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{"created":"2022-01-31T15:02:39.555625+00:00","id":"lit36690","links":{},"metadata":{"alternative":"Handbuch der Physiologie. Band 2: Handbuch der Physiologie des Nervensystems","contributors":[{"name":"Mayer, Sigmund","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"In: Handbuch der Physiologie. Band 2: Handbuch der Physiologie des Nervensystems, edited by Ludimar Hermann, 197-288. Leipzig: F. C. W. Vogel","fulltext":[{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"SPECIELLE NEKVENPHYSIOLOGIE\nYON\nProf. Dr. SIGMUND MAYER in Prag.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"ERSTES CAPITEL.\nYou der functionellen Verschiedenheit der peripherischen Nerven.\nEs darf als unbestreitbarer Lehrsatz aufgestellt werden, dass im normalen unversehrten Organismus die Nerven nur von ihren peripheren oder centralen Enden aus die Anregung zu ihrer specifischen Th\u00e4tigkeit erfahren. Wir nennen diejenigen Nerven, welche den Impuls zu ihrer in der Peripherie in specifischer Weise wirksam werdenden Th\u00e4tigkeit in den grossen nerv\u00f6sen Centren, Gehirn oder R\u00fcckenmark erhalten, centrifugale Nerven, im Gegens\u00e4tze zu den centripetalen, welche zun\u00e4chst an den peripherischen Enden in Erregung versetzt werden und der Fortleitung derselben nach dem Centrum dienen.\nWenn es einmal gelungen sein wird, die Natur der Processe in den Endorganen der Nerven und die Wesenheit der bei der Fortleitung der Erregung im Nerven stattfindenden Vorg\u00e4nge in allen ihren Bez\u00fcgen genau zu erkennen, so w\u00fcrde jeder theoretischen Forderung an die Erkenntniss der Kr\u00e4fte des Nervensystems Gen\u00fcge geleistet sein. Es w\u00e4re dann nur. von praktischem Interesse und eine Aufgabe mehr descriptiver Natur, die Bahnen zu bestimmen, die zwischen zwei nerv\u00f6sen Endapparaten \u2014 einem centralen und einem peripheren \u2014 ausgespannt sind.\nDem angegebenen Ziele muss die Physiologie zustreben. So lange dasselbe nicht erreicht ist, wird, durch die Nothwendigkeit, dass eine Reihe thats\u00e4chlicher Errungenschaften der Wissenschaft zur Darstellung gelangt, noch die Beibehaltung eines besonderen Capitels \u201e Specielle Nervenphysiologie \u201c gefordert. In diesem Handbuche ist aber von fr\u00fcheren Darstellungen insofern abgewichen worden, als das Eingreifen des Nervensystems in die Einzelfunctionen bei der Er\u00f6rterung dieser zur Besprechung kommen wird.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200 Sigmund Mater, Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nDiesem Princip zu Folge erscheint ein grosser Theil der That-saclien, die fr\u00fcher in der speciellen Nervenphysiologie vorgebracht wurden, in der vorliegenden Bearbeitung aus dieser ausgeschieden. Neben einer auf die einschl\u00e4gigen Capitel hinweisenden Uebersicht soll hier nur dasjenige Material ber\u00fccksichtigt werden, welches, nach dem jetzigen Stande unserer Kenntnisse, im Systeme der Physiologie nicht sachgem\u00e4sser untergebracht werden kann.\nDie Vergleichung der Resultate, welche man bei Versuchen mit Durchtrennung der Nerven einerseits und deren k\u00fcnstlicher Erregung andererseits erzielt, sowie die Ber\u00fccksichtigung der Symptomencom-plexe, die bei Erkrankungen im Bereiche des Nervensystems auf-treten, haben dazu gef\u00fchrt, folgende Kategorien von Nerven aufzustellen :\nI.\tCentrifugale Nerven.\na)\tMotorische Nerven f\u00fcr quergestreifte und glatte Muskulatur.\nb)\tHemmungsnerven. Dass der Nerv, vagus resp. accessorius dem Herzen gegen\u00fcber eine specifische Wirksamkeit entfaltet, die man nach dem Vorg\u00e4nge von Ed. Weber passend als Hemmung bezeichnet, wird allgemein anerkannt. Die \u00fcbrigen f\u00fcr die Annahme von centrifugalen Hemmungswirkungen beigebrachten Thatsachen bed\u00fcrfen weiterer Untersuchung.\nc)\tSecretionsnerven.\nd)\tTropkische Nerven.\nII.\tCentripetale Nerven*\na) Empfindungsnerven (sensible, sensitive, sensorische Nerven). Es d\u00fcrfte nicht unzweckm\u00e4ssig sein, hier darauf aufmerksam zu machen, dass es von Nerven, die bestimmte Reflexph\u00e4nomene vermitteln, wie z. B. den Lungenfasern des Vagus, die bei der Selbststeuerung der Athembewegungen mitwirken, ungewiss ist, ob sie auch Anlass zu Empfindungen geben. Neben die sensiblen Nervenfasern k\u00f6nnte man also noch die Kategorie der reflexvermittelnden Nerven stellen. Wir sagen absichtlich \u201e reflexvermittelnde \u201c und nicht Reflexbewegung vermittelnde Nerven, da auf dem Wege des Reflexes nicht allein Bewegungen, sondern auch die \u00fcbrigen oben erw\u00e4hnten centrifugalen Innervationen hervorgerufen werden k\u00f6nnen.\nVon den genannten Nervenarten werden hier zun\u00e4chst nur die sog. trophischen Nerven n\u00e4her in Ber\u00fccksichtigung gezogen werden, da \u00fcber die Berechtigung zur Aufstellung derselben vielfache Mei-","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Centripetale Nerven. Trophische Nerven.\n201\nnungsverschiedenheiten herrschen, im Uebrigen bei diesem Anlasse eine Reihe von Thatsachen zur Besprechung gelangen kann.\nDie trophischen Nerven.1\nVerschiedene Reihen von Erscheinungen haben dazu gef\u00fchrt, die besondere Kategorie der trophischen Nerven aufzustellen. Das that-s\u00e4chliche Material, welches hierzu Veranlassung gab, stammte zum geringeren Theil aus den Ergebnissen physiologischer Versuche, zum gr\u00f6sseren aus den Beobachtungen am Krankenbette. Ohne den hohen Werth der letzteren im geringsten schm\u00e4lern zu wollen, muss doch gleich hier hervorgehoben werden, dass Schl\u00fcsse aus denselben, wegen der Unm\u00f6glichkeit, die Erscheinungen willk\u00fcrlich und unter variirten Bedingungen hervorzurufen, nur mit grosser Vorsicht gezogen werden k\u00f6nnen.\nWenn wir zun\u00e4chst die durch Thierversuche errungenen Ergebnisse, die zur Aufstellung der trophischen Nerven Anlass gegeben haben, n\u00e4her betrachten, so ist das folgende Material in Ber\u00fccksichtigung zu ziehen.\n1)\tDurch Magendie wurde zuerst festgestellt, dass nach der in-tracraniellen Durchtrennung des Nerv, trigeminus, mit einer Tr\u00fcbung der Hornhaut beginnend und bis zur vollst\u00e4ndigen eiterigen Zerst\u00f6rung des ganzen Bulbus fortschreitend, Ver\u00e4nderungen am Auge auf-treten, die f\u00fcr eine tiefgreifende St\u00f6rung der Ern\u00e4hrung in diesem Organe sprechen.\n2)\tEine weitere Folge der intracraniellen einseitigen Trigeminus-durchschneidung sind Geschw\u00fcrsbildungen an den Lippen und an der Schleimhaut der Mundh\u00f6hle und des Gaumens, die von Bernard, B\u00fcttner und Rollett n\u00e4her untersucht wurden.\n3)\tNach doppelseitiger Durchschneidung der Nervi vagi am Halse beobachtet man tiefgreifende Ver\u00e4nderungen, welche gew\u00f6hnlich nach\n1 Samuel, Die trophischen Nerven. Ein Beitrag zur Physiologie und Pathologie. Leipzig 1860; J. B. A. Mougeot, Kecherches sur quelques troubles d\u00e9nutrition cons\u00e9cutifs aux affections des nerfs. Paris 1867. (Analyse et remarques par M. Ch. Robin. Sur les nerfs dits nutritifs ou trophiques in Journ. de l\u2019anat. et de la physiol, etc. IY. 1867. p. 276. Publi\u00e9 p. Charles Robin ; P. Bert, Recherches exp\u00e9rimentales pour servir \u00e0 l\u2019histoire de la vitalit\u00e9 propre des tissus animaux. Paris 1866 ; FriedreIch, Ueber progressive Muskelatrophie, \u00fcber wahre und fais che Muskelhypertrophie. Berlin 1873 ; Charcot, Klinische Vortr\u00e4ge \u00fcber Krankheiten des Nervensystems, \u00fcbers. vonFETZER. I. (die vier ersten Vorlesungen) ; Weir Mitchell, Injuries of nerves and their consequences. Philadelphia 1872. Mir lag nur die franz\u00f6sische Uebersetzung dieses Werkes vor: Des l\u00e9sions des nerfs et de leurs cons\u00e9quences, traduit par Dastre (pr\u00e9face par Vulpian). Paris 1874.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiol\u00f6gie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nArt, Alter und Individualit\u00e4t der Versuchstiere in verschiedener Zeit nach der Operation schliesslich zum Tode f\u00fchren.1\n4)\tDurchschneidung des Nervus ischiadicus hat sehr h\u00e4ufig Ex-ulcerationen an den Pfoten zur Folge.\n5)\tNach Durchtrennung s\u00e4mmtlicher Nerven, die sich zu einer Extremit\u00e4t begehen, treten Ver\u00e4nderungen auf, die von Mantegazza, Schiff, Vulpian studirt wurden. Schiff2 fand bei seinen an Hunden, Katzen und Fr\u00f6schen angestellten Versuchen, dass nach Durchschneidung des Nerv, cruralis und ischiadicus bei ausgewachsenen Thieren die Knochen der operirten Seite nach Verlauf von drei bis sechs Monaten immer weniger volumin\u00f6s waren, als auf der gesunden Seite ; das Periost der Knochen auf der gel\u00e4hmten Seite war verdickt und \u00f6fters deutlich aus mehreren Lagen bestehend. In den verd\u00fcnnten Knochen scheint eine Abnahme der anorganischen Bestandtheile stattgefunden zu haben. Aehnliche Ver\u00e4nderungen der Knochen wurden auch von Kassowitz3 nach Durchschneidung des Nerv, ischiadicus beobachtet.\nBei einer H\u00fcndin, die Schiff f\u00fcnf Monate nach der vollst\u00e4ndigen Zerst\u00f6rung der Nerven der hinteren Extremit\u00e4ten untersuchte, fanden sich die Knochen der letzteren sehr d\u00fcnn und knorpelartig weich und biegsam. Dieses Thier hatte sechs Wochen nach der Operation ein Junges geworfen und w\u00e4hrend eines Monates ges\u00e4ugt.\nWurden die erw\u00e4hnten Nervendurchschneidungen an heran -w ach sen den Thieren gemacht, so zeigte sich mit dem Processe der Verkr\u00fcmmung der Knochen zu gleicher Zeit eine stellenweise Verdickung und Hypertrophie der Knochensubstanz und der Beinhaut einhergehend. Beide Erscheinungen traten nach 1\u201411/2 Jahren deutlich hervor.\nBei sehr jungen, stark im Wachsthume begriffenen Thieren konnte schon nach wenigen Wochen die Hypertrophie beobachtet werden.\nWenn Schiff bei Fr\u00f6schen, denen der Plexus ischiadicus durchschnitten worden war, das Bein w\u00e4hrend einer Stunde durch vier Monate hindurch galvanisirte, so soll die Verd\u00fcnnung der Knochen ausgeblieben sein.\nDie Durchschneidung des Nerv, maxillaris inferior hatte nur\n1\tDie krankhaften Erscheinungen nach der Trigeminusdurchschneidung am Auge (Trigeminuskeratitis) und am Gaumen, sowie die Folgen der doppelseitigen Yagusdurchtrennung f\u00fcr die Lungen (Vaguspneumonie) werden bei Gelegenheit der Besprechung der Trigeminus- und Vagusfunctionen ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert werden.\n2\tSchiff, Compt. rend. 1854. p. 1050.\n3\tKassowitz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1878. S. 790.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n203\nHypertrophie des Knochens und des Periosts im Gefolge, ohne eine gleichzeitige, an anderen Stellen anftretende Verd\u00fcnnung.\nGanz \u00e4hnliche Resultate in Bezug auf das Verhalten der Knochen nach Durchschneidung der Nerven erzielten Vulpian und Philipeaux.1\n6)\tBei Fr\u00f6schen, die Joseph2 3 eingegypst hatte und denen auf der einen Seite die eine hintere Extremit\u00e4t versorgenden Nerven vom R\u00fccken aus durchschnitten worden waren, zeigten sich keine Folgeerscheinungen, die den Schluss erlaubt h\u00e4tten, dass von den beiden in vollst\u00e4ndige Ruhe gestellten Beinen das entnervte eingreifende St\u00f6rungen seiner Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse erfahren habe. Nach der von Joseph ge\u00fcbten Methode hat Hermann Schulz 3 an Fr\u00f6schen und Tauben experimentirt. Seine Resultate an Fr\u00f6schen stimmten mit den von Joseph erhaltenen \u00fcberein; bei der Taube gelang es nicht, beide Extremit\u00e4ten in vollst\u00e4ndige Ruhe zu stellen; wenn demnach nach l\u00e4ngerer Zeit der entnervte Unterarm eine st\u00e4rkere Atrophie der Muskulatur aufwies, so ist hierbei die Gleichheit der \u00fcbrigen Bedingungen, wie in den Versuchen von Joseph, nicht mehr realisirt gewesen.\n7)\tAnkntipfend an \u00e4ltere Angaben von N\u00e9laton, der nach Durchschneidung des Nerv, spermaticus zuweilen Atrophie des Hodens auf-treten sah, unternahm Obolensky4 eine experimentelle Pr\u00fcfung dieses Gegenstandes. Bei Hunden und Kaninchen suchte er die Nerven im Samenstrange auf, und excidirte St\u00fcckchen aus denselben, mit m\u00f6glichster Schonung der Blutgef\u00e4sse und des Vas deferens. Vom Ende der 2. bis 3. Woche wurde der entnervte Hode allm\u00e4hlich kleiner, bis er nach Verlauf von vier Monaten derart atrophirt war, dass er vom Samenstrange kaum mehr zu unterscheiden war. Bei der anatomischen Untersuchung fand sich das Dr\u00fcsengewebe des Hodens vollst\u00e4ndig geschwunden, an dessen Stelle ein an Fettzellen sehr reiches Bindegewebe. Der Samenstrang zeigte keine wesentliche Abnormit\u00e4t, die Nerven waren in derselben Weise degenerirt, wie dies immer nach ihrer Trennung vom Centralorgane der Fall ist. Die Injektion der Blutgef\u00e4sse von der Aorta aus liess die Persistenz derselben erkennen. An einem Thiere, das nach Ablauf des zweiten Monates nach der Operation untersucht wurde, war der Hode auf der entnervten Seite kaum halb so volumin\u00f6s, als der gesunde; in den\n1\tVulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vasomoteur (Physiologie et Pathologie) tome second, p. 352. Paris 1875.\n2\tJoseph, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1871. S. 721 ; Arch. f. Anat. u. Physiol. 1872. S. 206.\n3\tH. Schulz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. S. 708.\n4\tObolensky, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1867. S. 497.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nHodenkan\u00e4lchen fand sich eine gr\u00f6sstentheils aus Fettk\u00f6rnchen bestehende Masse, in der die Kerne entweder ganz fehlten oder in Fettmetamorphose begriffen waren. Nach Durchschneidung des Samenleiters ohne Verletzung der Nerven blieb der Hode lange Zeit (wie lange ist vom Autor nicht angegeben) unver\u00e4ndert.\nObolensky bringt mit diesen experimentellen Ergebnissen einen Fall in Zusammenhang, den er am Sectionstische beobachtet hat. In der Leiche eines 40j\u00e4hrigen Mannes war der rechte Hode im Vergleich zum linken stark atrophisch; die Hodencan\u00e4lchen waren zum Theil ganz geschwunden, zum Theil war das Epithel derselben in fettiger Degeneration begriffen. Die Fasern des Nerv, spermaticus erwiesen sich bei der mikroskopischen Untersuchung degenerirt. Im Conus medullaris befand sich ein Erweichungsherd.\n8)\tDen Einfluss der Nervendurchschneidung auf die Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse der Glandula submaxillaris des Hundes haben Cl. Bernard 1 2 3 4, Bidder 2 und Heidenhain 3 n\u00e4her untersucht. Nach den \u00fcbereinstimmenden Resultaten der genannten Forscher wird einige Wochen nach der Durchschneidung der Dr\u00fcsennerven (Dr\u00fcsenast des Nerv, lingualis und Halssympathicus) die Dr\u00fcse stark verkleinert gefunden; ihre Farbe ist gegen\u00fcber der r\u00f6thlich grauen der normalen Dr\u00fcse mehr gelblich. Die Consistenz der Dr\u00fcse auf der entnervten Seite wird geringer. Nach den von Bidder mitgetheilten W\u00e4gungen wog die Dr\u00fcse auf der entnervten Seite eines Hundes von 25 Kgrm. Gewicht 20 Tage nach der Durchschneidung des Lingualis und des Sympathicus 8,7 Grm., w\u00e4hrend das Gewicht der Dr\u00fcse der gesunden Seite 15,5 Grm. betrug. Da nach Bidder die Gewichtsverminderung nach alleiniger Durchschneidung des Lingualis in geringerem Maasse stattfindet, als nach Durchschneidung beider Nerven, so d\u00fcrfte an der Hervorbringung des erw\u00e4hnten Erfolges vorwiegend der Sympathicus betheiligt sein.\n9)\tUeber die Nachwirkungen der Durchschneidung der Nerven, die sich zum Kamme des Hahnes und den Fleischlappen an der Kehle des Truthahnes begeben, liegen Angaben von Schiff und Legros vor.\nBei einem ganz jungen Hahne hatte Legros4 das obere Cervi-calganglion exstirpirt; in Folge dieser Operation war bei dem erwachsenen Thiere der Kamm der entsprechenden Seite atrophisch\n1\tCl. Bernard, Journ. d. l\u2019anat. et d. 1. physiol. 1864.1. p. 507.\n2\tBidder, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1867. S. 25.\n3\tHeidenhain, Studien des physiologischen Instituts zu Breslau IV. 1868. S. 77.\n4\tLegros, Des nerfs vasomoteurs. Paris 1873.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n205\ngeworden. Bei Truth\u00e4hnen durchschnitt Schiff 1 die f\u00fcr die Fleischlappen der Kehle bestimmten Nerven mehr oder weniger vollst\u00e4ndig und bemerkte nach Verlauf einiger Wochen, dass dieselben einer Atrophie anheimfielen.\n10) Die Ver\u00e4nderungen in den Ern\u00e4hrungs- und Wachsthumszust\u00e4nden, die der Durchschneidung des Halssympathicus sich an-schliessen, sind vielfach Gegenstand der Untersuchung gewesen, ohne zu einer vollst\u00e4ndigen Uebereinstimmung der Befunde gef\u00fchrt zu haben.\nBernard konnte bei einem sehr jungen Thiere, dem er den Halssympathicus durchschnitten hatte, nach zehn Monaten keine Hypertrophie der betreffenden Seite beobachten. In einer an 15 Versuchstieren durchgef\u00fchrten Versuchsreihe kam Ollier 2 nach dieser Richtung hin ebenfalls zu rein negativen Ergebnissen. Auch Cohnheim 1 2 3 4 5 berichtet von negativen Resultaten betreffs eines st\u00e4rkeren Wachsthums des Ohres nach Durchschneidung des Halssympathicus bei halbw\u00fcchsigen Kaninchen.\nIm Gegensatz zu diesen Angaben theilen A. Bidder 4 und Stirling 5 mit, dass sie nach Excisionen aus dem Halssympathicus junger Kaninchen und Hunde ein betr\u00e4chtlicheres Wachsthum des Ohres auf der operirten Seite gesehen haben.\nNach Schiff6 7 wachsen auf derjenigen Seite, auf welcher der Sympathieus durchtrennt worden, die Haare rascher. Ich selbst habe nach dieser Richtung hin folgende Beobachtung gemacht. Bei einem erwachsenen Kaninchen wurden gleichzeitig beide Ohren mit Calcium-sulphhydrat vollst\u00e4ndig enthaart und sodann auf der einen Seite St\u00fccke aus dem Halssympathicus und dem Nerv, auricularis magnus excidirt. Nach Verlauf von IV2 \u2014 2 Monaten waren die Haare auf der entnervten Seite, \u00fcber das ganze Ohr verbreitet, in der Gr\u00f6sse von etwa 2 Millimetern wieder gewachsen, w\u00e4hrend auf der gesunden Seite sich nur dem Verlaufe der mittleren Arterie entlang ein deutlicher Haarstreif entwickelt hatte.\nBrown-S\u00e9quard 7 beobachtete bei Meerschweinchen eine merk-\n1\tSchiff, Le\u00e7ons sur la physiologie de la digestion, r\u00e9dig\u00e9es par Emile Levier. IL p. 539. Florenz und Turin 1867.\n2\tOllier, Journ. d. 1. physiol. YI. 1863. p. 107. Die oben angef\u00fchrte Angabe von Bernard citirt Ollier in diesem Aufsatze als eine pers\u00f6nliche Mittheilung desselben.\n3\tCohnheim, Vorlesungen \u00fcber allgemeine Pathologie I. S. 599. Berlin 1877.\n4\tBidder, Centralbl. f. Chirurgie 1874. Nr. 7.\n5\tStirling, Journ. of anat. and physiol. X. p. 511. 1876.\n6\tSchiff, Untersuchungen zur Physiologie des Nervensystems mit Ber\u00fccksichtigung der Pathologie S. 166. Frankfurt a. M. 1855.\n7\tBrown-S\u00e9quard, Compt. rend. d. 1. soc. d. biologie 1872. p. 194.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nw\u00fcrdige Wirkung der Sympathicusdurchschneidung auf das Gehirn. Nach beiderseitiger Durchschneidung des genannten Nervenstammes am Halse fand er nach 18 Monaten das Gehirn viel weniger volumin\u00f6s, als bei unversehrten Thieren desselben Alters. Gr\u00f6ssere Beachtung, als der eben erw\u00e4hnte Versuch, scheint ein anderer desselben Autors zu verdienen, in dem das Gehirn nach einseitiger Durchschneidung des Halssympathicus auf der betreffenden Seite eine deutliche Atrophie aufwies. Vulpian 1 konnte in mehreren zur Controlle der Brown-S\u00c9QUARD\u2019schen Angaben angestellten Versuchen nur einmal eine Verminderung des Hirnvolums auf der Seite der Nervendurchschneidung constatiren.\n11) Einen sehr wesentlichen Einfluss \u00fcbt die Durchschneidung der motorischen Nerven auf die zugeh\u00f6rigen Muskeln aus. Abgesehen von den ver\u00e4nderten Reaktionen des Muskels gegen den Reiz des galvanischen und inducirten Stromes und anderen am Muskel sich zeigenden Aenderungen seines Verhaltens (L\u00e4hmungsoscillationen, Schiff, Brown-S\u00e9quard) , auf die wir an dieser Stelle nicht n\u00e4her einzugehen haben, zeigen sich einige Zeit nach der Nervendurchschneidung Ver\u00e4nderungen, die auf eine tiefgreifende St\u00f6rung der Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnisse im Muskel hinweisen.\nEs handelt sich hierbei theils um Ver\u00e4nderungen an der eigentlichen contraction Substanz theils an dem in Muskeln vorkommenden Bindegewebe. Die hier in Frage kommenden Untersuchungen wurden von Mantegazza 1 2, Erb 3, Vulpian 4, Golgi und Bizzozero 5 angestellt, nachdem schon fr\u00fcher Reid und Valentin hierher geh\u00f6rige Angaben gemacht hatten.\nNach etwa zwei Wochen beginnt die von dem durchschnittenen Nerven versorgte Muskulatur zu atrophiren ; die Muskelfasern werden schm\u00e4ler, nach Monaten und Jahren kann die contractile Substanz vollst\u00e4ndig geschwunden und nur noch das nicht muscul\u00f6se gewucherte Bindegewebe \u00fcbrig geblieben sein, vorausgesetzt, dass eine Regeneration des durchtrennten Nerven auf irgend eine Weise verhindert wurde. Ausserdem beobachtete man eine mit der Atrophie der Muskelsubstanz einhergehende Wucherung der Muskelkerne in der Art, dass nun an Stelle eines einzelnen Kernes Haufen und Reihen von solchen zusammenliegen. Im Verlaufe der Atrophie werden die\n1\tVulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vasomoteur etc. II. p. 397.\n2\tMantegazza, Gazz. Lombard. 33.1865 (Schmidt\u2019s Jahrb. CXXX. S. 275. 1866) und Gazz. Lombard. 18. 1867 (Schmidt\u2019s Jahrb. CXXXVL).\n3\tErb, Deutsch. Arch. f. klin. Med. IV. S. 535, V. S. 42. 1868.\n4\tVulpian, Arch. d. physiol, norm, et pathol. II. p. 558. 1869.\n5\tBizzozero und Golgi, Med. Jahrb., red. von S. Stricker. 1873. S. 125.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n207\nQuerstreifen minder scharf, die Fasern zeigen gr\u00f6ssere Neigung zu der von Erb n\u00e4her charakterisirten \u201ewachsartigen Degeneration\u201c.\nIm interstitiellen Bindegewebe des Muskels beginnt etwa von der zweiten Woche an eine massenhafte Anh\u00e4ufung zelliger Elemente, die wahrscheinlich ausgewanderte weisse Blutk\u00f6rperchen sein d\u00fcrften. Sie finden sich besonders in der Umgebung der Blutgef\u00e4sse und der degenerirten Nervenst\u00e4mmchen. Weiterhin nimmt im Verlaufe des Schwundes der contraction Substanz das Bindegewebe bedeutend an Masse zu, wodurch der Muskel viel derber und fester wird, als in der Norm.\nUeber Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen beim Menschen, die sich im Zusammenh\u00e4nge mit Verletzungen oder Erkrankungen im Nervensysteme ausbildeten, liegt eine sehr grosse Reihe von Beobachtungen vor, die noch t\u00e4glich durch neue vermehrt werden. Indem wir auf die oben erw\u00e4hnten zusammenh\u00e4ugenden Darstellungen von Samuel, Weir Mitchell, Charcot, Erb u. A. verweisen, k\u00f6nnen wir hier nur das thats\u00e4chliche Material insoweit herbeiziehen, als wir die aus demselben mit mehr oder weniger Umsicht gezogenen Schl\u00fcsse sp\u00e4ter in Ber\u00fccksichtigung zu ziehen haben werden.\nBei Verletzungen und Erkrankungen sowohl des peripherischen, als auch des centralen Nervenapparates wurden sog. trophische St\u00f6rungen in den befallenen Theilen beobachtet.\nWas zun\u00e4chst die im Bereiche des peripherischen Nervensystems vorkommenden St\u00f6rungen betrifft, so sind sowohl bei den Erkrankungen sensibler, als auch motorischer und gemischter Nerven Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen im Verbreitungsbezirke derselben zur Beobachtung gelangt.\n1)\tBei neuralgischenAffektionen wurden beobachtet Ver\u00e4nderungen in der Farbe, in der Zahl und Dicke, sowie in der Verbreitung der Haare, Verd\u00fcnnung der Haut, Schwund des Fettpolsters. Sodann an der Haut und am Auge verschiedenartige Affektionen, wie Erythem, Erysipelas, Urticaria, Pemphigus und ganz besonders Herpes.\n2)\tAehnliche Erscheinungen treten auch auf, wenn in Folge der Leitungsunterbrechung zwischen Gehirn und peripherischem Bezirk An\u00e4sthesie vorhanden ist.\n3)\tIn Folge von peripheren L\u00e4hmungen zeigt die Haut oft Zeichen von Atrophie, sie wird papierd\u00fcnn, glatt und gl\u00e4nzend, insbesondere an den Fingern und Zehen (glossy fingers, glossy skin); sie neigt mehr, als in der Norm zu Decubitus und Ulcerationen. Ueber das Verhalten der Haare liegen widersprechende Angaben vor.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nNach Mitchell sollen die Haare auf der gel\u00e4hmten Seite verschwinden, w\u00e4hrend Schiefferdecker regelm\u00e4ssig einen vermehrten Haarwuchs sah. Die Knochen atrophiren und verlieren an Gewicht. Die Gelenke werden steif, angeschwollen und schmerzhaft. Ganz besonders aber verfallen die quergestreiften Muskeln einer Atrophie, die sich in keinem wesentlichen Punkte vor derjenigen zu unterscheiden scheint, die wir oben als Folgeerscheinung der Durchschneidung motorischer Nerven kurz beschrieben haben.\nBei Erkrankungen und Verletzungen des R\u00fcckenmarks hat man im Wesentlichen dieselben Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen wie bei Ver\u00e4nderungen in den peripherischen Nerven angetroffen. Dieselben scheinen jedoch leichter vom peripherischen Nervensystem, als vom R\u00fcckenmark ausgehen zu k\u00f6nnen.\nDie degenerative Atrophie der Muskeln, wie sie bei der protopathischen progressiven Muskelatrophie, der Scl\u00e9rose lat\u00e9rale amyotrophique beobachtet wird, schreibt die Mehrzahl der Autoren prim\u00e4r in den Vorderh\u00f6rnern der grauen Substanz sich localisirenden Ver\u00e4nderungen der Nervenzellen zu. Diese Ansicht ist jedoch, und, wie uns scheint, mit Recht, in ihrer allgemeinen G\u00fcltigkeit mehrfach bestritten worden (Friedreich, Lichtheim).\nDie Haut kann aus spinalen Ursachen der Sitz \u00e4hnlicher Erkrankungen werden, wie es oben bereits erw\u00e4hnt wurde. Ausserdem tritt bei Erkrankungen und Verletzungen des R\u00fcckenmarkes h\u00e4utig Druckbrand (Decubitus) auf, welcher oft rasch auch auf die tieferliegenden Gewebe (Sehnen, Fascien, B\u00e4nder etc.) \u00fcbergreift. Dieser Decubitus tritt in zwei Formen auf, als chronischer und acuter Decubitus (\u00e9schare \u00e0 formation rapide, Charcot); \u00f6fters sind bei der Ausbildung des letzteren, der besonders bei schweren traumatischen L\u00e4sionen zur Beobachtung gelangt, die Einwirkung von Druck und Verunreinigung nicht nachzuweisen.\nEndlich hat Charcot neuerdings die Aufmerksamkeit auf eigent\u00fcmliche Erkrankungen der Gelenke hingelenkt, die sich nicht gerade selten im Verlaufe der Tabes dorsalis, nach traumatischen Erkrankungen des R\u00fcckenmarkes und bei spontaner Myelitis ausbilden.\nBei Hemiplegie aus cerebralen Ursachen sind ebenfalls rasch zur Entwicklung gelangende Arthropathien zur Beobachtung gelangt. Schliesslich soll noch kurz der Ver\u00e4nderungen gedacht werden, die nach Beobachtungen von Schiff, Brown-S\u00e9quard und Ebstein bei Verletzung gewisser Theile des Gehirns (Sehh\u00fcgel, Streifenh\u00fcgel, Br\u00fccke) in Form von Ekchymosen in den Lungen, den Pleuren und ganz besonders im Magen auftreten.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n209\nEs liegt uns nun ob, zu untersuchen, inwieweit das beigebrachte thats\u00e4chliche Material zur Aufstellung der besonderen Kategorie der trophischen Nerven berechtigt.\nZun\u00e4chst wird es f\u00fcr die Klarstellung der vorliegenden Frage von Wichtigkeit sein, die Erscheinungen, die man nach der Durchschneidung motorischer und seeretorischer Nerven an den quergestreiften Muskeln und der Glandula submaxillaris beobachtet hat, streng von den an anderen Organen auftretenden Folgeerscheinungen der Nervendurchschneidung zu trennen.\nWas nun zun\u00e4chst die Frage betrifft, ob die Muskeln und die Dr\u00fcsen trophische Nerven besitzen, so muss zuerst genau pr\u00e4cisirt werden, welchen Anforderungen diese trophischen Nerven entsprechen m\u00fcssten, wenn die Physiologie sie als den \u00fcbrigen Nervenkategorien ebenb\u00fcrtige ansprechen soll. Unseres Erachtens nach m\u00fcssten die beiden Methoden der Physiologie, der Nervendurchschneidung und der k\u00fcnstlichen Nervenreizung sich in ihren Resultaten decken, derart, dass mit Wegfall der Nervenwirkung alsbald der Wegfall der normalen Ern\u00e4hrung sich einstellen w\u00fcrde, die k\u00fcnstliche Reizung , der Nerven aber sichtbare Ver\u00e4nderungen der Nutrition im Gefolge haben w\u00fcrde. Diesen beiden Forderungen gen\u00fcgen aber unsere bisherigen thats\u00e4chlichen Ermittlungen keineswegs. Die St\u00f6rungen in der Ern\u00e4hrung der Muskeln tritt viel zu versp\u00e4tet auf, als dass man sie dem Wegfalle eines directen trophischen Einflusses zuschreiben k\u00f6nnte, und von den ern\u00e4hrungsver\u00e4ndernden Wirkungen der k\u00fcnstlichen Nervenreizung ist Nichts bekannt.1\nWir k\u00f6nnen also den Muskeln ausser den motorischen Nerven besondere trophische Nerven nicht zuschreiben.\nDahingegen erscheint es als hinl\u00e4nglich durch die Thatsachen gerechtfertigt, wenn wir folgenden Satz aufstellen: Die centrale Nervensubstanz (graue Substanz), die periphere Faser und ihre peripheren Endorgane stellen nicht nur eine functionelle oder Erregungseinheit dar, sondern auch eine Ern\u00e4hrungs- oder nutritive Einheit.\nIm normalen Organismus wird z. B. die quergestreifte Muskelfaser nur vom nerv\u00f6sen Centralorgane zur Contraction angeregt, die\n1 Heidenhain hat neuerdings, wie sp\u00e4ter in der Lehre von den Secretionen durch diesen Forscher n\u00e4her auseinandergesetzt werden wird, f\u00fcr die Speicheldr\u00fcsen secretorische (Wasser absondernde) und trophische (den Umsatz der organischen Secretbestandtheile in den Dr\u00fcsenzellen beherrschende) Nervenfasern angenommen. Gegen die Aufstellung von \u201etrophischen\u201c Nervenfasern in dem von Heidenhain gebrauchten Sinne ist nichts einzuwenden; doch w\u00e4re es wiinschens-werth gewesen, diese Bezeichnung, mit der sich seit l\u00e4ngerer Zeit bestimmte Vorstellungen verkn\u00fcpfen, durch eine andere zu ersetzen.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II.\n14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nDr\u00fcsensubstanz erh\u00e4lt wohl nur auf diesem Wege die Antriebe zu ihrer normalen Th\u00e4tigkeit. In allen drei Bestandteilen des Ge-sammtapparates muss sich eine Reihe von specifischen Ver\u00e4nderungen vollziehen, deren letzter Ausdruck am Muskel Contraction, an der Driisensubstanz die Secretion darstellt.\nWenn also zur Hervorbringung einer Ern\u00e4hrungsver\u00e4nderung mit specifischem Charakter, als welche wir wohl Muskelcontraction und Dr\u00fcsensecretion ansehen d\u00fcrfen, die Mitwirkung der drei Bestandteile des Gesammtapparates notwendig erscheint, so ist mit gutem Grunde anzunehmen, dass sie auch in demjenigen Zustande des Organismus, in dem diese specifischen Ern\u00e4hrungsph\u00e4nomene fehlen, eine Wechselwirkung auf einander aus\u00fcben. Diese Wechselwirkung braucht sich weder in willk\u00fcrlicher Bewegung, noch in bewusster Empfindung, noch in Secretion, noch in sonst irgend sinnenf\u00e4lligen Aenderungen am Organismus zu \u00e4ussern, sondern einfach in einer bestimmten Regulirung ihres Stoffwechsels, in einem ganz bestimmten Verh\u00e4ltnisse zwischen Stoffverbrauch und Stofferneuerung. Das Endresultat dieser Wechselwirkung ist also nichts anderes, als was wir die normale Ern\u00e4hrung nennen, i. e. die Erhaltung einer bestimmten Form und einer bestimmten chemischen Zusammensetzung.