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{"created":"2022-01-31T16:42:53.701234+00:00","id":"lit36194","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Lipps, Th.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 12: 39-59","fulltext":[{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n(Vorl\u00e4ufige Mitteilung.)\nVon\nTh. Lipps.\nIch bin im Begriffe, in einer eigenen Schrift : ^\u00c4sthetischer Eindruck und optische T\u00e4uschungdie geometrisch\u201coptischen T\u00e4uschungen systematisch darzustellen und aus dem Prinzip, das mir f\u00fcr dieselben einzig in Betracht zu kommen scheint, abzuleiten. Es scheint mir nicht unzweckm\u00e4fsig, wenn ich hier, als \u201evorl\u00e4ufige Mitteilung\u201c, die Haupts\u00e4tze meiner Theorie, ohne ausgef\u00fchrtere Begr\u00fcndung ;und ohne Bezeichnung der Honsequenzen, die daraus im einzelnen sich ergeben, in m\u00f6glichster K\u00fcrze zusammenstelle.\nI. Allgemeines.\n1. Vergleichst\u00e4uschungen. Wahrgenommene Baum-formen vergleichen heifst: die eine in der Vorstellung auf die andere \u00fcbertragen und an ihr messen. Angenommen, es ist mit der Wahrnehmung der einen Baumform eine Vorstellung, deren VoUzug eine Ver\u00e4nderung dieser Raumform in sich schliefst, gen\u00fcgend eng verkn\u00fcpft, so kann dadurch zwar nicht das Wahrnehmungsbild, wohl aber das auf die zweite Raumform\u00fcbertragene Vorstellungsbild oder unmittelbare Erinnerungsnachbild derselben die fragliche Ver\u00e4nderung thats\u00e4chlich erleiden. Wir messen dann in Wahrheit nicht mehr die erste Raumform, sondern das durch diese Neben vor Stellung oder diesen \u201eassoziativen Faktor\u201c modifizierte Vorstellungsbild derselben an der zweiten Raumform. . Daraus ergiebt sich eine","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nTh. Lipps.\nentsprechende Ablenkung des Ergebnisses der Vergleichung. \u2014 Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen sind solche Ablenkungen von Vergleichsergebnissen. Sie sind Urt eilst aus chungen in diesem besonderen Sinne.\nAnmerkung: Unter Vorstellungen verstehe ick hier, wie \u00fcberall, nur die reproduktiven Bewufstseinsinhalte.\n2.\tMechanisch-optische T\u00e4uschungen. Alle Raumformen und alle Elemente von solchen scheinen unserer alles belebenden Phantasie nicht nur dazusein, sondern im Dasein sich zu behaupten, oder verm\u00f6ge einer ihnen eigenen Th\u00e4tig-keit als das, was sie sind, in jedem Moment von neuem zu entstehen oder sich zu erzeugen. Es scheinen also in den Raumformen r\u00e4umliche oder mechanische Kr\u00e4fte wirksam. Die Punktion dieser Kr\u00e4fte ist nicht Ver\u00e4nderung der Form, sondern Pesthaltung derselben, also Widerstand oder Widerstreben gegen eine Ver\u00e4nderung, die stattfinden w\u00fcrde, wenn die Kr\u00e4fte nicht w\u00e4ren oder unwirksam blieben. Die \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c ist danach Streben, Tendenz, Bem\u00fchung. \u2014 Die geometrischoptischen T\u00e4uschungen beruhen auf der Vorstellung solcher Mechanischen Th\u00e4tigkeiten oder Tendenzen. Sie k\u00f6nnen insofern auch mechanisch-optische T\u00e4uschungen heifsen.\nAnmerkung: Raumformen behaupten sich im Dasein oder erzeugen sich in jedem Augenblick von neuem in dem Sinne, in dem ich in meiner aufrechten Stellung mich behaupte, oder dieselbe in jedem Augenblicke von neuem erzeuge. Das Aufrechtstehen ist ein best\u00e4ndiges Sichaufrichten gegen die Schwere. Unterlasse ich es einen Moment, diese Th\u00e4tigkeit zu \u00fcben, so sinke ich zusammen.\nWie ich, so richtet sich zun\u00e4chst jedes aufrechte materielle Gebilde, z. B. eine S\u00e4ule, auf. Das Gleiche gilt dann auch von jeder aufrechten stofflosen Form.\n\u2022 \u2022 ________________________________________\n3.\t\u00c4sthetisch-optische T\u00e4uschungen. Wie alle\nKr\u00e4fte, Tendenzen, Th\u00e4tigkeiten, so sind auch diejenigen, die wir in die geometrischen Formen hineinlegen, Abbilder oder Analogien der Kr\u00e4fte, Tendenzen, Th\u00e4tigkeiten, die wir in uns erleben. Die \u201ealles belebende Phantasie\u201c (2) erf\u00fcllt alles mit unserem Leben. Dieser Belebung verdanken die geometrischen Formen ihren \u00e4sthetischen Wert, Jene belebende Phantasie ist also \u00e4sthetische Phantasie. Insofern die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen auf der gleichen Th\u00e4tigkeit eben dieser \u00e4sthetischen Phantasie beruhen, k\u00f6nnen sie auch \u00e4sthetisch-optische T\u00e4uschungen heifsen. \u2014- \u00c4sthetischer und optischer \u201eEindruck\u201c","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n41\n\u00abt\ngehen \u00fcberall bei geometrischen Gebilden unmittelbar und aufzeigbar Hand in Hand,\n4.\tEinheit. Wie \u00fcberhaupt* so suchen wir auch auf dem Gebiete der r\u00e4umlichen Form zumal gegebene Elemente als Einheit zu fassen. Sofern alles r\u00e4umliche Dasein f\u00fcr uns ein Werden oder sich Erzeugen ist, stellt diese Einheit notwendig als einheitliches Werden sich dar* d< h. als ein Werden aus einer einheitlichen Kraft oder einem einheitlichen Ineinander von Kr\u00e4ften.\nUnter dem \u201eIneinander von Kr\u00e4ften\" ist Mer lediglich das Dasein und Wirken von Kr\u00e4ften an einem und demselben Ort verstanden; sei es, dafs die Kr\u00e4fte gemeinsam auf einen Punkt wirken und demnach in ihren Wirkungen zur linearen ^R\u00e9sultante sich vereinigen, sei es, dafs sie, ohne sich r\u00e4umlich zu trennen, ihre selbst\u00e4ndigen Wirkungen vollbringen und damit die Linie zur Fl\u00e4che dehnen. \u2014 Der dreidimensionale K\u00f6rper bleibt, da er der Fl\u00e4che gegen\u00fcber prinzipiell nichts Neues bietet, hier wie im folgenden aufser Betracht.\n5.\tQualitative und quantitative Einheit. Die Einheit, von der hier die Hede ist, kann doppelter Art sein; n\u00e4mlich einmal qualitative, zugleich notwendig quantitativ differenzierte Einheit, zum anderen quantitative Einheit. Jene erstere Einheit ist gegeben, wenn eine einheitliche Kraft oder ein einheitliches Ineinander von Kr\u00e4ften sich vervielf\u00e4ltigt und mehrmals nebeneinander gleichartige Bildungen hervorbringt: so in der S\u00e4ulenreihe. Die zweite Art der Einheit ist gegeben, wenn die eine Kraft oder das eine Ineinander von Kr\u00e4ften nur einmal und dann notwendig von einem Punkte aus sich beth\u00e4tigt: so in der S\u00e4ule. Jene Einheit k\u00f6nnte auch Einheit des Nebeneinander, diese Einheit in der Succession genannt werden. Jene schliefst diese ni\u00e7ht aus, sondern jederzeit ein: die mehrfache gleichzeitige Beth\u00e4tigung derselben Kraft ist im einzelnen jedesmal eine successive Verwirklichung derselben.