fcndlich und","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim lnstrumentalspiel\n257\ndurch wiederholtes Vorspielen gaben, h\u00f6chst wichtige und mafs-gebliche Vpn. Die Aufgabe, Viertelt\u00f6ne zu blasen, wiesen sie als unl\u00f6sbar zur\u00fcck: erstens sei es ihnen reinmusikalisch nicht m\u00f6glich, den Viertelton sich so genau vorzustellen, zweitens l\u00e4ge es im Wesen der Blasinstrumente, dafs man nicht so genau intonieren k\u00f6nne, um derartige Feinheiten zu erreichen. Bekanntlich gibt die Oboe vor Beginn jedes Konzertes den Kammerton an, nach dem das Gesamtorchester einstimmt. Schon hierbei mufs der gute Oboist ber\u00fccksichtigen, dafs bei zunehmender W\u00e4rme die verschiedenen Blasinstrumente sich \u2014 entgegengesetzt zu den Streichern \u2014 verstimmen: die Oboe wird dabei allm\u00e4hlich h\u00f6her, das Horn gleichfalls, besonders bei langem Forte-Blasen; dagegen werden die Saiteninstrumente ausnahmslos tiefer; auch die Orgel verstimmt sich. Ferner: der gleiche Ton kann auf diesen Blas-Instrumenten durch die Art des Ansatzes in erheblichem Mafse verschieden intoniert werden.\nVon allen drei Instrumentalisten machte ich daraufhin am Tonvariator \u201eGleichungen\u201c zu ihren extremen Abweichungen beim normalen Intonieren eines einzigen Tones. Bei dem Oboisten auf den Tonh\u00f6hen a und d, beim Hornisten auf Es und F, beim Posaunisten auf C. Die st\u00e4rksten Abweichungen waren schon mit dem Ohre als etwa ^-Ton-Differenzen zu erkennen. Die Ausz\u00e4hlung und Berechnung der am Tonvariator gewonnenen Einstellungen ergab, dafs diese Grenzf\u00e4lle der (normalerweise technisch m\u00f6glichen) Intonationen weit \u00fcber die U.-E. unseres Ohres gingen, und hier bis zu 2\u20143 \u00b0/0 betrugen.1\nSchon diese Beispiele zeigen, wie unwesentlich im Grunde alle mathematisch-musikalischen Tonh\u00f6henbestimmungen in der praktischen Musik sind. Sie beweisen, wieviel der Theoretiker vom gr\u00fcnen Tisch her aus Voraussetzungen ableitet, die in der Wirklichkeit nicht Vorkommen. Hier klafft ein Abgrund zwischen der \u201eMusiktheorie\u201c und der \u201eMusikpraxis\u201c. Meine Musiker z. B.\n1 Diese Virtuosen ihres Instrumentes konnten in sehr lehrreicher Weise demonstrieren, wie technische M\u00e4ngel eines Bl\u00e4sers oder Nervosit\u00e4t (\u201eLampenfieber\u201c) diese Intonationen beeinflussen k\u00f6nnen. Sie bliesen uns Stellen aus Ouvert\u00fcren, Konzerten usw. mehrfach vor, die wegen ihrer Knifflichkeit gef\u00fcrchtet sind. Und konnten uns ad aures demonstrieren, wie die gleichen Passagen, vor allem chromatische (d. h. Halbtonstufen) in praxi ungenau intoniert werden \u2014 ohne dafs der naive H\u00f6rer das\nbemerkt !\nZeitschr. f. Sinnesphysiol. 58.\n18","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nAlfred G-uttmann\nwaren sehr verwundert, als sie mit eigenen Ohren bemerkten, wie \u201efalsch\u201c sie bliesen. Als der Hornist nach dem Stimmgabelton erst probeweise allein blies, h\u00f6rte der Oboist sehr aufmerksam zu und fand die Tonh\u00f6he sehr gut. Aber als nun zugleich die Stimmgabel erklang, die der Hornist neben seinem runden, vollen Hornton nicht h\u00f6rte, vernahmen wir weiter Abstehenden deutlich im Raume die starken Schwebungen. Und der neben mir stehende Oboist sah mich, \u00fcberrascht durch die Unreinheit des Horntones an. Nachher machte er selber es nat\u00fcrlich ebenso. \u2014 Ich gebe nun die Resultate der Unison-Versuche. Ich begn\u00fcgte mich mit solchen, da sie ja nach dem, was wir gesehen haben, vollkommen gen\u00fcgen, um unsere Frage zu beurteilen. Versuche mit Intervallen w\u00fcrde ja \u2014 hier\u00fcber kann kein Zweifel sein \u2014 noch gr\u00f6fsere Abweichungen ergeben.