\nUnter der Annahme, dass die unter dem Einfl\u00fcsse des centralen Nervensystems stehenden Gebilde (Muskel, Dr\u00fcsen) mit ersterem nicht allein eine functionelle, sondern auch eine nutritive Einheit bilden, ist es leicht erkl\u00e4rlich, warum im Nerven und Muskel Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen sich ausbilden, wenn der normale Zusammenhang zwischen beiden gel\u00f6st wird. Nach einer derartigen Trennung verf\u00e4llt jeder Theil, um mich so auszudr\u00fccken, seinem eigenen Schicksal, w\u00e4hrend die Zwecke des Organismus sein Schicksal eng mit demjenigen anderer Apparate verkn\u00fcpft hatten. Mit der Aufl\u00f6sung der Erregungseinheit schwindet auch die nutritive Einheit. Die alsdann sich ausbildenden Processe sind nicht sofort Atrophie, sondern vielmehr Al-lotrophie. Die Ern\u00e4hrungsprocesse in Nerven, Muskeln und Dr\u00fcsen, die von ihren Centren getrennt werden, h\u00f6ren nicht auf, sondern werden nur in Bahnen gelenkt, die den Zwecken des Gesammt-organismus nicht mehr unterthan sind, grade so wie in functioneller Beziehung ein derartiger Muskel nur gel\u00e4hmt ist f\u00fcr die normalen, den Zwecken des Organismus dienenden Bewegungen, im Uebrigen aber sowohl spontan sich bewegt (L\u00e4hmungsoscillationen) und auch f\u00fcr die k\u00fcnstlichen Reize (Elektricit\u00e4t), wenn auch in ver\u00e4nderter Weise, erregbar bleibt.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n211\nAuch bei unversehrter Erregungs- und Ern\u00e4hrungseinheit der genannten Apparate k\u00f6nnen in denselben, veranlasst durch l\u00e4nger dauernden Mangel der normalen Erregungen, Aenderungen in der Ern\u00e4hrung gesetzt werden. Diese Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen haben aber einen wesentlich anderen Charakter, da sie nur begr\u00fcndet sind im Wegfalle bestimmter, durch den Erregungsvorgang selbst eingeleiteter Bedingungen der Ern\u00e4hrung (einfache Atrophie). Die Vorg\u00e4nge nach L\u00f6sung der Erregungs- und Ern\u00e4hrungseinheit sind aber dadurch charakterisirt, dass nicht allein die durch zeitweilige Th\u00e4tigkeit des Gesammtapparates eingeleiteten Ern\u00e4hrungsmodalit\u00e4ten fehlen, sondern dass jetzt die Bestandteile, die vorher zu einer Einheit verkn\u00fcpft waren, ihrem eigenen, den Zwecken des Gesammtorganis-mus nicht mehr dienenden Stoffwechsel anheimgegeben werden.\nEs k\u00f6nnte auf den ersten Blick scheinen, als sei die eben entwickelte Airsicht identisch mit den von Physiologen und Pathologen vielfach ge\u00e4usserten Lehren von der trophischen Bedeutung der centralen Nervensubstanz gegen\u00fcber den peripheren Nerven, den Muskeln, Dr\u00fcsen und anderen Geweben. In der That stimmt dieselbe insoweit mit denselben \u00fcberein, als ich die Integrit\u00e4t der centralen Nervenmasse, mit der Muskel- und Dr\u00fcsensubstanz durch die peripherischen Nerven in Verbindung gesetzt sind, f\u00fcr unbedingt nothwendig erachte auch f\u00fcr die Integrit\u00e4t eben dieser Nerven und ihrer peripheren Enden. Meine Ansicht unterscheidet sich aber wesentlich von der insbesondere von den Pathologen fast allgemein adoptirten insofern, als ich die centrale Nervensubstanz nicht einseitig, gleichsam als die nutritive Vorsehung der peripherischen Gebilde ansehe, sondern der Meinung bin, dass die centrale Nervensubstanz ebenso von den peripheren Organen, mit denen sie eine Erregungseinheit bildet, in ihrer Ern\u00e4hrung mitbeeinflusst wird. Allerdings wird hierbei in Uebereinstimmung mit vielen gut beobachteten Thatsachen zugegeben werden m\u00fcssen, dass die peripheren Apparate leichter leiden, wenn die centrale Nervensubstanz alterirt wird, als umgekehrt. Dieser Umstand scheint mir aber sonder Schwierigkeiten erkl\u00e4rbar zu sein, wenn wir bedenken, dass peripherer Nerv, Muskel oder Dr\u00fcse nur Glieder einer einzigen Erregungseinheit bilden. Sobald diese Einheit zerst\u00f6rt wird, muss auch die normale Ern\u00e4hrung, die auf die Unversehrtheit dieser Einheit angewiesen ist, leiden. Die centrale Substanz hingegen ist offenbar, wie aus vielen Beobachtungen hervorgeht, Mitglied verschiedener funetioneller und nutritiver Einheiten ; wenn so z. B. der Zusammenhang eines motorischen Nerven mit dem B\u00fcckenmarke getrennt wird, so sehen wir den peripheren Stumpf des\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nNerven mitsammt dem Muskel der Allotrophie anheimfallen, der centrale Stumpf und das R\u00fcckenmark bleiben durch sehr lange Zeit hindurch intact, wohl aus keinem anderen Grunde, als weil das Deficit an Ern\u00e4hrungsimpulsen, das in der R\u00fcckenmarkssubstanz durch Wegfall des Muskels und eines St\u00fcckes Nerv gesetzt wird, \u00fcbercompensirt werden kann durch den innigen Zusammenhang der betreffenden R\u00fcckenmarkspartie mit anderen Theilen der nerv\u00f6sen Centralorgane und der K\u00f6rperperipherie.\nWenn wir, von der entwickelten Anschauung ausgehend, einen R\u00fcckblick auf die oben angef\u00fchrten Thatsachen werfen, so finden wir f\u00fcr viele derselben zureichende Erkl\u00e4rungen. Zun\u00e4chst erscheint es ganz plausibel, dass nach St\u00f6rung des Zusammenhanges zwischen Muskel und Centralorgan durch Verletzung des Nerven (peripherische L\u00e4hmung) degenerative Atrophie des Muskels viel leichter auftritt, als nach Verletzungen und Erkrankungen des Gehirns und R\u00fcckenmarkes.\nDie Pathologen nehmen ganz allgemein an, dass durch Erkrankung der in den Vorders\u00e4ulen des R\u00fcckenmarkes vorfind] ichen grossen Ganglienzellen eine Atrophie der betreffenden Muskeln bedingt werde ; in dieser Weise werden die Amyotrophieen bei der spinalen Kinderl\u00e4hmung, der amyotrophischen Seitenstrangsklerose, bei der progressiven Muskelatrophie erkl\u00e4rt. Nur Friedreich hat den entgegengesetzten Standpunkt vertreten, und sieht die im R\u00fcckenmarke vorfind-lichen Ver\u00e4nderungen als secund\u00e4re Folgen einer prim\u00e4r in den Muskeln sich localisirenden Erkrankung an, die auf dem Wege der Nerven bis ins R\u00fcckenmark fortschleicht ; einer \u00e4hnlichen Auffassung hat neuerdings auch Lichthem f\u00fcr die protopathische progressive Muskelatrophie das Wort geredet.\nNach unserer Anschauung erscheint es nun, in Uebereinstimmung mit der Ansicht der Pathologen, als ganz sicher, dass mit eintretenden St\u00f6rungen in bestimmten Partieen der centralen Nervensubstanz (Ganglienzellen der grauen Vorders\u00e4ulen) gleichzeitig die functionelle und die nutritive Einheit des Apparates aufgel\u00f6st wird. Die Folge hiervon ist die functionelle und nutritive St\u00f6rung, welche sich einerseits in L\u00e4hmung und andererseits in degenerativer Atrophie der Muskeln kund giebt, beides mit relativ raschem Verlaufe. So ist es auch in der That bei der von Charcot geschilderten scl\u00e9rose lat\u00e9rale amyotrophique.\nGanz anders aber liegt die Sache bei der progressiven Muskelatrophie. Nichts erscheint, nach der von uns entwickelten Ansicht, plausibler, als dass prim\u00e4r in der Muskelsubstanz sich etablirende","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n213\nabnorme Ern\u00e4hrungsvorg\u00e4nge nach hinl\u00e4nglich langer Dauer der Erkrankung, auch die mit ihr zu einer Einheit verkn\u00fcpften Nerven und centrale Nervensubstanz in die Allotrophie mit hineinziehen k\u00f6nnen. Es wird dieser Fall aber erst dann eintreten k\u00f6nnen, wenn die von den Muskeln ausgehenden allotrophischen Processe nicht mehr compensirt werden k\u00f6nnen von den normalen nutritiven Einfl\u00fcssen, welche der betreffenden Partie der centralen Nervensubstanz entweder von anderen Theilen des Centralorganes oder anderen peripheren Apparaten Zustr\u00f6men.\nWir sind weit davon entfernt, die schwierige und viel discutirte Frage nach dem prim\u00e4ren Sitze der progressiven Muskelatrophie hier kurzer Hand entscheiden zu wollen. So viel aber darf wohl noch bemerkt werden, dass sich nach meiner Auffassung viele widersprechende Befunde einer befriedigenden Erkl\u00e4rung zuf\u00fchren lassen.\nStreng\u2019zu scheiden von den Ver\u00e4nderungen der Nerven und Muskeln (sowie Dr\u00fcsen) bei Durchschneidungen der Nerven und Erkrankungen und Verletzungen des centralen Nervensystems, sind die St\u00f6rungen an anderen Apparaten, die wir oben aufgef\u00fchrt haben.\nDiese verschiedenartigen abnormen Erscheinungen in der Ern\u00e4hrung und im Wachsthum, welche nach Verletzungen und Erkrankungen im Nervensysteme auftreten, werden wir erst dann als durch besondere Nerven (trophische Nerven) bedingt ansehen d\u00fcrfen, wenn die Mitwirkung der \u00fcbrigen Nervenkategorien ausgeschlosen oder durch anatomische Nachweise die Existenz von Nerven, denen trophische Wirkungen zuzuschreiben w\u00e4ren, wahrscheinlich gemacht werden k\u00f6nnte.\nF\u00fcr die Mitbetheiligung beim Zustandekommen tropkischer St\u00f6rungen haben wir also vorerst in Ber\u00fccksichtigung zu ziehen die sensiblen (centripetalen) Nerven, die vasomotorischen (vasoconstric-torischen und vasodilatatorischen) Nerven und hiebei sowohl die Zust\u00e4nde der Functionsunf\u00e4higkeit als auch die abnorm starken Erregungen zu beachten.\n1) Es scheint nach den \u00fcbereinstimmenden Untersuchungen vieler Forscher ausgemacht zu sein, dass die krankhaften Erscheinungen am Auge nach Trigeminusdurchschneidung, sowie die Ver\u00e4nderungen am Gaumen und an den Lippen nach derselben Operation nur in dem Wegfalle der Sensibilit\u00e4t und der hievon abh\u00e4ngigen Bewegungserscheinungen begr\u00fcndet sind. In gleicher Weise d\u00fcrften sich die Exulcerationen an anderen Theilen nach Eliminirung der sensiblen Nerven erkl\u00e4ren. Aber nicht nur durch den hervorgerufenen Mangel wichtiger durch die normale Motilit\u00e4t gegebener Schutzvorrichtungen,","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 1. Cap. Verschiedenheit der Nerven.\nd\u00fcrfte die Eliminirung der sensiblen Nerven wirken, sondern auch dadurch, dass die mit den sensiblen Erregungen zu gleicher Zeit eingreifenden regulatorischen Innervationen f\u00fcr die locale Blutversorgung den nerv\u00f6sen Centralorganen nicht mehr, wie in der Norm, \u00fcbermittelt werden.\n2) Die Intervention vasomotorischer Nerven bei der Hervorbrin-gung gewisser Ver\u00e4nderungen in der Ern\u00e4hrung und im Wachsthum kann gewiss nicht bestritten werden. Dass die in der ersten Zeit nach der Durchschneidung vasoconstrictorischer Nerven auftretende Hyper\u00e4mie und die locale Temperaturerh\u00f6hung beschleunigend auf die Stoffanbildung wirken k\u00f6nnen, erscheint a priori wahrscheinlich und ergiebt sich auch aus den oben angef\u00fchrten positiven Versuchsergebnissen. Da jedoch die durch die Trennung vasoconstrictorischer Nerven gesetzte Hyper\u00e4mie bald wieder zur\u00fcckgeht und der Tonus der Gef\u00e4sse sich wieder herstellt, so kann dieser vermehrte Stoffwechsel nur von kurzer Dauer sein. Es kann sich dann im Gegen-theil ein Zur\u00fcckbleiben in den Ern\u00e4hrungsvorg\u00e4ngen ausbilden, da die in einem mittleren Zustande der Contraktion stehenbleibenden und nur noch passiv unter dem Einfl\u00fcsse des wechselnden allgemeinen Blutdruckes oscillirenden Gef\u00e4sse niemals mehr wieder so weit werden k\u00f6nnen, als dies m\u00f6glich war zu einer Zeit, da sie sich unter dem Einfl\u00fcsse der nerv\u00f6sen Centralorgane durch vollst\u00e4ndiges Erlahmen ihres dort wurzelnden Tonus ad maximum erweitern konnten; auch ist vielleicht der Wegfall vasodilatatoriseher Innervationen hier in R\u00fccksicht zu ziehen. Die oben angef\u00fchrte Beobachtung der Atrophie der schwellbaren Gebilde bei V\u00f6geln scheint so erkl\u00e4rt werden zu m\u00fcssen. Die regelrechte Ern\u00e4hrung derselben ist angewiesen auf die von Zeit zu Zeit eintretende Erregung der vasodila-tatorischen Nerven; sind dieselben vom Centralorgan getrennt, dann tritt eine St\u00f6rung in der normalen Ern\u00e4hrung ein, die sich in diesem Falle wahrscheinlich auf die Gef\u00e4sswandungen selbst erstreckt.\nW\u00e4hrend also, unserer Meinung nach, haltbare Gr\u00fcnde nicht vorliegen, die Wirkung der vasomotorischen Nerven auf einfache atrophische oder hypertrophische Processe zu l\u00e4ugnen, so ist die Frage, inwieweit der Wegfall der vasomotorischen Innervationen anderweitige (entz\u00fcndliche und exsudative) Processe hervorrufen kann, schwierig zu beantworten. Nach den vielfachen Erfahrungen der neueren Zeit scheint die Ansicht, nach welcher die L\u00e4hmung vasoconstrictorischer Bahnen einen geringeren Widerstand gegen traumatische Entz\u00fcndungsreize bedingen soll, kaum mehr haltbar zu sein. Dahingegen hat es von vornherein einige Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich,","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Trophische Nerven.\n215\ndass Reizung vasoconstrictorischer Nerven, dafern sie nur l\u00e4ngere Zeit hindurch dauert, endlich Anlass geben kann zu entz\u00fcndlichen Processen. Hiebei scheint ein Mechanismus im Spiele zu sein, auf den erst Cohnheim 1 in eindringlicher Weise hingewiesen hat. Nach den Untersuchungen des genannten Forschers stellte es sich heraus, dass Capillargebiete, die durch l\u00e4ngere Zeit hindurch aus der normalen Blutdurchstr\u00f6mung ausgeschaltet waren, einer Ern\u00e4hrungsst\u00f6rung anheimfallen, in der sie Anlass geben zu denjenigen Erscheinungen, die nach der CoHNHEiM\u2019schen Auffassung die Entz\u00fcndung charakterisiren. Denken wir uns nun in Folge einer Erkrankung in irgend einem Theile des vasoconstrictorischen Apparates eine l\u00e4ngere Zeit hindurch andauernde Constriction der Arterien, so k\u00f6nnte die hiedurch bedingte mangelhafte Durchstr\u00f6mung der Capillaren endlich zu einer Ern\u00e4hrungsst\u00f6rung f\u00fchren, die entz\u00fcndliche Processe in ihrem Gefolge hat.' Da wir wissen, dass der Tonus der vasoconstrictorischen Nerven zum Theile unter dem Einfl\u00fcsse sensibler Erregungen steht, so w\u00fcrden sich hieraus die entz\u00fcndlichen Processe im Verlaufe von Neuralgien (Herpes zoster) erkl\u00e4ren. Auch st\u00e4nde mit dieser Auffassung die von Brown-S\u00e9quard und Charcot vertretene Ansicht in gutem Einkl\u00e4nge, nach welcher trophische St\u00f6rungen mit Vorliebe dann auftreten sollen, wenn es sich um Reizungszust\u00e4nde in den nerv\u00f6sen Centren oder peripherischen Nerven handle. Keinesfalls k\u00f6nnen wir als Gegenbeweis die Versuche von C. 0. Weber1 2 gelten lassen, in denen derselbe durch mechanische oder elektrische Reizung (Umlegen eines flachen Drahtes, der zur H\u00e4lfte aus Platin und zur H\u00e4lfte aus Kupfer bestand) wochenlang Reizung verschiedener Nerven (Temporo-auricularis, Ischiadicus, Vagus, Sympathicus) unterhalten wollte. Dass durch die angegebenen Mittel der Vorgesetzte Zweck erreicht worden sei, kann kaum zugegeben werden, keinesfalls d\u00fcrfte es durch derartige Manipulationen gelingen, langandauernde und allm\u00e4lig sich ausbildende Reizungen vasoconstrictorischer Nerven zu erzielen, wie dies wohl bei Erkrankungen im Nervensystem stattfinden kann.\nDen oben angef\u00fchrten Beobachtungen von Decubitus im Verlaufe von Verletzungen und Erkrankungen des Nervensystems steht die Wissenschaft zur Zeit noch ziemlich rathlos gegen\u00fcber. Vollst\u00e4ndig verfehlt scheint es mir, grade in diesen F\u00e4llen seine Zuflucht zu trophischen Nerven zu nehmen. Wie soll die Reizung oder L\u00e4hmung eines Nerven den brandigen Zerfall von Geweben zu Stande\n1\tCohnheim. Untersuchungen \u00fcber die embolischen Processe. Berlin 1872.\n2\tC. 0. Weber. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1864. S. 145.\n/","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\nbringen, mit denen dieselben nachweislich gar nicht in Continuit\u00e4t stehen, wie mit den fibrill\u00e4ren bindegewebigen Bestandteilen der Haut, den Zellen des rete Malpighii u. s. w.? Bei brandigen Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen d\u00fcrfte als urs\u00e4chliches Moment doch am ehesten eine vollst\u00e4ndige Verlegung der blutzuf\u00fchrenden Bahnen im Spiele sein. Wie diese in den oben angezogenen F\u00e4llen zu Stande kommen kann, muss vorl\u00e4ufig dahingestellt bleiben.\nAls Schlussresultat unserer Betrachtungen glauben wir also aussprechen zu d\u00fcrfen, dass der Nachweis trophischer Nerven, mit der Function, die Ern\u00e4hrung zu reguliren bislang nicht geliefert ist, abgesehen von den besonderen er\u00f6rterten F\u00e4llen, in denen es sich, so zu sagen, um Ern\u00e4hrungsvorg\u00e4nge specifischer Natur handelt (Mus-kelcontraction, Dr\u00fcsenth\u00e4tigkeit). Es wird die Aufgabe weiterer Forschung sein, die gewiss mannigfaltigen Mechanismen aufzudecken, durch welche bei Verletzungen und Erkrankungen des Nervensystems die vielfach beobachteten St\u00f6rungen in der Ern\u00e4hrung herbeigef\u00fchrt werden.\nWir haben keine Veranlassung genommen, auf die rohen Versuche von Samuel, durch die die Existenz trophischer Nerven erwiesen werden sollte, n\u00e4her einzugehen, zumal dieselben durch C. 0. Weber (1. c.) und Tobias 1 bereits vor l\u00e4ngerer Zeit widerlegt worden sind. Auf die bei der Entstehung der Trigeminuskeratitis und der Vaguspneumonie wirksamen Momente werden wir sp\u00e4ter zur\u00fcckkommen; ein stringenter Beweis f\u00fcr die Existenz trophischer Nerven liess sich bis jetzt aus den genannten Erscheinungen, trotz mehrfach daraufhin gerichteter Bem\u00fchungen, nicht ableiten.\nZWEITES CAPITEL.\nDie R\u00fcckenmarksnerven.\nI. Der Bell\u2019sclie Lehrsatz.1 2\nBekanntlich treten die aus dem R\u00fcckenmark entspringenden Nerven mit zwei Wurzeln aus demselben hervor. Dieser Sonderung der Ursprungsf\u00e4den oder Wurzeln der Nerven\n1\tTobias, Arch. f. pathol. Anatomie XXIV. S. 579. 1862.\n2\tJohannes M\u00fcller, Handbuch der Physiologie des Menschen f\u00fcr Vorlesungen I. S. 558 ; J. M. Schiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. Muskel- und Nervenphysiologie. 1858\u201459; Claude Bernard, Le\u00e7ons sur la physiologie et la pathologie du syst\u00e8me nerveux I. 1858; A. Vulpian, Le\u00e7ons sur la physiologie g\u00e9n\u00e9rale et compar\u00e9e du syst\u00e8me nerveux faites au mus\u00e9um d\u2019histoire naturelle p. 105. 1866; F. A. Longet, Trait\u00e9 de physiologie III. \u00e9dit. 3. p. 108. 1869.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Bell\u2019scher Lehrsatz.\n217\nentspricht auch eine scharfe Sonderung ihrer Functionen, in der Art, dass die hinteren Wurzeln der Fortleitung von Impulsen dienen, die Empfindung vermitteln, die vordem Wurzeln aber der Fortleitung von Impulsen, die Bewegungen einleiten.\nDiese Thatsache von fundamentaler Wichtigkeit f\u00fcr die Nerven-physiologie wird gew\u00f6hnlich auch so formulirt: Die vorderen Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven sind motorisch, die hinteren sensitiv (BELL\u2019scher Lehrsatz).\nDer BELL\u2019sche Lehrsatz in der vorgebrachten Fassung hat sich seit Decennien in der physiologischen Literatur eingeb\u00fcrgert. Wir wollen aber gleich an dieser Stelle bemerken, dass man zur Zeit, als der genannte Satz in die Physiologie eingef\u00fchrt wurde, mit demselben ganz bestimmte Vorstellungen verband und auch jetzt noch in gleicher Weise verbinden muss, wenn derselbe Geltung beanspruchen soll.\nDie motorischen Qualit\u00e4ten der vorderen Wurzeln beziehen sich nem-lich nur auf die willk\u00fcrlichen Bewegungen der quergestreiften Skelett-musculatur, die sensiblen Eigenschaften der hinteren Wurzeln nur auf die Thatsache, dass die Reizung des peripheren Stumpfes einer hinteren Wurzel keine Empfindung vermittelt, wohl aber die des centralen Stumpfes.\nEs w\u00e4re nicht gerechtfertigt, den BEix\u2019schen Lehrsatz so zu verstehen, als ob in den hinteren Wurzeln nur centripetale, in den vorderen Wurzeln hingegen nur centrifugale Erregungen geleitet w\u00fcrden. Nach dieser Richtung hin ist die Forschung \u00fcber die Functionen der Nervenwurzeln noch nichts weniger als abgeschlossen. Das geringe in Betreff dieser Fragen vorliegende Material werden wir sp\u00e4ter Vorbringen.\nBegr\u00efmdimg des Bellsehen Lehrsatzes.\nZur Beweisf\u00fchrung f\u00fcr die G\u00fcltigkeit des BELL\u2019schen Lehrsatzes dienen die in der Nervenphysiologie gebr\u00e4uchlichen Methoden: die Durchschneidung der Wurzeln und deren k\u00fcnstliche Reizung und die Beobachtung der diesen Eingriffen folgenden Erscheinungen.\nWas die Durchschneidungsmethode betrifft, so ist bez\u00fcglich derselben nur darauf zu achten, dass die Trennung der Wurzeln nur auf die hinteren oder vorderen Wurzeln, je nach der Absicht des Experimentators, beschr\u00e4nkt bleibt.\nUnter den k\u00fcnstlichen Nervenreizen hat man bei den Versuchen an den Nervenwurzeln den mechanischen (Zuschn\u00fcren mit einem Faden, Kneipen mit der Pincette u. s. w.) aus leicht begreiflichen Gr\u00fcnden den Vorzug gegeben. Reizversuche mit inducirten und galvanischen Str\u00f6men k\u00f6nnen, wie vielfach er\u00f6rtert wurde, durch Stromesschleifen, unipolare Wirkungen und die Einmischung elektroto-nischer Erscheinungen zu T\u00e4uschungen Veranlassung geben. F\u00fcr","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die K\u00fcckenmarksnerven.\ndenjenigen Experimentator, der die genannten Fehlerquellen zu erkennen und zu vermeiden weiss, steht nichts im Wege, auch hei den Reizversuchen an den Nervenwurzeln sich der wirksamen und genau abstufbaren elektrischen Reize zu bedienen.\nA) Die vorderen Wurzeln.\nDurchschneidet man die vorderen Wurzeln, so verliert das Thier die F\u00e4higkeit, die von denselben versorgten Muskeln bei seinen Bewegungen in Gebrauch zu ziehen.\nPanizza 1 hat bei seinen Versuchen an Fr\u00f6schen und Ziegen die Beobachtung gemacht, dass durch allm\u00e4hliche Trennung der f\u00fcr eine Extremit\u00e4t bestimmten vorderen Wurzeln die allm\u00e4hlich erfolgende Abnahme der Bewegungsf\u00e4higkeit vor dem vollst\u00e4ndigen Verschwinden der letzteren nicht gleichm\u00e4ssig mit der Anzahl der durchschnittenen Nervenf\u00e4den erfolgt. Nach Durchschneidung mehrerer Wurzeln der f\u00fcr die hinteren Extremit\u00e4ten bestimmten Nerven waren die Bewegungen an der operirten Seite oft nur ganz vor\u00fcbergehend einigermaassen abgeschw\u00e4cht, um alsbald wieder ebenso kr\u00e4ftig, als in der Norm zu werden. Sobald aber die letzte, noch in unversehrtem Zusammenh\u00e4nge mit dem R\u00fcckenmark befindliche Wurzel ebenfalls durchschnitten wurde, verschwand die Motilit\u00e4t vollst\u00e4ndig. Panizza bringt diese Erscheinung in Zusammenhang mit der Existenz der Nervengeflechte.\nNach der Durchschneidung nur der vorderen Wurzeln werden St\u00f6rungen in der Schmerzempfindlichkeit der Haut nicht beobachtet.\nReizt man k\u00fcnstlich den centralen Stumpf einer durchschnittenen vorderen Wurzel, so erzielt man weder Bewegungen vom Charakter derjenigen, Me sie durch Reizung peripherer motorischer Nerven hervorgebracht werden k\u00f6nnen, noch anderartige auf Schmerzempfindung zu beziehende Reaktionen.\nBringt man den Reiz auf den peripheren Stumpf einer durchtrennten Vorderwurzel an, so entstehen einerseits Muskelzuckungen, die in ihren Eigenschaften mit denjenigen \u00fcbereinstimmen, die man durch k\u00fcnstliche Erregung peripherer motorischer Nerven hervor-rufen kann, andererseits aber auch zuweilen Bewegungserscheinungen, die alle Kennzeichen einer Schmerzreaktion an sich tragen. Auf diese wichtige Thatsache, die scheinbar mit dem BELi/schen\n1 Panizza, Versuche \u00fcber die Verrichtungen der Nerven. Brief des Prof. Bar-tholomeo Panizza an den Prof. Ma\u00fcrizio Bufalini. Aus dem Italienischen \u00fcbersetzt und mit Zus\u00e4tzen versehen von Carl Schneemann und bevorwortet von Dr. Eisenmann. S. 49 und 69. Erlangen 1836.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"BELL\u2019scher Lehrsatz. Die vorderen \u2014 die hinteren Wurzeln.\n219\nLehrs\u00e4tze im grellsten Widerspruch steht, werden wir sp\u00e4ter zur\u00fcck-zukommen haben.\nB) Die hinteren Wurzeln.\nNack Durchschneidung der Hinterwurzeln kann man die Haut, welche von denselben versorgt wird, in jedweder Weise insultiren, ohne dass das Thier die geringste Schmerzempfindung kund gibt.\nAber auch die Motilit\u00e4t bleibt nach ausschliesslicher Trennung der Hinterwurzeln nicht ganz ungest\u00f6rt. Yon Panizza (1. c.) wurde zuerst beobachtet, sp\u00e4ter von Bernard l, Schiff und Brown-S\u00e9quard 2 3 best\u00e4tigt, dass Tkiere, denen z. B. die sensibeln Wurzeln der zu den hinteren Extremit\u00e4ten gehenden Nerven zerst\u00f6rt worden, zwar noch ausgiebige Bewegungen mit denselben ausf\u00fchren k\u00f6nnen. Diese Bewegungen haben aber an Sicherheit und Genauigkeit augenscheinlich eingeb\u00fcsst. Es handelt sich nicht sowohl um die Kraft der Bewegung, die keine Einbusse erlitten zu haben scheint, als vielmehr um einen Defekt in der genauen Absch\u00e4tzung der zu einer gewollten Bewegung nothwendigen Gebrauchsweise der Muskeln, worauf besonders Schiff hingewiesen hat.\nDer Zusammenhang dieser Motilit\u00e4sst\u00f6rung mit der Trennung der sensiblen Nervenwurzeln ist noch nicht hinl\u00e4nglich aufgekl\u00e4rt.\nZun\u00e4chst ist daran zu denken, dass die zahlreichen, von der Haut ausgehenden und durch die hinteren Wurzeln den Centralorganen zugeleiteten Erregungen bei jeder Muskelcontraction Empfindungen veranlassen, die gleichsam als Controlle f\u00fcr deren richtige Ausf\u00fchrung dienen. Es ist einleuchtend, dass mit dem Wegfall dieses wichtigen Controllsinns f\u00fcr die Muskelth\u00e4tigkeit nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln die Pr\u00e4cision der Bewegungen vermindert werden kann.\nGegen diese Auffassung kann ein bekannter, von Bernard 3 an-gestellter Versuch, in welchem ein der Haut s\u00e4mmtlicher Extremit\u00e4ten beraubter Frosch noch Schwimmbewegungen ausf\u00fchrte', kaum als beweiskr\u00e4ftig angesehen werden. Denn es ist sehr leicht m\u00f6glich, dass ein in der angegebenen Weise operirter Frosch doch St\u00f6rungen in seinen Bewegungen erlitten hat, welche nicht so leicht in die Augen springen.\n1\tBernard , Le\u00e7ons sur la physiologie et la pathologie du syst\u00e8me nerveux I. p. 246.\n2\tBrown-S\u00e9quard, Compt. rend. d. 1. soc. d. biologie 1849. p. 15 und Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1849. p. 232.\n3\tBernard, Le\u00e7ons etc. I. p. 251.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\nMit dem Ausserfunctiontreten der Hinterwurzeln k\u00f6nnen dann noch fernerhin diejenigen Empfindungen in Wegfall kommen, die von den Bestandteilen der Gelenke, von den Sehnen und Fascien und von den intramuscul\u00e4ren Bindegewebsmassen angeregt werden.\nEndlich ist in Erw\u00e4gung zu ziehen, ob nicht mit den hinteren Wurzeln Fasern in das R\u00fcckenmark eintreten, die, in der quergestreiften Muskelsubstanz endend, dort mit jeder Contraction derselben erregt werden und Anlass geben zu Empfindungen oder Reflexvorg\u00e4ngen, die regulirend in die Muskelbewegungen eingreifen.\nYon C. Sachs 1 wurden nach dieser Richtung hin Versuche an Fr\u00f6schen angestellt. Es ergab sich, dass durch isolirte elektrische Reizung eines nur noch mit seinem Nerven mit dem \u00fcbrigen Thiere in Verbindung stehenden Muskels (haupts\u00e4chlich wurde der M. Sartorius verwendet) einerseits tetanische Contraction dieses Muskels, andererseits Reflexzuckungen als Ausdruck einer centripetal fortgeleiteten Erregung erzielt werden konnten.\nDer aus diesen und anderen Versuchen abgeleitete Schluss, dass in den Muskeln sensible mit den hinteren Wurzeln austretende Nervenfasern sich verbreiten, wurde von Sachs noch zu erh\u00e4rten gesucht durch Versuche, in denen die vorderen oder hinteren Wurzeln gesondert durchschnitten und nach l\u00e4ngerer Zeit die im M. sartorius sich verzweigenden Nerven auf die Ausbildung der bekannten dege-nerativen Vorg\u00e4nge in denselben untersucht wurden. Nach der Durchschneidung nur der vorderen Wurzeln fand Sachs nach 6 bis 8 Wochen s\u00e4mmtliche Fasern des im M. sartorius sich verzweigenden Nerven degenerirt mit Ausnahme von zwei Fasern, die sich als vollst\u00e4ndig normal erwiesen; diese gesund gebliebenen Nervenf\u00e4den h\u00e4lt Sachs f\u00fcr sensible, aus den hinteren Wurzeln stammende Elemente. Es gelang jedoch Sachs nicht, diesen Schluss* noch durch weitere Versuche nach der sog. WALLER\u2019schen Methode in aller Evidenz zu erweisen. Durchschnitt er n\u00e4mlich nur die hinteren Wurzeln, so h\u00e4tten dann im M. sortorius unter s\u00e4mmtlichen gesund gebliebenen Fasern einige degenerirte auftreten m\u00fcssen. Hiervon konnte sich aber Sachs mit Sicherheit nicht \u00fcberzeugen.\nHier erscheint auch der passende Ort zu sein, um eine Anzahl von Beobachtungen anzuf\u00fchren, die sich beziehen auf die Frage nach der Abh\u00e4ngigkeit der Reizbarkeit der vorderen Nervenwurzeln von den Zust\u00e4nden der zugeh\u00f6rigen hinteren Wurzeln.\n1 Sachs, Physiologische und anatomische Untersuchungen \u00fcber die sensiblen Nerven der Muskeln im Arch. f. Anat. u. Physiol. 1874. S. 175 u. 491.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"BELL\u2019scher Lehrsatz. Die hinteren Wurzeln.\n221\nHarless 1 hat \u00fcber diesen Gegenstand die ersten Untersuchungen angestellt. Er bestimmte die Reizbarkeit des Nervenstammes (Ischiadicus des Frosches), indem er denselben durch Schliessung und Oeffnung eines mittelst feuchten Rheostaten abstufbaren constanten Stromes in Erregung versetzte und zwar vor und nach Durchschneidung je der vorderen oder hinteren Wurzeln. Er kam zum Resultate, dass sich in den hinteren Wurzeln centrifugal Impulse nach den Muskeln hinbegeben, die ihre \u201eAnspreehbarkeit\u201c auf Reizung der vorderen Wurzeln erh\u00f6hen sollen. Nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln soll die Reizbarkeit des Nervenstammes abgesunken sein; umgekehrt soll sich nach Durchschneidung der vorderen Wurzeln die Erregbarkeit gesteigert haben.\nNach Harless ist dann Cyon 2 wieder auf diesen Gegenstand zur\u00fcckgekommen. Cyon pr\u00fcfte die Erregbarkeit der vorderen Nervenwurzeln mit Inductionsstr\u00f6men vor und nach Durchschneidung der Hinterwurzeln. In Uebereinstimmung mit Harless ergab sich, dass den vorderen Wurzeln durch den unversehrten Bestand der hinteren ein h\u00f6herer Erregbarkeitsgrad ertheilt wird. Nach Cyon wirken aber die hinteren Wurzeln nicht centrifugal, sondern centripetal, so dass der Erregbarkeitszuwachs der vorderen Wurzeln als ein reflektorischer aufzufassen w\u00e4re, und es sich hier um eine \u00e4hnliche Erscheinung, wie in dem von Brondgeest er\u00f6rterten Tonus handle. Gegen die CYON\u2019schen Angaben, die von Guttmann1 2 3 best\u00e4tigt wurden, ist von v. Bezold4 und Uspensky und von Georg Heidenhain5 Einsprache erhoben worden.\nDie Frage nach der Existenz sensibler Nervenfasern, die mit den hinteren Wurzeln aus dem R\u00fcckenmark austreten und in der quergestreiften Muskelsubstanz sich verbreiten, kann noch nicht als hinl\u00e4nglich erledigt angesehen werden. Trotz der Untersuchungen\n1\tHarless. Molecul\u00e4re Vorg\u00e4nge in der Nervensubstanz in den Abhandl. der bayr. Acad. Physik. Cl. XXXI. 1858.\n2\tCyon\u2019s Publikationen \u00fcber diesen Gegenstand : a) Ueber den Einfluss der hinteren Nervenwurzeln des R\u00fcckenmarkes auf die Erregbarkeit der vorderen. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1865. S. 85; b) Centralbl. f. d. med. Wiss. 1867. S. 643; c) Einleitung zu einer Abhandlung von F. Steinmann, Ueber den Tonus der will-k\u00fchrlichen Muskeln im Bull. d. l\u2019acad. d. St. P\u00e9tersbourg VII. p. 787 ; d) Ueber den Einfluss der hinteren Wurzeln auf die Erregbarkeit der vorderen im Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 347.