\n6.\tWechsel und Gliederung. Zum Bed\u00fcrfnisse der Einheit tritt das Bed\u00fcrfnis des Wechsels. Beides vereinigt sich im Bed\u00fcrfnisse der Einheit des Wechselnden oder Verschiedenen. Eine solche Einheit ist in absoluter Weise gegeben in dem Wechsel der gesetzm\u00e4fsig oder mit innerer Notwendigkeit auseinander hervorgehenden Beth\u00e4tigungsweisen eines einzigen ein f\u00fcr allemal gegebenen Ineinanders von Kr\u00e4ften. Ein Wechsel dieser Art kann nur in stetigen Formen sich vollziehen: \u2014","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"Th. Lipps.\n42\nWellenlinie; Wellenranke etc. Umgekehrt mnfs \u00fcberall da, wo Formen gebrochen oder unterbrochen sind, eine neue Kraft aufzutreten oder eine vorhandene neu einzusetzen scheinen: \u2014 Zickzacklinie ; von Distanzen unterbrochene G-erade. In diesem Falle \u2014 dem Falle der Gliederung im eigentlichen Sinne \u2014 gen\u00fcgt das Ganze der Forderung der Einheit dann vollkommen, wenn die relativ selbst\u00e4ndigen Glieder als gesetz-m\u00e4fsig und mit innerer Notwendigkeit sich vollziehende Verwirklichungen einer einheitlichen Kraft oder eines einheitlichen Ineinander von Kr\u00e4ften sich darstellen, und zugleich ihrem Zusammen oder ihrer Folge eine im Ganzen als solchem wirksame einheitlich gesetzm\u00e4fsige Kraftbeth\u00e4tigung zu Grunde liegt, als deren (gesetzm\u00e4fsige) Differenzierungen jene besonderen Kraftbeth\u00e4tigungen begriffen werden k\u00f6nnen. \u2014 In der M\u00f6glichkeit der einheitlichen Auffassung in dem hier bezeichneten Sinne, \u2014 oder kurz gesagt, in der mechanischen Einheitlichkeit \u2014 besteht die \u00e4sthetische Verst\u00e4ndlichkeit der geometrischen Form, die die Grundbedingung ihrer Sch\u00f6nheit ist.\n7.\tZentrale Symmetrie. Das Werden von einem Punkte aus ist wiederum ein doppeltes : Beth\u00e4tigung einer Kraft oder eines Ineinander von Kr\u00e4ften von einem Mittelpunkte aus, also nach einander entgegengesetzten Richtungen, und: Fortgang von einem Ausgangspunkt zu einem Zielpunkt. Ein r\u00e4umliches Gebilde wird uns unter jenem Gesichtspunkte verst\u00e4ndlich in dem Mafse, als der Mittelpunkt wirklicher Ausgangspunkt der Bewegung oder Kraftbeth\u00e4tigung ist, also selbst als Ruhepunkt erscheint. Als solcher kann er aber nur erscheinen, wenn die in ihm vorausgesetzten Antriebe zu den in entgegengesetzter Richtung sich vollziehenden r\u00e4umlichen Wirkungen sich aufheben, also einander gleich sind. Dies Gleichgewicht stellt sich nicht notwendig in der Form der zentralen geometrischen Symmetrie dar, wohl aber ist ein r\u00e4umliches Gebilde zun\u00e4chst unter der Voraussetzung der zentralen Symmetrie von jenem Gesichtspunkte aus verst\u00e4ndlich.\n8.\tSymmetrie zu einer Mittellinie. Das r\u00e4umliche Gebilde, das von einem Ausgangspunkte zu einem Zielpunkte hin entsteht, ist ein einheitliches immer dann, wenn es den oben (6) bezeichneten Bedingungen der Einheitlichkeit gen\u00fcgt. Es ist aber ein solches Gebilde am einfachsten und unmittelbarsten als einheitliches verst\u00e4ndlich, also \u00fcberhaupt am ein-","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n43\nfachsten und unmittelbarsten verst\u00e4ndlich, wenn eine einzige Richtung als die Grundrichtung erscheint, von der jede Abweichung, Abzweigung oder Ausbreitung nach einer anderen Richtung ausgeht. Und diese Vorstellung wiederum kann ent-stehen in dem Mafse, als die Grundrichtung \u2014 obgleich sie die Richtung ist, in der das Ganze als Ganzes wird \u2014 doch zugleich f\u00fcr die Abweichungen oder die von ihr ausgehenden seitlichen Ausbreitungen die feste oder ruhende Mitte bezeichnet, also jederzeit Antriebe zu entgegengesetzten Abweichungen oder seitlichen Ausbreitungen sich in ihr das Gleichgewicht halten. Wiederum fordert dies Gleichgewicht nicht notwendig die geometrische Symmetrie der beiderseitigen Abweichungen oder seitlichen Ausbreitungen; doch ist auch hier die geometrische Symmetrie dasjenige, was zun\u00e4chst geeignet ist, die Vorstellung dieser Einheitlichkeit in uns zu wecken.\n9.\tMechanische Interpretation. Wie schon gesagt, ist die M\u00f6glichkeit der einheitlichen Auffassungj oder die \u201eVerst\u00e4ndlichkeit\u201c eines geometrischen Gebildes in diesem Sinne, Grundbedingung des \u00e4sthetischen Eindruckes. Zugleich liegt in dem Bed\u00fcrfnisse der m\u00f6glichst einheitlichen Auffassung oder der m\u00f6glichst unmittelbaren Verst\u00e4ndlichkeit die N\u00f6tigung, r\u00e4umliche Formen jedesmal in solcher Weise zu interpretieren, d. h. solche Kr\u00e4fte in ihnen wirksam zu denken, dafs jenem Bed\u00fcrfnis gen\u00fcgt werden kann. Insofern ist das Prinzip der Einheit nicht nur ein \u00e4sthetisches Prinzip, sondern gleichzeitig ein Prinzip der optischen T\u00e4uschungen.\n10.\tEntstehung der T\u00e4uschungen. Die optischen T\u00e4uschungen kommen zu st\u00e4nde, indem wir die Vorstellungen der Tendenzen oder Th\u00e4tigkeiten, die uns in r\u00e4umlichen Formen unmittelbar zu liegen scheinen, vollziehen. Diese Vorstellungen k\u00f6nnen aber nicht anders vollzogen werden, als so, dafs wir den Tendenzen in unserer Vorstellung nachgeben, oder die Th\u00e4tigkeiten in unserer Vorstellung sich verwirklichen las\u00e8en; also etwa die Form, in der eine Tendenz der Ausweitung zu liegen scheint, in der Vorstellung sich ausweiten, diejenige, deren Th\u00e4tigkeit auf Verengerung ihrer selbst gerichtet scheint, in der Vorstellung sich verengen lassen etc. Damit ist die Ablenkung des Vergleichsurteiles, in welcher die optische T\u00e4uschung besteht, ohne weiteres gegeben.\n11.\tEinwand. Der Ein wand, dafs die Kr\u00e4fte, Tendenzen,","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nTh. Lipps.