\nOboe\tHorn\nN.-T. : 37,5 V.-T. : 38\t40 41\t47 47\t49\tN.-T. : 39 49\tV.-T. : 40\t45 43,7\t49 50\nAbweichung: +1,3%\t+2,4% |\t0% !\t0%\t+2,5%: -2,3%\t\t+2%,\nPosaune\tMittlerer Fehler:\nN.-T.: 74 V.-T.: 76\t58 59\t57 57\t50 51\t61\tOboe: +0,7% 61\tHorn: +0,8%\nAbweichung: +2,6%\t+1,7%\t0%\t+2%\t0% Posaune: +1,7%\nHorn\n(+0,8%)\nPosaune\nVioline\nAbbildung 4\nAuch diese Resultate stimmen vollkommen mit den anderen^ bei S\u00e4ngern gewonnenen \u00fcberein. Es er\u00fcbrigt sich nun wohl eine genauere Besprechung, da alle Einzelheiten, zumal das Gegens\u00e4tzliche der Einzelperioden und die Besserstellung des","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\n259\nmittleren Fehlers nsw. den fr\u00fcher besprochenen Einzelheiten gleichen. Die obige graphische Darstellung zeige diese Schwankungen (siehe Seite 258).\nBesonders lehrreich sind die beiden Aufnahmen des Cellisten ; sie weichen in der Art des Wechselns von Distonieren und Desto-nieren diametral ab \u2014 und das Gesamtresultat ist doch wenig verschieden trotz der entgegengesetzten Intonationstypen.\nZusammenfassung und theoretische Deutung\nUnsere messenden Versuche haben mit Sicherheit ergeben, dafs alle Intonationen beim Singen und beim Spielen auf Streich-und Blasinstrumenten nicht im entferntesten von der Genauigkeit sind, wie man bisher annahm. Dieses gilt sowohl f\u00fcr das Unisono, als auch in viel h\u00f6herem Mafse f\u00fcr Intervallintonationen. Innerhalb des Umfanges der M\u00e4nnerstimme (etwa 2% Oktaven) sowie des Umfangs der entsprechenden Instrumente sind Abweichungen bis zu 1,5\u00b0/0 als richtige Intonationen zu bezeichnen, ln der dar\u00fcberliegenden Region, Umfang der Frauenstimme und entsprechender Umfang der Instrumente, sind alle innerhalb von 1 \u00b0/0 liegenden Abweichungen als richtig anzusehen. \u2014 W\u00e4hrend einer nur wenige Sekunden umfassenden Tongebung wechselt sowohl in der menschlichen Stimme als auch bei allen Instrumenten dauernd die Tonh\u00f6he in un\u00fcbersehbaren Varianten, \u00f6fters um mehrere Prozente. \u2014 Dies gilt sowohl f\u00fcr den einfachen Laboratoriumsversuch, als auch f\u00fcr das Musizieren in den gebr\u00e4uchlichen Intervallen. \u2014 In den tiefsten Regionen der Instrumente werden noch weit gr\u00f6fsere Abweichungen, die sogar bis zu Quartunterschieden gehen, kaum bemerkt, geschweige denn als \u201eunrein\u201c empfunden. \u2014 Die Frage, ob man temperiert oder rein singt oder spielt, hat ausschliefslich akademische Bedeutung; f\u00fcr die praktische Musik ist sie v\u00f6llig bedeutungslos. \u2014 Eine Vierteltonsmusik ist nur auf fest abgestimmten Instrumenten (wie dem Klavier) m\u00f6glich, und auch hier nur f\u00fcr die beiden oberen Drittel des Klavierumfanges; sie ist aber weder f\u00fcr S\u00e4nger, noch f\u00fcr Instrumente ohne feste Abstimmung ausf\u00fchrbar.\nWenn sich Musiker und Musiktheoretiker hierf\u00fcr einsetzen,\nso ist dies nur damit zu erkl\u00e4ren, dafs sie keine Kenntnis von\nder aufserordentlich geringen Unterschiedsempfindlichkeit unseres\nOhres f\u00fcr gleichzeitige T\u00f6ne haben, die Sch\u00e4fee und Verfasser\nbereits vor 23 Jahren experimentell erwiesen hatten. Auch machen\n18*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nAlfred Guttmann\nsie sich \u00fcber die physiologische Leistungsf\u00e4higkeit des Stimmapparates Illussionen.