\n3\tGuttmann, Die Lehre von dem Einfl\u00fcsse der hinteren R\u00fcckenmarkswurzeln auf die Erregbarkeit der vorderen im Centralbl. f. d. med. Wiss. 1867. S. 689.\n4\ty. Bezold & Uspensky, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1867. S. 611 und W\u00fcrzburger physiol. Unters. III. S. 107.\n5\tG. Heidenhain, Ueber den Einfluss der hinteren R\u00fcckenmarksnerven auf die Erregbarkeit der vorderen im Arch. f. d. ges. Physiol. IV. S. 435.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\nvon Sachs und der Angaben von K\u00f6lliker 1 \u00fcber das Vorkommen von Nervenfasern von eigentb\u00fcmlicbem Verlaufe im Brustbautmuskel des Frosches, die er, in Uebereinstimmung mit Reichert, vermuthungs-weise f\u00fcr sensible h\u00e4lt, bleiben begr\u00fcndete Zweifel \u00fcbrig.\nWir erinnern zun\u00e4chst an die allgemein bekannte geringe Empfindlichkeit der blossgelegten Muskeln gegen mechanische Insulte. Was sodann die angef\u00fchrten Untersuchungen von Sachs betrifft, so kann bei einem Theil der Versuche, bei der grossen Subtilit\u00e4t derselben leicht eine Reizung anderweitiger sensibler Theile Platz gegriffen haben. Inwieweit endlich die Anwendung der W aller\u2019sch en Methode wegen des gar nicht seltenen Vorkommens sog. degenerirter Nervenfasern in \u00fcbrigens ganz normalen Thieren zu der gr\u00f6ssten Vorsicht auffordern muss, habe ich anderenorts auseinandergesetzt.1 2\nDas mit den vorstehenden Er\u00f6rterungen in engem Zusammenh\u00e4nge stehende, umfangreiche, durch die Nervenpathologie gesammelte Material und die Frage nach der Existenz eines \u201eMuskelsinns\u201c ziehen wir hier nicht weiter in Betracht.\nK\u00fcnstliche Reizung des centralen Stumpfes einer durchschnittenen Hinterwurzel ergiebt heftige Schmerzreactionen ; derselbe Reiz auf den peripheren Stumpf angebracht, bleibt ohne bemerklichen Einfluss auf Bewegung und Empfindung. Harless will bei seinen oben angef\u00fchrten Untersuchungen bemerkt haben, dass durch Reizung (mit Kochsalz) des peripherischen Stumpfes einer durchschnittenen Hinterwurzel die Erregbarkeit des zugeh\u00f6rigen Nervenstammes angestiegen sei. Couty3 hat neuerdings bei Fr\u00f6schen eine besondere Versuchsreihe dar\u00fcber angestellt, ob durch die hinteren Wurzeln vielleicht \u201etrophische\u201c Einwirkungen ausge\u00fcbt w\u00fcrden. Die Versuche ergaben weitaus in der Mehrzahl der F\u00e4lle negative Resultate. Aus vereinzelten F\u00e4llen, in denen Anschwellung der Gelenkk\u00f6pfe und allgemeines Oedem auftraten, d\u00fcrfte wohl kaum ein Schluss zu ziehen sein.\nII. G\u00fcltigkeit des BelFsclien Lehrsatzes in der W irbelthierreihe.\nDie ersten Experimentatoren \u00fcber den BELL\u2019schen Lehrsatz machten ihre Versuche fast ausschliesslich an Hunden. Schiff zeigte an Enten und A. Moreau bei G\u00e4nsen die G\u00fcltigkeit des BELL\u2019schen\n1\tK\u00f6lliker, Untersuchungen \u00fcber die letzten Endigungen der Nerven. I. Abh. Ueber die Endigungen der Nerven in den Muskeln des Frosches, in Ztschr. f. wiss. Zoologie XII. 2. 1862.\n2\tSigmund Mayer, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXXVIII. III. Abth. 1878.\n3\tCouty, Gaz. m\u00e9d. d. Paris Nr. 22.1876.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t.\n223\nLehrsatzes. An Fr\u00f6schen experimentirte Fodera, sp\u00e4ter Johannes M\u00fcller und Panizza und nach denselben viele andere Forscher mit ausgezeichneten Erfolgen. Die gesonderten Funktionen der Nervenwurzeln bei Fischen wurden von Wahner l 2, Stannius 2 und A. Moreau 3 nachgewiesen. Moreau fand, dass bei gewissen Fischen die innige Vermischung sensibler und motorischer F\u00e4den jenseits des Spinalganglion nicht stattfindet, sondern dass dieselben im Stamme nur aneinandergelagert sind und sich getrennt bis zu ihrer Endigung verfolgen lassen.\nI\u00cfI. R\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t. (Sensibilit\u00e9 r\u00e9currente ou en\nretour.)\nIm Verlaufe der zahlreichen Versuche, welche Magendie seit dem Jahre 1822 \u00fcber die Funktionen der Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven anstellte, bemerkte , er hier und da, dass der durchschnittene periphere Stumpf einer Vorderwurzel bei seiner Reizung Schmerz-reactionen hervorrief.\nLonget wies nach, dass in der That diese Empfindlichkeit am durchschnittenen peripherischen Stumpfe einer vorderen Wurzel vorhanden sei, dass sie aber gekn\u00fcpft sei an die Unversehrtheit der zugeh\u00f6rigen hinteren Wurzel und nach Durchschneidung der letzteren vollst\u00e4ndig verschwinde; der centrale, mit dem R\u00fcckenmark noch zusammenh\u00e4ngende Stumpf einer durchschnittenen Vorderwurzel sei immer unempfindlich.\nNachdem Longet die Priorit\u00e4t der Entdeckung dieser Thatsache Magendie gegen\u00fcber in Anspruch genommen, sagte er sich sp\u00e4ter vollst\u00e4ndig von derselben los, da es in sp\u00e4teren Experimenten weder ihm noch anderen Physiologen gelingen wollte, die Empfindlichkeit des peripheren Stumpfes einer durchschnittenen vorderen Wurzel in unzweifelhafter Weise wieder aufzufinden.\nNachdem so der Glaube an die Existenz der r\u00fcckl\u00e4ufigen Sensibilit\u00e4t stark ersch\u00fcttert worden war, musste dieselbe durch Bernard 4 gleichsam neu entdeckt werden ; auch Schiff hat sich um die experimentelle Feststellung dieser Thatsache vielfach bem\u00fcht.\nDa die Versuche, die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t zu Gesicht zu bekommen, so h\u00e4ufig missgl\u00fcckt waren, bem\u00fchte sich Bernard die\n1\tWagner, Handw\u00f6rterb. d. Physiol. III. 1. S. 366.\n2\tStannius, Das peripherische Nervensystem der Fische, anatomisch und physiologisch untersucht S. 114. Rostock 1849.\n3\tMoreau, Compt. rend. d. 1. soc. d. biol. 1859. p. 131 (Versuche an G\u00e4nsen); ibid. 1858. p. 97 ; 1859. p. 107 ; 1860. p. 159 ; Ann. d. sc. nat. 4. s\u00e9r. XIII. p. 380.1860.\n4\tBernard, Le\u00e7ons etc. I. p. 20\u2014112.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224 Sir Mund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die K\u00fcckenmarksnerven.\nBedingungen festzustellen, unter denen man auf das Hervortreten der genannten Erscheinung mit einiger Sicherheit rechnen kann. Bernard weist auf folgende Punkte hin:\na)\tMan w\u00e4hle f\u00fcr diese Versuche kr\u00e4ftige, gut gen\u00e4hrte, m\u00f6glichst junge Hunde.\nb)\tNur wenn das Thier durch die Operation nicht allzusehr ersch\u00f6pft worden, findet man gleich nachher die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t der Vorderwurzeln.\nc)\tWenn aber das Versuchsthier, wie dies gew\u00f6hnlich der Fall zu sein pflegt, durch die Operation stark gelitten hat, dann erweisen sich gew\u00f6hnlich bei der Pr\u00fcfung die vorderen Wurzeln vollst\u00e4ndig unempfindlich. Man muss in diesem Falle die Wunde zun\u00e4hen und dem Thiere einige Zeit Buhe g\u00f6nnen, um dann die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t auftreten zu sehen.\nd)\tMan darf nur soviel vom R\u00fcckenmark entbl\u00f6ssen, als notli-wendig ist, um bequem ein oder zwei Wurzeln blosszulegen; die durch Pr\u00e4paration des R\u00fcckenmarkes in gr\u00f6sserer Ausdehnung herbeigef\u00fchrte Abk\u00fchlung wirkt sch\u00e4dlich auf das Auftreten der r\u00fcckl\u00e4ufigen Sensibilit\u00e4t.\ne)\tEs ist vortheilhaft, bei der Pr\u00fcfung auf r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t die st\u00e4rksten vorderen Wurzeln zu w\u00e4hlen.\nUnter Anwendung des Aethers ist es Schiff gelungen, die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t der vorderen Wurzeln als ein bei allen Thieren vorkommendes Ph\u00e4nomen zu demonstriren.\nEs folgt schon aus der oben erw\u00e4hnten Thatsache, dass jegliche Spur von Sensibilit\u00e4t der vorderen Nervenwurzeln schwindet, wenn vorg\u00e4ngig die zugeh\u00f6rige hintere Wurzel durchschnitten worden, dass die hier in Frage kommenden Fasern aus den hinteren Wurzeln abstammen. Ueber.den Ort, wo diese Fasern aber umbiegen, um endlich mit den vorderen Nervenwurzeln ihren Weg nach dem R\u00fcckenmark und seinen H\u00e4uten zu nehmen, liegen keine bestimmten Nachweise vor.\nNach Bernard und Schiff kann man den Nerv, ischiadicus und cruralis am Oberschenkel durcksckneiden, ohne die Sensibilit\u00e4t der vorderen Wurzel zu vernichten. Durchschneidet man jedoch den gemischten Stamm ganz kurz nach der Vereinigung der beiden Wurzeln, so verschwindet vollst\u00e4ndig die Sensibilit\u00e4t der vorderen Wurzeln. Aus diesem Versuche geht hervor, dass die Umkehr der Fasern nicht im Niveau der Vereinigung der beiden Wurzeln vor sich geht, wie man vielfach anzunehmen geneigt war. Nach Bernard d\u00fcrfte der hier geforderte Faser\u00fcbertritt an verschiedenen Orten vor sich gehen, nach Schiff haupts\u00e4chlich in den Geflechten vor der Wirbels\u00e4ule.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t.\n225\nDass in den vorderen Wurzeln Fasern verlaufen, die durch Vermittelung der hinteren Wurzeln mit den Centralorganen in Zusammenhang stehen, hat Schiff noch durch die Untersuchung nach der WALLER\u2019schen Methode zu erh\u00e4rten versucht. Bei V\u00f6geln, denen das R\u00fcckenmark theilweise zerst\u00f6rt worden, entarten zuweilen die vorderen Wurzeln in allen ihren Verzweigungen, nicht aber die hinteren. Nun trifft man in den Vorderwurzeln zuweilen einige d\u00fcnne, wohlerhaltene Fasern, die auf die Pia mater und Arachnoidea \u00fcbergehen ; diese normalen Fasern d\u00fcrften wohl mit den hinteren Wurzeln ausgetreten sein und die Vermittler der r\u00fcckl\u00e4ufigen Sensibilit\u00e4t darstellen.\nDie r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t konnte bis jetzt nur bei S\u00e4ugethieren beobachtet werden. Bei den Batrachiern, bei Fischen und \\\u00f6geln hat man dieselbe vollst\u00e4ndig vermisst.\nDie mitgetheilten Thatsachen sprechen nicht gegen die G\u00fcltigkeit des BELL\u2019schen Lehrsatzes und scheinen in der dargelegten Weise erkl\u00e4rbar zu sein. Die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr die Richtigkeit dieser Erkl\u00e4rung wird aber noch erh\u00f6ht, wenn wir alsbald sehen werden, dass nicht nur an den Vorderwurzeln, sondern auch an anderen Theilen des Nervensystems Erscheinungen r\u00fcckl\u00e4ufiger Sensibilit\u00e4t nachweisbar sind. Bei diesem Sachverhalt k\u00f6nnen wir daher einigen anderen Versuchen, die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t zu erkl\u00e4ren, nur geringes Gewicht beilegen; nur der Vollst\u00e4ndigkeit wegen wollen wir derselben in K\u00fcrze Erw\u00e4hnung thun.\nBrown-S\u00e9quard 1 glaubt die Sensibilit\u00e4t bei Reizung des peripheren Stumpfes einer durchschnittenen Vorderwurzel als eine ganz indirect bewirkte auffassen zu k\u00f6nnen. Die Reizung der Vorderwurzel bewirke Muskelcontractionen ; mit letzteren gehe die negative Schwankung des Muskelstromes einher, durch welche die sensiblen Muskelnerven in Erregung versetzt w\u00fcrden und so Anlass zum Entstehen einer schmerzhaften Empfindung geben k\u00f6nnten. Gegen diesen gek\u00fcnstelten Erkl\u00e4rungsversuch spricht in entscheidender Weise der Umstand, dass es F\u00e4lle giebt, in denen Kneipen einer vorderen Wurzel heftige Schmerzreactionen hervorruft, w\u00e4hrend keine Spur von Mus-kelcontraction auftritt oder letztere nur sehr schwach ist.\nGubler1 2 hat eine noch k\u00fchnere Hypothese ausgedacht. Nach ihm w\u00e4re die in Rede stehende Erscheinung eine \u201eReflexempfindung\u201c. Gubler nimmt an, dass die nerv\u00f6sen Centren und die von den-\n1\tBrown-S\u00e9quard, Compt. rend. d. 1. soc. d. biologie 1850. II. p. 171, Cit\u00e2t nach Longet.\n2\tGubler, Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1859. p. 628.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II.\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\nselben ausgehenden Nervenstr\u00e4nge einen geschlossenen nerv\u00f6sen Kreis bilden. In diesem Kreise soll eine Umwandlung des centri-fugalen in einen centripetalen Nervenstrom stattfinden k\u00f6nnen, und zwar unter Vermittelung von Zellen, die sich in der Haut und dem subcutanen Bindegewebe vorfinden und ein Analogon der Nervenzellen in der grauen R\u00fcckenmarkssubstanz darstellen sollen (?). Diese ganz unbegr\u00fcndete Auffassung bedarf keiner weiteren Widerlegung.\nIV. Vasomotorische und andere Functionen der R\u00fcckenmarksnerven wurzeln.\nPfl\u00fcger 1 hat zuerst gezeigt, dass durch Reizung der vorderen Wurzeln des Nerv, ischiadicus beim Frosche Contraction der Arterien der Schwimmhaut hervorzurufen ist.\nBrown-S\u00e9quard2 beobachtete nach Durchschneidung der hinteren Wurzeln der f\u00fcnf oder sechs letzten Dorsalnerven und der ersten beiden Lumbalnerven Gefasserweiterung und eine Temperaturerh\u00f6hung um 1\u20143\u00b0 C. an den hinteren Extremit\u00e4ten (bei Kaninchen, Meerschweinchen und Hunden).\nStricker1 2 3 sah nach Abbindung der vorher durchschnittenen hinteren Wurzeln des vierten und f\u00fcnften Lendennervenpaares ebenso wie bei elektrischer Reizung ebendieser Wurzeln eine Erh\u00f6hung der Pfotentemperatur. Auf diese wichtigen Thatsachen wird im Capitel von der Innervation der Kreislaufsorgane zur\u00fcckgekommen werden.\nDass die pupillenerweiternden Fasern des Halssympathicus mit den vorderen Wurzeln der untersten Hals- und obersten Brustnerven aus dem R\u00fcckenmark austreten, wurde von Budge u. A. nachgewiesen.\nV. Geschichtliche Bemerkungen \u00fcber den Bell\u2019schen Lehrsatz.\nDass die zwei Hauptleistungen des Nervensystems \u2014 Empfindung und Bewegung \u2014 von verschiedenen Nervenarten abh\u00e4ngen m\u00f6gen, ist eine alte Ahnung der Heilkunde. Erasistratus nahm zwei Arten von Nerven an, von welchen die einen von den Meningen, die anderen vom grossen und kleinen Gehirn entspringen sollten. Galen war der Unterschied zwischen sensiblen und motorischen Nerven schon ziemlich klar.\nNachdem Lamarck in seiner Philosophie zoologique (1809) den Unterschied zwischen sensiblen und motorischen Nerven schon genau pr\u00e4ci-\n1\tPfl\u00fcger, Allg. med. Centralztg. 1855. Nr. 6S u. 75,1856. Nr. 32.\n2\tBrown-S\u00fcquard, Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1856. No. 16, 17, 23.\n3\tStricker, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXXIV. 1876.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Geschichte cler Entdeckung des BELL\u2019schen Lehrsatzes.\t227\nsirt hatte, sprach Walker (1809), ohne sich jedoch auf bestimmte Beobachtungen oder Versuche st\u00fctzen zu k\u00f6nnen, zuerst die Meinung von einer gesonderten Funktion der beiden Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven aus; ganz irrth\u00fcmlich hielt er die vorderen Wurzeln f\u00fcr sensibel, die hinteren f\u00fcr motorisch.\nCharles Bell (geh. 17 74, gest. 1842) schrieb den beiden R\u00fccken-marksnervenwurzeln in einer im Jahre 1811 erschienenen, nur in 100 Exemplaren gedruckten Schrift (Idea of a new anatomy of the brain submitted for the observations of his friends) verschiedene Funktionen zu. Er war aber in dieser ersten Schrift weit entfernt davon, das erkannt zu haben, was wir jetzt unter BELL\u2019schem Lehrsatz verstehen, nemlich die Thatsache, dass die vorderen Wurzeln motorisch, die hinteren aber sensibel sind. Bei seinen ersten Aeusserungen \u00fcber die verschiedenen Funktionen der Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven stand Bell auf dem Standpunkte des Anatomen Willis, der zwei Arten von functioneil verschiedenen Nerven annahm, nemlich erstens solche, die mit dem grossen Gehirn in Verbindung stehen und Empfindung und Bewegung leiten und zweitens solche, die aus dem kleinen Gehirn entspringen und f\u00fcr die Versorgung der vegetativen Organe bestimmt sind. Die von Willis aufgestellten zwei Kategorien von Nerventh\u00e4tigkeit vertheilte nun Bell in der Art auf die beiden Wurzeln, dass er die vordere Wurzel f\u00fcr die Empfindung und Bewegung bestimmt sein liess, die hintere aber f\u00fcr die vegetativen (vitalen) Processe. In der genannten Schrift vom Jahre 1811 verf\u00fcgte Bell nur \u00fcber folgende zwei Versuche: 1) an einem eben get\u00f6dteten Kaninchen ergab die Reizung der vorderen Wurzeln Bewegungen, die der hinteren Wurzeln blieb erfolglos ; 2) bei einem lebenden Thiere wurden die hinteren Wurzeln durchgeschnitten und constatirt, dass die Muskeln ihre Beweglichkeit beibehielten. Von der Aufstellung des Satzes, dass die vorderen Wurzeln motorisch, die hinteren aber sensibel sind, findet sich in dieser ersten Abhandlung auch nicht eine Andeutung, wie besonders Vulpian, der diese sehr schwer zu erlangende Schrift im Original eingesehen hat, nachzuweisen versucht hat. In sp\u00e4teren Reproductionen der ersten Schrift vom Jahre 1811, die in den Jahren 1824, 1830 und sp\u00e4ter erschienen, hat Bell, wohl unter dem Einfl\u00fcsse der zahlreichen experimentellen Angaben von Magendie, sehr wesentliche Aenderungen an dem urspr\u00fcnglichen Texte angebracht. Bell bleibt jedoch das entschiedene Verdienst, auf die Verschiedenheit der Funktionen der Riickenmarksner-venwurzeln eindringlich hingewiesen zu haben und zuerst den experimentellen Nachweis, wenn auch nicht zureichend, versucht zu haben. Angeregt durch Bell\u2019s Untersuchungen nahm im Jahre 1822 Magendie die Versuche \u00fcber die Funktionen der Nervenwurzeln auf und er gelangte zum Nachweise, dass die hinteren Wurzeln der Empfindung dienen, die vorderen der Bewegung. Magendie\u2019s zahlreiche Abhandlungen finden sich in dem von ihm herausgegebenen Journal de physiologie exp\u00e9riment. I. II. und III.\nEinen sehr wesentlichen Fortschritt in der Lohre von den Funktionen der Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven begr\u00fcndete Johannes M\u00fcller (1831), indem er als Versuchsthier den Frosch w\u00e4hlte und den Experimenten jene schlagende Form gab (Durchschneidung der Vorderwurzeln auf der\n15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\neinen Seite, Durchsekneidung der Hinterwurzeln auf der anderen Seite), in denen sie sich zu Vorlesungsversuchen eigneten und sehr viel dazu beitrugen, die neue Lehre rasch in das Bewusstsein der Physiologie ein-dringen zu lassen.\nDie Untersuchungen von Bernard und Schiff haben viel zur Aufkl\u00e4rung einiger Punkte gef\u00fchrt, die der Allgemeing\u00fcltigkeit des Bell-schen Lehrsatzes im Wege zu stehen schienen. (R\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t).\nUeber die Geschichte der Entdeckung des BEix\u2019schen Lehrsatzes vgl. noch Vulpian\u2019s oben citirtes Buch Le\u00e7ons sur la physiologie compar\u00e9e du syst\u00e8me nerveux und Bernard.1\nYI. Peripherische Verbreitung der R\u00fcckenmarks- und\nHirnnerren.2\n1) Die beiden Wurzeln, mit denen alle R\u00fcckenmarksnerven entspringen, vereinigen sich alsbald, nachdem die hintere Wurzel zu einem Ganglion angeschwollen, zu einem gemeinschaftlichen Nervenstamme, in welchem also motorische3, sensible (und wohl auch hemmende und secretorische) Fasern gemischt enthalten sind. W\u00fcrde ein solcher Nervenstamm vor seiner definitiven Endigung in den peripherischen Organen weder Fasern zu anderen Nervenst\u00e4mmen abgeben, noch solche aus anderen Quellen, als aus seinen Wurzeln aufnehmen, so w\u00fcrde die anatomische Beschreibung des Verlaufes und der Endigung eines bestimmten peripherischen Nerven auch unmittelbar die functionellen Leistungen der mit einem Wurzelpaare austretenden Nervenfasern bestimmen.\nNun lehrt aber die Anatomie, dass sowohl die Hirnnerven, als auch die R\u00fcckenmarksnerven, insbesondere die f\u00fcr die Extremit\u00e4ten bestimmten, in ihrem peripheren Verlaufe mannigfache Verflechtungen unter einander eingehen, sodass die anatomische Verfolgung eines Nervenstammes wohl ann\u00e4hernd die periphere Endigung desselben nachweisen kann, aber nichts dar\u00fcber auszusagen vermag, mit welchen Wurzeln die betreffenden Fasern aus den Centralorganen ausgetreten sind. F\u00fcr die functionellen Leistungen eines Nerven ist es jedenfalls von der gr\u00f6ssten Wichtigkeit, die centralen und peripheren Apparate genau zu kennen, welche durch eine Nervenfaser mit ein-\n1\tBernard, Rapport sur les progr\u00e8s et la marche de la physiologie g\u00e9n\u00e9rale en France p. 154. Paris 1857.\n2\tLudwig, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 2. Aufl. 1858. I. S. 155: Henle, Handbuch der Nervenlehre des Menschen 1871. S. 326.\n3\tW\u00e4hrend wir, wie oben bemerkt, hei der Darstellung des BELu\u2019schen Lehrsatzes unter motorischen Fasern nur solche verstanden, welche zu quergestreiften Muskeln gehen, begreifen wir nun diesen Ausdruck sowohl f\u00fcr bewegende Fasern der quergestreiften als der glatten Musculatur.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Peripherische Verbreitung der R\u00fcckenmarks- und Hirnnerven.\n229\nander verkn\u00fcpft werden. Da nun auf dem Wege vom Centrum zur Peripherie die Nervenfasern allerlei Umwege einschlagen k\u00f6nnen, welche die rein anatomische Untersuchung nicht klar darzulegen im Stande ist, so ist die mit den bekannten Methoden der descriptiven Anatomie gelieferte Analyse des Nervensystems durch die Hilfsmittel der Physiologie einer wichtigen Erg\u00e4nzung bed\u00fcrftig.\nBeim Menschen k\u00f6nnte nur die durch Verletzungen oder anderweitige Ursachen hervorgerufene Degeneration bestimmter Faserz\u00fcge dazu dienen, die peripherischen Verbreitungsbezirke einzelner Nervenwurzeln genau zu bestimmeu.\nUm einen Einblick in die gesetzm\u00e4ssige Anordnung zu erhaltenr in welcher sich die mit bestimmten Wurzeln austretenden Nervenfasern in der Peripherie ausbreiten, sind wir somit auf Versuche an Thieren angewiesen. An Fr\u00f6schen, Kaninchen und Hunden sind nach dieser Richtung hin mehrfache Versuchsreihen mit Hilfe verschiedener Methoden durchgef\u00fchrt worden.\nF\u00fcr die motorischen Nerven zog man die Methode der k\u00fcnstlichen Erregung in Gebrauch ; am besten zu handhaben ist die elektrische Reizung, deren bekannte Fehlerquellen nat\u00fcrlich sorgf\u00e4ltig zu ber\u00fccksichtigen sind. Die Reizung kann entweder an der Wurzel oder an dem Nerven vor seinem Eintritt in den Plexus vorgenommen werden.\nF\u00fcr die sensiblen Nerven wurde die Durchschneidung der Ner-venst\u00e4mme vor ihrer Theilnahme an der Plexusbildung oder der hinteren Wurzeln vorgenommen mit nachfolgender genauer Abgrenzung der an\u00e4sthetisch gewordenen Bezirke.\nEndlich ist f\u00fcr beide functioneil verschiedene Nervenfasern, die motorischen und sensiblen, die WALLER\u2019sche Methode angewendet worden, \u2014 Durchschneidung der Nerven vor ihrem Eintritt in einen Plexus und nachfolgende genaue Verfolgung der degenerirten Faserz\u00fcge.\nUeber die Verbreitung der motorischen Nerven besitzen wir Angaben f\u00fcr das Kaninchen von Peyer1, der mit Hilfe der Reizmethode untersuchte, und von Krause'2, der die WALLER\u2019sche Methode anwendete. Beide Versuchsreihen beziehen sich auf den Plexus bra-chialis. C. Meyer3 untersuchte beim Frosche nach der WALLER\u2019schen Methode und benutzte die Nerven der hinteren Extremit\u00e4ten. Schon\n1\tPeyer, Ztschr. f. rat. Med. (2) IY. S. 52.\n2\tW. Krause, Beitr\u00e4ge zur Neurologie der oberen Extremit\u00e4t. Leipzig und Heidelberg 1865.\n3\tC. Meyer, Ztscbr. f. rat. med. (3) XXXYI. S. 164.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\nfr\u00fcher hatte Eckhard 1 nach der Reizmethode an demselben Objekte gearbeitet.\nF\u00fcr die motorischen Nerven ergaben sich ans den Untersuchungen der genannten Forscher folgende S\u00e4tze:\n1)\tDie meisten Muskeln erhalten ihre Fasern nicht aus einer einzigen Wurzel, sondern aus mehreren (bis zu drei) (Peyer, Krause, C. Meyer).\n2)\tEine und dieselbe Wurzel versorgt bei verschiedenen Individuen nicht immer genau dieselben Muskeln; doch sind die Variet\u00e4ten gering (Peyer).\n3)\tWeiter nach der Hand hin gelegene Muskeln erhalten ihre motorischen Nervenfasern aus Wurzeln, die n\u00e4her dem unteren Ende des R\u00fcckenmarkes entspringen (Peyer, Krause).\n4)\tDurch eine und dieselbe Wurzel wird nicht ausschliesslich ein Muskelcomplex etwa von Beugern oder Streckern erregt. (Peyer).\n5)\tDie Muskeln erhalten im Allgemeinen ihre Nervenfasern aus demselben in den Plexus eintretenden Nerven, in dem auch die Fasern f\u00fcr die \u00fcber ihnen selbst und ihren Sehnen gelegenen Hautstellen enthalten sind (Peyer, Krause, C. Meyer).\n6)\tNahe liegende Muskeln erhalten, mit seltenen Ausnahmen, ihre motorischen Fasern von nahe gelegenen Wurzeln (Peyer).\nDie Verbreitungsweise der sensiblen Nerven wurde von den oben genannten Forschern ebenfalls studirt; Krause stellte \u00fcber die Verbreitung der VI. und VII. Cervicalnerven auch einen Versuch nach der WALLER\u2019schen Methode bei einem Affen (Macacus cyno-molgus) an. Weiterhin wurde dieser Gegenstand behandelt von Ko-schewnikoff 1 2, der beim Frosche die Verbreitungsweise der Empfindungsnerven der hinteren Extremit\u00e4ten untersuchte, und ganz besonders von T\u00fcrck3, der, nachdem er den Frosch und das Kaninchen als Versuchsthiere verlassen, eine ausgedehnte Versuchsreihe am Hunde durchf\u00fchrte.\nW\u00e4hrend Koschewnikoff ebenso wie Eckhard gew\u00f6hnlich die Reflexbewegungen, die nach Abtrennung des Hirns vom R\u00fcckenmarke auftreten, als Pr\u00fcfungsmittel der nach Durchschneidung der Nervenwurzeln bestehenden Hautsensibilit\u00e4t beobachtete, arbeitete T\u00fcrck an narcotisirten Hunden mit unversehrten Centralorganen und\n1\tEckhard, Ztschr. f. rat. Med. (1) VIL S. 281.\n2\tKoschewnikoff, Arck. f. Anat. u. Physiol. 1868. S. 326.\n3\tT\u00fcrck, a) Sitzungsber. d. Wiener Acad. XXI. S. 586.1856 ; b) Ueber die Haut-sensibilit\u00e4tsbezirke der einzelnen R\u00fcckenmarksnervenpaare. aus T\u00fcrck\u2019s literarischem Nachlasse zusammengestellt von C. Wedl. Mit 6 Tafeln. Wien 1869 (besonders abgedruckt aus dem XXIX. Bande der Denkschriften der Wiener Academie, mathem.-naturwiss. Classe).","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Peripherische Verbreitung der R\u00fcckenmarks- und Hirnnerven.\n231\nbestimmte bei diesen die Ausbreitung der an\u00e4sthetischen Stellen mittelst Kneipens.\nT\u00fcrck schreibt den sensiblen Fasern der R\u00fcckenmarksnerven in Bezug auf ihre Verbreitung in der Haut ausschliessende und gemeinschaftliche Bezirke zu.\nDer ausschliessende Bezirk wird dadurch erkannt, dass nach Trennung der entsprechenden Nerven constant derselbe Bezirk vollkommen an\u00e4sthetisch wird, d. h. dass das Thier gar nicht reagirt auch selbst bei sehr lebhafter, ja gesteigerter Erregbarkeit in der n\u00e4chsten Umgebung des Bezirkes, wie dies namentlich bei jungen Thieren \u00f6fters der Fall ist.\nDer gemeinschaftliche Bezirk gibt sich dadurch zu erkennen, dass nach Trennung des einen Bezirk versehenden Nerven gar keine und nur in wenigen F\u00e4llen eine unvollkommene, meist beschr\u00e4nkte oder vor\u00fcbergehende An\u00e4sthesie zumal bei stumpferen Thieren zu beobachten ist.\nF\u00fcr die Verbreitungsbezirke der sensiblen Nervenfasern ergaben die angef\u00fchrten Untersuchungen Folgendes:\n1)\tDie Hals- und Rumpfnerven verbreiten sich inausschiiessen-den Bezirken; die m\u00f6glicherweise zwischen je zwei ausschliessenden Bezirken vorhandenen gemeinschaftlichen Bezirke m\u00fcssen sehr klein sein, da die Ausbreitung der Bezirke nach isolirter Trennung meist nicht betr\u00e4chtlich kleiner ist, als nach einer schon vorausgegangenen eines Nachbarpaares (T\u00fcrck).\n2)\tDie Extremit\u00e4tennerven haben ausschliessende und gemeinschaftliche Bezirke (T\u00fcrck, Koschewnikoff). Der 7. und 8. Hals- und der 6. und 7. Lendennerv haben gar keine ausschliessenden, sondern nur gemeinschaftliche Bezirke (T\u00fcrck).\n3)\tAn der Hohlhand und den Fusssohlen kommt je ein Bezirk vor, der nicht von zwei, sondern von drei gemischten Nervenpaaren gemeinschaftlich versehen wird.\n4)\tNach der Trennung eines Nervenpaares mit gemeinschaftlichem Bezirk wird h\u00e4ufig nur eine Stelle an\u00e4sthetisch, und zwar meist nur unvollkommen oder vor\u00fcbergehend, oder in anderen F\u00e4llen bleibend unvollkommen. Letzteres findet aber nur an sehr beschr\u00e4nkten Stellen .statt, und zwar nur in einer und derselben H\u00e4lfte des gemeinschaftlichen Bezirkes, nie in der anderen. Die Elemente der zwei gemeinschaftlichen Paare verbreiten sich somit nicht gleich-m\u00e4ssig \u00fcber den ganzen Bezirk, sondern \u00fcberwiegend nur in je einem ann\u00e4hernd die H\u00e4lfte umfassenden Terrain oder auch nur in gewissen Stellen desselben im Uebergewichte bleibend (T\u00fcrck).","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\n5)\tDie Hautnervenbezirke der oberen und unteren Extremit\u00e4ten bilden im Allgemeinen G\u00fcrtel, haben die Gestalt von Schienen einer R\u00fcstung und treten zwischen dem Spalt eines h\u00f6heren und tieferen Bezirkes unter spitzen Winkeln aus (T\u00fcrck).\n6)\tUeber die Beziehungen zwischen Verbreitung der Hautnerven und der motorischen Nerven der Muskeln, die unter der betreffenden Hautstelle liegen, vergl. oben Satz 5.\nVII. Von der r\u00fcckl\u00e4ufigen und supplirenden Sensibilit\u00e4t (sensibilit\u00e9 suppl\u00e9\u00e9e)1 an periplierisclien cerebro - spinalen\nNerven.\nDie Erscheinungen der r\u00fcckl\u00e4ufigen Sensibilit\u00e4t, die an dem peripherischen Stumpfe durchschnittener Vorderwurzeln zu beobachten ist, wurden bereits oben erw\u00e4hnt. Aehnliche Erscheinungen wurden von Cl. Bernard auch an den peripherischen St\u00fcmpfen durchschnittener vorwiegend motorischer cerebraler Nerven aufgedeckt. So erwies sich der peripherische Stumpf des durchtrennten Nervus facialis beim Hunde entschieden sensibel, w\u00e4hrend beim Kaninchen und Pferde die Sensibilit\u00e4t weniger ausgesprochen und manchmal ganz zu fehlen schien 2. Diese Art von Sensibilit\u00e4t stammt von Fasern des Nervus trigeminus, die im Nervus facialis einen r\u00fcckl\u00e4ufigen Verlauf nehmen. Am Nervus accessorius Willisii fand Bernard beim Hund, Kaninchen und bei der Ziege gleichfalls Erscheinungen der r\u00fcckl\u00e4ufigen Sensibilit\u00e4t, die er von den sensiblen Wurzeln der vier ersten Cervicalnerven ableitet.3\nSowohl aus den Versuchen von Bernard, als auch aus denen von Chauveau4 schien hervorzugehen, dass beim Hunde die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t viel leichter nachzuweisen ist, als beim Kaninchen und beim Pferde, bei welchem Chauveau sie vollst\u00e4ndig vermisste. Dieser Umstand veranlasste Arloing und Tripier5, die sich schon\n1\tDer genannte Ausdruck f\u00fcr die Wiederkehr von Sensibilit\u00e4tserscheinungen an The\u00fcen, deren mit den H\u00fcfsmitteln der gr\u00f6beren Anatomie nachweisbare Ner-venst\u00e4mme vom Centrum getrennt worden, wurde vorgeschlagen von Leti\u00e9vant in seinem Werke Trait\u00e9 des sections nerveuses. Paris 1873. In demselben findet sich ein ziemlich vollst\u00e4ndiger Literaturnachweis \u00fcber die Lehre von den Nervendurch-schneidungen vom operativen, physiologischen und pathologisch-anatomischen Gesichtspunkte aus. Auch enth\u00e4lt dasselbe eine Anzahl eigener und fremder Beobachtungen \u00fcber das Verhalten der Sensibilit\u00e4t nach Nervenverletzungen beim Menschen.\n2\tCl. Bernard, Le\u00e7ons sur la physiologie et la pathologie du syst\u00e8me nerveux 1858. II. p. 26.\n3\tCl. Bernard, ibid. p. 260.\n4\tChauveau, Journ. d. 1. physiol. IV. p. 361. 1861.