\nTh\u00e4tigkeiten, welche nach oben Gesagtem in jeder Raumform f\u00fcr unsere Vorstellung enthalten liegen und die optischen T\u00e4uschungen /bedingen* im Augenblick der Betrachtung der Formen nicht notwendig in unserem Bewufstsein gefunden werden, erledigt sich durch den Hinweis auf eine wohlbekannte psychologische Thatsache. Wir formulieren sie in dem Satze: Sind Uns im Laufe unseres Lebens Vorstellungen und Vorstellungszusammenh\u00e4nge entstanden, die ihrem Sinne oder Inhalte nach geeignet sind, sei es, den \u00e4sthetischen Eindruck eines jetzt wahrgenommenen Gegenstandes zu bedingen, sei es, unser Urteil \u00fcber die Beschaffenheit des Gegenstandes zu bestimmen, so \u00fcben diese Vorstellungen und Vorstellungszusammenh\u00e4nge ihre darauf abzielende Wirkung, auch wenn wir nicht jetzt von ihnen eine bewufste Erinnerung haben. Sie \u00fcben sie um so sicherer, und brauchen, indem sie sie \u00fcben, um so weniger als bewufste oder aktuelle Vorstellungen in uns gegenw\u00e4rtig zu sein, je gel\u00e4ufiger sie uns sind, und in je engerer Beziehung sie zu dem Gegenst\u00e4nde des \u00e4sthetischen Eindruckes oder des Beschaffenheitsurteiles stehen. Diesen Satz jk\u00f6nnen wir zugleich umkehren und sagen: Kein \u00e4sthetischer Eindruck und kein Urteil, ja kein psychisches Geschehen \u00fcberhaupt kann in dem erwachsenen Menschen Vorkommen, ohne dafs solche Vorstellungen und Vorstellungszusammenh\u00e4nge unbewufst oder \u201eunbemerkt\u201c dabei mitwirksam sind. \u2014 Nun ist uns nichts gel\u00e4ufiger, als die Vorstellung mechanischer Kr\u00e4fte und Th\u00e4tig-keiten, und kein Zusammenhang f\u00fcr uns fester, als der zwischen diesen Kr\u00e4ften und den Formen, die durch sie entstehen oder sich im Dasein behaupten. Es w\u00e4re darum, psychologisch be* trachtet, ein Wunder, wenn unser \u00e4sthetischer Eindruck von r\u00e4umlichen Formen oder unser Urteil \u00fcber dieselben jemals dem Einfl\u00fcsse dieser Vorstellungen sich sollte entziehen k\u00f6nnen.\nDemgem\u00e4fs sollte auch im Obigen nicht behauptet sein, dafs zur Wahrnehmung gewisser Raumformen jetzt die aktuelle Vorstellung einer verengernden oder erweiternden Th\u00e4tig-keit hinzutrete und gewissermafsen vor unseren Augen ihren modifizierenden Einflufs \u00fcbe; sondern einzig dies war die Meinung* dafs die l\u00e4ngst vorher in tausendfacher Erfahrung gewonnenen Vorstellungen der verengernden oder erweiternden Th\u00e4tigkeit zu solchen Raumformen in sicherer und nachweisbarer Beziehung stehen, und dafs wir dadurch gen\u00f6tigt sind, die Ver-","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n45\nengerung oder Erweiterung zu vollziehen, genau so wie uns das aktuelle Dasein der Vorstellungen und die bewufste Verkn\u00fcpfung mit solchen Formen jedesmal unweigerlich zum Vollzug der Verengerung oder Erweiterung n\u00f6tigte. Will man dies so ausdr\u00fccken, dafs man sagt, es bestehe eine \u201egewohn-heitsm\u00e4fsige\u201c N\u00f6tigung, Formen sich verengernd oder erweiternd vorzustellen, nachdem wir immer wieder durch die b e -wufstzu denselben hinzutretende Vorstellung einer verengernden oder erweiternden Th\u00e4tigkeit gen\u00f6tigt waren, die Verengerung oder Erweiterung in der Vorstellung zu vollziehen, so mag man dies thun, obgleich durch das vieldeutige Wort \u201eGewohnheit\u201c der Thatbestand um nichts verst\u00e4ndlicher wird.\nII. Haupts\u00e4tze.\n12.\tTendenz und Gegentendenz. Die mechanischen Tendenzen, von denen wir reden, sind jederzeit gegen etwas gerichtet. Das, wogegen sie gerichtet sind, ist notwendig wiederum Tendenz. Es giebt keine Tendenz ohne Gegentendenz; keine Th\u00e4tigkeit in dem hier vorausgesetzten Sinne des Wortes ohne Widerstand, Gegenth\u00e4tigkeit, gegenwirkende Kraft. Jede Raumform scheint demnach, genauer gesprochen, ihr Dasein zu haben oder im Dasein sich zu behaupten durch den Gegensatz und das Gleichgewicht antagonistischer Kr\u00e4fte, Tendenzen, Th\u00e4tigkeiten. Jede dieser Tendenzen erhebt den Anspruch, von uns in der Vorstellung verwirklicht zu werden. Es liegt demnach in jeder Kaumform an sich die M\u00f6glichkeit entgegengesetzter optischer. T\u00e4uschungen. .Wo beide Tendenzen in solcher Weise sich gegen\u00fcberstehen, dafs die in der Vorstellung der einen und die in der Vorstellung der anderen liegende N\u00f6tigung zu einer optischen T\u00e4uschung sich unmittelbar entgegenwirken, da geschieht die optische T\u00e4uschung in der Sichtung derjenigen Tendenz, die in unserer Vorstellung den Vorrang hat.\n13.\tPrim\u00e4re Tendenz. Stehen sich in einer r\u00e4umlichen Form zwei Tendenzen als Tendenz und unmittelbare Gegentendenz einander gegen\u00fcber, so ist jederzeit eine die prim\u00e4re, die andere die sekund\u00e4re. Dabei verstehen wir unter der prim\u00e4ren Tendenz diejenige der beiden in einer Kaumform","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nTh. Lipps.\neinander unmittelbar entgegenwirkenden und das Gleichgewicht haltenden Tendenzen, die innerhalb der Raumform als die zun\u00e4chst wirkende und durch ihre Wirkung den Gegensatz oder die \u201eSpannung\u201c zwischen ihr und der Gegentendenz herbeif\u00fchrende erscheint; unter der sekund\u00e4ren Tendenz die gegenwirkende, der Wirkung jener das Gleichgewicht haltende oder sie einschr\u00e4nkende.. Da es danach in der Natur der sekund\u00e4ren Tendenz liegt, dafs sie erst als wirkend vorgestellt werden kann, wenn und soweit die prim\u00e4re Tendenz bereits als wirkend vorgestellt ist, so kann auch der in der Vorstellung der sekund\u00e4ren Tendenz liegende Antrieb zu einer ihr entsprechenden optischen T\u00e4uschung nur zur Geltung kommen, wenn und soweit der Antrieb zu der der prim\u00e4ren Tendenz entsprechenden optischen T\u00e4uschung bereits gegeben und in Wirksamkeit getreten ist. Die optische T\u00e4uschung ist ja ihrem Urspr\u00fcnge nach gar nichts als die Wirkung einer Tendenz in unserer Vorstellung, und diese ist in unserem Falle gleichbedeutend mit der Vorstellung der Wirkung der Tendenz.\nDaraus ergiebt sich: Wo die von einer Tendenz und ihrer unmittelbaren Gegentendenz ausgehenden N\u00f6tigungen zu einer optischen T\u00e4uschung sich unmittelbar entge g en wirken, da vollzieht sich die optische T\u00e4uschung endg\u00fcltig in der Richtung der prim\u00e4ren Tendenz und wird durch die sekund\u00e4re lediglich eingeschr\u00e4nkt.