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{"created":"2022-01-31T16:40:00.836463+00:00","id":"lit36463","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Ziehen","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 12: 276-279","fulltext":[{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"Litteraturberieht.\nW. Wundt. Grundrifs der Psychologie. Leipzig, W. Engelmann. 1896. 392 S.\nDer vorliegende Grundrifs sucht, wieW. in der Vorrede sagt, \u201edie Psychologie in ihrem eigensten Zusammenh\u00e4nge und in derjenigen systematischen Anordnung, die nach seiner Ansicht durch die Natur des Gegenstandes geboten ist, zugleich aber unter Beschr\u00e4nkung auf das wichtigste und wesentlichste, vorzuf\u00fchren\u201c. Auf die Darstellung von Experimenten und Apparaten ist durchweg Verzicht geleistet. Alle Litter atur angab en sind fortgeblieben. Ebenso fehlt die physiologische und anatomische Einleitung. Der erste Hauptabschnitt (S. 33\u2014105) behandelt die \u201epsychischen Elemente\u201c, also nach Wundts Ansicht erstens die \u201ereinen\u201c Empfindungen und zweitens die \u201eeinfachen\u201c Gef\u00fchle, der zweite Hauptabschnitt (S. 106\u2014237) die \u201epsychischen Gebilde\u201c, und zwar erstens die Vorstellungen und zweitens die Gem\u00fctsbewegungen. Die Vorstellungen definiert W. jetzt schlechthin als \u201eGebilde, die entweder ganz oder vorzugsweise aus Empfindungen zusammengesetzt sind\u201c (S. 109), die Gem\u00fctsbewegungen als \u201eGebilde, die vorzugsweise aus Gef\u00fchlselementen bestehen\u201c. Noch direkter also, als in den Grundz\u00fcgen (4. Aufl. Bd. II. S. 3), n\u00e4mlich per definitionem, wird uns hier zugemutet, auch in dem Erinnerungsbild, z. B. eines Ofens, Empfindungen als Bestandteile anzunehmen, obwohl dem Erinnerungsbilde die sinnliche Lebhaftigkeit, nach dem heutigen Spr\u00e4chbewufstsein das wesentliche Merkmal der Empfindung, fehlt.\nDie Vorstellungen teilt W. jetzt ein in: 1. intensive Vorstellungen, 2. r\u00e4umliche Vorstellungen und 3. zeitliche Vorstellungen. Die intensiven Vorstellungen definiert W. als \u201eVerbindungen von Empfindungselementen in beliebig permutierbarer Ordnung\u201c (S. 110). Als Beispiel f\u00fchrt er den Zusammenklang der T\u00f6ne d, f, a an. Die Zweck-m\u00e4fsigkeit des Terminus scheint mir jedenfalls zweifelhaft.\nDie Gem\u00fctsbewegungen zerfallen in : 1. intensive Gef\u00fchlsverbindungen, 2. Affekte und 3. Willensvorg\u00e4nge. Die intensiven Gef\u00fchls Verbindungen oder zusammengesetzten Gef\u00fchle definiert W. als intensive Zust\u00e4nde von einheitlichem Charakter, in denen zugleich einzelne einfachere Gef\u00fchlsbestandteile wahrzunehmen sind. So entspricht dem Dreiklang c, e, g ein zusammengesetztes Gef\u00fchl, welches sich in ein Totalgef\u00fchl der Harmonie","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturb ericht.\n277\nzerlegen l\u00e4fst und in je drei Partialgef\u00fchle erster und zweiter Ordnung, n\u00e4mlich die Partialgef\u00fchle der einzelnen Kl\u00e4nge c, e und g, sowie die Partial gef\u00fchle zweiter Ordnung der Zweikl\u00e4nge ce, eg und cg. Die \u201eWillensVorg\u00e4nge\u201c bespricht W. jetzt in einem Sinne, welcher von der Darstellung der Grundz\u00fcge (auch in der 4. Auflage vom Jahre 1893) nicht unerheblich abweicht. Von der metaphysischen Sonderstellung des Wissens ist wieder ein wenig aufgegeben. Dort