\n5\tArloing et Tripier, Compt. rend. 1868, Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1869. IL p. 33, 307, ibid. III. 2. s\u00e9r. 1876. p. 11,105, ibid. 1874. p. 1473.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckl\u00e4ufige und supplicirende Sensibilit\u00e4t an peripherischen Nerven. 233\nfr\u00fcher mit diesem Gegenstand besch\u00e4ftigt hatten, denselben neuerdings einer Untersuchung zu unterziehen, in der Absicht nachzusehen, ob hier eine specifische Verschiedenheit in dem Verlaufe der Nerven bei Fleischfressern einerseits und bei Nagern und Einhufern andererseits vorliege.\nDie Nachforschungen von Arloing nmd Tripier ergaben nun, dass ein solcher Unterschied nicht existirt. Es stellte sich vielmehr heraus, dass auch bei Nagern und Einhufern an verschiedenen Nerven, sowohl gemischten, als auch rein sensiblen, r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t zu constatiren war. Als wesentliche Bedingung f\u00fcr das Gelingen des Versuches stellte sich heraus, dass man die Durchschneidung des Nerven an einer hinl\u00e4nglich peripher gelegenen Stelle seines Verlaufes vornimmt. Wurde z. B. beim Pferde der Nervus facialis unmittelbar vor der Parotis durchschnitten, so war der peripherische Stumpf nicht sensibel, w\u00e4hrend er sensibel gefunden wurde', wenn die Durchschneidung weiter nach vorn ausgef\u00fchrt worden war.\nWenn die Pr\u00fcfung auf Sensibilit\u00e4t mehr nach der Peripherie zu vorgenommen wurde, so zeigten sich auch die peripheren St\u00fcmpfe von Trigeminus\u00e4sten (Nn. supraorbitalis, infraorbitalis und mentalis), ebenso die der Extremit\u00e4tennerven sensibel.\nArloing und Tripier combinirten die anatomische Untersuchung mit der physiologischen in der Art, dass sie, besonders unter Zu-h\u00fclfenahme der Osmiums\u00e4ure, die peripherischen und centralen St\u00fcmpfe der durchschnittenen Nerven auf das Vorkommen von degenerirenden Fasern pr\u00fcften. So oft der periphere Stumpf Sensibilit\u00e4t zeigte, fand sich immer eine geringe Anzahl normal gebliebener Nervenfasern vor; im centralen Stumpfe Hessen sich degenerirende Fasern in geringer Anzahl nach weisen.1\nBez\u00fcglich des Verlaufes und der Herkunft der die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t bedingenden Fasern stellen Arloing und Tripier weiterhin folgende S\u00e4tze auf:\n1 ) Die r\u00fcckl\u00e4ufige Sensibilit\u00e4t am Nerv, facialis wird durch Fasern vom Nerv, trigeminus bedingt; f\u00fcr die sensitiven Nerven stammen die betr. Fasern von benachbarten Nerven und ganz bestimmt auch von solchen der anderen Seite, f\u00fcr die gemischten Nerven von benachbarten und homologen.\n2) Die r\u00fcckl\u00e4ufigen Fasern steigen mehr oder weniger hoch in\n1 Nach den seither von mir gelieferten Nachweisen von dem Yorkommen degenerirter Fasern im \u00fcbrigens unversehrten Nerven (Wiener Berichte LXXVIII.) sind derartige Befunde nur mit der gr\u00f6ssten Vorsicht zu verwerthen.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\ndem Nervenstamme, dem sie sich beigesellt haben, aufw\u00e4rts; ihre Zahl nimmt ab im Verlaufe von der Peripherie nach dem Centrum zu.\n3) Die Umkehr dieser Fasern kann vor der Endigung der Nerven stattfinden, sie findet aber vorzugsweise in der Peripherie statt.\nWenn sensible Theile des K\u00f6rpers nur durch diejenigen Nerven mit dem Centralorgan in Zusammenhang st\u00fcnden, welche nach Ausweis der anatomischen Pr\u00e4parationen sich zu denselben hinbegeben, so d\u00fcrfte nach Trennung dieses Zusammenhanges keine Spur von Sensibilit\u00e4t mehr an denselben zu bemerken sein. Es liegen aber eine Reihe von Erfahrungen vor, welche diesen Satz nicht in seiner vollen Allgemeinheit g\u00fcltig erscheinen lassen.\nV. Bruns 1 hat zuerst eine Reihe ausgezeichneter Beobachtungen ver\u00f6ffentlicht, in denen bei Reseetionen am Unter- und Oberkiefer grosse St\u00fccke der durch die genannten Knochen laufenden Nerven herausgeschnitten wurden.\nNach der Operation wurde durch l\u00e4ngere Zeit hindurch der Zustand der Sensibilit\u00e4t (Tast- und Temperaturempfindung) genau gepr\u00fcft. Bei diesen Untersuchungen stellte sich heraus, dass nach Durchschneidung der Nerven entweder sofort oder nach l\u00e4ngerer Zeit (1\u20144 Tagen) eine vollst\u00e4ndige oder unvollst\u00e4ndige Aufhebung der Empfindung f\u00fcr Tast- und Temperatureindr\u00fccke eintrat. Hierbei verschwanden dieselben nicht immer in ganz gleichem Grade. In allen F\u00e4llen trat jedoch eine Wiederkehr des Empfindungsverm\u00f6gens ein und zwar in einigen schon innerhalb weniger Tage, in anderen nach Verlauf mehrerer Wochen.\nDie F\u00e4lle, in denen die Wiederkehr der Sensibilit\u00e4t erst nach einem relativ langen Zeitraum zu beobachten war, k\u00f6nnen wir hier ausser Spiel lassen, da dieselbe auf Rechnung der Regeneration peripherer Nervensubstanz geschoben werden k\u00f6nnte. 'Dahingegen erscheint es ganz unthunlich, wie schon Bruns mit vollem Rechte hervorgehoben hat, in denjenigen F\u00e4llen, in denen schon nach wenigen Tagen Spuren wiederkehrender Sensibilit\u00e4t vorhanden waren, anzunehmen, dass eine Wiedervereinigung der durchschnittenen Nerven stattgefunden habe. Hiergegen spricht schon die allzukurze Zeitdauer, in der sich niemals, selbst unter den g\u00fcnstigsten Bedingungen, die Verheilung einer Nervenwunde bewerkstelligt. Bedenkt man aber, dass in den von Bruns mitgetheilten F\u00e4llen St\u00fccke von mehr als Zolll\u00e4nge aus den Nerven ausgeschnitten wurden und dass\n# 1 V. Bruns, Die Durchschneidung der Gesichtsnerven beim Gesichtsschmerz. T\u00fcbingen 1859. (Sep.-Abdr. ans desselben Verfassers ..Chirurgischer Pathologie und Therapie des Kau- und Geschmackorgans\u201c.)","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckl\u00e4ufige und supplieirende Sensibilit\u00e4t an peripherischen Nerven. 235\nausserdem noch andere, die Verheilung sehr erschwerende Bedingungen (Lagever\u00e4nderung der zur\u00fcckgelassenen, das centrale Nervenende enthaltenden Knochenpartie, isolirte Vernarbung der Wund-enden der Nerven durch theilweises Ueberwachsen der Wundfl\u00e4che mit Mundschleimhaut etc.) eingef\u00fchrt wurden, so muss jeder Gedanke an eine stattgehabte Wiedervereinigung von der Hand gewiesen werden.\nMehrere Jahre nach den BRUNs\u2019schen Mittheilungen wurden in Frankreich einige chirurgische Beobachtungen mitgetheilt, in denen bei Nervenverletzungen die durchschnittenen Nervenenden durch die Naht vereinigt wurden und die R\u00fcckkehr der Sensibilit\u00e4t in sehr kurzer Zeit constatirt werden konnte. Die einschl\u00e4gigen Beobachtungen von Laugier, Houel (Fall von N\u00e9laton) und Richet wurden dahin gedeutet, dass in Uebereinstimmung mit \u00e4lteren Angaben (Paget, Bruch, Schiff) eine Vereinigung durchschnittener Nerven per primam intentionem stattfinden und die verloren gegangene Sensibilit\u00e4t in Folge derselben in sehr kurzer Zeit sich wiedereinstellen k\u00f6nne.1\nVersuche von Eulenburg und Landois'2 3 haben jedoch gezeigt, dass auch die Nervennaht den tiefgreifenden im peripheren Nervenstumpfe sich ausbildenden Degenerationsprocess nicht aufzuhalten vermag und dass von einem Zusammenwachsen des centralen Stumpfes mit dem peripheren per primam intentionem nichts zu beobachten war. Ranvier 3 hat sich diesen Angaben von Eulenburg und Landois angeschlossen, da es ihm nicht gelang die positiven Versuchsresultate von Bakowiecki4 \u00fcber rasche Verheilung von zusammengen\u00e4hten Nervenst\u00fcmpfen zu erhalten.\nDa somit die M\u00f6glichkeit einer raschen Wiedervereinigung durchschnittener Nerven mit rascher Wiederkehr der unterbrochen gewesenen Nervenleitung sehr wenig Wahrscheinlichkeit f\u00fcr sich hat, so darf man wohl annehmen, dass die oben erw\u00e4hnten Beobachtungen von Bruns und die sp\u00e4teren \u00e4hnlichen anderer Autoren ihrem Wesen nach als identisch angesehen werden m\u00fcssen. In der That hat Richet schon vor der Wiedervereinigung des durchschnittenen Nerv, media-\n1\tDas N\u00e4here \u00fcber die angef\u00fchrten F\u00e4lle findet sich mitgethe\u00fct in dem oben citirten Buche von L\u00e9ti\u00e9vant und in der Th\u00e8se von Felhol, De la sensib\u00fcit\u00e9 r\u00e9currente dans la main. Paris 1ST3. Weitere F\u00e4lle von Nervendurchschneidungen und deren Folgeerscheinungen sind mitgetheilt bei Kraussold im Arch. f. klin. Chirurgie XXI. 1877. S. 448 und in der Schrift desselben Autors, Ueber Nervendurchschneidung und Nervennaht. Leipzig 1878 (aus Volkmann\u2019s Sammlung klin. Vortr\u00e4ge).\n2\tEulenburg und Landois, Berliner klin. Wochenschr. 1864. Nr. 45.\n3\tRanvier, Le\u00e7ons sur l\u2019histologie du syst\u00e8me nerveux I. p. 276. Paris 1878.\n4\tBakowiecki, Arch. f. mikroskop. Anat. XIII. S. 420.1876.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die R\u00fcckenmarksnerven.\nuns im Verbreitungsbezirke dieses Nerven Sensibilit\u00e4tserscheinungen nachzuweisen vermocht; N\u00e9laton hat nachtr\u00e4glich eingestanden, dass auch in dem von ihm operirten Falle schon vor der vorgenommenen Nervennaht die Empfindlichkeit im Gebiete des betroffenen Nerven nicht ganz geschwunden gewesen sei.\nWas nun die physiologische Analyse der vorgef\u00fchrten Erscheinungen betrifft, so ist vorauszuschicken, dass dieselbe vollkommen befriedigend noch nicht vorzunehmen ist.\nEs ist m\u00f6glich, dass ausser den gr\u00f6beren Nerven, die sich zu einem Theile hinbegeben, noch sehr feine F\u00e4dchen denselben Weg einschlagen und nach Durchschneidung der einen Bahn die suppli-rende Sensibilit\u00e4t vermitteln (Bruns).\nSodann ist aber ganz besonders daran zu erinnern, dass, nach Ausweis der mit den besseren Methoden der neueren Zeit ausgef\u00fchrten Untersuchungen der sensiblen Nervenendigungen, in der Haut ausserordentlich reiche Nervennetze existiren. In diese Netzbildung gehen wohl die auf den verschiedenen Hauptbahnen zutretenden Axencylinder in der Weise ein, dass die innigste Vermischung stattfindet. So k\u00f6nnte es geschehen, dass ein auf das Endnetz einwirkender Eindruck unter jeder Bedingung zum Centralorgan fortgeleitet werden und Anlass zu einer Empfindung geben muss, so lange nur noch eine Verbindung der Peripherie mit den nerv\u00f6sen Centralorganen in unversehrtem Zustande sich befindet. Ein derartiger Mechanismus wird um so begreiflicher erscheinen, wenn wir auf einige andere mit der hier in Frage stehenden Erscheinung nahe verwandte Erfahrungen aus der Experimentalphysiologie hinweisen. Bei der Durchschneidung nur eines Nerv, vagus zeigt sich ganz gew\u00f6hnlich, dass die Ver\u00e4nderungen im Herzschlage, dem Blutdrucke und den Athembewegungen nur \u00e4usserst geringf\u00fcgig sind oder wohl auch ganz fehlen k\u00f6nnen. Erst mit der Durchschneidung auch des zweiten Nerven treten die bekannten tiefgreifenden Ver\u00e4nderungen in den genannten Functionen auf. Diese Thatsachen finden, so weit ich sehe, darin ihre einfachste Erkl\u00e4rung, dass in der Lunge und im Herzen terminale Nervenendnetze existiren, von denen aus sich einerseits die centripetalen Innervationen in den einen erhaltenen Nervenstamm behufs Fortpflanzung zum Centralorgan ergiessen k\u00f6nnen, w\u00e4hrend andererseits die vom Centrum ausgehenden centrifugalen nerv\u00f6sen Impulse in der Bahn auch nur eines Nerven noch in zureichender St\u00e4rke nach der Peripherie fortgepflanzt werden k\u00f6nnen.\nAls eine so vollst\u00e4ndige Stellvertretung des einen Nerven durch einen zweiten, wie in den eben erw\u00e4hnten Beispielen, ist \u00fcbrigens","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Nervus opticus.\n237\ndie in den oben angef\u00fchrten F\u00e4llen von Nerven-Verletzungen und Durehschneidungen beobachtete Supplirung nicht anzusehen. Die unmittelbare Folge der Durchschneidung ist gew\u00f6hnlich eine Vernichtung oder starke Herabminderung der Empfindlichkeit in den betreffenden Theilen. Auch wird vielfach eine Verlangsamung der Leitung angef\u00fchrt.\nAuf den wichtigen Umstand, inwieweit \u00fcberhaupt und mit welcher Feinheit die Lokalisation der Empfindung vorgenommen werden konnte, ist in den bis jetzt vorliegenden Beobachtungen nicht hinl\u00e4nglich R\u00fccksicht genommen worden.\nWelche Vorg\u00e4nge sich in der peripheren Nervensubstanz abspielen m\u00fcssen, um die Adaptation an die bedeutende Reduction der Leitungsbahnen zum Centralorgan zu bewerkstelligen, dar\u00fcber lassen sich vorl\u00e4ufig nicht einmal Vermuthungen aufstellen.\nDRITTES CAPITEL.\nDie H i r n n e r v e n.\nI. Nervus opticus.\nDie wesentlichen Leistungen dieses Nerven werden bei der Physiologie des Gesichtssinnes ihre Erledigung finden.\nBereits von \u00e4lteren Beobachtern1 wurde bemerkt und vielfach best\u00e4tigt, dass der Nervus opticus und seine Endausbreitung im Auge bei directer Insultation durch mechanische Eingriffe immer nur Lichtempfindung bewirkt, niemals Anlass zu einer Schmerzempfindung giebt.\nVon den peripheren Enden des Opticus werden sehr bemerkens-werthe Reflexph\u00e4nomene ausgel\u00f6st, von denen wir hier besonders die Wirkung auf die pupillenverengenden Fasern des Oculomotorius, die Stoffwechselvorg\u00e4nge, insofern sich dieselben in Kohlens\u00e4ureabgabe und Sauerstoffaufnahme \u00e4ussern, und endlich die durch Pigmentzellen bedingte F\u00e4rbung der Haut hervorheben wollen.\nDie Reflexe auf die Pupille sollen bei der Physiologie des Nerv, oculomotorius besprochen werden.\nBez\u00fcglich der Abh\u00e4ngigkeit der Stoffwechselvorg\u00e4nge von der Zug\u00e4ngigkeit der reizbaren Netzhaut f\u00fcr Licht liegen \u00e4ltere, der\n1 Bell. Idea of a new anatomy of the brain. London 1811 : Magendie,. Journ. d. physiol, exp\u00e9r. IV. p. 312, V. p. 37.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238 Sigmund Mater, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nMethode nach nicht vorwurfsfreie Versuchsreihen an Fr\u00f6schen von Moleschott vor. Neuerdings wurde dieser Gegenstand von B\u00e9chard, Selmi und Piacentini, Pott1, Pfl\u00fcger2 und v. Platen3 4 an S\u00e4uge-thieren wieder untersucht. Es stellte sich hiebei als wichtiges Resultat heraus, dass unter dem Einfl\u00fcsse des Lichtes durch die Erregung der Retina Kohlens\u00e4ureausscheidung und Sauerstoffaufnahme eine erhebliche Steigerung erfahren. Fubini 4 untersuchte die Frage nach der Abh\u00e4ngigkeit der Stoffwechselvorg\u00e4nge von der Einwirkung des Lichtes auf die Retina bei Fr\u00f6schen. Die Ver\u00e4nderungen im Stoffwechsel wurden aus der Ver\u00e4nderung des K\u00f6rpergewichtes erschlossen. Der Gewichtsverlust war bei \u00fcbrigens gleichen Bedingungen unter Einwirkung des Lichtes bei unversehrten Thieren viel gr\u00f6sser, als bei blind gemachten; das durchschnittliche Verh\u00e4ltniss des Gewichtsverlustes war wie 2,29:1. Wurden unversehrte, wie geblendete Thiere im Dunkeln gehalten, so trat bei beiden eine Gewichtszunahme ein, die aber bei den unversehrten eine betr\u00e4chtlichere war. Inwieweit dieser Effekt durch Licht von verschiedener Wellenl\u00e4nge beg\u00fcnstigt oder vermindert wird, muss einer weiteren genauen Untersuchung zu entscheiden Vorbehalten bleiben.\nII. Nervus oculomotorius, trochlearis und abducens.\nDie Verbreitung der genannten Nerven in den cpiergestreiften Muskeln des Auges er\u00f6rtert die descriptive Anatomie. Das Eingreifen der einzelnen Muskeln in die geordneten Augenbewegungen geh\u00f6rt in die Lehre vom Sehen.\nW\u00e4hrend man fr\u00fcher dem Oculomotorius jegliche Sensibilit\u00e4t absprechen zu d\u00fcrfen glaubte, hat neuerdings Adam\u00fck5 eine \u00e4ltere Angabe Valentin\u2019s best\u00e4tigt gefunden ; bei der Reizung des centralen Stumpfes traten Zeichen von Schmerzempfindung auf.\nIm Oculomotorius finden sich weiterhin Fasern, welche den Sphincter iridis innerviren und Pupillenverengerung herbeif\u00fchren. Diese Fasern nehmen ihren Verlauf durch das Ganglion ciliare. Sie scheinen in einem Zustande tonischer Erregung sich zu befinden, denn nach der Durchtrennung des Nerven tritt eine bedeutende Pupillenerweiterung\n1\tPott, Untersuchungen \u00fcber das Mengenverb\u00e4ltniss der durch Respiration und Perspiration ausgeschiedenen Kohlens\u00e4ure bei verschiedenen Thierspecies in gleichen Zeitr\u00e4umen nebst einigen Versuchen \u00fcber Kohlens\u00e4ureausscheidung desselben Thieres unter verschiedenen physiologischen Bedingungen. Jena 1875.\n2\tPfl\u00fcger, Arch. f. d. ges. Physiol. XI. S. 263. 1875.\n3\tv. Platen, ebenda S. 272.\n4\tFubini, Molesch. Unters. XI. S. 488.\n5\tAdam\u00fck, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1870. S. 177.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Augenmuskelnerven.\n239\nauf. Wesentlich auf einer L\u00e4hmung der pupillenverengenden Fasern des Oculomotorius beruht auch die m\u00e4chtige Erweiterung der Pupille, die beim Kaninchen nach Klemmung der vier zum Gehirne aufsteigenden Arterien auftritt. Diese Pupillenerweiterung ist wohl identisch mit derjenigen, welche Bouchut1 an enthaupteten Thieren beobachtete und als sicheres Zeichen des Todes (d. i. des Hirntodes) ansah. Da die Pupillendilatation in Folge von Hirnan\u00e4mie unabh\u00e4ngig ist von dem normalen Zusammenhang der Iris mit dem Sympathicus und da sie ausserdem zu derselben Zeit auftritt, in der die \u00fcbrigen von den vorderen Hirntheilen ausgehenden Erscheinungen schwinden2, so d\u00fcrfte die Zur\u00fcckf\u00fchrung derselben auf eine Oculomotoriusl\u00e4hmung wohl gerechtfertigt sein.\nDie pupillenverengenden Fasern im Oculomotorius lassen sich auch leicht durch Reizung desselben nach weisen. Es kann jedoch Vorkommen, dass die Fasern von der genannten Function nur zum geringen Theil im Oculomotorius verlaufen, sondern in anderen Bahnen, wie im Trigeminus oder im Abducens. Dreimal in 42 F\u00e4llen fand Adam\u00fck bei Hunden und Katzen die pupillenverengenden Fasern im Stamme des Abducens. Die Thatsache, dass die pupillenverengenden Fasern sich zuweilen in andere Nervenbahnen verirren, scheint f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der beim Menschen beobachteten Erscheinung herbei gezogen werden zu m\u00fcssen, dass bei vollst\u00e4ndiger peripherischer L\u00e4hmung des Oculomotorius die Bewegungen der Pupille zuweilen bestehen bleiben.\nEs ist endlich durch Versuche von Trautvetter3, Hensen und V\u00f6lckers4 und Adam\u00fck5 festgestellt worden, dass die durch die Contraction des M. ciliaris gesetzten accomodativen Ver\u00e4nderungen im Auge durch den Oculomotorius vermittelt werden und dass die betreffenden Fasern alle durch das Ganglion ciliare hindurchtreten.\nDie von den peripherischen Opticusenden ausgehende reflecto-rische Erregung der pupillenverengenden Fasern im Oculomotorius soll hier nur kurz erw\u00e4hnt werden.\nBei Versuchen an einem Enthaupteten fand Nuhn6, dass bei Anlegung der Leitungsdr\u00e4hte des Rotationsapparates an den Oculomotorius nicht Verengerung, sondern Erweiterung der Pupille erfolgte. Controlversuche an\nL Bouchut, Trait\u00e9 des signes de la mort. 1849.\n2\tSigmund Mater, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1878. S. 595.\n3\tTrautvetter, Arch. f. Ophthalmologie XII. Vgl. auch die Dissertation von C. Weber, NonnuHae disquisitiones, quae ad facultatem oculum rebus propinquis accomodandi spectant. Marburgi 1850.\n4\tIIensen und V\u00f6lckers, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1866. S. 72 (1) und Experimentaluntersuchungen \u00fcber den Mechanismus der Accomodation. Kiel 1868.\n5\tAdam\u00fck, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1870. S. 292.\n6\tKuhn, Ztschr. f. rat. Med. N. F. III. S. 123. 1853.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nThieren ergaben, dass dieser Erfolg auf Reizung pupillenerweiternder sympathischer Fasern durch Stromschleifen beruhte; aus diesem Ergebnis l\u00e4sst sich der Schluss ableiten, dass der die Pupille verengende Nervmuskelapparat k\u00fcrzere Zeit \u00fcberlebt, als der pupillenerweiternde.\nIII. Nervus trigeminus.\nDer Nervus trigeminus entspringt mit zwei Wurzeln, die von Hause aus Fasern f\u00fcr die verschiedensten Funktionen zu enthalten scheinen.\nDie Er\u00f6rterung der Funktionen der Sensibilit\u00e4t der Haut und der Schleimh\u00e4ute, sowie seiner Verbreitungsweise in den quergestreiften Muskeln f\u00e4llt zusammen mit der von der Anatomie zu liefernden Beschreibung seiner Ver\u00e4stelung.\nBez\u00fcglich seiner Sensibilit\u00e4t wird haupts\u00e4chlich von Bernard 1 darauf hingewiesen, dass dieselbe bei Thieren am l\u00e4ngsten persistirt, wenn dieselben einer Vergiftung oder irgend einer anderen Todesart erliegen. Hierbei bemerkte Bernard die eigenth\u00fcmliche Thatsache, dass bei dieser Vernichtung der sensiblen Eigenschaften des f\u00fcnften Nervenpaares die Cornea und die Conjunctiva ihre Sensibilit\u00e4t nicht zu gleicher Zeit einb\u00fcssen, sondern nach einander und in einer nach der Todesursache verschiedenen Reihenfolge (?).\nNach Bernard2, sollen auch die Erscheinungen der Photophobie, die bei Thieren nach Hornhautverletzungen noch Vorkommen soll, auch wenn vorher der Nerv, opticus durchschnitten worden war, auf Reizung der sensiblen Fasern des Trigeminus durch Licht beruhen.\nWie von allen sensiblen Nerven lassen sich auch vom Trigeminus in seinen Endausbreitungen Reflexe auf die verschiedenen Arten centrifugal wirkender Nerven erzielen. Wir erw\u00e4hnen hier nur die Reflexe von der von Trigeminus\u00e4sten innervirten Nasenschleimhaut auf die Hemmungsnerven des Herzens, das Athmungscentrum und das vasoconstrictorische Centrum (Holmgren, Kratschmer), vom Lingualis auf die Speichelsecretion u. s. w., wor\u00fcber an anderer Stelle ausf\u00fchrlicher gehandelt werden wird.\nDie Betheiligung des Nerv, lingualis beim Zustandekommen der Geschmacksempfindungen wird bei der Physiologie des Geschmackssinnes abgehandelt werden.\nDas Eingreifen von Trigeminusfasern in die secretorische Th\u00e4tig-keit der Glandulae lacrimalis, parotis und orbitalis wird bei der Lehre von den Secretionen seine Erledigung finden.\n1\tBernard, Le\u00e7ons sur la physiologie etc. II. p. 86.\n2\tBernard, ibid. p. 90.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen in der Mundh\u00f6hle nach Trigeminusdurchschneidung. 241\n1. Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen in der Mundh\u00f6hle etc. nach Trigeminusdurchschneidung.\nNacli der intracraniellen Trigeminusdurchschneidung bei Kaninchen treten Geschw\u00fcrsbildungen in der Mundh\u00f6hle und an den Lippen auf.1 2 3 Dieselben befinden sich, wie Rollett zuerst hervorgehoben hat, nicht allein auf der Seite des durchschnittenen Nerven, sondern auch auf der gesunden; sie greifen auch ohne Unterbrechung von einer Seite auf die andere \u00fcber.\nF\u00fcr die Entstehung dieser Geschw\u00fcre lassen sich nun rein traumatische Ursachen ausfindig machen. In Folge der L\u00e4hmung der motorischen Trigeminusfasern weicht der Unterkiefer nach der gesunden Seite hin ab, w\u00e4hrend er gleichzeitig um ein Geringes nach r\u00fcckw\u00e4rts gezogen und auf der gesunden Seite gehoben wird. W\u00e4hrend der seitlichen Abweichung im Anfang durch die Backz\u00e4hne ein gewisser Widerstand entgegengesetzt wurde, nimmt derselbe von Tag zu Tag zu, indem die Z\u00e4hne gegeneinander abnorme Abschleifungen zeigen. Die Geschw\u00fcre werden nun dadurch hervorgerufen, dass die von ihrer normalen Stellung abgewichenen Z\u00e4hne sich in bestimmte Stellen der Mundh\u00f6hle einhaken.\nVon den verschiedenen Geschw\u00fcren an Ober- und Unterlippe, am Zungenrande der unempfindlichen Seite, in der Schleimhaut des harten Gaumens dicht neben den oberen Backz\u00e4hnen und in dem Zahnfleische der gesunden Seite, l\u00e4sst sich zeigen, dass sie genau den Eindr\u00fccken der gegen\u00fcberstehenden von ihrer normalen Richtung abgewichenen Z\u00e4hne entsprechen. Die Geschw\u00fcre treten constant an den angegebenen Orten nach der Operation der einseitigen Durchschneidung des Trigeminus auf.\nDie Mundh\u00f6hlenschleimhaut ist auf der empfindungslosen Seite deswegen den Insulten der Z\u00e4hne ausgesetzt, wreil mit Wegfall der Empfindungen auch die sch\u00fctzenden Reflexe fehlen. Da dieser Defect in den Schutzvorrichtungen gleich nach der Operation vorhanden ist, so erscheinen die Geschw\u00fcrsbildungen auf der operirten Seite gew\u00f6hnlich fr\u00fcher, als auf der gesunden. Hier ist zwar die Empfindlichkeit erhalten; das Thier ist aber an sch\u00fctzenden Bewegungen dadurch verhindert, dass die Beweglichkeit des Unterkiefers durch die\n1\tCl. Bernard, Le\u00e7ons sur la physiologie etc. IL p. 99. Paris 1S5S.\n2\tB\u00fcttner, Ztschr. f. rat. Med. 3. XY. S. 254. 1862.\n3\tRollett, Sitzgsber. d.Wiener Acad. Mathem.-naturwiss. Cl. LI. S. 513. 1865. In dieser Abhandlung finden sich auch Abbildungen \u00fcber den Sitz der Geschw\u00fcre und die Form- und Ortsver\u00e4nderung der Z\u00e4hne.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II.\n16","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nNervendurchschneidung eine einseitige geworden ist, der Oberkiefer aber so gut wie gar nicht beweglich ist. Da die zur Hervorbringung der Geschw\u00fcre auf der gesunden Seite nothwendigen abnormen Abschleifungen der Z\u00e4hne immer einige Zeit erfordern, so erkl\u00e4rt sich hieraus ihr versp\u00e4tetes Auftreten.\nDie Beobachtungen \u00fcber die Wirkungen der Trigeminusdurch-schneidung auf die Mundh\u00f6hlenschleimhaut sprechen in keiner Weise f\u00fcr die Existenz trophischer Nerven, da die angef\u00fchrten traumatischen Ursachen zu ihrer Erkl\u00e4rung vollst\u00e4ndig ausreichen und irgend ein bemerkenswerther Unterschied in dem weiteren Verlaufe der Geschw\u00fcre auf der gesunden und der nicht mehr innervirten Seite nicht aufgefunden werden konnte.\n2. Ern\u00e4hrung s St\u00f6rung en am Auge nach Trigeminusdurchschneidung.\nIm Jahre 1824 hat Magendie den Versuch mit Erfolg ausgef\u00fchrt, bei Kaninchen den Nerv, trigeminus innerhalb der Sch\u00e4delh\u00f6hle so zu durchschneiden, dass das Leben des Versucksthieres, bei gut ausgef\u00fchrter Operation, nicht direct gef\u00e4hrdet wurde.\nSchon vor Magendie hatte Fodera (1823) bei Kaninchen die intra-cranielle Trigeminusdurchschneidung ausgef\u00fchrt, aber nach einer Methode (Knoehenwunde in das Seitenwandbein), die mit st\u00e4rkeren Verwundungen des Gehirnes und der Gef\u00e4sse verbunden war. Auch Herbert Mayo hat in demselben Jahre bei Tauben nach Aufhebung des Gehirns den Trigeminus innerhalb der Sch\u00e4delh\u00f6hle durchschnitten.\nDie Methode der intracraniellen Trigeminusdurchschneidung beim Kaninchen ist genau beschrieben bei Bernard, Le\u00e7ons s. la physiol, et la patholog. du syst. nerveux, tom. II. pag. 51.\nDie besondere Aufmerksamkeit der Physiologen haben die von Magendie als Folgeerscheinung der intracraniellen Trigeminusdurchschneidung am Auge beobachteten St\u00f6rungen in der Ern\u00e4hrung desselben auf sich gezogen.\nSchon wenige Stunden nach der Operation beginnt die Hornhaut sich zu tr\u00fcben. Diese Opacit\u00e4t nimmt rasch zu, so dass nach mehreren Tagen die ganze Hornhaut von derselben befallen ist; alsdann wird sie gelblich und vollst\u00e4ndig undurchsichtig, w\u00e4hrend sich dicke Borken von vertrocknetem Epithel und Secret auf derselben ansammeln. Nach dem Durchbruch des Eiters in die vordeie Augenkammer werden dann auch die \u00fcbrigen Tlieile des Auges in den Zerst\u00f6rungsprocess mit hereingezogen, ja es kann, wenn die Thiere lange genug die Operation \u00fcberleben, zu vollst\u00e4ndiger Vereiterung der betreffenden Gesichtsh\u00e4lfte kommen.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Trigeminuskeratitis.\n243\nDie Gef\u00e4sse der Conjunctiva sclerotieae zeigen sich schon nach einigen Stunden nach der Nervendurchschneidung etwas erweitert; 12\u201418 Stunden sp\u00e4ter ist diese Injektion schon gegen die Hornhautgrenze vorgedrungen, die subconjunctivalen Gef\u00e4sse nehmen ebenfalls Antheil an der Erweiterung. Nach dem dritten oder vierten Tage sind die erweiterten Gef\u00e4sse bis \u00fcber die Grenze der Hornhaut vorgedrungen und bilden einen rothen Ring um die gelbliche Hornhaut.\nDie Thr\u00e4nensecretion ist beinahe g\u00e4nzlich unterdr\u00fcckt, so dass die stark vermehrten Producte der Conjunctivalabsonderung und das Exsudat auf der Hornhaut leicht der Vertrocknung anheimfallen. Wohl in Folge dieses Umstandes geschieht es, dass sich mehrere Tage nach der Durchschneidung des Nerven die Augenlider zusammenkleben, so dass sich Schleim in grosser Menge hinter denselben ansammelt (Valentin, Schiff).\nNachdem schon fr\u00fcher Scheller1 die Ver\u00e4nderungen am Auge nach Trigeminusdurchschneidung beim Frosche durch die mikroskopische Analyse genauer zu bestimmen gesucht hatte, hat Senft-leben2 neuerdings diesen Gegenstand mit den jetzt zu Gebote stehenden besseren Hilfsmitteln einer Untersuchung unterzogen. Wenn er die Stelle der Hornhaut, an der sich die prim\u00e4re Tr\u00fcbung vorfand, nach mehr als 24 Stunden nach der Operation, mit Hilfe der Chlorgold- und H\u00e4matoxylinf\u00e4rbung mikroskopisch untersuchte, so waren die normalen Hornhautk\u00f6rper verschwunden. Das Epi'thel fehlte im Bereiche der Tr\u00fcbung. Entz\u00fcndliche Vorg\u00e4nge, insofern dieselben, nach der Auffassung von Cohnheim, durch die reichliche Anwesenheit von Eiterk\u00f6rperchen charakteristisch sind, fehlten. Senftleben fasst die prim\u00e4re Hornhauttr\u00fcbung als cir cum scripte Nekrose auf und st\u00fctzt diese Aussage noch dadurch, dass die betreffende Stelle durch Galle gelb gef\u00e4rbt wird, eine Reaction, die nur an ne-krotisirtem Gewebe auftreten soll. Auch soll sich weiterhin die getr\u00fcbte Stelle insofern als nekrotisch erweisen, als dieselbe unter Bildung eines Substanzverlustes ausgestossen werden und eine Neubildung stattfinden kann, wenn nur das Auge vor weiteren Insulten gesch\u00fctzt wird. Diese nekrotische Stelle giebt nun den Entz\u00fcndungsreiz ab, in Folge dessen von der Peripherie her, unter gleichzeitig eintretender Erweiterung der Conjunctival- und Subconjunctivalgef\u00e4sse, eine massenhafte Einwanderung von weissen Blutk\u00f6rperchen erfolgt.\n1\tScheller, Ueber die Struktur der Hornhaut des Frosches und deren Ver\u00e4nderungen nach Durchschneidung des Quintus. Erlangen 1861.\n2\tSenftleben, Arch. f. pathol. Anat. LXV. S. 60, LXXII. S. 278.1878.","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244 Sigmund Mayer. Spec. Xervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nDer prim\u00e4re Process w\u00e4re also die Nekrose, die erst seeund\u00e4r die Entz\u00fcndung in ihrem Gefolge hat. Zu gleichen Resultaten betreffs der prim\u00e4ren Natur der Hornhautaffection nach Trigeminusdurch-schneidung kamen auch Feuer 1 und Decker1 2.\nVielfach wurde seit den ersten Versuchen von Magendie die Frage diseutirt, inwieweit die Ver\u00e4nderungen am Auge abh\u00e4ngig seien von dem Orte der Nervendurchschneidung. Magendie hatte behauptet, dass die Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen am Auge ausbleiben oder viel geringer ausfallen, wenn die Durchschneidung zwischen Hirn und Ganglion Gasseri ausgef\u00fchrt wird. Longet sprach sich in \u00e4hnlichem Sinne aus; Bernard, der fr\u00fcher dieselbe Ansicht vertrat, scheint sp\u00e4ter von derselben zur\u00fcckgekommen zu sein. Nach den Versuchen von Schiff ist es f\u00fcr das Zustandekommen der er\u00f6rterten Erscheinungen am Auge nach der Trigeminusdurchschneidung gleichg\u00fcltig, ob die Trigeminusfasern noch in unversehrtem Zusammenhang mit dem GASSER\u2019schen Knoten stehen oder nicht.