\n14. T\u00e4uschungen aus sekund\u00e4ren Tendenzen. Dies hebt nicht auf, dafs die sekund\u00e4re Tendenz gleichfalls eine selbst\u00e4ndige optische T\u00e4uschung bedingen kann. Sie mufs eine solche bedingen, wenn und soweit sie in unserer Vorstellung zu selbst\u00e4ndiger Wirkung gelangt. Und dies ist immer der Fall, wenn die sekund\u00e4re Tendenz nicht auf den Ort, wo wir dem Eindr\u00fccke der prim\u00e4ren Tendenz unmittelbar unterliegen, beschr\u00e4nkt bleibt, sondern dar\u00fcber hinaus wirksam scheint. Entgegengesetzte optische T\u00e4uschungen bestehen also nicht nur der Idee nach jederzeit nebeneinander, sondern sie m\u00fcssen auch unter Umst\u00e4nden thats\u00e4chlich nebeneinander bestehen. Es mag gleich hinzugef\u00fcgt werden, dafs sie unter anderen Umst\u00e4nden ineinander Umschl\u00e4gen m\u00fcssen.\nBeispiel: Man zeichne in einen Kreis einen Buchstaben, etwa ein M, so, dafs der Buchstabe bis nahe an die Kreislinie heranreicht. Die","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n47\nKreislinie engt die Fl\u00e4che ein, die Fl\u00e4che* und zwar die ganze Fl\u00e4che, strebt der sie ein engenden Linie entgegen oder strebt, sich auszuweiten. Daraus ergiebt sich beides: eine scheinbare Einengung und eine scheinbare Ausweitung der Fl\u00e4che ; die letztere findet da statt, wo sie unbeschadet der ersteren stattfinden kann. Der unmittelbare Erfolg ist die scheinbare Vergr\u00f6fserung des der Fl\u00e4che angeh\u00f6rigen Buchstabens.\n15. Optische T\u00e4uschung und Wahrnehmung. Die optische T\u00e4uschung, bezw. die mechanische Forminterpretation, auf der sie beruht, tritt jederzeit zur thats\u00e4chlichen Wahrnehmung in Gegensatz. Die optische T\u00e4uschung mufs sich darum immer um so leichter vollziehen, je weniger die Wahrnehmung gegen jene Interpretation und deren optischen Erfolg Einsprache erhebt. Andererseits wird damit der Spielraum der T\u00e4uschungen vermindert. Daraus ergiebt sich ein Maximum der T\u00e4uschung. Andere Maxima ergeben sich aus spezielleren Gr\u00fcnden.\nBeispiel: Gr \u00f6fsenun ter schiede werden (vergl. 25) untersch\u00e4tzt in dem Mafse, als die ausdehnenden Kr\u00e4fte, denen die verschiedenen Gr\u00f6fsen ihr Dasein verdanken, gleich scheinen. Der Vorstellung dieser Gleichheit der Kr\u00e4fte widerspricht aber die thats\u00e4chliche Verschiedenheit des Resultates ihrer Wirksamkeit. Die fragliche Untersch\u00e4tzung vollzieht sich also leichter bei geringem Gr\u00f6fsenunterschied. Ist aber der Gr\u00f6fsen-unterschied sehr gering, so ist auch die M\u00f6glichkeit der Untersch\u00e4tzung entsprechend gering.\nDie oben bezeichnete Thatsache m\u00f6ge man im Folgenden jederzeit mit in Rechnung ziehen.\nIII. Hauptf\u00e4lle.\n16. Erster Hauptfall: Ausdehnung und Begrenzung. Wird mit einem nicht sichtbar begrenzten Raumst\u00fcck ein sichtbar begrenztes verglichen, so scheint das letztere im Vergleich mit dem ersteren an weiterer Ausdehnung ausdr\u00fccklich verhindert. Dort fliefst der Raum in die Umgebung hin\u00fcber* wir sehen ihn ungehemmt weiter und weiter sich ausdehnen* hier scheint der Raum in sich zur\u00fcckgehalten, der weiteren Ausdehnung geflissentlich Halt geboten. Diese gegen den Raum gerichtete, von aufsen nach innen gehende Wirkung l\u00e4fst dann auch das Verhalten des Raumes als Gegenwirkung erscheinen. Die raumnegierende Th\u00e4tigkeit der Grenzen hat zur Gegentendenz, die ihr das Gleichgewicht h\u00e4lt, das Streben.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nTh. Lipps.\ndes Raumes, sich, selbst zu behaupten, also eine Ausdehnungsoder Ausweitungstendenz desselben. Sofern das ruhige sich Ausbreiten des Raumes erst durch die Hemmung der Ausdehnungsbewegung f\u00fcr unsere Vorstellung in ein Streben oder eine Tendenz der Ausbreitung sich verwandelt, ist die hemmende, weitere Ausdehnung negierende, kurz die begrenzende Th\u00e4tig-keit die prim\u00e4re, die Tendenz der Ausdehnung die sekund\u00e4re. Begrenzte Raumgr\u00f6fsen werden demgem\u00e4fs gegen unbegrenzte untersch\u00e4tzt. Grenzen scheinen nach innen verschoben.\nMan schneide ans einer Papptafel ein St\u00fcck heraus ; dann erscheint das St\u00fcck kleiner als die L\u00fccke. Der Grund : Die Eandlinie der Pappe begrenzt dort nach innen, hier nach aufsen. \u2014 Hierauf gr\u00fcnden sich auch gewisse, angeblich auf Irradiation beruhende T\u00e4uschungen, z. B, die scheinbar gr\u00f6fsere Ausdehnung des weifsen Quadrates, das sich mit seiner schwarzen Umgehung von weifsem Grunde abhebt, im Vergleich mit einem schwarzen Quadrat auf demselben weifsen Grunde.\n17. Zweiter Hauptfall: Horizontale und vertikale Ausdehnung. Nicht geometrisch, wohl aber mechanisch, ist zwischen horizontaler und vertikaler Ausdehnung ein qualitativer Unterschied. Jene ist die gegen die Schwere neutrale, diese die zur Schwere in Wechselbeziehung stehende. Verm\u00f6ge jener Neutralit\u00e4t und dieser Wechselbeziehung hat das Nebeneinander in horizontaler Richtung im Vergleich mit dem vertikalen Aufsereinander den Charakter des einfach thats\u00e4ch-lichen Daseins. Es bedarf, damit ein Objekt in bestimmter Entfernung rechts oder links von einem anderen sich befinde \u2014 von der begrenzenden Th\u00e4tigkeit und ihrer Gegentendenz abgesehen \u2014, keiner auf Erzeugung oder Eesthaltung dieser Lage und Entfernung gerichteten Kraft. Dagegen verkn\u00fcpft *sich mit der Wahrnehmung, dafs ein Objekt h\u00f6her als ein anderes oder im Vergleich mit ihm \u201eoben\u201c ist, die Vorstellung einer die Schwere \u00fcberwindenden oder das Objekt oben haltenden Kraft. Ebenso verbindet sich mit der Wahrnehmung des Unten oder der Tiefenlage eines Objektes die Vorstellung, dafs das Objekt der Schwere unterliege oder nachgebe. Das \u00dcbensein erscheint als ein best\u00e4ndiges sich Heben, das Untensein als ein in jedem Momente sich erneuerndes Herabsinken. Jene die Schwere \u00fcberwindende Kraft scheint dann freilich bei dem endlichen vertikalen Gebilde wiederum durch die Schwere, ebenso die Th\u00e4tigkeit der Schwere durch eine gegen sie ge-","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n49\nrichtete, nach oben gehende Th\u00e4tigkeit eingeschr\u00e4nkt. Aber dort ist die G egen th\u00e4tigkeit gegen die Schwere, hier die Th\u00e4tigkeit der Schwere die prim\u00e4re Th\u00e4tigkeit. Es wird demnach die Ausdehnung nach unten wie die nach oben \u00fcbersch\u00e4tzt. Jede vertikale Ausdehnung kann sowohl als Ausdehnung in der einen wie in der anderen Richtung betrachtet werden. Sie ist also zugleich Gegenstand der einen und der anderen \u00dcbersch\u00e4tzung. \u2014 Wie die Thatsache der Begrenzung die Grenzen nach innen, so l\u00e4fst die Thatsache der vertikalen Ausdehnung die Grenzen nach aufsen verschoben erscheinen.