\nDie theoretisch bedeutungsvollste Frage ist diese: wie kommt es, dafs trotz solch grofser Detonierfehler seitens besonders ge\u00fcbter und erfahrener Musiker \u2014 im Singen, Spielen und Blasen \u2014 alle H\u00f6rer doch durchaus im klaren sind, welche Tonh\u00f6hen mit diesem Um-den-Ton-herum-Musizieren gemeint sind?\nHierf\u00fcr gibt uns die oft genannte geringe U.-E. beim H\u00f6ren von gleichzeitigen Tonh\u00f6hen eine Erkl\u00e4rung. Eine zweite liefert uns die musikgeschichtliche Betrachtung: seit mehreren Jahrhunderten musiziert ganz Europa, soweit es als musiktreibender Faktor vorhanden ist, in harmonischer Form. Diese Form beruht auf der reinen, mathematischen (resp. der von ihr kaum abweichenden temperierten) Stimmung. So sind alle Musizierenden des europ\u00e4ischen Kulturkreises daran gew\u00f6hnt, innerhalb jeder melodischen Tonfolge (d. h. zeitlich aufeinanderfolgender T\u00f6ne) zugleich eine simultane Harmonie sich vorzustellen. Wenn also eine Melodie gesungen wird, die c\u2014e\u2014 g lautet, so mag man ruhig das e etwas zu tief nehmen \u2014 der H\u00f6rer erg\u00e4nzt eben den C-dur-Dreiklang und fafst es als e auf. Erst wenn es so stark destoniert w\u00fcrde, dafs man es nicht mehr als e auf fassen kann, so deutet man es zwangsl\u00e4ufig als es, unterlegt also die harmonische Vorstellung des C-moll-Dreiklanges. Niemals wird ein H\u00f6rer, der nicht die Musik der Exoten genauer kennt, darauf kommen, dies etwa als eine beabsichtigte neutrale Terz aufzufassen. Es gibt also hier eine richtige \u201eUmschlagstelle\u201c. In diesem Sinne wird der Viertelton vom naiven H\u00f6rer umgedeutet und als \u201eHalbton\u201c (oder als \u201eunrein\u201c) aufgefafst. In der Tat aber sind bekanntlich Intonationen, die von unserer Tonleiter abweichen, bei ostasiatischer und anderer Musik vollkommen \u00fcblich, so die gleichschwebende 5 stufige Leiter der Javaner, oder die 7 stufige, gleichgrofse Intervalle auf weisende Leiter der Siamesen. In solchen, auf nicht-harmonischer Unterlage konstruierten Leitern ist nat\u00fcrlich ein Musizieren auf anderen relativen Tonh\u00f6hen als den europ\u00e4ischen m\u00f6glich.1 Wir\n1 Nur die mit den Skalen der Exoten etwas mehr vertrauten Theoretiker kommen zu solchen Auffassungen, wenn derartige Abweichungen oft und regelm\u00e4fsig Vorkommen, wie z. B. bei den noch heute in norwegischen Waldt\u00e4lern gespielten \u201eLangleiken\u201c, uralten, monochordartigen Instrumenten mit fester Einteilung, in der z. B. in C-dur das f zu hoch, aber tiefer als fis, das h zu tief, aber h\u00f6her als b ist.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\n261\naber m\u00fcfsten erst das aufgeben, was man musikwissenschaftlich als einen in Jahrhunderten errungenen kulturellen Fortschritt von allergr\u00f6fster Bedeutung ansieht, das Harmoniegef\u00fchl, wenn wir wieder zur primitiveren Gestaltung einer nichtharmonischen Melodie zur\u00fcckkehren und in anderen Intervallen, als den harmonischen musizieren wollen. Ich mufs mich hier mit diesen kurzen Andeutungen begn\u00fcgen und verweise auf die grundlegenden Arbeiten von Stumpf, von Hornbostel, Abraham usw., (deren Literatur sich in Stumpfs \u201eAnf\u00e4nge der Musik\u201c verzeichnet findet). Der Widerstreit zwischen der \u201evertikalen\u201c, d. h. simultanharmonischen Gestaltung der Musik und dem \u201ehorizontalen\u201c, d. h. rein melodischen Aufbau ist fundamental.1 2 3 Wissenschaftlich besteht kein Anlafs, ein Werturteil abzugeben, ob das eine oder andere bessere Musik sei \u2014 aber ebensowenig besteht em Zweifel, dafs die eine Art die andere zugleich ausschliefst.