\nSinitzin3 4 ist neuerdings best\u00e4tigend auf eine Angabe von Bernard 4 zur\u00fcckgekommen, der zu Folge die nach Trigeminusdurchschneidung zu gew\u00e4rtigenden Erscheinungen am Auge ausbleiben oder versp\u00e4tet auftreten sollen (Bernard), wenn vorher oder unmittelbar nachher das oberste Halsganglion des Sympathicus ausgerissen worden sei. Weiterhin sollen die St\u00f6rungen am Auge und an der Mundh\u00f6hlenschleimhaut, wenn dieselben noch nicht allzuweit vorgeschritten gewesen seien, nach 2\u20144 Tagen wieder verschwinden, auch ohne besondere Schutzvorrichtungen des Auges der operirten Seite, einzig in Folge der vorgenommenen Exstirpation des obersten sympathischen Halsknotens.\nEckhard5 und Senftleben6 7 haben diese Frage einer erneuten experimentellen Pr\u00fcfung unterzogen, ohne die angegebenen Folgen der Exstirpation des obersten sympathischen Halsknotens f\u00fcr den Effekt der Trigeminusdurchschneidung best\u00e4tigen zu k\u00f6nnen ; zu diesem negativen Ergebnisse war auch schon fr\u00fcher Schiff 7 gelangt.\nUeber die Deutung der nach der Durchtrennung des Trigeminus auftretenden Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen am Auge sind mannigfache An-\n1\tFeuer, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXXIY. S. 63. 1876.\n2\tDecker, Contribution \u00e0 l\u2019\u00e9tude de la k\u00e9ratite neuroparalytique. Dissertation. Gen\u00e8ve 1876.\n3\tSinitzin, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1871. S. 161.\n4\tBernard, Le\u00e7ons sur la physiologie etc. II. p. 64.\n5\tEckhard, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. S. 548.\n6\tSenftleben, Arch. f. pathol. Anat. LXY. 1. c.\n7\tSchiff, Lehrbuch der Physiologie S. 389.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Trigeminuskeratitis.\n245\nsichten hervorgetreten. Trotz der vielfachen bis in die neueste Zeit hereinreichenden Bem\u00fchungen ist eine volle Einigung der Meinungen und ein befriedigender Einblick in das Verh\u00e4ltnis zwischen Nervendurchschneidung und Ver\u00e4nderungen am Auge noch nicht erzielt worden. Das Wesentliche des bis jetzt vorliegenden Materials wollen wir im Folgenden vorf\u00fchren.\nDa im Trigeminus Fasern von verschiedener physiologischer Dignit\u00e4t zum Auge verlaufen k\u00f6nnen, so m\u00fcssen dieselben s\u00e4mmtlich bei der Frage nach den Ursachen der Augenver\u00e4nderung ber\u00fccksichtigt werden, also haupts\u00e4chlich die sensiblen Fasern, die Fasern f\u00fcr die Thr\u00e4nendr\u00fcse, und allenfallsige im ramus ophthalmicus n. trigemini enthaltene vasomotorische und trophische Fasern.\nSnellen 1 verfiel zuerst auf den Gedanken die Trigeminuskeratitis wesentlich mit dem Umstande in Zusammenhang zu bringen, dass durch die Durchschneidung des Nerven das Auge (insbesondere die Conjunctiva und die Cornea) ihrer Sensibilit\u00e4t beraubt w\u00fcrden. In Folge dieses Umstandes sistiren auch die wesentlich reflectorisch ausgel\u00f6sten Bewegungen der Lider. Der offenstehende Bulbus sei daher sowohl gr\u00f6beren Insulten, als auch den weniger heftigen Reizen von Staub u. s. w. ausgesetzt. Auf das Auge nach Trigeminus-durchschneidung wirkten also Entz\u00fcndungsreize, die auch bei einem Auge ohne die genannte Operation zu Entz\u00fcndung f\u00fchren m\u00fcssten. Snellen glaubte diese Ansicht dadurch erh\u00e4rten zu k\u00f6nnen, dass zuweilen durch Vern\u00e4hung der Augenlider, ganz besonders aber durch Vorn\u00e4hen des sensiblen Ohres vor die zum Schutze des Bulbus wegen ihrer eigenen Unempfindlichkeit nicht sonderlich geeigneten Lider die Keratitis entweder verhindert oder doch in ihrer Entwicklung verz\u00f6gert w\u00fcrde.\nAlle sp\u00e4teren Experimentatoren best\u00e4tigten das von Snellen erzielte Versuchsresultat und erweiterten es in wesentlicher Weise dahin, dass eine vor das Auge gesetzte Schutzvorrichtung auch dann vor den bekannten Folgen der Trigeminusdurchschneidung zu bewahren im Stande ist, wenn dieselbe das Auge weder vor Verdunstung noch vor den Insulten durch Staub u. s. w. zu sch\u00fctzen vermag. Als solche Schutzvorrichtung w\u00e4hlte man eine passend vor das Auge gesetzte Kapsel aus Drahtgeflecht, wie es zu Pfeifendeckeln verwendet wird.\nAus diesem Resultat wurden verschiedene Schl\u00fcsse gezogen.\n1 Snellen, De invloed der zenuwen op de ontsteking proefondervindelijk ge-toest. Dissertation. (De vi nervorum in inflammationem.) Utrecht 1857.","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nB\u00fcttner 1, Meissner 2, Schiff 3 4 5, Eckhard 4 und Merkel 5 neigen der Ansicht zu, dass ein traumatischer Eingriff nur dann f\u00fcr das Auge so delet\u00e4re Folgen haben k\u00f6nne, wenn vorher ein im Trigeminus demselben zugeleiteter Impuls in Wegfall gerathen sei. Durch dieses Deficit an Nerveneinfluss gerathe das Auge in einen Zustand verminderter Widerstandsf\u00e4higkeit gegen von Aussen kommende sch\u00e4digende Einfl\u00fcsse. Nach Schiff\u2019s Meinung, der die trophischen Ner-venWirkungen nie anerkannte, handelt es sich wesentlich um die L\u00e4hmung vasoconstrictorischer Nerven, nach Meissner und Merkel sollen die an der medialen Seite des ersten Astes des Trigeminus, bei Kaninchen des vereinigten, erst sp\u00e4ter getrennten ersten und zweiten Astes gelegenen Fasern den trophischen Einfluss auf das Auge vermitteln. Diese \u201etrophische Wurzel\u201c des Trigeminus soll ihren Ursprung aus den Vierh\u00fcgeln nehmen (Meynert, Merkel).\nWas nun die behauptete verminderte Widerstandsf\u00e4higkeit des Auges nach der Trigeminusdurchschnei-dung betrifft, so konnte dieselbe in besonders darauf hin gerichteten Versuchen weder von Senftleben, noch von Feuer constatirt werden. Verschiedene auf das unversehrte und das der Trigeminusinnervation beraubte Auge angebrachte Insulte unterscheiden sich in ihren Folgen nicht wesentlich von einander.\nDie f\u00fcr \u2022 besondere trophische Wirkungen des Trigeminus gegen\u00fcber dem Auge plaidirenden Forscher st\u00fctzen sich haupts\u00e4chlich auf die Resultate von vereinzelten Versuchen, in denen trotz erhaltener Sensibilit\u00e4t die bekannten Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen aufgetreten, und umgekehrt trotz vernichteter Sensibilit\u00e4t ausgeblieben seien.\nSenftleben und Feuer zeigen in ihren Untersuchungen darin eine erfreuliche Uebereinstimmung, als beide die Ursachen der prim\u00e4ren Hornhauttr\u00fcbung in einer circumcripten Nekrose des Hornhautgewebes sehen; der nekrotische Theil wirkt dann erst secund\u00e4r als Entz\u00fcndungsreiz. Zwischen den genannten Autoren aber besteht bez\u00fcglich der Ansicht \u00fcber die Entstehung der partiellen Nekrotisirung der Hornhaut eine sehr wesentliche Differenz. Senftleben schiebt die Nekrose auf die Intervention eines relativ groben Trauma (Stoss? Reibung) und glaubt, dass die Vorgesetzte Drahtnetzkapsel das Auge\n1\tB\u00fcttner, Ztschr. f. rat. Med. XV. (3) S. 254.\n2\tMeissner, ebenda XXIX. (3) S. 96. 1867.\n3\tSchief, ebenda XXIX. (3) S. 217. 1867 und in der Dissertation von Hauser (Sur l\u2019influence du syst, nerveux sur la nutrition. Paris 1858).\n4\tEckhard, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. S. 548.\n5\tMerkel, Die trophische Wurzel des Trigeminus in Unters, a. d. anat. Institut z. Rostock 1874.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Trigeminuskeratitis.\n247\nvor demselben schlitze und so die Ausbildung einer Keratitis hindere. Feuek best\u00e4tigt die Thatsache, dass eine Drahtnetzkapsel die gew\u00f6hnlichen Folgen der Trigeminusdurchschneidung vollst\u00e4ndig verhindert. Er schiebt diesen Erfolg aber nicht auf den Schutz vor schweren Traumen, sondern darauf, dass dergleichen Schutzvorrichtungen, wenn man die Thiere frei damit umherlaufen l\u00e4sst, wegen der grossen Verschieblichkeit der Gesichtshaut die Lider \u00f6fters \u00fcber die Cornea hinziehen und so die Vertrocknung derselben, welche die wesentliche Ursache der Nekrose sein soll, verhindern k\u00f6nnen. Feuer sieht haupts\u00e4chlich in der Vertrocknung, hervorgebracht durch den aufgehobenen Lidschlag in Verbindung mit der verminderten Thr\u00e4nensecretion, die Ursache der Keratitis. Sorgf\u00e4ltige Vern\u00e4hung der Lidspalte, wobei auf die Verminderung der Einf\u00fchrung von Entz\u00fcndungsreizen (Bildung eines Entropium) geh\u00f6rig R\u00fccksicht genommen werden'muss, soll ebenfalls gegen die Keratitis sch\u00fctzen. Feuer k\u00f6mmt also hier auf eine schon \u00f6fters in Erw\u00e4gung gezogene aber schliesslich immer zur\u00fcckgewiesene Ansicht zur\u00fcck, die zum Theil schon v. Graefe 1 vertreten hat, wenn er aussprach, dass die Vertrocknung zwar nicht die Keratitis bedinge, wohl aber das Auftreten derselben zu beschleunigen verm\u00f6ge.\nBesonderes Gewicht auf die Vertrocknung der Hornhaut bei der Trigeminuskeratitis haben auch Eberth1 2 3 und Balogh 3 gelegt; beide Autoren neigen zur Meinung dass als Entz\u00fcndungserreger wesentlich Bakterien wirken, die in das Hornhautgewebe hineingelangen.\nGegen die dargelegte Argumentation Feuer\u2019s hat Senftleben seine Meinung aufrecht zu halten versucht,-so dass die Frage noch nicht als abgeschlossen betrachtet werden kann, sondern noch weiterer Untersuchungen bedarf.\nDa Feuer und Senftleben \u00fcbereinstimmend die Existenz besonderer trophischer Nerven, als zur Erkl\u00e4rung der Trigeminuskeratitis \u00fcberfl\u00fcssig, abweisen, so wird es nothwendig sein, F\u00e4lle, wie die von Schiff, Meissner und Merkel beobachteten in Zukunft genau von den durch die Untersuchungen von Feuer und Senftleben gewonnenen Standpunkten aus zu analysiren.\nWenn der Mangel der Lidbewegungen wesentlich durch Vertrocknung Nekrose der Hornhaut hervorrufen soll, so m\u00fcsste Durch-\n1\tv. Graefe, Arch. f. Ophthalmologie I. S. 306. 1854.\n2\tEberth. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. S. 502; Unters a. d. pathol. Institut z. Z\u00fcrich II. S. 1. Leipzig 1874.\n3\tBalogh. Centralbl. f. d. med. Wiss. S. 99. 1876.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Himnerven.\nschneidung des Facialis, die ebenfalls den Lidschlag verhindert, den gleichen Effekt hervorrufen. Feuer hat bei zwei Kaninchen diese Operation ausgef\u00fchrt. Er macht darauf aufmerksam, dass dann das Unterlid sich senkt und ein wenig vom Bulbus absteht, so dass zwischen beiden ein stets f\u00fcr die Befeuchtung der Cornea hinreichendes Thr\u00e4nenreservoir entsteht. Ausserdem kann das Oberlid sich senken durch willk\u00fchrliche Erschlaffung des Levator palpebrae, der Bulbus macht h\u00e4ufige Excursionen, so dass es nicht leicht zur Bildung einer Hornhautvertrocknung kommen kann. Nichtsdestoweniger trat in dem einen Fall nach kurzer Zeit an der Cornea eine strichf\u00f6rmige Tr\u00fcbung und eine Ausstossung des Gewebes ein.\nCl. Bernard 1 hat f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Keratitis einen ganz besonderen Standpunkt eingenommen. Nach Durchschneidung des Trigeminus zwischen Ganglion und Hirn soll, wie schon Waller bemerkt hat, nur die mit dem Ganglion nicht in Beziehung tretende Portion der Entartung anheimfallen, die noch mit dem Ganglion in Verbindung stehenden Fasern aber nicht. Bernard schliesst hieraus, dass nur die im Ram. maxillaris inferior verlaufenden Fasern durchschnitten sein m\u00fcssen, wenn die St\u00f6rungen am Auge auftreten sollen. Diese Fasern sieht er als vasodilatatorische an, nach deren Wegfall die im Sympathicus zum Auge verlaufenden vasoeonstrictorischen Fasern ins Uebergewicht gerathen und die Entz\u00fcndung bewirken sollen. Diese Ansicht, welche die Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen ganz ausser Spiel l\u00e4sst, steht in schlechtem Einkl\u00e4nge mit den wirklich zur Beobachtung kommenden Erscheinungen und entbehrt einer hinl\u00e4nglichen Begr\u00fcndung durch Thatsachen.\n3. Einfluss des N. trigeminus auf die Pupille.\nDie Angaben aller Beobachter stimmen darin \u00fcberein, dass nach intracranieller Trigeminusdurchschneidung beim Kaninchen die Pupille verengt ist. Im Momente der Durchschneidung soll sich jedoch die Pupille erweitern.1 2\nDie Verengung, welche der Durchschneidung folgt, ist keine dauernde. Schon nach wenigen Stunden, zuweilen schon innerhalb einer halben Stunde, erweitert sich die Pupille wieder. Ueber das weitere Verhalten der Iris nach der Trigeminusdurchschneidung sind verschiedene Meinungen laut geworden, v. Gr\u00e4fe bemerkte eine tr\u00e4gere Reaktion der Pupille, nachdem sie eine mittlere Weite wie-\n1\tBernard, Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1874. p. 207.\n2\tArlt, jun., Arch. f. Ophthalmologie XV. S. 294. 1869.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Einfluss des N. trigeminus auf die Pupille.\n249\nder erlangt hatte, w\u00e4hrend Schiff die Beweglichkeit derselben vollkommen normal fand. Senftleben, der neuerdings wieder auf diese Verh\u00e4ltnisse sein Augenmerk gerichtet hat, ist geneigt, nach seinen eigenen Erfahrungen, auf die Seite v. Ge\u00e4fe\u2019s zu treten, indem er in den meisten F\u00e4llen einige Zeit nach der Operation die Reactions-f\u00e4higkeit der Pupille vollst\u00e4ndig vermisste, die Iris in einer vollkommenen Gleichgewichtslage verharren sah.\nDie genaue Festsetzung des Einflusses, den der Trigeminus der Irismuskulatur gegen\u00fcber entfaltet, ist mit nicht geringen Schwierigkeiten verkn\u00fcpft. Da die Iris bekanntlich innervirende Fasern aus dem N. oculomotorius und Sympathicus bezieht, und die Irisnerven ebenso wie die anderen motorischen Nerven auf dem Wege des Reflexes erregbar sind, so k\u00f6nnen an der Hervorbringung der oben geschilderten Erscheinungen sehr verschiedene Mechanismen betheiligt sein. Es kann sich n\u00e4mlich bei der Pupillenver\u00e4nderung in Folge von Trigeminusdurchschneidung ebensowohl um reflectorische Erregung der beiden genannten Irisnerven, als auch um Erregung oder L\u00e4hmung von Fasern des Trigeminus handeln, die direct pupillenerweiternd oder verengernd wirken, sei es, dass diese Fasern mit den Wurzeln des Trigeminus aus dem Gehirne austreten, oder dass anderen Nervenwurzeln entstammende F\u00e4den sich dem Trigeminus-stamme derart anschmiegen, dass dieselben bei der intracraniellen Durchschneidung mit getroffen werden.\nDie wesentlichen Angaben aus dem etwas verworrenen Material wollen wir hier vorf\u00fchren.\nAnkn\u00fcpfend an die Thatsachen, dass bei der Erstickung dem Stadium der Verengerung der Pupille ein Stadium m\u00e4chtiger Erweiterung nachfolgt, welches auch nach Ausrottung des Halssympa-thicus nicht ausbleibt, unternahm es Balogh 1 weitere Bahnen f\u00fcr pupillenerweiternde Nervenfasern aufzusuchen.\nDie Thatsache, dass reflektorisch Pupillenerweiterung auch dann noch zu Stande k\u00f6mmt, wenn das oberste Halsganglion und der obere Theil des Halsstranges des Sympathicus 10\u201414 Tage vorher durchschnitten worden waren, constatirte auch Vulpian.1 2\nAus den Reizungs- und Durchschneidungsversuchen am Trigeminus zieht Balogh folgende Schl\u00fcsse:\n1) Alle pupillenerweiternden Fasern gehen durch das Ganglion Gasseri und verlassen dasselbe mit dem ersten Trigeminusast.\n1\tBalogh, Molesch. Unters. VIII. S. 423. 1862.\n2\tVulpian, Arch. d. physiol, norm, et pathol. I. p. 177.1874.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\n2) Diese Fasern haben im verl\u00e4ngerten Marke ein Ursprungscentrum, welches mit der Ursprungsstelle der Trigeminusnerven zusammenf\u00e4llt.\nNach derselben Richtung hat Oehl 1 experimentirt. Er fand bei Hunden die Reizung des ersten Astes des Trigeminus von pupillenerweiternder Wirkung; Reizung des Trigeminus vor der Bildung des Ganglion soll die Pupille nicht erweitern.\nDa sowohl bei sorgf\u00e4ltiger Isolirung des Augenastes des Trigeminus von etwa anhaftenden Sympathicusfasern, als auch nach l\u00e4ngerer Zeit vorgenommenen Durchschneidung des oberen Cervical-ganglion und consecutiver Degeneration der durch dasselbe tretenden Nervenfasern, die Trigeminusreizung noch wirksam gefunden wurde, so wird hieraus geschlossen, dass es nicht sympathische dem Trigeminus beigemischte Fasern sind, die die Pupillenerweiterung bewirken. Oehl vertritt die Meinung, dass die zur Iris in der Trigeminusbahn sich hinbegebenden Nerven aus dem Ganglion Gasseri entspringen d\u00fcrften.\nAus Versuchen an Fr\u00f6schen schliesst Guttmann 1 2, dass pupillenerweiternde Fasern, deren Centrum im R\u00fcckenmarke liegt, durch den Halssympathicus zum Ganglion Gasseri und von da zur Iris gelangen, und dass ausserdem im Ganglion Gasseri selbst pupillenerweiternde Fasern entspringen. Im Gegens\u00e4tze zu Balogh wird ein Ursprung derartiger Fasern aus der medulla oblongata bestritten.\nAus directen Reiz versuch en wollte man aber auch andererseits erschlossen, dass im Trigeminus pupillenverengernde Nervenfasern verlaufen. Bernard sah nach mechanischer Reizung des Augenastes vom Trigeminus Pupillenverengerung, desgleichen Rogow3 und Gr\u00fcnhagen.4 Die Angabe von Oehl, dass beim Kaninchen im ersten Augenblicke nach der Freilegung des Trigeminus; sowohl bei Reizung, als bei Durchschneidung des Augenastes Verengerung der Pupille eingetreten sei, sp\u00e4ter aber die Reizung Erweiterung, die\n1\tOehl, Della influenza che il quinto pajo cerebrale dispiega sulla pupilla; Firenze 1863 (Meissner\u2019s Jahresber. 1862. S. 506); Ann. d\u2019ocul. 1864. LI. p. 53. Bei den angef\u00fchrten Versuchen, in denen, bei erhaltenem Oculomotorius, nach Durchschneidung des Sympathicus noch Erweiterung der Pupille zur Beobachtung kam, ist, meiner Meinung nach, nicht hinl\u00e4nglich darauf R\u00fccksicht genommen worden, dass starke Erweiterung der Pupille durch Nachlassen des Oculomotoriustonus herbeigef\u00fchrt werden kann, und dass, nach Ausweis zahlreicher anderweitiger Erfahrungen, eine solche Hemmungswirkung auf reflectorischem Wege hervorzurufen ist.\n2\tGuttmann, Centralbl. f. d med. Wiss. 1864. S. 59S und Dissertation: De nervi trigemini dissectione apud ranam esculentam.\n3\tRogow, Ztschr. f. rat. Med. XXIX. (3) S. 29. 1867.\n4\tGr\u00fcnhagen, ebenda S. 283.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Einfluss des N. trigeminus auf die Pupille.\n251\nDurchschneidung hingegen Verengerung hervorgebracht habe, ist schwer verst\u00e4ndlich.\nDie durch Trigeminusreizung hervorgerufene Pupillenverengerung soll sich dadurch von der durch Oculomotoriusreizung bedingten unterscheiden, dass erstere langsam entsteht und ebenso langsam wieder verschwindet; weiterhin wird angegeben, dass nach Atropinwirkung die erweiterte Pupille nicht mehr vom Oculomotorius, wohl aber vom Trigeminus aus zur Verengerung gebracht werden kann. (Gr\u00fcnhagen.)\nDie von Gr\u00fcnhagen durch lange Zeit festgehaltene Ansicht, dass der Trigeminus in einer ohne jegliche Analogie dastehenden Weise auf die Elasticit\u00e4t des Irisgewebes einwirkt, d\u00fcrfen wir um so eher der Vergessenheit anheimgeben, als der Urheber derselben sich von der Unhaltbarkeit dieser Hypothese selbst \u00fcberzeugt und dieselbe aufgegeben hat.1\nKommeji wir nun nochmals auf die bei der intracraniellen Tri-geminusdurchschneidung auftretende Pupillenverengerung zur\u00fcck, so d\u00fcrfte an eine Reflexwirkung auf den Oculomotorius kaum zu denken sein, da die Verengerung auch nach vorheriger Trennung des Oculomotorius beobachtet wurde. Die oben mitgetheilten Erfahrungen \u00fcber die Erfolge der directen Erregung des Trigeminus machen es' sehr wahrscheinlich, dass in diesen Nerven, und zwar mit grossen individuellen Schwankungen, sowohl verengernde als erweiternde Iris-nerven verlaufen. Bei der unsicheren und vor\u00fcbergehenden Reizung, wie sie durch den Eingriff des intracraniellen Schnittes gesetzt wird, k\u00f6nnen die Reizwirkungen sehr verschieden ausfallen (Erweiterung, Verengerung). Bei geringem Gehalt an Erweiterungsnerven k\u00f6nnen die L\u00e4hmungszust\u00e4nde schwach ausgebildet sein (geringe permanente Verengerung nach der Durchschneidung). Dass ausser dem Oculomotorius noch pupillenverengernde Fasern vorhanden sind, geht aus einer Angabe von Schiff2 hervor, nach der bei einem Kaninchen nach Durchschneidung des Oculomotorius die Pupille des nach aussen stehenden Auges sich langsam etwas verengte, wenn das Thier das Auge noch mehr nach aussen drehte; eine \u00e4hnliche Erscheinung glaubte Schiff einmal bei einem Raubvogel (Perms apivorus) nach Durchschneidung des Oculomotorius zu beobachten.\nv. Gr\u00e4fe3 berichtet von einer ganz \u00e4hnlichen Erfahrung beim Menschen; alle Aeste des Oculomotorius waren vollkommen gel\u00e4hmt, die Pupille beim Lichteinfalle und bei Accomodationsver\u00e4nderungen\n1\tGr\u00fcnhagen. Arch. f. d. ges. Physiol. X. S. 173. 1875.\n2\tSchiff, Lehrbuch etc. S. 378. Vgl. \u00fcber diesen Punkt die Angaben bei der Physiologie des Oculomotorius.\n3\ty. Graefe, Arch. f. Ophthalmologie III. S. 363. 1857.","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nSigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\n(im zweiten Auge) vollkommen starr. Dagegen zog sie sick zusammen, so wie das gel\u00e4hmte Auge durch den normal fungirenden Ab-ducens in den \u00e4usseren Winkel hineinbewegt wurde.\nOb nun bei den genannten Pupillenbewegungen Trigeminusfasern betheiligt waren, erscheint m\u00f6glich, ist aber nicht erwiesen. Jedenfalls w\u00fcrde bei diesen zum Sphincter iridis gehenden Fasern die enge reflectorische Beziehung fehlen, in der nachweislich der Oculomotorius zum Opticus steht.\nSchliesslich muss noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass bei der intracraniellen Trigeminusdurchschneidung, der benachbarte Oculomotorius sehr leicht in Mitleidenschaft gezogen werden kann, so dass F\u00e4lle, in denen nach der Operation die Reaction der Pupille auf Licht ganz fehlte den Verdacht einer Mitverletzung des Oculomotorius aufkommen lassen.\nIV. Nervus facialis.\nDer Nervus facialis ist vorzugsweise ein bewegender Nerv ; der Verbreitungsbezirk seiner Fasern wird der Hauptsache nach durch die Darstellungen der beschreibenden Anatomie klargelegt. Die \u00e4lteren Versuche, die pars intermedia Wrisbergi als eine sensible Wurzel des Nerv, facialis aufzufassen (Bischoff, Gaedechens, Morganti) m\u00fcssen als gescheitert angesehen werden.\nSowohl innerhalb des Felsenbeins, als auch ausserhalb des Foramen stylomastoideum ist der Nerv, facialis mit deutlicher Sensibilit\u00e4t begabt; dieselbe r\u00fchrt von Fasern des Trigeminus und des Vagus her, die sich der Facialisbahn anschliessen.1 Die Sensibilit\u00e4t des Facialis in seinem Gesichtstheile zeigt sich nach der Durchschneidung sowohl am peripherischen, als am centralen Stumpfe, so dass an diesem Nerven die Erscheinung der r\u00fcckl\u00e4ufigen Sensibilit\u00e4t besonders leicht nachgewiesen werden kann.\nDie wesentlichen Kenntnisse \u00fcber die gesonderten Functionen der beiden wichtigsten im Gesichte sich verbreitenden Nerven, des Nerv, facialis und des Nerv, trigeminus wurden von Ch. Bell ermittelt; mehrere von demselben Forscher gemachte unrichtige Angaben berichtigte H. Mayo. Die \u00e4lteren Versuche \u00fcber die dem Nerv, facialis zukommende Sensibilit\u00e4t r\u00fchren von Magendie, Eschricht und Lund, Longet her.'2\n1\tSchiff, Lehrbuch etc. S. 390 ; Bernard , Le\u00e7ons sur la physiologie etc. IL\np. 27.\n2\tDie einschl\u00e4gigen literarischen Nachweise siehe bei P. M . Lund, Physiologische Resultate der Yivisectionen neuerer Zeit, eine von der Kopenhagener Universit\u00e4t gekr\u00f6nte Preisschrift. \u00a7 42 u. Anhang hierzu \u00a7 43. Kopenhagen 1825 ; Longet, Trait\u00e9 de physiologie III. \u00e9dit. III. p. 564 If.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Nerv, facialis.\n253\nNach der Durchschneidung des Nerv, facialis weicht die gel\u00e4hmte Gesichtsh\u00e4lfte nach der gesunden Seite hin ab, wegen des st\u00e4rkeren Zuges der tonisch innervirten Muskeln der unverletzten Gesichtsh\u00e4lfte. Nach l\u00e4ngerer Dauer der L\u00e4hmung wendet sich die Abweichung des Gesichtes aber auf diejenige Seite, auf welcher die L\u00e4hmung besteht. Diese Thatsache wurde sowohl bei Thieren1, als auch bei Menschen2 beobachtet. Es handelt sich hier ohne Zweifel um Contracturen der Muskeln, die sich in denselben einstellen, wenn sie l\u00e4ngere Zeit dem Einfl\u00fcsse des Nervensystems entzogen sind. Der Mechanismus des Entstehens dieser Contracturen ist noch in Dunkel geh\u00fcllt. M\u00f6glich erscheint es, dass die beim Fehlen des Nerveneinflusses ins Wuchern gerathende bindegewebigen Theile des Muskels einen so starken Zug aus\u00fcben, w\u00e4hrend gleichzeitig ein Schwund der eigentlichen contrac-tilen Substanz eintritt.\nMacht man die Durchschneidung oder Ausreissung des Nerv, facialis bei heranwaehsenden Thieren, so zeigen sich nicht nur an den Weichtheilen, sondern auch an den Knochen nach l\u00e4ngere Zeit bestehender L\u00e4hmung auffallende Difformit\u00e4ten. Der ganze Gesichtssch\u00e4del zeigt eine Verkr\u00fcmmung nach der kranken Seite hin. Diese schon von Brown-S\u00e9quard (a. a. 0.) erw\u00e4hnte Thatsache hat Schauta3 neuerdings eingehender untersucht. Zur Erkl\u00e4rung der eingetretenen Verkr\u00fcmmung des Sch\u00e4dels nach der gel\u00e4hmten Seite hin, nimmt Schauta an, dass auf der kranken Seite die Muskeln im Wachsthum Zur\u00fcckbleiben und dass solche Muskeln, wenn sie bis zu einem gewissen Grade gedehnt werden, eine gr\u00f6ssere elastische Wirkung aus\u00fcben, als innervirte, nicht gedehnte. Sodann wird darauf hingewiesen, dass das Spiel der Muskeln durch seinen Einfluss auf die Bewegung der Gewebefl\u00fcssigkeiten in den umgebenden Weichtheilen auch indirect die Ern\u00e4hrung der Knochen beeinflussen k\u00f6nne; dieser die Knochenern\u00e4hrung beg\u00fcnstigende Einfluss ger\u00e4th aber nach der Nervendurchschneidung in Wegfall.\nIn Folge der Facialisdurchschneidung treten nach etwa vier Tagen durch sehr lange Zeit hindurch anhaltende zitternde Bewegungen in den Muskeln des Gesichts ein, die besonders durch die Bewegungen der Tasthaare bei Kaninchen sehr auffallend hervortreten. Diese\n1\tSchiff, Lehrbuch etc. S. 391. Hier findet sich auch die Angabe, dass schon Schaw und H. Mayo diese Thatsache gekannt haben. Brown-S\u00e9quard, a) Notice sur les travaux originaux, in Journ. d. 1. physiol. V. p. 655. 1862 ; b) Med. Exam. 1853. p. 491 ; c) Exper. Research, appl. to Physiol, etc. p. 101.\n2\tErb, Handbuch der Krankheiten des Nervensystems II. Die Krankheiten der peripheren cerebro-spinalen Nerven S. 478. 2. Aufl. Leipzig 1876.\n3\tSchauta, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXV. S. 105. Die Verkr\u00fcmmung des Gesichtssch\u00e4dels wird durch Abbildungen illustrirt.","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nSigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nvon Brown-S\u00e9quard und Schiff 1 entdeckten und von letzterem mit dem Namen der L\u00e4hmungsoscillationen belegten Bewegungen sind jedoch nichts dem Nerv, facialis Specifisches, sondern zeigen sich auch an anderen Muskeln nach der Nervendurchschneidung. Von diesen Bewegungen habe ich gezeigt1 2 3, dass sie der Curarevergiftung widerstehen, und dass sie durch Sistiren der k\u00fcnstlichen Kespiration, nachdem sie vorher eine vor\u00fcbergehende Verst\u00e4rkung erfahren haben, alsbald ganz vernichtet werden. W\u00e4hrend diese Beobachtungen erweisen, dass die genannten Bewegungen keinesfalls von demjenigen Theile des Nervmuskelapparates ihren Ausgangspunkt nehmen, der vom Curare ergriffen wird, ist \u00fcber die bestimmenden Ursachen dieser eigenth\u00fcmlichen Art von Muskelbewegungen noch keine bestimmte Ansicht auszusprechen.\nEs erscheint leicht begreiflich, dass nach beiderseitiger Faeialis-durchschneidung das Fassen und Verarbeiten der Nahrung im Munde sehr erschwert ist und Inanitionserscheinungen auftreten k\u00f6nnen. Dass aber die Thiere nach dieser Operation am Schlingen verhindert seien und deswegen Hungers sterben, wie Brown-S\u00e9quard 3 angegeben hat, erscheint nach den Bemerkungen von Schiff4 nicht wahrscheinlich.\nBei Facialisl\u00e4hmung wurde zuerst von Roux an sich selbst eine l\u00e4stige Empfindung im Ohre bei heftigen Ger\u00e4uschen bemerkt. Sp\u00e4ter wurde die Geh\u00f6rsst\u00f6rung bei Facialisl\u00e4hmungen von Wolff als \u201e Oxyokoia \u201c beschrieben und von Landouzy, Lucae und Hitzig n\u00e4her untersucht. Die H\u00f6rst\u00f6rung bei L\u00e4hmung des Facialis \u00e4ussert sich besonders in einer abnormen Feinh\u00f6rigkeit f\u00fcr alle musikalischen T\u00f6ne, speciell als abnorme Tiefh\u00f6rigkeit, manchmal mit einem hohen subjectiven Ger\u00e4usche verbunden (Hyperacusis). Lucae bezieht dieses Symptom auf L\u00e4hmung des Muse, stapedius und hieraus sich ergebendes Uebergewicht des M. tensor tympani; das Auftreten dieses Symptoms w\u00fcrde daher dazu berechtigen, die Nervenl\u00e4sion an einen Ort des Facialisverlaufes oberhalb des Zweiges f\u00fcr den Muse, stapedius zu verlegen.5\nDie Betheiligung von Fasern des Nerv, facialis an den Bewegungen des Gaumens wird durch Ermittelungen der Anatomie, der experimentellen Physiologie und durch Beobachtungen der Patho-\n1\tSchief, Lehrbuch etc. S. 77, 391.\n2\tSigmund Mayer, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1878. S. 579.\n3\tBrown-S\u00e9quard, Exper. research, etc. p. 102.\n4\tSchiff, Lehrbuch etc. S. 392.\n5\tDie betreffenden Literaturangaben bei Erb, Krankheiten der peripheren cerebrospinalen Nerven. 2. Aufl. S. 460, 470.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Nerv, facialis.\n255\nlogie erh\u00e4rtet. Die schon von \u00e4lteren Beobachtern aufgestellte Behauptung, dass vom Gangl. geniculatum aus Facialisfasern durch den Nerv, petrosas superficialis major zum Ganglion sphenopalatinum gehen wurde mit verbesserten Untersuchungsmethoden von Fr\u00fchwald 1 best\u00e4tigt ; vom Gangl. sphenopalatinum gehen aber Nerven zum Gaumen.\nReizungsversuche am Nerv, facialis ergaben, neben vielfachen negativen Resultaten, doch auch positive Ergebnisse.'1 2 Nuhn3 sah am Kopfe eines Enthaupteten auf elektrische Reizung des Nerv, facialis Bewegungen des Gaumens; dahingegen misslang ihm der angestrebte Nachweis, dass die Bahn, in welcher dem Gaumen die Facialisfasern zustreben, im Nerv, petrosus superficialis major verlaufe.\nEs ist wohl nur ein lapsus calami, wenn Henle4 bemerkt, Nuhn meine den Beweis geliefert zu haben, dass Durehschneidung des Nerv, petr. superf. maj. die Leitung vom Facialis zu den Gaumenmuskeln aufhebt. Nuhn bemerkt in der oben angef\u00fchrten Abhandlung ausdr\u00fccklich, dass er aus seinen Beobachtungen diesen Schluss zu ziehen sich nicht f\u00fcr berechtigt hielt.\nDeviationen des Gaumens bei Faeialisl\u00e4hmungen werden nicht selten beobachtet. Die seitliche Abweichung nach der gesunden Seite hin, wie sie von vielen Beobachtern beschrieben wurde, will W. R. Sanders5 nur als auf mangelhafter Beobachtung beruhend gelten lassen und meint, dass bei Facialisl\u00e4hmung die Wirkung am Gaumen sich in einem Tieferh\u00e4ngen des Gaumensegels der gel\u00e4hmten Seite documentire, wodurch der betr. Gaumenbogen niedriger, enger und weniger gew\u00f6lbt erscheine. Sanders zieht aus seinen Beobachtungen den Schluss, dass aus dem Nerv, facialis Fasern f\u00fcr den gr\u00f6ssten Theil der Muskelfasern des Levator veli palatini stammen. Auf die Schiefheit der Uvula glaubt man in F\u00e4llen von Facialisparalyse wenig Gewicht mehr legen zu d\u00fcrfen, da aus zahlreichen Beobachtungen hervorzugehen scheint, dass das Z\u00e4pfchen auch normal vielfach mannigfaltige Deviationen zeigt. Sanders h\u00e4lt die Abweichung der Uvula nur dann von diagnostischer Bedeutung, wenn sie gleichzeitig mit der erw\u00e4hnten verticalen Erschlaffung des Gaumensegels zur Beobachtung kommt.