\nMan betrachte eine geradlinige Reihe von Punkten, die \u2014 am besten in Gruppen \u2014 abwechselnd nach der einen und nach der anderen Seite senkrecht zur Reihe stehende Distanzen begrenzen, das eine Mal so, dafs die Reihe im Sehfeld vertikal, dann so, dafs sie im Sehfeld horizontal steht. In jenem Palle scheinen die Punkte jedesmal nach der Mitte der von ihnen begrenzten Distanzen zu, in diesem Palle in entgegengesetzter Richtung, verschoben.\nZusatz 1. Tritt in einem horizontal und vertikal ausgedehnten Gebilde irgendwie der Gegensatz der horizontalen und der vertikalen Th\u00e4tigkeit f\u00fcr die Vorstellung zur\u00fcck, so verschwindet dieXTbersch\u00e4tzung der vertikalen Ausdehnung. Hierf\u00fcr bestehen verschiedenartige M\u00f6glichkeiten. Die einfachste liegt vor bei der Kreisfl\u00e4che.\nZusatz 2. Tritt f\u00fcr die Vorstellung an die Stelle der vertikal ausdehnenden Th\u00e4tigkeit ein Nachgeben oder sich Zusammenziehen in vertikaler Richtung, so schl\u00e4gt die \u00dcbersch\u00e4tzung in Untersch\u00e4tzung um. Beispiel: der Torus.\n18.\tFl\u00e4chenhafte Ausdehnung und Begrenzung. In der Fl\u00e4che wird die horizontal begrenzende Th\u00e4tigkeit ohne weiteres zugleich zur vertikal ausdehnenden, wie die in vertikaler Richtung begrenzende zur horizontal ausdehnenden. Es besteht also hier in Wahrheit ein einziger Antagonismus von Kr\u00e4ften oder Th\u00e4tigkeiten. Die horizontal begrenzende und damit vertikal ausdehnende Th\u00e4tigkeit ist die prim\u00e4re, die vertikal begrenzende und damit horizontal ausdehnende die sekund\u00e4re Th\u00e4tigkeit. Der Erfolg jener wird \u2014 von gegenwirkenden Faktoren abgesehen \u2014 \u00fcbersch\u00e4tzt, der Erfolg dieser untersch\u00e4tzt.\n19.\tDritter Hauptfall: Rieh tun gsgleichheit und\nRichtungs\u00e4nderung. Endlich steht zum Gegensatz der Auszeitschrift tur Psychologie XII.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nTh. Lipps.\ndehnung und Begrenzung wiederum in unmittelbarerer Analogie der Gegensatz der Bichtungsgleichbeit und der Bichtungs-\u00e4nderung: Die einheitliche Auffassung eines r\u00e4umlichen Mannigfaltigen, von der oben (4) die Bede war, schliefst ohne weiteres eine N\u00f6tigung in sich, jede Kraft, die in einem Teile des als Einheit aufgefafsten Mannigfaltigen wirksam scheint, zugleich im ganzen und damit in jedem anderen Teile in gewisser Weise wirksam vorzustellen. Kr\u00e4fte nun sind einmal Kr\u00e4fte bestimmter Art und Gr\u00f6fse, zum anderen richtungbestimmende Kr\u00e4fte. In dieser letzteren Eigenschaft kommen sie hier in Frage. Solange eine auf Verwirklichung einer bestimmten Bichtung abzielende Kraft frei sich beth\u00e4tigen kann, ist sie, wie jede Kraft, nicht \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c, d. h. nicht Streben, Tendenz, Bem\u00fchung. Sie wird dazu erst, wenn die Kraft zwar da ist und sich beth\u00e4tigt, aber ihre freie Beth\u00e4tigung aufgehoben ist, d. h. wTenn eine Ablenkung oder Modifikation der Bichtung stattfindet. Die modifizierte Bichtung oder das in ihr sich vollziehende r\u00e4umliche Werden erscheint dann als Besultante aus zwei Komponenten: der Tendenz des Fortbestandes der Bichtung, die die Modifikation erf\u00e4hrt, und der modifizierenden \u2014 an sich betrachtet, rechtwinkelig zu jener Bichtung wirkenden \u2014 Th\u00e4tigkeit. Diese Komponenten verhalten sich wie Tendenz und Gegentendenz. Und dabei ist nach dem eben Gesagten die modifizierende Th\u00e4tigkeit die prim\u00e4re, die Tendenz des Fortbestandes der, abgesehen von der modifizierenden Th\u00e4tigkeit, vorhandenen Bichtung die sekund\u00e4re Tendenz oder Th\u00e4tigkeit. Es besteht also eine N\u00f6tigung zur \u00dcbersch\u00e4tzung von Bichtungsunterschie den.\n20. Genauere Bestimmung. Zugleich ist aus dem Obigen ersichtlich, unter welchen Bedingungen diese N\u00f6tigung zur Geltung kommt. Wir k\u00f6nnen folgende zwei Begeln aufstellen.\nErstens: Ist in einem Ganzen eine Bichtung einmal gegeben, so wird die Abweichung von dieser Bichtung \u00fcbersch\u00e4tzt in dem Mafse, als nach Lage der Umst\u00e4nde die hin sichtlich der Bichtung voneinander abweichenden Formelemente unmittelbar ein Ganzes zu bilden scheinen und die \u201eeinmal gegebene\u201c Bichtung diesem Ganzen als Ganzem zugeh\u00f6rig oder den Charakter de s Ganzen b e stimm end erscheint, anderer-","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n51\nseits in dem Malse, als die abweichende Richtung als abweichende oder relativ neue sich aufdr\u00e4ngt.\nUnd zweitens: Richtungsunterschiede werden nach beiden Seiten hin \u00fcbersch\u00e4tzt in dem Mafse, als beide unterschiedenen Richtungen gleichm\u00e4fsig einem und demselben Glanzen angeh\u00f6rig und den Charakter desselben bestimmend erscheinen und zugleich in dem Glanzen a Is verschi e d ene Rieh tungen bestimmt sich gegen\u00fcbertreten.\n21.\tRichtungsausgleichung. Ihre Erg\u00e4nzung finden diese Regeln in Folgendem. Auch die ablenkende Th\u00e4tigkeit, die in einem Glanzen sich findet, geh\u00f6rt mehr oder weniger dem Glanzen, also allen seinen Elementen zu. Daraus ergiebt sich eine N\u00f6tigung der Untersch\u00e4tzung der Richtungsunterschiede oder der gedanklichen Richtungsausgleichung. Auch f\u00fcr diese ist die Vorstellung der unmittelbaren Einheit oder Zusammengeh\u00f6rigkeit der verschieden gerichteten Formelemente die Grundbedingung. Im \u00fcbrigen k\u00f6nnen wiederum zwei Regeln aufgestellt werden.\nErstens: Tritt zu einer einmal gegebenen Richtung eine andere hinzu, so erscheint die erstere im Sinne der letzteren abgelenkt, in dem Mafse, als jene die im ganzen herrschende oder die Grundrichtung ist und diese aus ihr unmittelbar hervorzugehen, und demnach die Tendenz zur Verwirklichung dieser Richtung in jener bereits enthalten zu liegen scheint.\nUnd zweitens: Erscheinen verschieden gerichtete Formelemente als konstituierende Faktoren einer einzigen, dem Geschehen, das in ihnen selbst sich vollzieht, fremdartigen Th\u00e4tigkeit, der Art, dafs in ihnen, sofern sie zu dieser Th\u00e4tigkeit beitragen, nicht das Unterscheidende, sondern das Gemeinsame ihrer Richtung in Anspruch genommen scheint, so vollzieht sich eine scheinbare wechselseitige Richtungsausgleichung.\n22.