hiefs es noch (II. S. 562): \u201eSo kann denn auch davon keine Rede sein, dafs sich jene primitive innere Willensth\u00e4tigkeit erst aus Gef\u00fchlen und Trieben entwickelt h\u00e4tte. Vielmehr lernten wir umgekehrt schon bei den einfachsten Gef\u00fchlen das Verh\u00e4ltnis der einwirkenden Reize zur Apperzeption (d. i. der inneren Willensth\u00e4tigkeit. S. ebenda Z. 2) als die wesentliche Bedingung kennen, von der die St\u00e4rke und Richtung der Gef\u00fchle abh\u00e4ngt. Im Gegensatz zu jener Anschauung, welche den Willen aus Gef\u00fchlen und Trieben entstehen l\u00e4fst, m\u00fcssen wir darum vielmehr den Willen als die fundamentale Thatsache bezeichnen, von der zun\u00e4chst die Gef\u00fchlszust\u00e4nde des Bewufstseins bedingt sind, unter deren Einflufs dann weiterhin aus diesen sich Triebe entwickeln und die Triebe sich in immer verwickeltere Formen \u00e4ufser er Willenshandlung umsetzen\u201c u.s.f. Auch S. 497 und 498 findet sich eine \u00e4hnliche Er\u00f6rterung. Jetzt hingegen heifst es (S. 215): \u201eSolche durch einen Affekt vorbereitete und ihn pl\u00f6tzlich beendende Ver\u00e4nderungen der Vorstellungs- und Gef\u00fchlslage nennen wir Willenshandlungen. Der Affekt selbst aber zusammen mit dieser aus ihm hervorgehenden Endwirkung ist ein Willensvorgang.\u201c Wo ist hier die Rolle der Apperzeption geblieben? Der Willensvorgang ist zu einer \u201eForm\u201c der Gem\u00fctsbewegung geworden (S. 109).\nErst der dritte Hauptabschnitt, betitelt \u201eDer Zusammenhang der psychischen Gebilde\u201c, f\u00fchrt den Begriff der Apperzeption ein. Das \u201eBewufstsein\u201c definiert W. als einen umfassenden Zusammenhang der gleichzeitigen und der in der Zeit sich folgenden psychischen Gebilde. Der Begriff des Bewufstseins, heifst es S. 238 ausdr\u00fccklich, bezeichnet nichts, was neben den psychischen Vorg\u00e4ngen vorhanden w\u00e4re. Auch diese S\u00e4tze weichen von den Grundz\u00fcgen ab, denn dort heifst es S. 255 und 256: \u201eSo ergiebt sich auf psychischer Seite ein nach Gesetzen geordneter Zusammenhang der Vorstellungen als diejenige Bedingung, unter der stets das Bewufstsein in der Erfahrung vorkommt.\u201c Vorher wird aber ausdr\u00fccklich gesagt, dafs diese \u201eBedingung\u201c nur die \u201ebegleitenden Umst\u00e4nde\u201c des Auftretens in unserer Erfahrung darstellt. Die sodann folgende Apperzeptionslehre deckt sich mit der fortgeschritteneren der 4. Auflage der Grundz\u00fcge. Nur wird bestimmter als in den Grundz\u00fcgen (vergl. z. B. II. S. 267) das vorausg\u00e4ngige Gef\u00fchl der Erwartung als das charakteristische Merkmal der aktiven Apperzeption bezeichnet.\nSehr bemerkenswert ist f\u00fcr die Ausgestaltung der WuNDTSchen Psychologie auch die Er\u00f6rterung S. 258 ff. Hier ordnet W. wiederum die Gef\u00fchle und Affekte dem Willens vorgange unter; \u201edenn dieser ist der vollst\u00e4ndige Prozefs, zu dem die beiden anderen nur Teilinhalte von einfacherer oder zusammengesetzterer Beschaffenheit bilden\u201c. Das Wollen","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\nLitteraturbericht.\nerweist sich als die Grundthatsache, in der alle die Vorg\u00e4nge wurzeln, deren psychische Elemente die G-ef\u00fchle sind. Indem die Willensvorg\u00e4nge als in sich zusammenh\u00e4ngende und hei aller Verschiedenheit ihrer Inhalte gleichartige Vorg\u00e4nge aufgefafst werden, entsteht ein unmittelbares Gef\u00fchl dieses Zusammenhanges, welches wir als das Ich bezeichnen. Das Ich ist also ein Gef\u00fchl, nicht eine Vorstellung. Auch diesen Satz wird man in den Grundz\u00fcgen vergebens suchen. Dort redet W. an der entscheidenden Stelle (S. 302 if.) nur von der Ich-Vorstellung.