\nDa die Gaumenfasern des Facialis aller Wahrscheinlichkeit nach\n1\tFr\u00fchwald, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXXIY. 3. Abth. S. 9. 1877.\n2\tDebrou, Th\u00e8se inaug.\n3\tNuhn, Ztschr. f. rat. Med. N. F. (2) III. S. 123. 1853.\n4\tHenle, Handbuch der Nervenlehre des Menschen S. 403. Braunschweig 1851.\n5\tW. R. Sanders, Edinb. med. Journ. 1865. August, p. 141.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256 Sigmund Mayer. Spec. Nervenpliysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nihren Verlauf durch den Nerv. petr. superficialis major nehmen, so giebt das Auftreten der er\u00f6rterten Erscheinungen am Gaumen einen Fingerzeig daf\u00fcr, den Sitz der Nervenl\u00e4sion im Niveau des Gangl. geniculatum oder centralw\u00e4rts hievon zu vermuthen.\nDer Einfluss des Nerv, facialis auf den Geruchssinn in Folge der Innervation der \u00e4usseren Nasenmuskeln wird bei den Er\u00f6rterungen \u00fcber den Geruch zur Sprache kommen.\nDie Beeinflussung der Speichelsecretion durch den Nerv, facialis wird in der Lehre von den Secretionen er\u00f6rtert werden.\nDie Geschmacksfunctionen der Chorda tympani werden beim Geschmackssinne besprochen werden.\nY. Nervus vagus, accessorius und glossopkaryngeus.\nIn ausgezeichneter Weise kehrt bei dem Xten Hirnnerven, dem N. vagus oder pneumogastricus ein Verhalten wieder, das wir schon bei anderen Hirnnerven und in geringerem Grade auch bei den spinalen Nerven beobachten konnten. Die dem Gehirne entsprossenden Wurzeln vereinigen sich n\u00e4mlich alsbald mit F\u00e4dchen, die mit anderen Wurzeln aus dem Centralorgan ausgetreten sind; besonders ins Gewicht fallend ist hier die in der Gegend des Plexus ganglio-formis N. vagi vor sich gehende Einsenkung des inneren Astes des Nervus accessorius Willisii in die Vagusbahn. Im Verlaufe des Stamms des Vagus vom Plexus ganglioformis ab und in den peripherischen Ver\u00e4stigungen befinden sich also, neben einer geringen Anzahl von Fasern aus verschiedenen Quellen, haupts\u00e4chlich Fasern, die mit den Wurzeln des Vagus und des Accessorius Willisii aus dem Centralorgan ausgetreten sind.\nDie wichtige Frage nach dem peripherischen Verbreitungsbezirke der verschiedenen in der Vagusbahn enthaltenen Fasern l\u00e4sst sich, wie leicht einzusehen, durch die gebr\u00e4uchlichen Methoden der reinen Anatomie nicht l\u00f6sen. Man musste vielmehr an diese Aufgabe herantreten theils auf dem Wege des physiologischen Experimentes (directe isolirte Beizung der Wurzelf\u00e4den unter sorgf\u00e4ltiger Ber\u00fccksichtigung der bei Anwendung der elektrischen Beizung nothwendigen Cautelen und gesonderte Durchtrennung derselben), theils mit H\u00fclfe der Wal-LER\u2019schen Methode (gesonderte Durchtrennung der zug\u00e4nglichen den Vagusstamm constituirenden Bestandteile und nachtr\u00e4gliche mikroskopische Untersuchung der peripherischen Aeste und Zweige auf das Vorhandensein der bekannten degenerativen Vorg\u00e4nge).\nDie Verbreitung des Vagus oder wie man besser sich ausdr\u00fccken","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Nerv, vago-accessorius.\n257\nw\u00fcrde des Vago-Accessorius in der Peripherie ist eine sehr ausgedehnte. Die ihm \u00fcbertragenen Functionen sind \u00e4usserst mannigfaltige. Sensibilit\u00e4t, Motilit\u00e4t, Hemmungs- und Absonderungs-Functionen sind an die Yago-Accessoriusbahn gekn\u00fcpft und zwar ebensowohl f\u00fcr die animalische, wie f\u00fcr die vegetative Sph\u00e4re des Lebens. In letzterer spielt der genannte Nerv eine \u00e4usserst wichtige, allerdings noch vielfach unklare Rolle, so dass es keinen zweiten Nerven giebt, der sich mit gr\u00f6sserem Rechte dem sympathischen Nervensystem enger an die Seite stellen liesse, als der Vago-Accessorius.\nDa der Yago-Accessorius, wie bemerkt, sowohl von Hause aus als auch durch zahlreiche Verflechtungen mit anderen Nerven in seinem Stamme und seinen Zweigen Fasern von verschiedener physiologischer Dignit\u00e4t f\u00fchrt, so ergiebt seine nach den Methoden der Anatomie darzustellende Verbreitung nur geringe Anhaltspunkte f\u00fcr seine functionelle Bedeutung. Letztere wird gr\u00f6sstentheils bei der Besprechung der Einzelfunctionen, bei denen der fragliche Nerv in Betracht k\u00f6mmt, nach allen Richtungen gew\u00fcrdigt werden. Hier wird demnach nur eine Uebersicht dieser Functionen gegeben werden.\nDie Beziehungen des Vagus zu Gaumen und Pharynx werden beim Schlingacte zur Er\u00f6rterung gelangen.\nBei den Auseinandersetzungen \u00fcber die Bewegungserscheinungen am Digestionstractus wird die Betheiligung des Vagus bei den Bewegungen des Oesophagus, des Magens und der Ged\u00e4rme ber\u00fccksichtigt werden.\nIn die Blutcirculation greifen Vagus und Accessorius in wichtiger Weise ein, theils durch centrifugale Wirkung (Hemmungs- und Beschleunigungsfasern f\u00fcr das Herz, vasomotorische Fasern f\u00fcr verschiedene Organe) theils durch centripetale Erregungen (reflectorische Beziehungen der verschiedensten Art zu den cerebralen Centren f\u00fcr die Kreislaufsorgane). Das N\u00e4here \u00fcber diesen Gegenstand findet sich in der Lehre von der Innervation des Herzens und der Blutgef\u00e4sse.\nIn die Lehre von der Athmung geh\u00f6ren dann die theils centri-fugalen Wirkungen des Vagus (auf die Trachea und die Bronchien) theils centripetal en Beeinflussungen des Athmungscentrums.\nInwieweit dem Vagus secretorische Functionen zuzuschreiben sind, wird ebenfalls an anderem Orte bei der Besprechung des Einflusses des Nervensystems auf die Secretionsvorg\u00e4nge auseinandergesetzt werden.\nEine kurze Besprechung widmen wir hier noch den Functionen der\nHandbuch der Physiologie. Bd. H.\t17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nKehlkopfnerven.\nDie vom Vagus zum Kehlkopf abgehenden Aeste greifen in die Functionen der Respiration und Stimmbildung ein und ertheilen der Kehlkopfschleimhaut ihre Sensibilit\u00e4t.\nUnter dem Einfl\u00fcsse der BELL\u2019schen Lehre von den getrennten Functionen der vorderen und hinteren Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven war man sehr geneigt ein \u00e4hnliches Verhalten auch den Gehirnnerven zuzuschreiben.\nSo wurde Bischoff 1 dazu gef\u00fchrt, zu behaupten, dass der Accessorius die motorische Wurzel des Vagus darstelle, der von Haus aus nur sensitive Elemente f\u00fchre. Diese Behauptung st\u00fctzte sich wesentlich auf einen von Bischoff an einer Ziege ausgef\u00fchrten Versuch, in dem nach Er\u00f6ffnung der Halswirbels\u00e4ule s\u00e4mmtliche Wurzeln des Accessorius beiderseits durchschnitten wurden, worauf das Thier fast vollst\u00e4ndig aphonisch wurde.\nWenn nun auch die von Bischoff ausgesprochene Meinung, dass die Vaguswurzeln ausschliesslich sensitiver Natur sind, nicht widerspruchslos dasteht, und in der vorgetragenen Weise auch nicht haltbar ist, so wurde doch sein Grundversuch, dass n\u00e4mlich die bei der Stimmbildung betheiligten Nervi r\u00e9currentes aus der Aecessorius-wurzel stammen, best\u00e4tigt von Morganti1 2, Longet3, Bernard4. Durch Bernard wurde auch das Verfahren, die Accessoriuswurzeln durch Ausreissen derselben aus dem Foramen jugulare zu eliminiren in die Physiologie eingef\u00fchrt. Bernard vertrat auch die Meinung, dass die respiratorischen und stimmbildenden Functionen des Kehlkopfes nicht von denselben Nervenwurzeln abhingen; die Stimmnerven (Verengerer der Glottis) sollten mit den Accessoriuswurzeln, die Respirationsnerven (Erweiterer) mit den Vagus wurzeln aus dem Centralorgan austreten. Diese Scheidung scheint aber nach den Erfahrungen von Longet, Schiff, Heidenhain u. A. nicht zul\u00e4ssig zu sein, da nach Ausziehung der Aceessorii die active Beweglichkeit der Stimmb\u00e4nder in gleicher Weise, wie nach der Durchschneidung der Nervi r\u00e9currentes verschwindet,\n1\tBischoef, Nervi accessorii W\u00fclieii anatomia et physiologia. Heidelberg 1832.\n2\tMorganti, Ann. univ. etc, del dott. Omodei. Juli 1843. (Auszug in Schmidt\u2019s Jahrb. XLII. S. 280.\n3\tLonget. Becherches exp\u00e9riment. sur les fonctions des nerfs, des muscles du larynx et de l\u2019influence du nerf accessoire de Willis dans la phonation. (Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1841 und Trait\u00e9 de physiologie etc. III. p. 516.)\n4\tBernard, Recherches sur les fonctions du nerf spinal \u00e9tudi\u00e9 sp\u00e9cialement dans ses rapports avec le pneumo-gastrique in M\u00e9moires de l\u2019Acad\u00e9mie des sciences (savants \u00e9trangers) XI. und Le\u00e7ons sur la physiologie etc. II. p. 244. Hier findet sich auch die Beschreibung der BERNARD\u2019schen Methode der Ausreissung des Accessorius","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Kehlkopfnerven.\n259\nEinen weiteren Beweis f\u00fcr den Ursprung* der motorischen Fasern des Recurrens aus dem Accessorius erbrachte Burckhard 1, der beim Kaninchen nach Ausreissung der genannten Nerven im Nervus recurrens ausschliesslich entartete Fasern vorfand, nachdem schon fr\u00fcher A. Waller1 2 in gleichen Versuchen im Nerv, recurrens gr\u00f6ss-tentheils degenerirte Nervenfasern aufgefunden hatte.\nDie mitgetheilten Resultate \u00fcber die Abstammung der motorischen Kehlkopfnervenfasern aus den Wurzeln des Accessorius best\u00e4tigte auch Schech3, der bei Hunden den genannten Nerven doppeltseitig ausriss und als Folge dieser Operation, bei der laryngos-kopischen Untersuchung Unbeweglichkeit beider Stimmb\u00e4nder in Cadaverstellung und vollst\u00e4ndige Aphonie eintreten sah.\nObzwar nun sowohl durch die Methoden der experimentellen Physiologie, als auch auf dem Wege der anatomischen Untersuchung mit einiger Sicherheit der Nachweis erbracht scheint, dass die f\u00fcr die Stimmbildung wesentlichsten Innervationen in den Wurzeln des Accessorius aus dem verl\u00e4ngerten Marke fortgeleitet werden, so hat es doch nicht an Stimmen gefehlt, die diese Function des Accessorius in Abrede stellten. Einige hierher geh\u00f6rige Angaben d\u00fcrften sich auf das Uebersehen eines Umstandes zur\u00fcckf\u00fchren lassen, den Bernard zuerst hervorgehoben hat. Diejenigen Accessorius-wurzelfasern n\u00e4mlich, welche, als Ramus anastomoticus in der Vagusbahn verlaufend, der Stimmbildung vorstehen, entspringen als sehr feine F\u00e4dchen von der Medulla oblongata, w\u00e4hrend die von dem R\u00fcckenmark entspringenden Fasern nur in den Ramus externus \u00fcbergehen; bei Versuchen mit intracranieller Durchtrennung oder k\u00fcnstlicher Reizung ist es m\u00f6glich, dass nicht alle, schwer zu \u00fcbersehende F\u00e4dchen ber\u00fccksichtigt werden. In den Versuchen von Volkmann4, der dem Accessorius einen Einfluss auf die Bewegungen der Stimmritze absprach, kann m\u00f6glicherweise ein solches Versehen vorgekommen sein. Die Angabe von Navratil 5, dass der Accessorius ohne Einfluss auf die Stimmbildung sei, ging aus ganz unbrauchbaren Versuchen hervor, in denen nur die spinalen Wurzeln der Durchschneidung unterworfen worden waren.\nSchwer verst\u00e4ndlich sind die Angaben van Kempen\u2019s6, der dem\n1\tHeidenhain, Studien d. physiol. Instit. zu Breslau IY. S. 250. 1868 und Burck-hard, Verlauf des Accessorius Willisii im Vagus. Diss. Halle 1867.\n2\tA. Waller, Gaz. m\u00e9d. 1856. No. 27.\n3\tSchech, Experimentelle Untersuchungen \u00fcber die Functionen der Nerven und Muskeln des Kehlkopfs. W\u00fcrzburg 1873.\n4\tVolkmann, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1840. 475.\n5\tNavratil, Berliner klin. Wochenschr. 1871. S. 394.\n6\tvan Kempen, Essai exp\u00e9rimental sur la nature fonctionelle du nerf pneumo-\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nAccessorius nur motorische Fasern f\u00fcr die bekannten Skelettmuskeln zuschreibt, die bewegenden Fasern f\u00fcr den Kehlkopf aber von Vaguswurzeln ableitet. Wenn auf Reizung von Accessoriuswurzeln Bewegungen an den Kehlkopfmuskeln zur Beobachtung gelangen, so sollen dieselben reflectorischer Natur sein, da die Accessoriuswurzelfasern sensibele seien. Nach der von v. Kempen seiner Abhandlung beigegebenen Abbildung scheint es, als ob der genannte Autor einen Theil der bulb\u00e4ren Ursprungsfasern des Nerv, accessorius f\u00fcr Vaguswur-zeln angesehen hat. Die von Chauveau 1 nach der Methode von v. Kempen (mechanische Reizung der isolirten Nervenwurzeln am eben get\u00f6dteten Thiere, [Pferde]) angestellten Versuche ergaben in Uebereinstimmung mit den fr\u00fcher erw\u00e4hnten Versuchsresultaten \" die Beeinflussung der Kehlkopfmuskeln durch den Nerv, accessorius, mit Ausnahme des Muse, cricothyreoideus, der von Fasern des Vagus versorgt werden soll.\nDa nach Durchschneidung der Nervi laryngei superiores durch Reizung der Trachealschleimhaut noch Husten hervorzurufen ist, so d\u00fcrften im Nerv, recurrens, von dem sich F\u00e4den an die Trachea begeben, auch sensible Fasern enthalten sein.\nUeber die Functionen des Nerv, laryngeus superior herrscht ziemliche Uebereinstimmung der Meinungen. Nachdem Longet zuerst die Verrichtungen dieses Nerven dahin pr\u00e4cisirt hatte, dass der innere Ast desselben rein sensibel, der \u00e4ussere motorisch und zwar f\u00fcr den Muse, cricothyreoideus bestimmt sei, wurden diese Angaben im Wesentlichen vielfach best\u00e4tigt. Navratil\u2019s Behauptung, dass ' der \u00e4ussere Ast des Nerv, laryngeus superior ohne Einfluss auf die Bewegungen am Kehlkopf sei, beruht auf ungen\u00fcgend angestellten Versuchen. Nach einer Angabe von T\u00fcrck 2 sollen auch im Nerv, recurrens (trophische?) Fasern f\u00fcr den Muse, cricothyreoideus enthalten sein, da er als Folge einer L\u00e4hmung des genannten Nerven mehrfach neben der Atrophie der nachweislich vom Nerv, recurrens versorgten Muskeln, auch diesen Muskel atrophisch fand. Die Sensibilit\u00e4t des Kehlkopfs scheint wesentlich von den Verbreitungen des inneren Astes des Nerv, laryngeus superior abzuh\u00e4ngen. Hier und da d\u00fcrften sich auch sensible Fasern in die Bahn des Laryngeus inferior verirren, wie es \u00fcberhaupt nach allen unseren Erfah-\ngastrique, pr\u00e9c\u00e9d\u00e9 de consid\u00e9rations sur les mouvements r\u00e9flexes. Louvain 1842 und in Brown-S\u00e9q\u00fcard, Journ. d. 1. physiol. VI. p. 284. 1863. (Extrait des m\u00e9moires de l\u2019acad. de m\u00e9d. d. Belg. 1863.)\n1\tChauveau, Journ. d. 1. physiol. V. p. 190 und Compt. rend. 1862. p. 664.\n2\tT\u00fcrck. Klinik der Krankheiten des Kehlkopfs und der Luftr\u00f6hre S. 439. Wien\n1866.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Lungenver\u00e4nderung und Tod nach Vagusdurchschneidung.\n261\nrangen anzunehmen ist, dass die Vertheilung der motorischen und sensiblen F\u00e4den auf die beiden zum Kehlkopf tretenden Nerven-st\u00e4mme hier und da kleine Variationen aufzeigen wird. Bei zwei Katzen, denen G. Schmidt 1 beide Nerv, laryngei superior es durchgeschnitten hatte, war bei dem einen Thiere die Empfindlichkeit des Kehlkopfes viel geringer als im normalen Zustande, aber sie war nicht vollst\u00e4ndig vernichtet, bei dem anderen waren die Stimmb\u00e4nder, Taschenb\u00e4nder und der Kehldeckel vollst\u00e4ndig unempfindlich.\nDie Lungenver\u00e4nderungen und der Tod nach doppeltseitiger Vagusdurchschneidung.'1 2\nDa, wie aus der vorhergehenden Uebersicht der Functionen der Vago-Accessoriusbahn hervorgeht, die auf dieser Bahn centrifugal und centripetal sich bewegenden Innervationen offenbar in sehr wichtiger Weise in die Functionen der Blutcirculation, der Kespira-tion und der Digestion eingreifen, so erscheint es von vornherein begreiflich, dass die beiderseitige Durchschneidung der Nervi vagi am Halse, an welchem Orte die Vagus- und Accessoriusfasern bereits einen gemeinschaftlichen Verlauf haben, ein f\u00fcr das Gesammtleben nichts weniger als gleichg\u00fcltiger Eingriff sein kann. In der That stellt sich heraus, dass Thiere nach beiderseitiger Vagusdurchschneidung in relativ kurzer Zeit zu Grunde gehen und dass sich bei der Section, weitaus in der Mehrzahl der F\u00e4lle, specifische Ver\u00e4nderungen in den Lungen nachweisen lassen.\nWas zun\u00e4chst die Natur der Lungenerkrankung betrifft, so haben \u00fcbereinstimmende Untersuchungen ergeben, dass es sich hierbei um\n1\tGeorg Schmidt, Die Laryngoscopie an Thieren etc. T\u00fcbingen 1873.\n2\tDie \u00e4usserst umfangreiche Literatur \u00fcber diesen Gegenstand hat 0. Frey in seiner von der medicinischen Facult\u00e4t der Universit\u00e4t Z\u00fcrich gekr\u00f6nten Preisschrift \u201eDie pathologischen Lungenver\u00e4nderungen nach L\u00e4hmung der Nervi vagi. Leipzig 1877\u201c in dankenswerther Weise vollst\u00e4ndig zusammengestellt. Wir erw\u00e4hnen hier eine Reihe der wichtigeren Untersuchungen. Betreffs der \u00e4lteren Arbeiten verweisen wir auf Frey; im Verlaufe der Darstellung soll die einschl\u00e4gige Literatur noch weiter ber\u00fccksichtigt werden. Legallois, Exp\u00e9riences sur le principe de la vie. Paris 1812 ; Mayer (Bonn), Ztschr. f. Physiol. II. S. 74; J. Reid, Edinburgh med. and surg. Journ. IL. 1838, LI. 1839 ; Mendelsohn, Der Mechanismus der Respiration und Circulation oder das explicirte Wesen der Lungenhyper\u00e4mien. Berlin 1845 ; ders., Arch. f. physiol. Heilk. IV. S. 264. 1845; Traube, Die Ursachen und die Beschaffenheit derjenigen Ver\u00e4nderungen, welche das Lungenparenchym nach Durchschneidung der Nn. vagi erleidet, in dessen Gesammelte Beitr\u00e4ge zur Pathologie und Physiologie I. S. 1. Berlin 1871 und Entgegnung etc. S. 113 ; Schief, Arch. f. physiol. He\u00fck. 1847. S. 691, 1850. S. 624; Lehrb. d. Physiol, etc. S. 410 ; Bod-daert, Recherches exp\u00e9rimentales sur les l\u00e9sions pulmonaires cons\u00e9cutives \u00e0 la section des nerfs pneumogastriques. Bruxelles 1862, auch im Journ. d. physiol. 1862. p. 442, 527 ; Friedl\u00e4nder, Untersuchungen \u00fcber Lungenentz\u00fcndung nebst Bemerkungen \u00fcber das normale Lungenepithel. Berlin 1873.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\tSigmund Mayer. Spec. Nerven physiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\neine Bronchopneumonie handelt. Der KrankheitsVorgang, der in seiner quantitativen Ausbildung, seinem zeitlichen Verlaufe nach grosse Schwankungen zeigen kann, localisirt sich sowohl in dem Bronchialbaum, als in dem eigentlichen Lungengewebe. Hyper\u00e4mie der Schleimh\u00e4ute, R\u00f6thung des Lungenparenchyms, starker ser\u00f6ser Erguss, Tr\u00fcbung und Schwellung der Epithelien, Collaps einzelner Stellen, besonders in den oberen Lappen, aus Anh\u00e4ufungen von (wahrscheinlich emigrirten) weissen Blutk\u00f6rperchen bestehende Infiltrate, vesicul\u00e4res und vicariirendes Emphysem, bilden die wesentlichen Befunde, welche gestatten, den Process als Bronchopneumonie aufzufassen.\nDie Charaktere einer entz\u00fcndlichen Affection der Lungen nach doppelseitiger Vagusdurchschneidung hat Frey bei sorgf\u00e4ltiger Untersuchung auch bei Hunden, bei denen sie andere Forscher vermisst haben wollten, constatirt.\nBei der Untersuchung der Luftwege vagotomirter Thiere finden sich darin ausnahmslos Bestandtheile vor, die nur aus dem Dige-stionstracte stammen k\u00f6nnen, und zwar entweder Mundfl\u00fcssigkeit (Schleim und Epithelplatten der Mundh\u00f6hle) oder Partikel der aufgenommenen Nahrung.\nDie Lungenver\u00e4nderung nach doppelseitiger Vagusdurchschneidung wurde zuerst von Valsalva beobachtet und von dessen Sch\u00fcler Morgagni 1 beschrieben.\nDie Operation der doppeltseitigen Vagotomie wurde bis jetzt ausgef\u00fchrt bei folgenden S\u00e4ugethieren : Kaninchen, Meerschweinchen, Ratte, Murmelthier, Hund, Fuchs, Katze, Ziege, Kalb, Schwein, Pferd, Esel. Wenn die Thiere nicht sehr rasch nach dem Eingriffe zu Grunde gehen (wie dies gew\u00f6hnlich bei jungen Thieren, dann bei erwachsenen Katzen und Pferden der Fall ist), so vermisst man die beschriebene Lungenver\u00e4nderung in mehr oder minder ausgesprochenem Grade nicht.\nV\u00f6gel zeigen nach doppeltseitiger Vagusdurchschneidung die er\u00f6rterten Lungenalterationen nicht, worauf zuerst Blainville1 2 hingewiesen hat. Gleichwohl gehen die Thiere nach einiger Zeit zu Grunde.\nBei Fr\u00f6schen hat Bidder3 zu anderen Zwecken doppeltseitige Vagusdurchschneidungen vorgenommen; die Thiere blieben viele Monate lang am Leben; Ver\u00e4nderungen der Lungen werden nicht erw\u00e4hnt.\nBei der nun vorzunehmenden Untersuchung \u00fcber die Ursachen der Lungenver\u00e4nderung und des Todes nach doppeltseitiger Vagusdurchschneidung theilen wir zweckm\u00e4ssig die durch die Nerven-\n1\tMorgagni, Epistolae anatomicae XIII. c. 30.1740.\n2\tBlainville, Propositions extraites d\u2019un Essai sur la Respiration; dissertation inaugurale, ins\u00e9r\u00e9e dans la collection des th\u00e8ses de la Facul. de M\u00e9d. de Paris. 1808. p. 114, Cit\u00e2t n. Legallois, 1. c. p. 180.\n3\tBidder, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868. S. 1.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"263\nLungenver\u00e4nderung und Tod nach Vagusdurchschneidung.\ntrennung eingef\u00fchrten Bedingungen in zwei Kategorieen. In der ersten Kategorie ziehen wir diejenigen Innervationen in Betracht, die sich in der durchtrennten Nervenbahn centrifugal bewegen, in der zweiten diejenigen, die centripetal gerichtet sind.\nWir haben in der ersten Kategorie zu ber\u00fccksichtigen\n1)\tDie motorische Beeinflussung der Kehlkopfmuskulatur.\n2)\tDie motorische Beeinflussung verschiedener Abschnitte des Digestionstractus, insbesondere des Oesophagus, des Magens und des Darmes.\n3)\tMotorische Einwirkungen auf die Trachea und die Bronchialmuskulatur.\n4)\tDie secretorische Wirkung auf die Dr\u00fcsen des Magens und die Leber.\n5)\tVasomotorische Wirkungen auf die Lunge und gewisse Abschnitte der -Baucheingeweide.\n6)\tRegulatorische und accelerirende Wirkungen auf das Herz.\nIn die zweite Kategorie geh\u00f6ren:\n1)\tSensible Innervationen von der Schleimhaut des Kehlkopfes und den \u00fcbrigen Partien des Respirationsapparates.\n2)\tSensible Innervationen von der Schleimhaut des Digestionsapparates.\n3)\tCentripetale Innervationen von der Lunge aus, bestimmt zur Regulirung der Th\u00e4tigkeits\u00e4usserungen des respiratorischen Nerven-centrums.\n4)\tCentripetale Innervationen, bestimmt zur Regulirung der Th\u00e4tigkeits\u00e4usserungen der Centren f\u00fcr die Innervation des Herzens und der Blutgef\u00e4sse.\n1) Nach Durchschneidung der Vagi am Halse werden regelm\u00e4ssig die Nervi r\u00e9currentes, welche die gesammte Kehlkopfmuskulatur mit Ausnahme des M. crico-thvreoideus versorgen, von der L\u00e4hmung betroffen. In Folge hiervon muss die inspiratorische Erweiterung und die exspiratorische Verengerung der Stimmritze sistiren ; letztere bleibt in einem Zustande der Verengerung stehen, welche dem Eindringen der Luft einen gr\u00f6sseren Widerstand entgegensetzt als in der Norm. Legallois hat zuerst den wichtigen Nachweis geliefert, dass junge Thiere nach L\u00e4hmung sowohl der Vagi als auch nur der Nervi r\u00e9currentes an Erstickung zu Grunde gehen. Bei erwachsenen Thieren ist die Verengerung der Stimmritze nicht so hochgradig, doch zeigen sich hier bedeutende Verschiedenheiten bei verschiedenen Thieren; \u00e4ltere Hunde leiden unter der Verengerung der Stimmritze weniger, als Katzen.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nW\u00e4ren die Verengerung der Stimmritze und die damit einliergehende Aenderung in der Frequenz und Tiefe der Kespirations-bewegungen die Ursachen der Lungenalteration, so m\u00fcsste es m\u00f6glich sein, durch Verengerung oder Verlegung der Trachea und des Bronchialbaumes dieselben Ver\u00e4nderungen in den Lungen, wie nach doppeltseitiger Vagusdurchschneidung herbeizuf\u00fchren.\nDerartige Versuche (Einengung der Trachea durch eine Ligatur, Einf\u00fchrung eines verstopfenden Pfropfens) sind von Traube, Genz-mer \\ Frey angestellt worden, ergaben aber, dass in den Lungen nur Hyper\u00e4mie in geringem Grade und vesicul\u00e4res Emphysem sich vorfanden, die specitischen der Vaguspneumonie zukommenden anderweitigen Ver\u00e4nderungen aber vermisst wurden.\nDie L\u00e4hmung der motorischen Kehlkopfnerven setzt aber, beim Kaninchen wenigstens, ausser der permanenten Verengerung der Stimmritze, die Unm\u00f6glichkeit eines vollst\u00e4ndigen Verschlusses derselben beim Schlingacte, worauf Traube zuerst hingewiesen hat. Dieser prompte Schluss der Stimmritze ist aber ein wesentliches Glied in der Kette von Mechanismen, (auf die wir an anderem Orte zur\u00fcckzukommen haben), durch welche, w\u00e4hrend des Schlingactes, das Hereingelangen von Mundfl\u00fcssigkeiten und Speisebestandtheilen aus dem Digestionstracte in den Kespirationsapparat verhindert wird. Die M\u00f6glichkeit des Hereingelangens von Fremdk\u00f6rpern (Mundfl\u00fcssigkeit und Speisebestandtheile) durch den gel\u00e4hmten Kehlkopf in die Luftwege, in Folge der schlussunf\u00e4hig gewordenen Stimmritze wird aber in hohem Grade erleichtert, wenn wir bedenken, dass die Durchschneidung des Nervi vagi auch\n2) L\u00e4hmung im Bereich des Oesophagus1 2 hervorruft, so dass das Hinuntergleiten der Mundfl\u00fcssigkeiten und der aufgenommenen Nahrung erschwert oder gar unm\u00f6glich gemacht wird. Beiderseitige Trennung der Nervi r\u00e9currentes, die auch den gr\u00f6ssten Theil des Oesophagus (beim Kaninchen) mit motorischen F\u00e4den versorgen, wirken also nicht allein durch L\u00e4hmung des Kehlkopfes, sondern auch durch gleichzeitige L\u00e4hmung der Speiser\u00f6hre.\nAus zahlreichen Untersuchungen, an deren Spitze die von Traube durchgef\u00fchrte steht, k\u00f6nnen wir also als einen f\u00fcr die Lehre von den Ursachen der Vaguspneumonie wichtigen Satz folgenden hinstellen: Durch die L\u00e4hmung der Nervi vagi am\n1\tGenzmer. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 101. 1874.\n2\tDas Detail \u00fcber die Beziehungen der Nervi vagi zum Oesophagus wird bei der Lehre von den Bewegungen der Eingeweide vorgebracht werden.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Lungenver\u00e4nclerung und Tod nach Vagusdurchschneidung.\n265\nHalse wird die Glottis unf\u00e4hig, durch vollst\u00e4ndigen Schluss den Respirations- vom Digestionsapparat hinl\u00e4nglich abzus chliessen, so dass aus dem gleichfalls gel\u00e4hmten Oesophagus Mundfl\u00fcssigkeit und Speise-bestandtheile in die Lunge eindringen k\u00f6nnen, welche dort als Entz\u00fcndungserreger wirken.\nAls Beweismaterial f\u00fcr diesen Satz f\u00fchren wir die folgenden Thatsachen an:\na)\tDie Anwesenheit von Bestandtheilen der Mundfl\u00fcssigkeit (Plattenepithel), von Haaren des Thieres und Speisetheilchen innerhalb der Lungen, l\u00e4sst sich durch die genaue Untersuchung der Lungen vagotomirter Thiere gew\u00f6hnlich nachweisen. Traube legte das Hauptgewicht auf das Hereingelangen von Mundfl\u00fcssigkeit in die Lungen; die Speisefragmente hielt er f\u00fcr weniger gef\u00e4hrlich, da Thiere, denen nach der Vagotomie die Nahrung entzogen wurde, gleichwohl die Lungenalteration zeigten. Doch d\u00fcrfte die Anwesenheit von Futterfragmenten in den Lungen die Intensit\u00e4t und den raschen Ablauf des Processes beg\u00fcnstigen.\nb)\tDie Injection der Mundfl\u00fcssigkeiten, die aus dem gel\u00e4hmten Oesophagus abflossen, in die Lungen wirkten entz\u00fcndungserregend. Schiff\u2019s Einwand, dass in diesem Versuche von Traube eine \u201eeitrige Materie\u201c injicirt worden sei, d\u00fcrfte kaum stichhaltig sein: Frey hebt hervor, dass das langsame Absickern von Mundfl\u00fcssigkeit in die Lungen einen st\u00e4rkeren Entz\u00fcndungsreiz abgeben soll, als die einmalige Injection.\nc)\tWird durch Anlegung eines Schnittes in den gel\u00e4hmten Oesophagus der Abfluss eines Theiles der Mundfl\u00fcssigkeiten nach aussen erm\u00f6glicht, so wird hierdurch die Ausbildung der Lungenver\u00e4nderung hinausgeschoben (Traube).\nd)\tTrennt man nach doppeltseitiger Vagotomie die Trachea und f\u00fchrt in letztere eine passende Can\u00fcle ein, so dass das Hereingelangen von Bestandtheilen aus dem Digestions- in den Respirationstractus unm\u00f6glich gemacht wird, so tritt die specifische Lungenaffection nicht ein.\nBei Kaninchen ist das Einlegen einer Can\u00fcle in die Trachea ein Eingriff, den die Thiere nur kurze Zeit \u00fcberleben. Billroth1 hat hierauf zuerst aufmerksam gemacht; Frey hat diese Thatsache best\u00e4tigt, die mir schon vor l\u00e4ngerer Zeit gelegentlich aufgestossen ist. In den Lungen derart verendeter Thiere findet man R\u00f6thung, starke\n1 Billroth, De natura et causa pulmonum affectionis quae utroque vago dis-secto exoritur. Dissertation. Berlin 1852.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Die Hirnnerven.\nReizung der Trachealsckleimkaut, Erguss einer ser\u00f6sen Fl\u00fcssigkeit in die Luftwege.\nDie Versuche mit Einf\u00fchrung einer Caniile bei Kaninchen sind demnach nicht sehr beweisend; doch geht so viel aus denselben hervor, dass sich die Ver\u00e4nderungen der Lungen nach Durchschneidung der Vagi mit Ausschluss der durch Kehlkopf- und Oephagus-l\u00e4hmung bedingten Fremdk\u00f6rperinvasion nicht decken mit den Ver\u00e4nderungen die nur auf Rechnung der anderen Vagusfasern und die Wirkung der Caniile gesetzt werden k\u00f6nnen.\ne) Bei V\u00f6geln wird der obere Kehlkopf durch die Vagotomie am Halse nicht gel\u00e4hmt, da der ihn versorgende Nerv (Fasern des Vagus und Hypoglossus, (Zander1 nach Boddaert Glossopharyngeus)) viel weiter oben abgeht. Hiermit in Uebereinstimmung ist die entz\u00fcndliche Affection der Lungen bei V\u00f6geln entweder gar nicht vorhanden, oder nur in geringerem Grade ausgepr\u00e4gt. Dass dieselbe unter g\u00fcnstigen Bedingungen nicht ganz fehlt, d\u00fcrfte damit Zusammenh\u00e4ngen, dass aus dem gel\u00e4hmten \u00fcberf\u00fcllten Oesophagus ab und zu Mundfl\u00fcssigkeit oder Speisetheilchen in den Respirationstract sich verirren k\u00f6nnen.\nSteiner'2 hat neuerdings Kaninchen nach doppeltseitiger Vagotomie viel l\u00e4ngere Zeit, als man fr\u00fcher beobachtete, leben und ohne Lungenentz\u00fcndung zu Grunde gehen gesehen, wenn er die Thiere in Watte verpackt zum Schutze vor allzustarker Abk\u00fchlung, auf einem CzERMAK\u2019schen Kanipchenhalter fixirt hielt. Das Ausbleiben der Pneumonie schiebt Steiner auf den Abfluss der Mundfl\u00fcssigkeiten durch Mund und Nase. (In einem Versuche lebte das Thier fast 3 Tage, in einem 4 Tage 2 Stunden.)\nHunde ertragen die doppeltseitige Recurrensdurchschneidung, wie schon Magendie gezeigt hat und sp\u00e4ter von Schiff, Frey u. A. best\u00e4tigt wurde, ohne Schaden. Trotzdem nach dieser Operation ein so vollst\u00e4ndiger Glottisverschluss wie in der Norm nicht stattfinden kann, so tritt eine Lungenentz\u00fcndung nicht ein, worauf Schiff gegen\u00fcber Traube ein grosses Gewicht legt. Da, nach den Untersuchungen Chauveau\u2019s, auf die wir bei der Besprechung der Innervation des Oesophagus n\u00e4her einzugehen haben, der Nerv, recurrens beim Hunde keine motorischen F\u00e4den an die Speiser\u00f6hre abgiebt, so d\u00fcrfte sich hieraus ein Anhaltspunkt f\u00fcr das Fehlen der Lungenaffection ergeben, da wir besonders hervorgehoben haben, dass die Zusammenwirkung der gleichzeitig gegebenen L\u00e4hmung im\n1 Zander, Centralbl. f. d. med.Wiss. 1879. S. 99 und Arch. f. d. ges. Physiol. XIX. S. 263. 