\tZusatz. Aus Vorstehendem ergeben sich alle die mannigfachen, im einzelnen sehr verschiedenartigen F\u00e4lle der Richtungst\u00e4uschung, einschliefslich der Kr\u00fcmmungst\u00e4uschungen. Drei Hauptgruppen von F\u00e4llen, die \u00fcbrigens ineinander \u00fcbergehen, m\u00f6gen hier unterschieden werden. Sie sind dadurch","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nTh. Tipps.\ncharakterisiert, dafs im ersten die verschieden gerichteten Formelemente nebeneinander gegeben sind, im zweiten ein r\u00e4umliches Geschehen im Fortgang seines Vollzuges eine Richtungs\u00e4nderung erf\u00e4hrt, im dritten die verschiedenen Richtungen, obgleich gegeneinander selbst\u00e4ndig, doch r\u00e4umlich zusammenfallen. In jedem dieser F\u00e4lle kann bezw. mufs unter den oben angedeuteten Bedingungen die \u00dcbersch\u00e4tzung des Richtungsunterschiedes in Richtungsausgleichung Umschl\u00e4gen.\nEs mufs noch hinzugef\u00fcgt werden, dafs die vertikale und n\u00e4chst ihr die horizontale Richtung jederzeit an sich, d. h. ihrem mechanischen Charakter nach, Hauptrichtung ist, also eine Richtung, zu welcher andere Richtungen in Gegensatz treten, aus welcher andere hervorgehen, die von anderen gekreuzt wird etc., w\u00e4hrend sie selbst nicht in gleicher Weise zu anderen in Gegensatz tritt, aus ihnen hervorgeht, sie kreuzt etc.\nWeiterhin ist auch hier auf die sekund\u00e4ren T\u00e4uschungen, d. h. die T\u00e4uschungen auf Grund der sekund\u00e4ren Tendenzen, zu achten.\nEndlich kommt das in No. 15 Gesagte, wie \u00fcberall, so auch hier, in Betracht.\nIY. Gr\u00f6fsenunterscliiede.\n23. Prim\u00e4re und sekund\u00e4re Th\u00e4tigkeitssteigerung. Ist, allgemein gesagt, die \u00fcber ihre Gegentendenz \u00fcberwiegende Th\u00e4tigkeit oder Tendenz das die optische T\u00e4uschung Erzeugende, so mufs die optische T\u00e4uschung wachsen, wenn die Energie der sie erzeugenden Th\u00e4tigkeit w\u00e4chst, und abnehmen, wenn die Energie ihrer Gegentendenz eine Steigerung erf\u00e4hrt. Steigert sich die Energie irgend einer Th\u00e4tigkeit oder Tendenz, so steigert sich f\u00fcr unsere Vorstellung jederzeit auch die Energie der Gegentendenz. Soweit die beiden Steigerungen sich in der Vorstellung unmittelbar entgegen wirken, bestimmt sich der optische Erfolg endg\u00fcltig nach der prim\u00e4ren, oder im Gegensatz zur sekund\u00e4ren Steigerung. Dabei verstehen wir unter der sekund\u00e4ren Steigerung, entsprechend der \u201esekund\u00e4ren Tendenz\u201c, die Steigerung einer Tendenz, die nur um der Steigerung einer anderen willen von uns vorgestellt werden mufs, unter der","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n53\nprim\u00e4ren diejenige, um derenwillen die andere vorgestellt werden mufs. Je nachdem die prim\u00e4re Steigerung eine solche der prim\u00e4ren oder der sekund\u00e4ren Tendenz ist, ergiebt sich daraus eine Steigerung oder Herabminderung der urspr\u00fcnglichen T\u00e4uschung.\nWiefern auch die sekund\u00e4re Steigerung einer Tendenz eine selbst\u00e4ndige optische T\u00e4uschung bedingen kann, ergiebt sich aus 14.\nBeispiele solcher T\u00e4uschungen siehe unten, etwa 38.\n24.\tDie begrenzende Th\u00e4tigkeit bei verschiedener Gr\u00f6fse. Da wir von einer begrenzenden oder Ausdehnung negierenden \u201eTh\u00e4tigkeit\u201c der Grenzen \u00fcberhaupt reden wegen der wahrgenommenen Wirkung dieser Th\u00e4tigkeit, so bemifst sich die Energie der begrenzenden Th\u00e4tigkeit zun\u00e4chst nach der Gr\u00f6fse dieser Wirkung : was enger, also in h\u00f6herem Grade begrenzt ist, scheint in h\u00f6herem Grade begrenzt, d. h. Objekt einer st\u00e4rker begrenzenden Th\u00e4tigkeit. Und zwar w\u00e4chst notwendig die H\u00f6he der Th\u00e4tigkeit \u2014\u2022 soweit dies Wachstum ein prim\u00e4res, d. h. nicht erst um des wachsenden Ausdehnungswiderstandes willen gedachtes ist \u2014 einfach proportional mit dem Fortschritt der thats\u00e4chlichen Begrenzung. Daraus ergiebt sich zun\u00e4chst eine N\u00f6tigung zur Untersch\u00e4tzung kleinerer \u00dfaumgr\u00f6fsen.\n25.\tDie Ausdehnungstendenz bei verschiedener Gr\u00f6fse. Dieser N\u00f6tigung steht unmittelbar folgende That-sache entgegen. Die ausdehnende Kraft ist die dem Baume zun\u00e4chst eigene Kraft : der Baum ist Ausdehnung, nicht Begrenzung ; nicht durch die Th\u00e4tigkeit der Begrenzung, sondern durch die Kraft der Ausdehnung haben Ausdehnungsgr\u00f6fsen ihr positives Dasein. Die No. 4ff. bezeichnete N\u00f6tigung, nebeneinander gegebene Baumgr\u00f6fsen als aus fortgesetzter oder wiederholter Beth\u00e4tigung derselben Kraft entstanden zu denken, bestimmt sich also genauer als N\u00f6tigung, die ausdehnend e Kraft in nebeneinander gegebenen Ausdehnungsgr\u00f6fsen als gleich anzusehen. Sind die Gr\u00f6fsen thats\u00e4chlich verschieden, so scheint in ihnen die gleich gr\u00f6fse Kraft in verschiedenem Mafse an ihrer Beth\u00e4tigung verhindert. Daraus ergiebt sich dann eine gr\u00f6fsere Tendenz der Ausdehnung beiden enger begrenzten Ausdehnungen. Und zwar w\u00e4chst die Tendenz der Ausdehnung bei gleichm\u00e4fsig wachsender thats\u00e4chlicher Begrenztheit \u2014 im","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nTh. Lipps.\nGegensatz zum gleichzeitigen \u2018Wachstum der begrenzenden Th\u00e4tigkeit (s. 24) \u2014 in geometrischer Progression. Die Zunahme der thats\u00e4chlichen Begrenztheit ist also gleichbedeutend mit einer zunehmenden Verschiebung des Gr\u00f6fsenverh\u00e4ltnisses zwischen begrenzender Th\u00e4tigkeit und Ausdehnungstendenz zu Gunsten der letzteren. D. h. Nebeneinanderbestehende Ausdehnungen gleichen sich in unserem Vergleichungsurteil gegeneinander aus in dem Mafse, als die Umst\u00e4nde die Vorstellung der Identit\u00e4t der sie erzeugenden oder in ihnen sich beth\u00e4tigenden ausdehnenden Kraft zulassen oder beg\u00fcnstigen.\nZu den beg\u00fcnstigenden Umst\u00e4nden geh\u00f6ren, abgesehen von dem gleich zu erw\u00e4hnenden, die r\u00e4umliche N\u00e4he, der nicht zu grofse thats\u00e4chliche Gr\u00f6fsenunterschied, die Kichtungs-gleichheit und vor allem (nach 7) das Ausgehen der verschieden grofsen Ausdehnungen von einem Punkte.\n26.\tBesondere F\u00e4lle. Voneinander verschiedene Aus-dehnungsgr\u00f6fsen verfallen dem Gesetz der Ausgleichung in besonderem Mafse, wenn sie aufeinanderfolgende verschiedene Grade der Ausdehnung eines und desselben, seiner Hauptrichtung nach senkrecht zu ihrer Bichtung sich entwickelnden einheitlichen Gebildes sind.