\nDie Lehre von den Assoziationen bietet wenig Neues. Die sinnlichen Wiedererkennungsvorg\u00e4nge sind aus dem Gebiete der simultanen Assoziationen wohl mit Hecht in das der successiven verwiesen worden. Die begr\u00fcndenden und einschr\u00e4nkenden Erl\u00e4uterungen dieser \u00c4nderung findet man S. 279 ff.\nIn der Lehre von den Apperzeptionsverbindungen unterscheidet W. jetzt einfache und zusammengesetzte Funktionen der Apperzeption. Zu ersteren rechnet er Beziehung und Vergleichung, zu letzteren Synthese und Analyse. Die S\u00e4tze S. 294 geben den jetzigen Standpunkt Wundts sehr klar wieder: \u201eSolange die Wiedererkennung eine reine Assoziation bleibt, so beschr\u00e4nkt sich die Beziehung auf das unmittelbar oder nach einer kurzen Zwischenzeit der Assimilation des neuen Eindruckes folgende Bekanntheitsgef\u00fchl. Tritt dagegen zur Assoziation die apper-zeptive Funktion hinzu, so gewinnt jenes Gef\u00fchl ein deutlich bewufstes Vorstellungssubstrat, indem die fr\u00fchere Wahrnehmung und der neue Eindruck voneinander zeitlich unterschieden und zugleich nach ihren wesentlichen Eigenschaften in das Verh\u00e4ltnis der Identit\u00e4t gebracht werden.\u201c In konsequenter Durchf\u00fchrung dieses Satzes f\u00fcgt W. denn auch erst an dieser Stelle die Besprechung des WEBERschen Gesetzes ein. Die apperzeptive Synthese unterscheidet sich von den Assoziationen durch die Willk\u00fcr in der Auswahl unter den durch die Assoziation bereitliegenden Vorstellungs- und Gef\u00fchlsbestandteilen; die Motive dieser Auswahl k\u00f6nnen im allgemeinen erst aus der ganzen zur\u00fcckliegenden Entwickelung des individuellen Bewufstseins erkl\u00e4rt werden (S. 306). Auch in der folgenden Darstellung (bis S. 314) finden sich allenthalben sch\u00e4rfere Fassungen und leichte Modifikationen der in den Grundz\u00fcgen und in der Logik vorgetragenen Lehren.\nDer 4. Abschnitt, \u201eDie psychischen Entwickelungen\u201c \u00fcberschrieben, behandelt die psychischen Eigenschaften der Tiere, die psychische Entwickelung des Kindes und die Entwickelung geistiger Gemeinschaften (Sprache, Mythus, Sitte) ; der f\u00fcnfte Abschnitt, \u201eDie psychische Kausalit\u00e4t und ihre Gesetze\u201c betitelt, den Begriff der Seele, die psychologischen Beziehungsgesetze und die psychologischen Entwickelungsgesetze. Die psychologischen Beziehungsgesetze entsprechen den \u201ePrinzipien des psychischen Geschehens\u201c des fr\u00fcher besprochenen Aufsatzes in den Philos. Stud. (Bd. X. H. 1. S. 100 ff.). Das Gesetz der psychischen Resultanten entspricht dem Prinzip der sch\u00f6pferischen Synthese, das Gesetz der psychischen Relationen dem \u201ePrinzip der beziehenden Analyse\u201c; das Gesetz des psychischen Kontrastes sollte \u201edem Prinzip der reinen Aktualit\u00e4t des Geschehens\u201c entsprechen, indes l\u00e4fst sich eine Analogie","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Litter aturh er icht*\n279\nnur sehr gezwungen hersteilen, ich nehme daher an, daf\u00e4 auch hier der Standpunkt Wundts sich etwas ge\u00e4ndert hat. Die psychologischen Entwickelungsgesetze schienen damals dem Prinzip der sch\u00f6pferischen Synthese untergeordnet, jetzt treten sie den Beziehungsgesetzen in gleicher Zahl gegen\u00fcber. Wundt z\u00e4hlt sie auf als 1. das Gesetz des geistigen Wachstums, 2. das Gesetz der Heterogenie der Zwecke und 3. das Gesetz der Entwickelung in Gegens\u00e4tzen. Letzteres ist neu hinzugekommen. Es liegt auf der Hand, dafs die Architektonik des ganzen Systems damit wesentlich gewonnen hat.