1879. Die Angaben \u00fcber die Nervenversorgung des oberen und unteren Kehlkopfes bei den zur doppelseitigen Vagotomie verwendeten V\u00f6geln (Tauben, Enten) von Billroth, Boddaert, Zander sind nicht \u00fcbereinstimmend und bed\u00fcrfen einer Revision.\n2 Steiner, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1878. S. 218.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Limgenver\u00e4nderuiig und Tod nach Vagusdurchschneidung.\n267\nRespirations- und Digestionstracte zur Hervorbringung der \u201eFremdk\u00f6rperpneumonie\u201c noth wendig erscheint.\nDa die motorischen Fasern f\u00fcr den Kehlkopf vom X. accessorius stammen, und zwar nicht allein die f\u00fcr die Stimmbildung, sondern auch die f\u00fcr die Respiration in Betracht kommenden, so konnte die Ausreis-sung der Nervi accessorii, wodurch nur L\u00e4hmung des Kehlkopfes gesetzt wird, dazu dienen, die isolirte Wirkung der Kehlkopfl\u00e4hmung zu studieren. Nach den Versuchen von Bernard, Heidenhain, Schiff bleiben die Lungen oft ganz intact, \u00f6fters aber kommt es ganz allm\u00e4hlich zur Ausbildung einer Lungenentz\u00fcndung, der die Thiere erliegen; in den Lungen Hessen sich Mundfl\u00fcssigkeiten und Speisebestandtheile nackweisen.\nWir erw\u00e4hnen noch einiger Versuche, in denen mit Umgehung der beiderseitigen Vagusdurchschneidung, durch isolirtes Hervorbringen der einzelnen St\u00f6rungen im Respirations- und Digestions-Apparate, dieselben Lungenaffectionen wie bei Vagotomie hervorgerufen wurden.\nEinmal sah Frey ein Kaninchen nach beiderseitiger Trennung der Nerv, laryngei superiores an Bronchopneumonie, verursacht durch Mundschleim und Futterreste nach einigen Tagen zu Grunde gehen; gew\u00f6hnlich wird das Leben der Thiere durch diese Operation nicht gef\u00e4hrdet.\nDurchschneidung beider Nervi r\u00e9currentes, welche schon an und f\u00fcr sich eine allm\u00e4hlich sich ausbildende Bronchopneumonie hervorrufen kann, wirkt viel sicherer, wenn man den Oesophagus unterbindet (Traube, Frey).\nDurchschneidung des Vagus auf der einen Seite, des Recurrens auf der anderen Seite, ebenso Durchschneidung aller vier Kehlkopfnerven f\u00fchren zu Lungenaffectionen, desgleichen die Abtragung beider Stimmb\u00e4nder (Frey).\nInwieweit die St\u00f6rungen in den motorischen und secretoriscken Functionen der vom Vagus innervirten Bestandtheile bei der Hervor-rufung der Lungenentz\u00fcndung und des Todes betheiligt sein m\u00f6gen, ist schwer zu entscheiden. Ein Zusammenhang der erw\u00e4hnten Functionsst\u00f6rungen mit der Lungenentz\u00fcndung d\u00fcrfte nicht leicht anzunehmen sein; auch erscheint es nicht plausibel, dass der Ausfall der Vagusfunctionen bez\u00fcglich der Bewegungen des Magens und des Darmes quoad vitam besonders ins Gewicht f\u00e4llt, da die genannten Organe ihre Nerven zun\u00e4chst aus Plexus beziehen, in die noch viele andere dem Sympatkicus zugeh\u00f6rige Nervenbahnen einstrahlen. Von gr\u00f6sserer Bedeutung d\u00fcrfte aber die Schwierigkeit in der Hinabbef\u00f6rderung der Ingesta durch den gel\u00e4hmten Oesophagus in den Magen sein.\nIII. Die L\u00e4hmung der Bronchialmuskulatur ist von mehreren Autoren als wesentlich betheiligt bei der Hervorbringung der Lungenver\u00e4nderungen und des t\u00f6dlichen Ausganges der doppeltseitigen Vagotomie angesehen worden. Insbesondere hat Longet 1 diese Mei-\n1 Longet. Trait\u00e9 de physiologie. 3. \u00e9dit. III. p. 539. Paris 1369 und Compt. rend. 1842.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268 Sigmund Mayer. Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nnung vertreten, Wundt1, Boddaert u. A. sind darauf zur\u00fcckgekommen. Nach Longet haben die Bronchialmuskeln die Function, den Luftwechsel in den Lungen durch ihre Contraction zu beg\u00fcnstigen ; nach ihrer L\u00e4hmung soll die mit Kohlens\u00e4ure \u00fcberladene Luft in den Lungenbl\u00e4schen stagniren, dort sowohl Anlass geben zur Ausdehnung derselben (Emphysem), als auch zur Behinderung des normalen Gaswechsels.\nEs ist a priori nicht unwahrscheinlich, dass die Muskulatur der Bronchien in wichtiger Weise in den Mechanismus der Athmung eingreift. Ueber die n\u00e4here Art und Weise dieses Eingreifens sind wir aber ohne jegliche auf sicherer Grundlage beruhenden Kenntnisse, da die experimentellen Bem\u00fchungen nach dieser Richtung hin, die an anderer Stelle besprochen werden m\u00fcssen, nichts weniger als \u00fcbereinstimmende Resultate ergeben haben.\nDa Longet als wesentlichen Effect der L\u00e4hmung der Bronchialmuskulatur das Emphysem hinstellt, letzteres aber nur eine nebens\u00e4chliche Erscheinung in der Reihe der Lungenver\u00e4nderung nach Vagotomie darstellt, so d\u00fcrfte die LoNGET\u2019sche Ansicht kaum hinl\u00e4nglich zu begr\u00fcnden sein.\nVon Schiff ist besonders die Meinung vertreten worden, dass das wesentliche Moment bei der Entstehung der Lungenafifection nach doppeltseitiger Vagotomie die eintretende neuroparalytische Hyper\u00e4mie der Lungen sei. Die vasomotorischen (genauer vaso-constrictorischen) Nervenfasern sollen nach Schiff im Vagus zur Lunge verlaufen ; deren L\u00e4hmung soll ebenso zur Hyper\u00e4mie in diesem Organe f\u00fchren, wie etwa Durchschneidung des Halssympathicus von Hyper\u00e4mie des Ohres gefolgt ist.\nGegen die ScmFF\u2019sche Ansicht ist zun\u00e4chst anzuf\u00fchren, dass die Beweise f\u00fcr die Bedeutung des Vagus als vasoconstrictorischer Nerv der Lungen auf schwachen F\u00fcssen stehen. Wie andern* Orts n\u00e4her auseinanderzusetzen sein wird ist es sogar wahrscheinlich, dass im Vagus die Hauptbahn f\u00fcr die Gef\u00e4ssnerven der Lungen nicht enthalten ist. Hiegegen wollen wir nicht den Umstand anf\u00fchren, dass einseitige Durchschneidung des Vagus nur selten zu tiefgreifenden Lungenver\u00e4nderungen Anlass giebt, da im Bereiche der Nervenwirkungen im Eingeweidesystem dergleichen F\u00e4lle h\u00e4ufig Vorkommen, in denen der Ausfall einer peripherischen Nervenbahn, wohl wegen der terminalen Plexusbildungen, ohne besondere Folgen bleibt. Endlich ist noch hervorzuheben, dass erfahrungsgem\u00e4ss neuroparalytische Hyper\u00e4mien nach wenigen Tagen wieder zur\u00fcckzugehen pflegen; im Hinblick auf diese Thatsache w\u00e4re es nicht begreiflich, wie Thiere oft erst nach\n1 Wundt, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1855. S. 269.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Lungenver\u00e4nderung und Tod nach Vagusdurchschneidung.\n269\nvielen Tagen in Folge der Vagusdurchschneidung zu Grunde gehen, so dass die pr\u00e4sumirte Hyper\u00e4mie hier nicht als Erkl\u00e4rungsmoment herbeigezogen werden kann.\nZander hat neuerdings die Meinung ausgesprochen, dass bei V\u00f6geln die Durchschneidung des Vagus als Reiz auf die in demselben verlaufenden Vasodilatatoren f\u00fcr die Lungen wirkt.\nZur St\u00fctze der SciiiFF\u2019schen Theorie hat Genzmer Versuche angestellt, in denen er den linken Vagus am Halse, den rechten unterhalb des Recurrens durchschnitt. Genzmer ging hiebei von der Idee aus, dass, wegen der nur einseitig gesetzten Stimmbandl\u00e4hmung, das Eindringen von Mundfl\u00fcssigkeit u. s. w. verhindert werde und so der reine Effect der L\u00e4hmung der Lungen vagi zum Vorschein k\u00e4me. Genzmer constatirte die bekannte Lungenerkrankung und schloss hieraus, dass, da er im Kehlkopf nur eine geringe Functionsst\u00f6rung hervorgerufen hatte, die L\u00e4hmung der Lungenvagi die Erscheinungen in den Lungen hervorgerufen habe.\nFrey hat die Versuche Genzmer\u2019s wiederholt und den That-sachen nach best\u00e4tigt, insofern er (wenn auch etwas versp\u00e4tet) die Lungen afficirt fand unfl in denselben Mundepithelien nachweisen konnte. Seine Deutung weicht aber sehr wesentlich von derjenigen Genzmer\u2019s ab, da er aus dem Vorhandensein der Fremdk\u00f6rper den Beweis entnimmt, dass die Functionirung nur eines Stimmbandes, bei gleichzeitig gesetzter L\u00e4hmung des Oesophagus, wie sie in Genzmer\u2019s Versuche thats\u00e4chlich besteht, nicht hinreichend ist, um den Respirations- vom Digestionsapparate vollst\u00e4ndig abzusperren.\nSchiff hat zum Beweise seiner Ansicht \u00fcber die Ver\u00e4nderungen in den Lungen nach doppeltseitiger Vagotomie noch folgenden Versuch angegeben. Er durchschnitt im Plexus ganglioformis die graue dem Vagus angeh\u00f6rige Substanz, ohne den an derselben vorbeiziehenden weissen, vom inneren Aste des Accessorius abstammenden Faden zu verletzen. Das Resultat, das Schiff in diesen Versuchen, in denen die Kehlkopf innervation nicht alterirt werden sollte, erhielt, war eine starke Lungenver\u00e4nderung mit starkem Fl\u00fcssigkeitsergusse in die Luftwege. Friedl\u00e4nder und Frey, welche diesen subtilen Versuch wiederholten, konnten die von Schiff erzielten Lungenver\u00e4nderungen nicht constatiren. Ausserdem ist noch zu bemerken, dass durch die genannte Operation eine isolirte Wirkung auf die Lungen nicht erzielt werden kann, da ja die L\u00e4hmung des Oesophagus hiedurch nicht vermieden wird.1\n1 Bez\u00fcglich der vasomotorischen Einfl\u00fcsse des Yagus auf die Lungen und einen urs\u00e4chlichen Zusammenhang der neuroparalytischen Hyper\u00e4mie mit den ent-","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"27 0 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\nNachdem durch E. Weber\u2019s Entdeckung der hemmenden Einwirkung des Vagus auf die Herzth\u00e4tigkeit die so lange Zeit strittige Natur der Beeinflussung des Herzens durch den genannten Nerven n\u00e4her pr\u00e4cisirt worden war, musste daran gedacht werden, inwiefern der Wegfall dieser Vagusfunctionen an der Lungenaffection und dem endlich erfolgenden Tode betheiligt sei. Fowelin 1 hat nun auch hierauf das Hauptgewicht gelegt und die Meinung vertreten, dass die gesteigerte Herzfrequenz secund\u00e4r durch Stauung in den Lungen zur Transsudation und in Folge einer St\u00f6rung in dem Athmungschemis-mus zum Tode f\u00fchre.\nDie Ansicht Fowelin\u2019s, die von vornherein sehr wenig f\u00fcr sich hat, da nicht abzusehen ist, auf welchem Wege die vermehrte Herzfrequenz an und f\u00fcr sich zur Lungenentz\u00fcndung f\u00fchren soll, ist auf experimentellem Wege ebenfalls als nicht haltbar zur\u00fcckgewiesen worden. Wir verweisen hier auf die Versuche, in denen die Acces-sorii, welche nach Waller\u2019s und Schiff\u2019s Nachweisen die Hemmungsfasern dem Vagusstamme zuf\u00fchren, wenn \u00fcberhaupt, erst nach viel l\u00e4ngerer Zeit, als die Vagotomie zum Tode f\u00fchrt. Sodann fanden Genzmer und Frey, dass Durchschneidung des Accessorius auf der einen Seite, des Vagus unterhalb des Abganges des Recurrens auf der anderen Seite, keine kranken Lungen hervorrief, trotzdem durch das genannte Verfahren der Einfluss der Hemmungsfasern f\u00fcr das Herz ausgeschaltet worden war.\nMayer (Bonn) machte die in den Lungengef\u00e4ssen und dem Herzen nach doppeltseitiger Vagotomie bei der Section Vorgefundenen Blutcoagula als die wesentliche Todesursache nach dieser Operation verantwortlich; Boddaert sprach die Vermuthung aus, dass die Blutgerinnungen im Herzen von der L\u00e4hmung der Herzvagi abh\u00e4ngen, eine Ansicht, die durch die oben erw\u00e4hnten Versuche mit m\u00f6glichst isolirter Ausschaltung der Herzvagi von Frey und Genzmer nicht bekr\u00e4ftigt wird. Traube hielt dies\u00e9 Gerinnungen f\u00fcr Leichenerscheinungen und auch Frey neigt dieser Meinung zu. Demgegen\u00fcber muss aber darauf hingewiesen werden, dass Longet* 1 2, gest\u00fctzt auf besondere Versuche, dieser Auffassung widerspricht, ebenso Schiff. Dieser Punkt bedarf einer erneuten Untersuchung.\nWas nun den Wegfall der centripetalen Innervationen,\nz\u00fcndlichen Lungenver\u00e4nderungen vgl. noch Falk, Arch. f. exper. Pathol, u. Phar-makol. VII. S. 183. 1877; Michaelson, Mitth. a. d. K\u00f6nigsb. physiol. Lahor. S. 85. K\u00f6nigsberg 1878.\n1\tFowelin, De causa mortis post nerv\u00f6s vagos dissectos instantis. Dissert. Dorpat 1851.\n2\tLonget, Trait\u00e9 etc. p. 540.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Lungenver\u00e4nderung und Tod nach Vagusdurchschneidung.\n271\nder durch doppeltseitige Vagotomie herbeigef\u00fchrt wird, in seinem Zusammenh\u00e4nge mit der Lungenver\u00e4nderung und dem Tode, betrifft, so ist zun\u00e4chst zu bemerken, dass der Verlust der Sensibilit\u00e4t des Kehlkopfes, in Folge der Trennung der Nervi laryngei superiores, f\u00fcr gew\u00f6hnlich nicht zu einer Alteration der Lungen f\u00fchrt.\nIn einem Versuche sah Frey (1. c. pag. 160) ein Kaninchen nach doppeltseitiger Trennung der nervi laryngei superiores nach etwa 100 Stunden zu Grunde gehen. Die Section ergab eine hochgradige Lungenalteration, Mundfl\u00fcssigkeit und Futterbestandtheile in den Lungen.\nDie Beeintr\u00e4chtigung der durch den Vagus vermittelten Sensibilit\u00e4t der \u00fcbrigen Theile des Respirations- und des Digestionsschlauches kann bei der Hervorbringung der Lungenerkrankung und des t\u00f6dtlichen Ausganges der Vagotomie wohl kaum in hervorragender Weise betheiligt sein.\nVon wesentlicher Bedeutung f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Folgen der doppeltseitigen Vagusdurchschneidung d\u00fcrfte aber die Vernichtung der regulatorischen Wirkungen sein, welche nach der Auffassung von Rosenthal , Hering und Breuer u. A. die centripetalen Lungenfasern auf das Athemcentrum aus\u00fcben.\nMit Hering und Breuer m\u00fcssen wir annehmen, dass in Folge des Wegfalles der regulatorischen von den Lungen ausgehenden Innervationen, das Athmungscentrum gleichsam gezwungen wird, jede Athmungsbewegung bis zu ihrem Maximum ablaufen zu lassen; so wird der Rhythmus der Respirationen verlangsamt, die Inspirationen werden tetanisch, die Exspirationen sind immer activ und werden mit bedeutender Anstrengung der Muskeln ausgef\u00fchrt.\nAuf diese Ver\u00e4nderung im Respirationstypus und die hiermit in Zusammenhang stehenden Ver\u00e4nderungen im Blutstrome ist von vielen Autoren, insbesondere von Reid, Bernard, Boddaert, Arns-perger 1 ein besonderes Gewicht bei der Erkl\u00e4rung der Wirkungen der Vagotomie gelegt worden.\nInwieweit hierdurch entz\u00fcndliche Processe in der Lunge hervorgerufen werden sollen, ist nicht leicht abzusehen, wohl aber k\u00f6nnen hierdurch vesicul\u00e4res Emphysem und zuweilen Hyper\u00e4mie gesetzt werden.\nRosenthal 2 fand, dass nach doppelseitiger Vagotomie die Volumina der inspirirten und exspirirten Luft nicht wesentlich von der Norm abweichen, und R\u00e4uber, der unter Voit\u2019s1 2 3 Leitung arbeitete,\n1\tArnsperger, Arch. f. pathol. Anat. IX. S. 197, 437.\n2\tJ.Rosenthal, Die Athembewegungen und ihre Beziehungen zum Nerv, vagus. Berlin 1862.\n3\tYoit, Sitzungsber. d. bayr. Acad. II. S. 104.1868.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\ngab an, dass in der ersten Zeit nach der Operation der Gasweclisel nicht alterirt wird.\nWas nun den Tod nach doppelseitiger Vagusdurchschneidung betrifft, der ausnahmslos nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit eintritt, so ist f\u00fcr die Mehrzahl der F\u00e4lle die hochgradige Lungenentz\u00fcndung als entschieden zureichendes Moment zu betrachten. Als einzige Todesursache aber ist* dieselbe wohl kaum anzusehen, da V\u00f6gel ebenfalls zu Grunde gehen trotz fehlender Lungenaffection, da ferner Hunde oft erst nach sehr langer Zeit und mit nur unbedeutender Erkrankung der Lungen sterben und da endlich bei Thieren, die durch Einlegung einer Trachealcan\u00fcle vor den die Lungenentz\u00fcndung wesentlich bedingenden Sch\u00e4dlichkeiten gesch\u00fctzt worden, gleichwohl der Tod eintritt, obschon derselbe durch die an und f\u00fcr sich schon sch\u00e4dlich wirkende Can\u00fcle bei Kaninchen etwas hinausgeschoben wird.1\nIm Hinblick auf die mannigfaltigen Functionen, die, wie oben auseinandergesetzt, dem Nerv, vagus \u00fcbertragen sind, kann es nun kaum Wunder nehmen, wenn die Thiere den pl\u00f6tzlichen Wegfall derselben nicht auf die Dauer ertragen. Wenn wir auch gesehen haben, dass einzelne Defecte in der Gesammtheit der nerv\u00f6sen Einfl\u00fcsse durch Substitutions- und Adaptationsvorrichtungen, die zweifellos im Organismus vorhanden sind, so ausgeglichen werden k\u00f6nnen, dass sie ohne Schaden f\u00fcr den Gesammtorganismus ertragen werden k\u00f6nnen, so braucht dies doch nicht mehr der Fall zu sein, wenn eine ganze Reihe von St\u00f6rungen gleichzeitig eingef\u00fchrt wird.\nEs ist schwer anzugeben, welcher Faktor bei der Hervorbringung des lethalen Ausganges der doppeltseitigen Vagusdurchschneidung bei der Concurrenz so vielfacher, durch die Operation eingef\u00fchrter St\u00f6rungen wesentlich betheiligt ist. Rosenthal (1. c. Seite 114) hat schon die Meinung ausgesprochen, dass vagotomirte Thiere alsbald eine Verminderung ihres Respirationsprocesses erfahren in Folge der verminderten Leistungsf\u00e4higkeit der Athem-muskeln, herbeigef\u00fchrt durch die gr\u00f6ssere denselben auferlegte Arbeit. Wir wollen hinzuf\u00fcgen, dass es uns nicht richtig erscheint, wenn man aus den oben angef\u00fchrten Versuchsresultaten von Rosenthal und R\u00e4uber den Schluss ableitete, dass nach der Vagus-\n1 H. Nasse (Arch. d. Vereins f. gemeinschaftl. Arbeiten 1856. II. S. 327) erhielt bei 14 Hunden, an denen er die doppelseitige Vagusdurchschneidung ausgef\u00fchrt hatte, folgende Zeiten der Lebensdauer: 2, 21/*, 3, 3V2, 4Va, 5, 6, 7, 9, 9, 11, 30, 57, 62 Tage. Beobachtungen \u00fcber den erst nach langer Zeit eintretenden Tod bei Hunden als Folge der Vagotomie ohne tiefgehende Lungenver\u00e4nderungen liegen noch vor von Blainville, Longet, Bernard, Loewinsohn (Exp\u00e9rimenta de nervi vagi in respirationem vi et effectu. Dissert. Dorpat 1858.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Lungenver\u00e4nderung und Tod nach Vagusdurchschneidung.\n273\ndurchschneidung die von der Medulla oblongata geleistete Arbeit im Wesentlichen unge\u00e4ndert bleibe. Es scheint uns vielmehr, dass letztere bedeutend gesteigert sein m\u00fcsse, da die \u00fcber die Norm weit hinausgehenden Athembewegungen fortw\u00e4hrend bedeutend anwachsende Widerst\u00e4nde von Seiten der elastischen Bestandtheile der Brustwandungen zu \u00fcberwinden haben. Es ist daher sehr in Erw\u00e4gung zu ziehen, ob nicht die allm\u00e4hlige Ersch\u00f6pfung des Athmungscentrums (und wohl auch des peripheren Athmungsappa-rates) bei dem Tode nach Vagusdurchschneidung eine wichtige Rolle spielt. Wenn Frey sagt, dass ein der Section beider Vagi innewohnendes v\u00f6llig r\u00e4thselhaftes Moment unfehlbar t\u00f6dtet, auch ohne Zutritt der Entz\u00fcndung, so m\u00f6chte ich es eher f\u00fcr r\u00e4thsel-hafter halten, wenn die Thiere die Operation \u00fcberleben w\u00fcrden ; denn ein solcher Erfolg w\u00fcrde besagen, dass eine ganze Reihe von nerv\u00f6sen Einfl\u00fcssen, die mit einem Schlage vernichtet werden k\u00f6nnten, ohne wesentliche Einwirkung auf den Gesammtorganismus, in diesem gleichsam als Luxusvorrichtungen angebracht w\u00e4ren.\nEichhorst1 hat versucht, den Tod nach Vagotomie auf eine Verfettung des Herzmuskels zu schieben; der Vagus soll den \u201etro-phischen Nerven\u201c der Herzmuskelsubstanz darstellen. Er st\u00fctzt diese Ansicht auf Versuche an V\u00f6geln, bei denen das t\u00f6dtliche Ende fr\u00fcher als bei der Inanition erfolgen soll, ist aber geneigt, dasselbe Verhalten auch f\u00fcr S\u00e4ugethiere anzunehmen.\nDie Erh\u00e4rtung der von Eichhorst mitgetheilten Thatsachen bleibt vorerst abzuwarten; theoretisch hat die Annahme \u201etrophischer Nerven\u201c, die im Vagus verlaufen sollen, sehr wenig f\u00fcr sich, da andere Erfahrungen lehren, dass eine viel l\u00e4ngere Zeit nach der Nervendurchschneidung vergeht, bis an der Muskelsubstanz Verfettungserscheinungen auftreten. Im Hinblick auf die schwere Beeintr\u00e4chtigung der Athmung, die bei V\u00f6geln besonders stark hervortritt, und die mehr oder minder aufgehobene Unf\u00e4higkeit der Nahrungsaufnahme, d\u00fcrfte es jedenfalls einseitig sein, den Tod der V\u00f6gel nach doppeltseitiger Vagotomie wesentlich auf den Wegfall der angenommenen trophischen Wirkungen der Vagi auf das Herz oder die Inanition zu beziehen, wie Zander (1. c.) will, und schon fr\u00fcher Einbrodt2 behauptet hatte. Ein Zusammenwirken der verschiedenen,\n1\tEichhorst, Die tropMsclien Beziehungen der Nervi vagi zum Herzmuskel. Berlin 1879 ; Derselbe, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1879. S. 161. Ygl. noch Soltmann, Breslauer \u00e4rztl. Ztschr. 1879. Nr. 1 und Wassiljew, St. Petersburger med. Wochenschrift 1879. Nr. 7, der die Erscheinungen an der Herzmuskulatur nach Yagotomie ebenfalls als Folgen der Inanition ansieht.\n2\tEinbeodt, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1859. S. 439.\nHandbuch der Physiologie. Bd. U.\n18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 3. Cap. Die Hirnnerven.\ndurch die Nerventrennung gleichzeitig gegebenen St\u00f6rungen d\u00fcrfte auch hier die Hauptrolle spielen.1\nDer Nerv, glossopharyngeus steht durch Vermittlung des Gangl. petrosum in Verbindung mit Fasern vom Trigeminus, Facialis, Vagus und dem carotischen Geflecht des Sympathicus. Da hierdurch der Stamm und die Zweige Fasern aus verschiedenen Quellen f\u00fchren, so ist hier die Festsetzung der Functionen der eigentlichen Wurzelfasern des Glossopharyngeus wegen der experimentellen Schwierigkeiten schwer vorzunehmen und sind die einschl\u00e4gigen Angaben zum Theil widerspruchsvoll.\nUnbestreitbar ist die Betheiligung des Glossopharyngeus bei der Geschmacksfunction, wovon sp\u00e4ter die Rede sein wird.\nDie Frage, ob der Glossopharyngeus ausser der specifischen Geschmacksempfindung noch rein sensitive, das Tastgef\u00fchl der hinteren Mund- und Rachenh\u00f6hle und gewisse Reflexbewegungen vermittelnde Innervationen besorge, ist in neuerer Zeit nicht wieder Gegenstand allseitiger Untersuchung gewesen. Die \u00e4lteren, sehr der Revision bed\u00fcrftigen Angaben sind widerspruchsvoll.2\nBei Reizung der Wurzeln sah Valentin bei Kaninchen und Hunden nur geringe Schmerzempfindlichkeit. Bei der Pr\u00fcfung des Stammes fanden einzelne Beobachter denselben sehr empfindlich, andere wenig oder gar nicht.\nWahrscheinlich sind es Fasern des Glossopharyngeus, die das Gef\u00fchl des Ekels bedingen und reflectorisch die Bewegungen des W\u00fcrgens und Erbrechens hervorrufen.\nDass der Glossopharyngeus reflectorisch die Speichelsecretion zu beeinflussen vermag, ist experimentell vielfach sichergestellt worden, wor\u00fcber das N\u00e4here in der Lehre von den Secretionen mit-getheilt werden wird.\nInwieweit der Glossopharyngeus auf dem Wege des Reflexes Einfluss auf den Schlingact \u00fcbt, soll bei der Besprechung des letzteren erw\u00e4hnt werden.\nIn Bezug auf die Frage, ob der Glossopharyngeus in seinen Wurzeln motorische Fasern f\u00fcr einzelne Schlundmuskeln f\u00fchre, sind ebenfalls verschiedene Ansichten ge\u00e4ussert worden. Einige Beobachter fanden die Wurzeln motorisch, andere unwirksam ; Reid ebenso wie\n1\tE. Mahlke (Zum Einfluss der Vagusl\u00e4limung. Dissert. K\u00f6nigsberg 1876) bat auf die starke Abk\u00fchlung aufmerksam gemacht, welche Warmbl\u00fcter nach doppelseitiger Vagotomie zeigen ; Mahlke h\u00e4lt dieselbe f\u00fcr einen wesentlichen Factor f\u00fcr die Herbeif\u00fchrung eines t\u00f6dtlichen Endes der genannten Operation.\n2\tDie literarischen Notizen \u00fcber die \u00e4lteren physiologischen Angaben siehe bei Henle, Nervenlehre S. 417 ff.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Das sympathische Nervensystem.\n275\nJolyet 1 halten die erzielten Bewegungen f\u00fcr reflektorisch hervorgerufene. Die motorischen Functionen der Zweige des Glossopharyn-geus k\u00f6nnen ebenfalls auf Rechnung des Vagus oder Facialis gesetzt werden.\nDie secretorischen Functionen des Glossopharyngeus, ebenso wie seine neuerdings aufgedeckten vagodilatatorischen Eigenschaften werden an geeigneter Stelle zur Besprechung gelangen.\nAuf die Physiologie des Nerv, acusticus und des Nerv, hypo gl os sus hier n\u00e4her einzugehen, sehen wir nach dem, was oben bez\u00fcglich des Planes der Darstellung der speciellen Nervenphysio-logie im Rahmen dieses Handbuches bemerkt wurde, keine Veranlassung.\nVIERTES CAPITEL.\nDas sympathische Nervensystem.1 2\nDie Physiologie des sympathischen Nervensystems zerf\u00e4llt in die Lehre von den Functionen der zu diesem Systeme geh\u00f6rigen Nervenf\u00e4den und in die Er\u00f6rterung der den Nervenknoten zukommenden Leistungen. Leider stehen unsere Kenntnisse nach beiden Richtungen hin noch auf einer sehr tiefen Stufe; die verbesserten Methoden der modernen Physiologie haben noch nicht vermocht, in dieses dunkle Gebiet ein einigermassen aufkl\u00e4rendes Licht zu werfen. Gleichwohl d\u00fcrfte es doch heutzutage kaum mehr nothwendig sein? Fragen, wie die nach der Abh\u00e4ngigkeit oder Selbst\u00e4ndigkeit dieses Syst\u00e8mes in der Weise aufzuwerfen und zu discutiren, wie es noch vor mehreren Decennien geschah und zu vielen und heftigen Streitigkeiten unter den Forschern Anlass gab.\nZahlreiche Erfahrungen der Experimentalphysiologie haben nach\n1\tJolyet, Essai sur la d\u00e9termination des nerfs, qui pr\u00e9sident aux mouvements de l\u2019oesophage, th\u00e8se d. Paris 1866. (Extrait p. Robin, Journ. d. l\u2019anat. et d. 1. physiol.)\n2\tJ. L. Br\u00e4chet, Prakt. Unters, \u00fcber die Verrichtungen des Gangliennerven-systemes, \u00fcbers, von Flies. 1836; Gr. Valentin, De functionibus nervorum cerebra-lium et nervi sympathici libri quatuor. 1839 ; Volkmann, Artikel Nervenphysiologie in Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol. Die \u00e4ltere Literatur ist in den genannten Werken erw\u00e4hnt und findet sich ausserdem in den Handb\u00fcchern der Anatomie besonders ausf\u00fchrlich in dem Werke von Hildebrandt \u2014 E. H. Weber und denjenigen der Physiologie von Valentin, Longet u. A. Was die anatomische Seite der Frage betrifft, so finden sich die genaueren literarischen Nachweise in den Handb\u00fcchern von Henle , K\u00f6lliker. Die Literatur \u00fcber die wesentlichen Entdeckungen auf dem Gebiete der Physiologie des Sympathicus wird bei der Schilderung der einzelnen Thatsachen an verschiedenen Stellen dieses Werkes erw\u00e4hnt werden, wesswegen wir hier nicht auf dieselbe eingehen.\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276 Sigmund Mayer, Spec. ISTervenphy siologie. 4. Cap. Das sympath. Nervensystem.\nund nach die verschiedenen Unterschiede, die man zwischen cerebrospinalen und sympathischen Nerven aufstellte, in ihrer durchgreifenden Bedeutung hinf\u00e4llig gemacht. Dass die sympathischen F\u00e4den sich vorzugsweise zu Organen begehen, die den Zwecken des vegetativen und generativen Lehens dienstbar sind, ergiebt sich unmittelbar aus den Resultaten der anatomischen Forschung; dass aber andererseits Organe, die im vegetativen Leben eine grosse Rolle spielen, wie z. B. die Speicheldr\u00fcsen, in ihrer Th\u00e4tigkeit von unzweifelhaften cerebralen Nerven abh\u00e4ngig sind, ist \u00fcber jeden Zweifel sicher gestellt worden. Ebenso hat es sich auf dem Wege experimenteller Untersuchungen nachweisen lassen, dass Organe mit un-willk\u00fchrlicher Bewegung nicht allein vom Sympathicus, sondern auch von Hirnnerven, wie z. B. vom Vagus innervirt werden.\nIndem wir einige Er\u00f6rterungen \u00fcber die eigenth\u00fcmliche Stellung des Sympathicus im Gesammtnervensysteme an sp\u00e4terer Stelle Vorbringen werden, soll hier nur noch bemerkt werden, dass die Methoden der Untersuchung auch hier dieselben sind, wie im Bereiche des cerebrospinalen Syst\u00e8mes. Die sympathischen Nerven sind denselben k\u00fcnstlichen Reizen zug\u00e4nglich, wie die cerebrospinalen; die Verschiedenheit der Erfolge, welche ein und derselbe Eingriff hier oft hervorbringt, d\u00fcrfte nicht sowohl auf eine besondere Eigenschaft der Fasern, als vielmehr auf die Natur der specifischen centralen und peripherischen Endapparate zu schieben sein.\nDa dem Programm dieses Werkes gem\u00e4ss das Eingreifen des Nervensystems in die verschiedenen Functionen von der Besprechung der letzteren nicht losgel\u00f6st werden soll, so liegt uns hier nur die Aufgabe ob, die Functionen der einzelnen dem Sympathicus zugez\u00e4hlten F\u00e4den \u00fcbersichtlich zusammenzustellen.\nI. HalssympatMcus.\nDieser der Untersuchung leicht zug\u00e4ngliche Theil des sympathischen Systems ist Gegenstand zahlreicher . Untersuchungen gewesen.\n1) Die Durchschneidung des Sympathicus bewirkt Erweiterung der Blutgef\u00e4sse in vielen Bezirken des Kopfes, die Reizung umgekehrt Verengerung. Es ist Aufgabe genauerer Untersuchungen, als sie bis jetzt vorliegen, die Verbreitung der durch den Sympathicus vermittelten Gef\u00e4ssinnervationen im Bereich der Kopforgane nachzuweisen. Dass die vasomotorischen Fasern des Halssympathicus nicht sowohl in Ganglien ihren Ursprung nehmen, als vielmehr mit den vorderen Wurzeln verschiedener spinaler Nerven aus dem R\u00fcckenmark entspringen, wird an anderer Stelle n\u00e4her er\u00f6rtert werden.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Halssympathicus.\n277\n2) Die Beziehungen des Halsstranges des Sympathicus zum Auge sind mehrfache. Zun\u00e4chst ist zu bemerken, dass Reizung Erweiterung der Pupille, Durchschneidung aber Verengerung hervorruft.\nSodann hat der Sympathicus eine noch nicht hinl\u00e4nglich aufgekl\u00e4rte Beziehung zur Lage des Augapfels. Wird der periphere Stumpf des Nerven gereizt, so tritt der Bulbus etwas vor, w\u00e4hrend die Durchschneidung ein Zur\u00fcckweichen desselben und eine leichte Abflachung der Cornea zur Folge hat.\nDas Vordr\u00e4ngen des Bulbus d\u00fcrfte durch verschiedene Muskelwirkungen, die in Abh\u00e4ngigkeit vom Sympathicus stehen, bedingt sein. In den Lidern finden sich Z\u00fcge von glatten Muskelfasern, durch deren Contraction die Lidspalte vergr\u00f6ssert und so der Bulbus entbl\u00f6sst wird. Diese glatten Muskelfaserz\u00fcge wurden von H. M\u00fcller entdeckt \\ sp\u00e4ter von Sappey'2 u. A. best\u00e4tigt.\nExperimentell hatte Remak bei Katzen durch Reizung des Halssympathicus ein langsames Zur\u00fcckziehen des oberen Augenlides hervorgerufen. Remak3 hielt diese Wirkung f\u00fcr eine durch willk\u00fcrliche Muskeln hervorgebrachte und betrachtete diesen Erfolg als einen Beweis seiner Ansicht, dass man bei den willk\u00fchrlichen Muskeln ausser spinaler L\u00e4hmung und spinalem Krampf auch sympathische L\u00e4hmung und sympathischen Krampf annehmen m\u00fcsse. Da Remak von einer langsam erfolgenden Bewegung spricht, so d\u00fcrfte es sich wohl um eine Contraction glatter Muskelfasern und im Princip um denselben Versuch gehandelt haben, den R. Wagner4 und H. M\u00fcller5 an Hingerichteten angestellt haben. Die genannten Forscher erzielten hierbei durch Reizung des Halssympathicus Erweiterung der Lidspalte.\nAn dem durch Reizung des Halssympathicus bewirkten Hervortreten des Augapfels k\u00f6nnte auch betheiligt sein der von H. M\u00fcller 6 entdeckte, aus glatten Fasern bestehende Muse, orbitalis. Dieser Muskel liegt in der Fissura orbitalis inferior und vermag durch seine Contraction den Bulbus etwas nach vorn zu dr\u00e4ngen.\nVom Halssympathicus aus hat man die Secretion des Parotis und der Unterkieferspeicheldr\u00fcse angeregt, wor\u00fcber das N\u00e4here an anderem Orte mitgetheilt werden wird.\nDer dem Halstheile des Sympathicus mehrfach zugeschriebene\n1\tH. M\u00fcller, W\u00fcrzburger Verbandl. IX. S. 244. 1858.\n2\tSappey, Compt. rend. 1867, und Pr\u00e9vost und Jolyet (ibid.) beschreiben auch glatte Muskelfasern in der Orbitalaponeurose.\n3\tRemak, Deutsche Klinik 1855. Nr. 27.