\nDazu tritt unmittelbar die Kegel, deren Grund uns bereits bekannt ist: Geht eine Begrenzung in eine engere oder weitere unmittelbar \u00fcber, so erscheinen die Grenzen als Tr\u00e4ger der Tendenz der Verengerung da, wo diese sich zu verwirklichen beginnt, also da, wo die Grenzen am weitesten sind, ebenso als Tr\u00e4ger der Tendenz der Eerweiterung da, wo sie am engsten sind.\nAus diesen beiden S\u00e4tzen ergiebt sich, dafs der h\u00f6chste Grad der Ausgleichung dann stattfinden mufs, wenn gleichzeitig beides im h\u00f6chsten Mafse gegeben ist: jene '\u201eKaumein-heit\u201c oder Identit\u00e4t der ausdehnenden Kraft und dieser unmittelbare \u201e\u00dcbergang\u201c der engeren in weitere Begrenzung, bezw. umgekehrt. Es hat aber dieser \u00dcbergang im h\u00f6chsten Mafse den Charakter der Unmittelbarkeit, wenn er ein stetiger ist.\n27.\tZusatz. Ebenso ergiebt sich aus fr\u00fcher Gesagtem die Kegel: Tritt zu einem gleichf\u00f6rmig sich verengernden oder erweiternden Gebilde ein in der Kichtung dieser Verengerung oder Erweiterung ausgedehntes Kaumelement hinzu, das ver-","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n55\nm\u00f6ge seiner Lage als Fortsetzung jenes Gebildes erscheint, dessen Ausdehnung aber gr\u00f6fser bezw. geringer ist, als sie .sein w\u00fcrde, wenn auch jene gleichf\u00f6rmige Verengerung oder Erweiterung in ihm oder bis zu ihm hin (gleichf\u00f6rmig) sich fortsetzte, so wird das fragliche Raumelement \u00fcber- bezw. untersch\u00e4tzt. Der Grund liegt darin, dafs die Weite des Raum-elementes als eine Abweichung von einer in einem Ganzen einmal vorhandenen Weise oder Richtung des r\u00e4umlichen Geschehens, also als Ergebnis einer besonderen modifizierenden \u2014 ausdehnenden, bezw. begrenzenden \u2014 Th\u00e4tigkeit erscheint.\n28.\tGegenfall: Teilung. Stellt sich eine begrenzte Ausdehnung dar als Teil einer anderen, so scheint sie notwendig auch nur mit einem entsprechenden Teile der ausdehnenden Kraft dieser letzteren ausgestattet. Umgekehrt erscheint die ausdehnende Kraft des Ganzen aus Teilen als ein entsprechendes Mehrfaches der ausdehnenden Kraft der Teile. In diesem Falle kommt das unter 24 Gesagte zur Geltung. Es gilt die Regel: Der in einem Ganzen enthaltene oder eingeschlossene Teil wird nach Mafs-gabe seiner Kleinheit untersch\u00e4tzt; gleichzeitig wird das Ganze aus Teilen \u00fcbersch\u00e4tzt. Sind die Teile verschieden grofs, so nehmen die gr\u00f6fseren, je mehr sie sich der Gr\u00f6fse des Ganzen n\u00e4hern, ihre ausdehnende Kraft also, im Vergleich mit der ausdehnenden Kraft der kleineren, gleichfalls als ein Mehrfaches erscheint, an der \u00dcbersch\u00e4tzung des Ganzen teil.\n29.\tSuccessive Teile der Fl\u00e4che. Erscheint die verschiedene Weite, welche die in irgend einer Richtung sich folgenden Teile eines fl\u00e4chenhaften Ganzen senkrecht zu dieser Richtung besitzen, unter dem Gesichtspunkt der verschieden starken Einschr\u00e4nkung der gleichen ausdehnenden Kraft, so scheint zugleich \u2014 sekund\u00e4r \u2014 die zugeh\u00f6rige einschr\u00e4nkende oder begrenzende Th\u00e4tigkeit in den engeren Teilen entsprechend gr\u00f6fser, als in den weiteren. Daraus ergiebt sich unmittelbar eine erh\u00f6hte Tendenz der Ausdehnung der engeren bezw. eine verminderte Tendenz der Ausdehnung der weiteren Teile in der Richtung, in der die Teile sich folgen. D. h. die engeren Teile eines fl\u00e4chenhaften Ganzen werden in beiden Richtungen \u00fcbersch\u00e4tzt, die weiteren in beiden Richtungen untersch\u00e4tzt.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nTh. Lipps.\n30.\tDas Fl\u00e4chenganze. Da wir die ausdehnende Kraft, die einem in bestimmter Grundrichtung werdenden fl\u00e4chenhaften Gebilde an sich zukommt, nach der Weite bemessen, die es im Anfangs-, bezw. Endstadium \u2014das ja auch als Anfangsstadium betrachtet werden kann \u2014 besitzt, so wird das zwischen Anfangs- und Endstadium sich erweiternde fl\u00e4chenhafte Gebilde in seiner Grundrichtung gr\u00f6fser, das sich verengernde kleiner gesch\u00e4tzt, als das von Erweiterung und Verengerung freie.\nV. Wechselwirkung gleichartiger Th\u00e4tigkeiten.\n31.\tKonkurrenz. Erscheint ein und dasselbe Raum-element gleichzeitig als Tr\u00e4ger disparater Funktionen oder nach disparaten Richtungen in r\u00e4umliche Beziehungen verflochten, so konkurrieren diese Funktionen oder Beziehungen in unserer Vorstellung miteinander. Es wird also die optische Wirkung jeder dieser Funktionen oder Beziehungen durch die andere vermindert.\nSpezielle F\u00e4lle: Ein begrenzendes Raumelement scheint weniger zu begrenzen, wenn es nicht im Begrenzen aufgeht, sondern zugleich ein selbst\u00e4ndiges Dasein hat oder in andere Beziehungen verflochten ist; ebenso scheint das, was in einer Richtung sich ausdehnt, weniger sich auszudehnen, wenn zugleich die Vorstellung einer Ausdehnung desselben in dazu senkrechter Richtung sich aufdr\u00e4ngt.\nBeispiele: Die gerade Linie ist im Vergleich zur Punktdistanz sowohl vollst\u00e4ndiger begrenzt als intensiver ausgedehnt. Aus beidem ergiebt sich eine Reihe von T\u00e4uschungen. \u2014 Die Punktdistanz ist weniger vollst\u00e4ndig begrenzt, erscheint darum gr\u00f6fser, wenn die G-renzpunkte zugleich Mittelpunkte von Kreisen sind etc.\n32.\tBegrenzung und Gegenbegr enz ung. Vorstehende Regel bedarf einer Erg\u00e4nzung. Jede Begrenzung l\u00e4fst sich, als notwendig doppelseitige, in Begrenzung und Gegenbegrenzung zerlegen. F\u00fcr die einerseits stattfindende begrenzende Th\u00e4tig-keit ist die andererseits stattfindende begrenzende Th\u00e4tigkeit Gegenth\u00e4tigkeit oder Gegentendenz. Da hier, wie \u00fcberall, Tendenz und Gegentendenz optisch sich entgegen wirken, so steigert sich die optische Wirkung einer einerseits begrenzenden Th\u00e4tigkeit, d. h. das begrenzende Element, das diese Th\u00e4tigkeit \u00fcbt, scheint st\u00e4rker nach innen verschoben, wenn die","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n57\ngegenbegrenzende Th\u00e4tigkeit irgendwie vermindert erscheint, also das begrenzende Element, das ihr znm Tr\u00e4ger dient, relativ nach aufsen verschoben erscheint. Oder k\u00fcrzer: Einseitige Verminderung der begrenzenden Th\u00e4tigkeit l\u00e4fst das Begrenzte in der Richtung derjenigen Grenze, an der die Verminderung stattfindet, verschoben ersc ifein e n. Dafs dabei zugleich eine scheinbare Erweiterung des Begrenzten stattfindet, braucht nicht besonders gesagt zu werden.