\nInwieweit man sich auf kleine und ungew\u00f6hnliche Intervalle \u201eeinh\u00f6ren\u201c kann, erweisen die Untersuchungen von Abraham und von Hornbostel 2 bei denen ich (vor mehr als 20 Jahren) eine der Vp. war. Inwieweit man sein Geh\u00f6r \u201everstimmen\u201c kann, konnte ich dabei erleben, als ich eine mir gelegentlich zwischen zahlreichen \u201emikroskopischen\u201c Intervallen dargebotene reine Quint mit: \u201eUnm\u00f6glich! \u00a7 175!\u201c zur\u00fcckwies. Auch die interessanten sp\u00e4teren Versuche von Werner (aus dem Hambg. Inst, von Stern 8) best\u00e4tigen die Tatsache, dafs man sich an minimale Tonh\u00f6henunterschiede gew\u00f6hnt. Indessen kommen diese Laboratoriumsversuche nur f\u00fcr psychologische Fragen in Betracht, haben aber weder im Sinnesphysiologischen (Schwellen usw.) Konsequenzen, noch sollen (und wollen) sie mit Musik als Kunst etwas\nzu tun haben.\nDemnach kann man nur in Halbt\u00f6nen, die sich unserem har-\n1\tDie grofsen Meister der Bl\u00fctezeit des a-cappella-Gesanges allerdings haben es verstanden, streng linear so zu schreiben, dafs die gleichzeitigen Zusammenkl\u00e4nge der selbst\u00e4ndig gef\u00fchrten Stimmen trotzdem zu schonen und originellen Harmonien Zusammentreffen. Die (in dem \u00f6ffentlichen Musikgetriebe leider fast unbekannten) Madrigale aus der Zeit um 160 stehen, bei gleichzeitiger Polyphonie, an harmonischem Reichtum und Originalit\u00e4t nicht im geringsten gegen die grofsen Meister moderner harmonischer Musik, Liszt, Wagner, Wolf, Strauss zur\u00fcck.\n2\tO. Abraham und E. von Hornbostel, Psychologie der Tondistanz. Zeit-\nsehr. f. Psychol. 98, (1925).\n3\tH. Werner, Studien \u00fcber Strukturgesetze. Zeitschr. f\u00fcr Psychol. 98, (1925).","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262 Alfred Gruttmann, Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel\nmonischen System einf\u00fcgen, musizieren, da diese die engsten Stufen sind, die man infolge der harmonischen Gew\u00f6hnung unterscheiden und technisch darstellen kann. Dafs in den tiefen Oktaven (dem grofsen Tongebiet, das unterhalb der grofsen Oktave liegt und in aller mehrstimmigen Musik dauernd angewendet werden mufs) selbst der Halbton bei gleichzeitigem Erklingen anderer T\u00f6ne schon unterhalb der Empfindungsschwelle liegt, ist ja besonders charakteristisch f\u00fcr dies gutwillige Heraush\u00f6ren einer vorgestellten Harmonie. Zahlreiche Musikeranekdoten illustrieren dies, die alle darauf hinauslaufen, dafs es bei den tiefsten T\u00f6nen im Grunde gleichg\u00fcltig ist, ob man da das Kontra-E oder Es oder F spielt \u2014 der H\u00f6rer, auch der ge\u00fcbteste Kapellmeister, kann es doch nicht unterscheiden ! Die Empirie des erfahrenen Musikers hat sich also hier schon fr\u00fcher eine richtigere Vorstellung gemacht, als die Musiktheorie.\nSomit bleibt nur ein ganz beschr\u00e4nktes Gebiet von T\u00f6nen und Instrumenten f\u00fcr eine Musik dieser neuesten Art \u00fcbrig. Wir d\u00fcrfen also hoffen, dafs die seit dreieinhalb Jahrhunderten geltenden harmonischen S}^steme, in der die Musik der grofsen Meister von Palesteina und Monteverdi bis zu der heutigen lebenden Generation, die in Wagners Spuren wandelt, geschaffen ist, nicht durch eine neue Unterteilung der Tonschritte in kleinere als Halbtonstufen zerst\u00f6rt werden.","page":262}],"identifier":"lit36106","issued":"1927","language":"de","pages":"247-262","startpages":"247","title":"Die Genauigkeit der Intonation beim Instrumentalspiel","type":"Journal Article","volume":"58"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:46:17.923946+00:00"}