\n4\tR. Wagner, Zeitschr. f. rat. Med. Y. (3) S. 331.\n5\tH. M\u00fcller, W\u00fcrzburger Verhandl. X. S. XLIX. 1859.\n6\tH. M\u00fcller, Ztschr. f. wiss. Zoologie IX. S. 541.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 2. Cap. Das sympath. Nervensystem.\nEinfluss auf die Herzbewegung\u2019 wird in der Lehre von der Innerva^ tion des Herzens zur Besprechung gelangen.\nII. Brustsympathicus.\nAus diesem Theil entwickeln sich die N. splanchnici, deren Functionen in den letzten Decennien vielfach untersucht worden sind.\nDie Nervi splanchnici \u00e4ussern dem Darmtractus gegen\u00fcber motorische und hemmende Einfl\u00fcsse, wor\u00fcber das N\u00e4here bei der Lehre von den Darmbewegungen. Dort wird auch die Frage n\u00e4her er\u00f6rtert werden, inwieweit diesem Nerven die F\u00e4higkeit zuk\u00f6mmt, Empfindungen und Reflexbewegungen zu vermitteln.\nDie wichtigen vasomotorischen Wirkungen der Nervi splanchnici, sowie die Beeinflussung der Nierensecretion durch die genannten Nerven werden an einschl\u00e4giger Stelle zur Besprechung gelangen.\nIII. Bauclisympatliiciis.\nDie Untersuchung der Verrichtungen der grossen gangli\u00f6sen Plexus der Bauch- und Beckenh\u00f6hle hat zu einer Reihe von nicht gut \u00fcbereinstimmenden Resultaten gef\u00fchrt. Da es sich hiebei wesentlich um die Ber\u00fccksichtigung der Bewegungsvorg\u00e4nge an Bestandteilen des Digestions- und Generationsapparates handelte, so werden wir hierauf besser bei der Behandlung der einschl\u00e4gigen Fragen zur\u00fcckkommen.\nDie Versuche, die am Plexus coeliacus und mesentericus von Pincus \\ Budge 1 2, Adrian 3, Schmidt 4, Lamansky, Munk und Klebs, unternommen wurden, waren zum Theil auf die Eruirung anderer, als bewegender Einfl\u00fcsse der genannten Theile des Nervensystems gerichtet. Was hier an sp\u00e4rlichem thats\u00e4chlichem Material vorliegt, zeigt wenig Uebereinstimmung. Aus einer Reihe gut gelungener Versuche von Adrian und Schmidt, die ihre Versuchstiere (Hunde) l\u00e4ngere Zeit am Leben erhalten konnten, als Pincus und Budge, ergab sich, dass die Exstirpation des Plexus coeliacus und mesentericus keine andauernden wesentlichen Ver\u00e4nderungen in der Blutcir-culation, den Ern\u00e4hrungsverh\u00e4ltnissen, den Secretionen der Unterleibsorgane herbeif\u00fchrt, Die gegenteiligen Angaben von Pincus,\n1\tPincus, Exp\u00e9rimenta de vi nervi vagi et sympathie! ad vasa, secretionem. nu-tritionem tractus intestinalis et renum. Dissert. Breslau 1856.\n2\tBudge, Compt. rend. 1856 und Nova acta acad. Leop. Carol. XXVII. n. 255\n1860.\n3\tAdrian, Eckhard\u2019s Beitr. z. Anat. u. Physiol. III. S. 59. 1863.\n4\tSchmidt, Ueber die Functionen des Plexus mesentericus posterior. Dissert. Giessen 1862.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Bauchsympatliicus.\n279\nSamuel1 und Budge sind nicht mit Sicherheit auf den Wegfall der Functionen der genannten Nervenpartieen zu beziehen, da die unvermeidlichen mechanischen Insulte der Eingeweide zu Hyper\u00e4mieen, Ecchymosen u. s. w. f\u00fchren m\u00fcssen. Die Ver\u00e4nderungen in der Circulation nach Exstirpation der genannten Plexus sind \u00fcbrigens leicht erkl\u00e4rlich, wenn wir bedenken, dass die Nervi vagi sowohl wie die Nervi splanchnici, die sich an der Bildung derselben betheiligen, nachweislich zahlreiche vasomotorische Fasern von wahrscheinlich verschiedener Function (vasoconstrictorische und vasodilatatorische) enthalten.\nInwieweit an der von mehreren Beobachtern als Folge der Exstirpation der grossen Unterleibsplexus beschriebenen diarrhoischen Beschaffenheit des Kothes der Einfluss der secretorischen Nerven oder nur die St\u00f6rungen der Blutcirculation betheiligt sind, kann nur durch weitere Untersuchungen entschieden werden.\nVon besonderem Interesse ist die Beobachtung von Lamansky2, welchem es einmal gelang einen Hund, dem er s\u00e4mmtliche Ganglien des Plexus coeliacus, und nicht, wie Adrian, nur zwei derselben exstirpirt hatte, mehrere Monate am Leben zu erhalten. Dieser Hund, der die n\u00e4chsten Folgen der Operation gut \u00fcberstand, fing mehrere Tage nachher an, trotz fortgesetzter reichlicher Nahrungsaufnahme, abzumagern und zehrte im Verlaufe mehrerer Wochen derart ab, dass er wie ein mit Fell \u00fcberzogenes Skelet aussah. Das Thier war in diesem Zustande \u00e4usserst kraftlos, zeigte aber sonst keine auffallenden Zeichen von Krankheit, insbesondere schien sein Intellect nicht gesch\u00e4digt. Nachdem der Hund ungef\u00e4hr drei Wochen in diesem Zustande verharrt, erholte er sich allm\u00e4hlig, kam wieder zu Kr\u00e4ften und unterschied sich 7 \u2014 8 Wochen in keinerlei Weise von einem vollst\u00e4ndig gesunden Thiere. Die Section ergab die vollst\u00e4ndige Exstirpation der Ganglien; in dem Verlauf der Chylusgef \u00e4sse wurde nichts Abnormes gefunden, obgleich auf dieselben besonders geachtet wurde, da der Gedanke nicht abzuweisen war, dass die geschilderten Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen in einer Verletzung des Chylusgef\u00e4sssystems begr\u00fcndet gewesen seien.\nAus diesem vereinzelt gebliebenen Falle zieht Lamansky den Schluss, dass zum Fortbestand des Lebens die genannten gangli\u00f6sen Plexus nicht unbedingt nothwendig sind; zu diesem Schl\u00fcsse wurde auch schon Adrian durch seine unvollst\u00e4ndigen Exstirpationsversuche gedr\u00e4ngt. Andererseits weisen die eingetretenen tiefgreifenden Er-\n1\tSamuel. Wiener med. Wochenschr. 1856. Nr. 30.\n2\tLamansky, Ztschr. f. rat. Med. XXVIII. (3) S. 59. 1866.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280 Sigmund Mayek, Spec. Nervenphysiologie. 4. Cap. Das sympath. Nervensystem.\nn\u00e4hrungsst\u00f6rungen darauf hin, dass der Defect der erw\u00e4hnten Theile des sympathischen Nervensystems nur allm\u00e4hlig, wahrscheinlich durch das subsidi\u00e4re Eintreten anderer Nerveneinfl\u00fcsse, ausgeglichen wurde und dass sich hieraus wohl eine gewisse Wirkung des genannten Plexus auf Vorg\u00e4nge der Verdauung und Aufsaugung als wahrscheinlich ergebe. Dass die ansehnliche Nervenmasse im Plexus solaris ohne bestimmte Functionen sein sollte, ist eine an und f\u00fcr sich sehr unwahrscheinliche Annahme. Hier soll auch der Beobachtungen von Asp1 Erw\u00e4hnung gethan werden, der sowohl Hunde als auch Kaninchen nach Durchschneidung beider Nerv, splanchnici (ohne Verletzung des Peritoneum) fortleben sah. Was hier zun\u00e4chst der Aufkl\u00e4rung harrt, ist der Nachweis des Mechanismus, durch welchen die Ersetzung der weggefallenen Nervenbahnen zu Wege k\u00f6mmt. Unter Anwendung antiseptischer Cautelen d\u00fcrfte es wohl gelingen, den LAMANSKY\u2019schen Versuch mit Aussicht darauf, die Thiere l\u00e4ngere Zeit nach der Operation am Leben zu erhalten, zu wiederholen und genauer zu analysiren.\nHervorzuheben ist noch, dass fast alle Experimentatoren am Plexus coeliacus Zeichen starker Schmerzempfindlichkeit beobachtet haben.\nIV. Bedeutung des Sympatliieus im Gfesammtnervensysteme.\nDie Frage nach der eigenth\u00fcmlichen Stellung und der Bedeutung des sympathischen Syst\u00e8mes innerhalb des gesammten Nervensystems gipfelt in den Betrachtungen \u00fcber die functionelle Bedeutung der sympathischen Nervenknoten. Ausser Zweifel steht es jetzt, dass die im Sympathicus vorkommenden Nervenfasern, insofern sie als Leitungsbahnen dienen, keinerlei wesentliche Verschiedenheit von den cerebrospinalen Fasern zeigen; ebenso ist es als eine gesicherte That-sache anzusehen, dass die in den sympathischen Nerven fortgeleiteten Erregungen gr\u00f6sstentheils entweder prim\u00e4r in dem Cerebrospinalorgane zur Entstehung gelangen (centrifugal fortgeleitete) oder dort erst ihre specifische Wirksamkeit entfalten k\u00f6nnen (Empfindung, Reflexph\u00e4nomene). Gegenstand der Untersuchung und Diskussion kann nur noch die Frage sein, ob nicht die von den grossen nerv\u00f6sen Centralorganen herkommenden oder zu denselben hinstr\u00f6menden Er-regungen in den Knoten des Sympathicus eine irgendwie geartete Umpr\u00e4gung erfahren, oder ob in diesen Knoten selbst irgend Etwas vor sich gehen kann, was den Leistungen der grossen nerv\u00f6sen Cen-tren zu vergleichen w\u00e4re.\n1 Asp, Arbeiten a. d. physiol. Anstalt zu Leipzig IL S. 133 ff.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Sympathicus.\n281\nZiehen wir zuerst die schon der Untersuchung mit unbewaffnetem Auge zug\u00e4nglichen Ganglien des Sympathicus in Betracht, so muss zun\u00e4chst darauf hingewiesen werden, dass in denselben f\u00fcr eine centrale Function nur die Ganglienzellen in Anspruch genommen werden k\u00f6nnten; denn die in denselben vorkommenden Fasern unterscheiden sich in Nichts von denjenigen, wie sie auch in cerebrospinalen Nervenst\u00e4mmen vorgefunden werden.\nEs scheint, wenn auch nur stillschweigend, wenigstens unter den Physiologen in Deutschland dar\u00fcber eine Uebereinstimmung der Meinungen zu herrschen, dass zur Zeit auch nicht eine einzige gut beglaubigte Thatsache vorliegt, welche die Annahme zuliesse, dass in einem sympathischen Ganglion ein Erregungsvorgang automatisch oder reflectorisch eingeleitet wird. Dieser Ausspruch kann noch dahin erweitert werden, dass peripherische Ganglien \u00fcberhaupt, also auch die dem cerebrospinalen Systeme f\u00fcr gew\u00f6hnlich zugerechneten, hiezu nicht bef\u00e4higt erscheinen. Cl. Bernard hat zwar behauptet, dass im Ganglion submaxillare ein vom Cerebrospinalorgan vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngiges reflectorisch ansprechbares Centrum f\u00fcr die Secretionsth\u00e4tigkeit der Unterkieferspeicheldr\u00fcse gegeben sei; Nachuntersuchungen von Seiten zuverl\u00e4ssiger Forscher haben aber diese Thatsache nicht best\u00e4tigen k\u00f6nnen und die wahrscheinlichen Quellen der T\u00e4uschung Bernard\u2019s aufgedeckt, wor\u00fcber das n\u00e4here Detail in die Lehre von der Speichelsecretion geh\u00f6rt.\nDie durch mikroskopische Untersuchungen der Ganglien ermittelte Existenz von Zellen mit mehrfachen Forts\u00e4tzen kann im Hinblick auf die rein negativen Ergebnisse der physiologischen Pr\u00fcfung kaum ins Gewicht fallen. Denn die Deutung jener Befunde fusste auf der Voraussetzung, dass die peripherischen Nervenzellen Gebilde von der functionellen Bedeutung der Gehirn- und R\u00fcckenmarksnervenzellen seien.\nW\u00e4hrend also in Bezug auf die grossen Knoten des sympathischen Nervensystems die Ansicht von der Hand gewiesen wird, dass hier Filialanstalten von Gehirn und R\u00fcckenmark gegeben seien, nimmt man, mit wenig Consequenz, wie ich glaube, keinen Anstand, den in den verschiedensten Organen vorkommenden Anh\u00e4ufungen nur mit H\u00fclfe des Mikroskopes nachweisbarer Ganglienzellen centrale Functionen zuzuschreiben, insofern man denselben die F\u00e4higkeit zuspricht, reflectorisch oder automatisch in bestimmter Weise coordinirte Bewegungen oder auch Secretionen einzuleiten, \u2014 vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngig von den grossen nerv\u00f6sen Centren.\nAn verschiedenen Stellen dieses Handbuches werden die ein-","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 4. Cap. Das sympath. Nervensystem.\nsckl\u00e4gigen Tkatsacken und die Erkl\u00e4rungsversuche mit H\u00fclfe der Ganglienzellenhypothese zur Besprechung gelangen. Wir k\u00f6nnen diese wichtige Angelegenheit hier nur insofern kurz ber\u00fchren, als es die Vollst\u00e4ndigkeit der Behandlung erfordert; denn die Frage nach der Bedeutung der peripherischen Nervenzelle erstreckt sich nur zum Theil auf das sympathische System, da z. B. diejenigen peripherischen Ganglienzellengruppen, die am meisten Gegenstand der Untersuchung und Speculation gewesen sind, gar nicht dem Sympathicus, sondern ausschliesslich dem Vagus angeh\u00f6ren (wenigstens beim Frosche, auf den sich die wesentlich hier in Betracht kommenden Tkatsacken beziehen).\nIch habe anderen Orts 1 auseinandergesetzt, in welcher Weise sich die Lehre von der centralen Bedeutung der in den Organen zerstreuten Ganglienzellenanh\u00e4ufungen entwickelt hat. Die in der heutzutage g\u00fcltigen Form circulirende Hypothese r\u00fchrt von Volkmann her und hat gewiss eine grosse Bedeutung f\u00fcr die Wissenschaft gehabt. Sie hat wesentlich dazu Veranlassung gegeben, alle Organe, insbesondere aber diejenigen, welche nach vollst\u00e4ndiger Trennung vom Cerebrospinalsysteme noch Bewegungserscheinungen zeigen, genau auf einen etwaigen Gehalt an Nervenzellen zu untersuchen. Es ist bekannt, dass diese Untersuchungen die sch\u00f6nsten Bereicherungen unseres Wissens von dem feineren Aufbau vieler Organe geliefert haben ; auch schienen die mikroskopischen Beobachtungen, ausgehend von Remak\u2019s Entdeckungen der Ganglienzellen im Herzen, der Volk-MANN;scken Lehre ein festes Fundament liefern zu wollen, insofern an vielen Orten Ganglienzellenanh\u00e4ufungen vorgefunden wurden, wo man sie, gest\u00fctzt auf physiologische- Beobachungen, vermuthete (Muscularis des Darmtractus u. s. w.). Andererseits aber zeigte die mikroskopische Anatomie sich dadurch unf\u00e4hig in dieser Angelegenheit ein entscheidendes Wort mitzureden, als sie einestheils in Organen die Ganglienzellen vermisste, wo sie von der Theorie als exsistent verlangt wurden, anderntkeils aber zeigte, dass Ganglienzellen eine f\u00fcr Organe von bestimmten Functionen charakteristische Verbreitung nicht besitzen. So findet man, um nur einige Beispiele anzuf\u00fchren, in den Herzzweigen des Vagus ganz dieselben Ganglienzellenbildungen, wie in dessen intracardialer Verbreitung; die Glossopharyngeus\u00e4ste, sowie verschiedene Zweige des Trigeminus sind reich an Nervenzellen u. s. w.\nDie VOLKMANN\u2019sche Lehre st\u00fctzte sich insbesondere darauf, dass\n1 Sigmund Mayer, Die peripherische Nervenzelle und das sympathische Nervensystem. Berlin 1876. (Sep.-Abdr. a. d. Arch. f. Psychiatrie u. Nervenkrankh. YI.)","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Sympathicus.\n283\nrhythmische und coordinirte Bewegungen, wie sie insbesondere an dem vom cerebrospinalen Nervensysteme isolirten Herzen Vorkommen, nur denkbar seien unter Intervention sog. centraler Nerven-substanz, gerade so, wie die Athembewegungen, Schlingbewegungen u. a. m., nur unter Mitwirkung der grossen nerv\u00f6sen Centren vor sich gehen k\u00f6nnten.\nDieser Analogieschluss d\u00fcrfte einigen Anspruch auf Berechtigung erheben, wenn es sich heraussteilen w\u00fcrde, dass die peripherischen Nervenzellenmassen eine Beihe von specifischen Eigenschaften, sowohl im Baue als auch in den Verrichtungen, mit der centralen Nervensubstanz des Gehirns und R\u00fcckenmarks gemeinschaftlich haben, was thats\u00e4chlich nicht der Fall ist. Die Analogieen im Bau der peripherischen und centralen Zelle sind nur sehr oberfl\u00e4chliche.\nZiehen wir das physiologische Verhalten beider Arten von Nervenzellen in Betracht, so ergeben sich kaum Anhaltspunkte, beide nahe nebeneinander zu stellen. Erfahrungsgem\u00e4ss ist die centrale Nervensubstanz \u00e4usserst empfindlich gegen die Vorenthaltung der normalen Blutzufuhr, dieselbe beantwortet eingreifende St\u00f6rungen der Circulation und Respiration mit alsbaldiger Einstellung ihrer Functionen, und stirbt daher unter allen Organen zuerst; sie reagirt gegen Impulse, die ihr auf dem Wege peripherer Nerven zugef\u00fchrt werden, wenn dieselben durch den constanten Strom erregt werden, mit grosser Leichtigkeit. In allen diesen wesentlichen Punkten verh\u00e4lt sich die peripherische Nervenzelle durchaus verschieden, was hier n\u00e4her auszuf\u00fchren kaum n\u00f6thig sein d\u00fcrfte, da dieser Satz sich aus allgemein bekannten Thatsachen unmittelbar ergiebt.\nEndlich soll noch bemerkt werden, wie wenig Wahrscheinlichkeit es f\u00fcr sich hat, dass die in den Organen vorfindlichen Ganglienzellenanh\u00e4ufungen, die sich der Angreifbarkeit durch das Experiment entziehen, mit Functionen betraut sein sollen, welche sich an den grossen Ganglien nicht nachweisen lassen, trotzdem hier f\u00fcr die Anwendung sicherer Methoden der Experimentalphysiologie ein besserer Angriffspunkt gegeben ist.\nDie Anh\u00e4nger der Ganglienzellenhypothese mit allen ihren Con Sequenzen m\u00fcssen jedenfalls zugeben, dass, falls dieselbe richtig w\u00e4re, die peripherische Nervenzellensubstanz mit Eigenschaften ausger\u00fcstet gedacht werden muss, welche dieselbe von der centralen Nervenzelle zum mindesten ebenso sehr, wenn nicht eingreifender unterscheiden, als von den peripherischen Nerven und der Muskelsubstanz.\nWir k\u00f6nnen hier, ohne eingehende Ber\u00fccksichtigung vieler nicht an dieser Stelle zu besprechender Thatsachen, auf eine weitere Kritik","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284 Sigmund Mayer, Spec. Nerpenphysiologie. 4. Cap. Das sympath. Nervensystem.\nder Ganglienzellenhypothese nicht eingehen, zumal wir bei der Lehre von der glatten Muskelfaser nochmals Gelegenheit finden werden, auf diesen Gegenstand zur\u00fcckzukommen.\nIn Beantwortung der oben aufgestellten Frage nach der functioneilen Bedeutung der sympathischen Nervenzellen stehen wir auf Grund der vorstehenden Er\u00f6rterungen nicht an zu behaupten, dass zwingende Gr\u00fcnde, denselben centrale Functionen zuzuschreiben nicht vorliegen. Die grosse Beliebtheit der Ganglienzellenhypothese bei Physiologen und Pathologen steht nicht im Verh\u00e4ltnisse zur Sicherheit und Exactheit ihrer thats\u00e4chlichen Grundlagen.\nWir hielten es geboten, gegen\u00fcber dem Umstande, dass die genannte Hypothese in diesem Werke gewiss vielfach zur Erkl\u00e4rung herbeigezogen werden d\u00fcrfte, auch die entgegengesetzte Meinung zu vertreten, und so dazu aufzufordern, eine Sache, die man f\u00fcr vollst\u00e4ndig gekl\u00e4rt und gesichert zu halten geneigt ist, neuerdings einer eingehenden und vorurteilslosen Pr\u00fcfung zu unterziehen.\nWenn wir den Ganglienzellenanh\u00e4ufungen des Sympathicus, sowohl denen der gr\u00f6sseren Knoten, als auch den in den Organen zertreuten, nur mit H\u00fclfe des Mikroskopes nachweisbaren, die Bedeutung von Apparaten mit den Functionen nerv\u00f6ser Centralorgane absprechen zu m\u00fcssen geglaubt haben, so ergiebt sich hieraus sofort, dass wir das ganze System nur als nerv\u00f6ses Leitungsorgan anzusehen verm\u00f6gen. Denn es w\u00fcrde kaum tats\u00e4chlich begr\u00fcndet werden k\u00f6nnen, den sympathischen Fasern mehr zuzumuthen, als den cerebrospinalen.\nMan hat fr\u00fcher den Versuch gemacht, das Wesen des Sympathicus darin zu sehen, dass er nur nerv\u00f6se Impulse von bestimmter Natur fortzuleiten verm\u00f6ge, z. B. nur vasotomorische, (Stilling) oder trophische u. s. w. Diese Charakteristik ist jedoch nur insofern treffend, als dem Sympathicus allerdings die F\u00e4higkeit abzugehen scheint, willkiihrliche motorische Impulse zu leiten; da aber auch unbezweifelbare Bestandtheile des cerebrospinalen Systems Impulse leiten, \u00fcber welche die Willk\u00fchr nur sehr beschr\u00e4nkte Herrschaft besitzt, wie z. B. die Athemnerven, so sind auch r\u00fccksichtlich dieses Punktes scharfe Grenzen nicht zu ziehen. Im Uebrigen ergiebt sich aus Thatsachen, die in den betreffenden Capiteln dieses Handbuches zur Sprache kommen werden, dass im sympathischen Systeme Fasergattungen der verschiedensten physiologischen Dignit\u00e4t vorhanden sind. Centripetal in ihm fortgeleitete Erregungen geben Anlass zu Empfindungen und Reflexvorg\u00e4ngen verschiedener Art, centri-","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Sympathicus.\t285\nfugale vermitteln Bewegungen (wohl auch Hemmungen) und regen Secretionen an.\nNachdem wir uns bem\u00fcht haben, den Nachweis zu liefern, dass den Knoten des sympathischen Syst\u00e8mes eine specifische Function und den faserigen Elementen desselben specifische Charaktere in ihren Verrichtungen der Fortleitung nerv\u00f6ser Impulse, so weit unsere Kenntnisse bis jetzt reichen, nicht zugeschrieben werden k\u00f6nnen, erhebt sich schliesslich die Frage, in welchem Verh\u00e4ltnisse der Sympathicus zum cerebrospinalen Systeme stehe und worin seine specifische Bedeutung liege. Wir m\u00fcssen offen gestehen, dass zur Zeit eine vollst\u00e4ndig befriedigende Antwort auf diese Frage nicht zu geben ist. Wenn wir gleichwohl hier einige Bemerkungen \u00fcber diesen Gegenstand anfiigen, so geschieht dies in vollst\u00e4ndiger Erkenntnis ihrer Unvollst\u00e4ndigkeit und nur in der Absicht, durch die Entwickelung einiger neuer Gesichtspunkte zu weiteren Untersuchungen auf diesem Gebiete anzuregen.\nWas zun\u00e4chst die Bedeutung der grossen Knoten und der in den Organen vorkommenden Anh\u00e4ufungen von nerv\u00f6sen Zellen betrifft, so ist hier\u00fcber eine gen\u00fcgende Auskunft am wenigsten zu geben. Dieselben f\u00fcr bedeutungslos f\u00fcr den Organismus zu halten, nat\u00fcrlich abgesehen von den sie durchziehenden zahlreichen Fasern, d\u00fcrfte eine k\u00fchne Annahme sein, obwohl sie von vornherein nicht als absolut verwerflich erscheinen kann, da wir im Organismus mancherlei Bildungen kennen, die als Reste f\u00f6taler Organisationen, im herangewachsenen K\u00f6rper unwesentlich sind.\nZahlreiche Beobachtungen \u00fcber den Bau der Ganglien haben in mir in der That die Vermuthung erweckt, dass die Nervenknoten wesentlich Ueberbleibsel darstellen aus der Bildungssubstanz f\u00fcr die peripherischen Nervenfasern; ebenso erschien es mir, dass auch noch w\u00e4hrend des Lebens des erwachsenen Thieres im peripherischen Nervensysteme fortw\u00e4hrend Processe der R\u00fcckbildung und Neubildung vor sich gehen und dass hierbei die peripherische Nervenzelle eine bedeutungsvolle Rolle spielt. Letztere Ansicht glaube ich besonders noch dadurch st\u00fctzen zu k\u00f6nnen, dass die Nervenzellen Gebilde von ausserordentlich wechselnder Gr\u00f6sse, verschiedenem Gehalte an Pigment und Fett und endlich von sehr wechselnder Anzahl sind.\nNervenzellen scheinen sich meines Erachtens da vorzufinden, an denen die von den Centralorganen stammenden Fasern durch Theilungen zu einer starken Vermehrung der peripherischen Nerven-substanz Anlass geben oder wo die von mir nachgewiesenen Dege-","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 4. Cap. Das sympath. Nervensystem.\niterations- und Regenerations-Vorg\u00e4nge in der peripherischen Nerven-suhstanz besonders hervortreten.1 Endlich will ich noch darauf hin-weisen, dass es mir gelungen ist,2 ausgehend von den oben dargelegten Betrachtungen, an peripherischen Nerven experimentell ganglienzellenartige K\u00f6rper zur Entwickelung zu bringen. Excidirt man nemlich aus einem Nerven ein St\u00fcck und untersucht nach einiger Zeit den centralen Stumpf, so findet man dort K\u00f6rper, die sehr an Nervenzellen erinnern. Ranvier hat3 meine Befunde neuerdings best\u00e4tigt; nur ist er nicht geneigt, meine Deutung der genannten Gebilde als peripherische Nervenzellen, zu adoptiren, da er den Kern vermisste. Abgesehen davon, dass ich einen Kern zuweilen sehr deutlich wahrnahm, muss ich hervorheben, dass man, bei sorgf\u00e4ltigen Untersuchungen im Bereiche des peripherischen Gangliensystems auf Bildungen st\u00f6sst, die ebenfalls des Kernes zu entbehren scheinen oder sich in anderen Punkten von dem typischen Bilde der peripherischen Nervenzelle unterscheiden.\nIndem wir diese Hypothesen mit allem Vorbehalte hier mittheilen, lassen wir es vor der Hand ganz dahingestellt, inwieweit die so massige peripherische Gangliensubstanz etwa in die vegetativen Processe des Nervensystems eingreifen mag.\nWas nun die Bedeutung der faserigen Bestandteile des sympathischen Systems betrifft, an dem wir mit Henle Grenzstrang, Wurzeln und peripherische Aeste unterscheiden, so k\u00f6nnen wir, glaube ich, auch heute noch ganz die Meinungen theilen, die schon vor langer Zeit von vielen Anatomen und Physiologen aufgestellt wurden. Diese Ansicht geht dahin, dass im Sympathicus eine ausserordentlich stark ausgebildete Plexusbildung vorliege. Von verschiedenen Stellen des Cerebrospinalorganes ausgehende Nervenfasern gehen unter Bildung von Knoten und Vermehrung durch vielfache Theilung einen ausgedehnten Austausch ihrer elementaren Bestandteile ein, wodurch es erm\u00f6glicht wird, die physiologisch wichtige Wechselwirkung zwischen bestimmten Stellen der grossen nerv\u00f6sen Centren und bestimmten peripherischen irritablen Apparaten\n1\tSigmund Mayer, Sitzungsber. d. Wiener Acad. LXXVIII. 3. Abth. 1878 und Prager med. Wochenschr. 1878. Nr. 29. Unausgesetzt fortgef\u00fchrte Untersuchungen \u00fcber diesen Gegenstand haben mir unterdess neue und wichtige St\u00fctzen f\u00fcr meine oben kurz ber\u00fchrten Ansichten geliefert. Da nach dem f\u00fcr die Herausgabe dieses Handbuches festgesetzten Plane dasselbe nicht zur Publication anderweitig noch nicht ver\u00f6ffentlichter Forschungen benutzt werden soll, so erlaube ich mir hier nur einen Hinweis auf meine hoffentlich bald zur Ver\u00f6ffentlichung gelangenden neuen Untersuchungen.\n2\tSigmund Mayer, Die peripherische Nervenzelle etc. S. 59 ff.\n3\tRanvier, Le\u00e7ons sur Fhistol. du syst\u00e8me nerveux. 2 Bde. n. p. 78. Paris 1878.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Sympathicus.\n287\nauf verschiedenen Heerstrassen zu vermitteln. Was die Plexusbildung im Bereiche des cerebrospinalen Syst\u00e8mes leistet, das ist ihr in ungleich ausgebildeterem Maasse innerhalb des Sympathicus \u00fcbertragen. So stellt sich uns also im Sympathicus nichts anderes dar, als eine vom Cerebrospinalsysteme abgezweigte Bahn, in die sich Innervationsbahnen von allen Punkten der grossen nerv\u00f6sen Centren zu allseitiger peripherischer Ausbreitung ergiessen, w\u00e4hrend die cerebrospinalen Nerven im engeren Sinne gleich nach ihrem Austritte aus dem Centralorgane zu einer mehr oder weniger eng begrenzten peripherischen Ausstrahlung zusammengefasst werden.\nDie im sympathischen Systeme realisirte Verbreitung der Nervenfasern erscheint insofern als \u00e4usserst zweckm\u00e4ssig, als der normale Bestand der zur Functionirung der Organe wichtigen Nerveneinfl\u00fcsse um so gesicherter erscheinen muss, je zahlreicher die Stellen des nerv\u00f6sen Centrums sind, von denen die Impulse ausgehen und die Bahnen, in denen sie fortgeleitet werden.\nEs ist zur Zeit nicht m\u00f6glich, die Gesetze n\u00e4her zu pr\u00e4cisiren, nach denen im Sympathicus die Vertheilung der Fasern vor sich geht; hierin aber liegt, so weit ich sehe, das wesentliche R\u00e4thsel. Das von Valentin aufgestellte Gesetz (lex progressus), dass h\u00f6her entspringende Nervenfaserb\u00fcndel sich zeitweise an tiefer entspringende zu weiterem Verlaufe anschliessen und erst dann, nachdem sie mehrere Ganglien des sympathischen Syst\u00e8mes durchsetzt haben, wieder austreten, um tiefer gelegene Eingeweide (besonders mit bewegenden Fasern) zu versorgen, hat sich nicht durchgreifend bew\u00e4hrt. Vorderhand kann auf die Frage, warum z. B. Fasern f\u00fcr die Iris vom obersten Brustmark ausstrahlen und erst im Grenzstrange dem Auge zustreben, oder warum die secretorischen Fasern f\u00fcr die Schweiss-absonderung der Hinterpfoten vorerst im Bauchsympathicus verlaufen u. a. m. eine befriedigende Antwort nicht gegeben werden. Soviel aber scheint mir sicher, dass diese Fragen weniger von der experimentellen Physiologie, als ganz besonders von der Entwicklungsgeschichte und der vergleichenden Neurologie ihrer L\u00f6sung werden zugef\u00fchrt werden.\nHistorisches. Auf die \u00e4lteren nur auf mehr oder minder berechtigten Speculationen \u00fcber die Bedeutung des Sympathicus beruhenden Meinungen von Willis (1664), Vieussens (1684), Lancisi brauchen wir hier nicht n\u00e4her einzugehen.1 Die Ansicht, dass die Knoten als kleine Gehirne anzusehen seien, wurde zuerst von Winslow (1732) aufgestellt,\n1 Eine Darstellung derselben findet sich in dem Werke von Lobstein, De nervi sympathetic! humani fabrica, usu et morbis. Paris 1823. Der Name \u201esympathetischer Nerv\u201c wurde zuerst von Winslow gebraucht.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288 Sigmund Mayer, Spec. Nervenphysiologie. 4. Cap. Das sympath. Nervensystem.\nalsdann von Johnston (17 71) und Bichat (1801) weiter ausgef\u00fchrt. Johnston insbesondere setzte die Function der Nervenknoten, die er als die Quellen oder unmittelbaren Urspr\u00fcnge derjenigen Nerven ansah, die zu den Organen mit unwillk\u00fcrlicher Bewegung sich begeben, in ihre F\u00e4higkeit, die Wirkung des Willens auf die genannten Bewegungen zu verhindern. Johnston sagt: \u201eDie Knoten schr\u00e4nken die Macht der Seele in der thie-rischen Oeconomie ein und setzen es ausser unserer Gewalt, durch ein blosses Wollen die Bewegungen unseres Herzens zu hemmen und in einem Anfall von \u00fcbler Laune unser Leben unwiderbringlich zu enden. \u201c Einer \u00e4hnlichen Meinung huldigte auch Reil (1807), indem er Empfindungen, die von Theilen herkommen, welche vom Sympathicus versorgt werden, in den Knoten und Nerven des Sympathicus einen Widerstand f\u00fcr ihre Fortpflanzung finden liess. Ausgehend von den zu seiner Zeit herrschenden elektrischen Theorien fasste er den sympathischen Grenzstrang als Halbleiter auf, der das vegetative von dem animalischen Systeme trenne.\nBichat\u2019s Lehre von der Trennung des Nervensystems in einen animalischen und einen vegetativen oder organischen Theil wurde der Grundstein der heute noch allgemein g\u00fcltigen Anschauungen. Bichat betrachtete die Ganglien als selbst\u00e4ndige Gebilde, mit der Function betraut die Vorg\u00e4nge der unwillk\u00fchrlichen Bewegungen, der Absonderung und Ern\u00e4hrung einzuleiten.\nNachdem Joh. M\u00fcller die anatomische Charakteristik der Bestandteile des animalischen und vegetativen Nervensystems und ihre gegenseitigen Beziehungen zu einander er\u00f6rtert, griff die mikroskopische Anatomie m\u00e4chtig in die Weiterentwicklung dieser Lehre ein, indem Remak (1838), Bidder und Volkmann (1842) in verschiedenen Gebilden die spe-cifischen dem organischen Nervensysteme charakteristischen faserigen Elemente glaubten entdeckt zu haben, Remak ausserdem die reiche Verbreitung von Nervenzellen, welche Ehrenberg (1836) beschrieben hatte, in vielen Organen aufdeckte und im Verein mit K\u00f6lliker den Nachweis zu liefern vermeinte, dass von den Zellen der Nervenknoten organische Fasern ihren Ursprung n\u00e4hmen.\nF\u00fcr die physiologische Selbst\u00e4ndigkeit und Unabh\u00e4ngigkeit des sympathischen Systems traten insbesondere Bidder, Volkmann.u. v. A. ein, w\u00e4hrend Valentin, Schiff diese Lehre bek\u00e4mpfen zu m\u00fcssen glaubten. Bedeutungsvoll f\u00fcr unseren Einblick in das Verh\u00e4ltnis zwischen Sympathicus und Cerebrospinalsystem waren die Ermittlungen Budge\u2019s (1851), welche den Nachweis lieferten, dass die im Halssympathicus zum Kopf verlaufenden Fasern, welche durch die Entdeckungen von Pourfour du Petit, Cl. Bernard und Brown-S\u00e9quard in hervorragender Weise die Aufmerksamkeit der Physiologen auf sich zogen, sich bis ins R\u00fcckenmark hinein verfolgen lassen. Seitdem ist es gelungen von anderen Bahnen des Sympathicus, deren Functionen genau untersucht werden konnten, nachzuweisen, dass sie sich bis ins R\u00fcckenmark und Gehirn hinein erstrecken und dort der Reizung oder L\u00e4hmung auf dem Wege des Experimentes zug\u00e4nglich sind.","page":288}],"identifier":"lit36690","issued":"1879","language":"de","pages":"197-288","startpages":"197","title":"Erster Theil: Specielle Nervenphysiologie","type":"Book Section","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:02:39.555631+00:00"}