\n33.\tGegensatz der Richtungen. Begrenzt ein Raumelement zwei nach entgegengesetzten Richtungen sich erstreckende Ausdehnungen, so heben die einander entgegengesetzten, in einem Punkte vereinigten begrenzenden Th\u00e4tig-keiten sich auf, wenn sie gleich sind. Sind sie verschieden grofs, so ist die optische Wirkung dieselbe, als wenn nur die st\u00e4rkere, aber um die schw\u00e4chere vermindert, wirkte. Ber\u00fccksichtigen wir, dafs (vergl. 25) bei zwei von einem Punkte nach verschiedenen Richtungen gehenden gleichartigen Ausdehnungen eine besondere N\u00f6tigung besteht, die in beiden wirksame ausdehnende Kraft gleich zu denken, dafs demnach\u201d auch eine besondere N\u00f6tigung besteht, der kleineren von ihnen-\u2014 sekund\u00e4rerweise \u2014 eine gr\u00f6fsere begrenzende Th\u00e4tigkeit zuzuschreiben, so ergiebt sich, dafs gemeinsame Grenzen entgegengesetzt gerichteter, verschieden grofser Ausdehnungen nach der kleineren Ausdehnung hin verschoben scheinen m\u00fcssen. Damit verbindet sich nach eben (32) Ge-sagtem eine gr\u00f6fsere \u00dcbersch\u00e4tzung der gr\u00f6fseren und eine geringere \u00dcbersch\u00e4tzung der kleineren Ausdehnung, zugleich \u2014 trotz des scheinbaren Widerspruches \u2014 eine gr\u00f6fsere scheinbare Einw\u00e4rtsverschiebung der nicht gemeinsamen Grenze bei der gr\u00f6fseren, eine kleinere bei der kleineren.\n34.\tZusatz 1. Zwei F\u00e4lle sind hier zu unterscheiden: Die Ausdehnungen, etwa gerade Linien, sind sich hinsichtlich der Richtung entweder absolut entgegengesetzt oder nur relativ entgegengesetzt, d. h. so dafs sie einen stumpfen Winkel einschliefsen. Im letzteren Palle bleibt es bei dem eben Gesagten, im ersteren ist zu ber\u00fccksichtigen, dafs die beiden Ausdehnungen zugleich Teile sind eines sie ein-schliefsenden Ganzen. Es ergiebt sich hieraus die Modifikation, die bereits in 28 bezeichnet wurde.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nTh. Tipps.\nIn diesen Zusammenhang geh\u00f6rt beispielsweise die eine Seite des vielber\u00fchmten \u201eoptischen Paradoxons\u201c; aufserdem aber eine Menge sehr verschiedenartiger sonstiger T\u00e4uschungen.\nZusatz 2. Sind die beiden Ausdehnungen qualitativ verschieden, insbesondere verschieden hinsichtlich der St\u00e4rke der inneren Spannung, so ist zu bedenken, dafs \u2014 aus einleuchtenden Gr\u00fcnden \u2014 bei gr\u00f6fserer innerer Spannung die Minderung oder teilweise Aufhebung der begrenzenden Th\u00e4tigkeit eine st\u00e4rkere \u2014 n\u00e4mlich st\u00e4rker vergr\u00f6fsernde \u2014 optische \"Wirkung \u00fcbt, als bei geringerer innerer Spannung, sowie umgekehrt die Vermehrung der begrenzenden Th\u00e4tigkeit bei st\u00e4rkerer Spannung eine geringere \u2014 n\u00e4mlich in geringerem Mafse verk\u00fcrzende \u2014 optische Wirkung \u00fcbt, als bei geringerer Spannung.\nAn eine gerade Linie f\u00fcge sich in gleicher Lichtung oder im stumpfen Winkel eine gleich grofse leere Distanz. Dann erscheint die Linie gr\u00f6fser.\nDie gerade Linie wird durch stumpfwinklige Anf\u00fcgung einer kleineren geraden Linie in h\u00f6herem Mafse scheinbar vergr\u00f6fsert, als eine gleich grofse leere Distanz.\n35. Relative Richtungs gleichheit. Erstrecken sich von einem Punkte aus verschiedene Ausdehnungen nach relativ gleichen Richtungen, also so, dafs sie einen spitzen Winkel einschliefsen, so erscheinen die in dem einen Punkte zusammentreffenden begrenzenden Th\u00e4tigkeiten, soweit die Ausdehnungen gleich gerichtet sind, als eine einzige, in der gemeinsamen mittleren Richtung wirkende und entsprechend verst\u00e4rkte. Daraus ergiebt sich eine Verschiebung des gemeinsamen Punktes in der gemeinsamen Richtung, zugleich eine Untersch\u00e4tzung beider Ausdehnungen. Andererseits konkurrieren die Widerst\u00e4nde, die die Ausdehnungstendenzen der beiden Ausdehnungen der einen begrenzenden Th\u00e4tigkeit entgegensetzen, in unserer Vorstellung miteinander: soweit die in dem einen Punkte wirkende, in sich einheitliche begrenzende Th\u00e4tigkeit der einen Ausdehnungstendenz entgegenwirkt und durch sie eingeschr\u00e4nkt wird, kann sie \u2014 in unserer Torstellung \u2014 nicht der anderen Ausdehnungstendenz entgegenwirken und durch sie eingeschr\u00e4nkt werden. Eben die Einheitlichkeit der begrenzenden Th\u00e4tigkeit macht, dafs diese beiden einander entgegenwirkenden Vorstellungen jederzeit zumal sich aufdr\u00e4ngen, also konkurrieren m\u00fcssen. Da der Widerstand gegen","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen.\n59\ndie begrenzende Th\u00e4tigkeit bei der kleineren Ausdehnung gr\u00f6fser ist (vergl. 25), so ergiebt sieb aus dieser Konkurrenz und Ausgleichung eine gr\u00f6fsere Einschr\u00e4nkung der begrenzenden Th\u00e4tigkeit bei der gr\u00f6fseren Ausdehnung, eine geringere bei der kleineren. D. h. Treffen zwei Ausdehnungen im spitzen Winkel zusammen, so wird jede um so mehr untersch\u00e4tzt, je gr\u00f6fser die andere im Vergleich mit ihr ist.\nHierhin geh\u00f6rt die andere Seite des \u201eoptischen Paradoxons\".\n36. Zusatz. Dafs dann, wenn die Ausdehnungen hinsichtlich der St\u00e4rke der inneren Spannung verschieden sind, diejenige Ausdehnung, die durch st\u00e4rkere Spannung ausgezeichnet ist, in geringerem Grade untersch\u00e4tzt wird, ergiebt sich aus dem in 34 unter 2 Gesagtem.\nVorstehendes Gerippe mag, obgleich es, wie ich wohl weifs, selbst als Gerippe durchaus unvollst\u00e4ndig ist, dennoch gen\u00fcgen, um von dem Charakter der \u00e4sthetisch-mechanischen Theorie der geometrisch-optischen T\u00e4uschungen eine vorl\u00e4ufige Vorstellung zu geben. Wie man sieht, habe ich mich der besonderen Andeutungen dar\u00fcber, wiefern die versuchte Betrachtungsweise zugleich die Begr\u00fcndung einer \u00c4sthetik der \u201egeometrischen\u201c (tektonischen, architektonischen, keramischen etc.) Formen in sich schliefst, im einzelnen v\u00f6llig enthalten, obgleich mir eben in dieser \u00e4sthetischen Seite der fraglichen Betrachtungsweise ihre Hauptbedeutung zu liegen scheint.","page":59}],"identifier":"lit36194","issued":"1896","language":"de","pages":"39-59","startpages":"39","title":"Die geometrisch-optischen T\u00e4uschungen. (Vorl\u00e4ufige Mitteilung)","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:42:53.701240+00:00"}