\nAus dem Angef\u00fchrten glaubt Deferent schliefsen zu d\u00fcrfen, dafs der Grundrifs nicht einfach einen Auszug aus den Grundz\u00fcgen darstellt, sondern in nicht wenigen Punkten auch eine weitere Ausgestaltung und Ab\u00e4nderung des WuNDTSchen Systems der Psychologie darstellt. Namentlich scheint mir im Hinblick auf die bereits in der 4. Auflage der Grund-z\u00fcge hervorgetretene Tendenz die jetzt wiederum verst\u00e4rkt hervortretende Betonung des Gef\u00fchlselements auch in der Lehre der sog* h\u00f6heren psychischen Prozesse bemerkenswert.\tZiehen (Jena).\nKurd Lasswitz. \u00dcber psychophysische Energie und ihre Faktoren. Arch, f. system. Thilos. I. S. 46\u201464. 1895.\nDer Verfasser versucht in dieser Abhandlung vom Standpunkt der Energetik aus die den Bewufstseinserscheinungen parallel gehenden physiologischen Vorg\u00e4nge zu bestimmen, wobei er die in einer fr\u00fcheren Arbeit (Philos. Monatsh. Bd. 29. S. 1\u201430, 177\u2014197) zusammengestellten energetischen Grundbegriffe als bekannt voraussetzt. Demgem\u00e4fs definiert er als psychophysische Energie denjenigen \u201eTeil der Energie eines Gebildes,1 dessen Ver\u00e4nderung einer Ver\u00e4nderung im Bewufstseinszustande dieses Gebildes entspricht.\u201c Diese Energie geh\u00f6rt zu der beweglichen Energie des Gehirns (d. h. zu der zu kontinuierlichen Umwandlungen verf\u00fcgbaren Energie), \u201eund der Prozefs ihrer Umsetzung ist das physiologische Korrelat der psychischen Ph\u00e4nomene.\u201c Nennt man \u201eGef\u00fcge die Gesamtheit der Bedingungen, unter denen die Wandlung der Energie eines Gebildes zu gegebener Zeit nach Form und Gr\u00f6fse eindeutig erzwungen wird\u201c, so haben wir eine Empfindung oder einen Komplex von solchen, wenn zwischen Gebilden, zu deren Gef\u00fcge unser Gehirn geh\u00f6rt, ein Energieaustausch eintritt. Jede Energie zerf\u00e4llt aber in zwei Faktoren, den Intensit\u00e4ts- (oder, wie L. zur Vermeidung von Mifsverst\u00e4ndnissen lieber sagt: das Potential) und den Kapazit\u00e4tsfaktor. Aller Energieaustausch h\u00e4ngt von dem Potentialunterschied ab. Die Empfindung als Ausdruck eines Energiewechsels der oben bezeich-neten Art ist somit zugleich \u201edas psychische Zeichen des vorhandenen Potentialunterschiedes.\u201c Das Korrelat der (gef\u00fchlsfreien) Empfindung ist also eine Ver\u00e4nderung des Potentials der psychophysischen Energie. Dagegen betrachtet Verfasser den Kapazit\u00e4tsfaktor derselben als das physische Korrelat des Gef\u00fchls und bezeichnet ihn als Empathie.\n1 \u201eGebilde\u201c ist eine K\u00f6rpergruppe, die eine (nicht weiter bestimmte) Einheit bildet. Philos. Monatsh. 29. S. 5.","page":279}],"identifier":"lit36463","issued":"1896","language":"de","pages":"276-279","startpages":"276","title":"W. Wundt: Grundri\u00df der Psychologie. Leipzig, W. Engelmann. 1896. 392 S.","type":"Journal Article","volume":"12"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:40:00.836469+00:00"}