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Zweiter Theil: Physiologie des Rückenmarks und Gehirns

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{"created":"2022-01-31T13:14:24.684039+00:00","id":"lit36691","links":{},"metadata":{"alternative":"Handbuch der Physiologie. Band 2: Handbuch der Physiologie des Nervensystems","contributors":[{"name":"Eckhard, C.","role":"author"},{"name":"Sigmund Exner","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"In: Handbuch der Physiologie. Band 2: Handbuch der Physiologie des Nervensystems, edited by Ludimar Hermann, 1-350. Leipzig: F. C. W. Vogel","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"PHYSIOLOGIE\nDES\nR\u00dcCKENMARKS UND GEHIRNS\nYON'\nProf. Dr. C. ECKHARD und Prof. Dr. SIGH. EINER\nin Giessen.\tin Wien.\nHandhnch der Physiologie. Bd. II a.\n1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n*\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n\n_\n","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"ERSTER THEIL.\nPHYSIOLOGIE DES R\u00dcCKENMARKS\nUND\nDES GEHIRNS MIT AUSSCHLUSS DER GROSSHIRNRINDE\nVON\nProf. Dr. C. ECKHARD in Giessen.\nEinleitung. Zur Histologie der Centralorgane.'\nDie Physiologie der Centralorgane steht in mehrfacher Beziehung in so enger Verbindung mit der Anatomie derselben, dass als Einleitung zu jener eine Uebersicht \u00fcber den gegenw\u00e4rtigen Stand der Histologie des R\u00fcckenmarks und Gehirns angezeigt ist. Man mache sich indess \u00fcber diesen Punkt keine \u00fcbertriebene Illusion. Physiologie und Histologie gehen vielfach ihre eigenen Wege und f\u00fchren zu Thatsachen, die unvermittelt neben einander stehen; ich werde nicht unterlassen, anzudeuten, wo ihre Angaben gegenseitig bedeutungsvoll werden.\nBindesubstanzen. Zu diesen z\u00e4hlen die der Pia entstammenden, aus faserigem Bindegewebe bestehenden, sich bis zu den Gef\u00e4ssen zertheilenden Septa einerseits und die sogenannte Rindensubstanz nebst deren Fortsetzungen in das Innere des Marks hinein, einschliesslich des centralen Ependymfadens, andrerseits. Jedoch ist zu bemerken, dass f\u00fcr einzelne vorgelegte Fasern durch das Mikroskop allein nicht zu l\u00f6sende Zweifel entstehen k\u00f6nnen, ob sie nerv\u00f6ser oder bindegewebiger Natur seien, zumal da Theilungen von Nervenfasern im R\u00fcckenmark mehrfach gesehen worden sind und man sich solche so weit fortgesetzt denken kann, dass wegen der Kleinheit der Faser ihre charakteristische Structur nicht mehr erkannt werden kann. Nach Gerlach 2 lassen sich diese Zweifel durch Goldchloridkalium und eine eigenth\u00fcmliche Anwendung des Carmin-ammoniaks beseitigen. Beide Reagentien f\u00e4rben die Nervenfasern,\n1\tEs kann sich selbstverst\u00e4ndlich hier nicht um eine ersch\u00f6pfende Darstellung dieses Gegenstandes handeln, sondern nur um eine Erinnerung an diejenigen histologischen Wahrheiten, welche bereits mit physiologischen Fragen in Zusammenhang gebracht worden sind, oder einen solchen f\u00fcr die n\u00e4chste Zeit in Aussicht stellen. F\u00fcr weitergehende Zwecke m\u00fcssen die speciell histologischen Schriften zu Rathe gezogen werden.\n2\tJ. Gerlach, Von dem R\u00fcckenmark. Handbuch der Lehre von den Geweben des Menschen und der Thiere. Herausgeg. von S. Stricker. II. S. 678 ff. 1872.\n1*","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. Einleitung. Histologie der Centralorgane\nnicht aber die Bindegewebsfasern. Die auf der \u00e4usseren Fl\u00e4che des R\u00fcckenmarks bis zu 0,1 mm. Dicke vorkommende Rindenscbicbt setzt sich, die faserig-bindegewebigen Septa und auch die in die Fissuren eindringenden begleitend, bis zwischen die nerv\u00f6sen Elementartbeile des R\u00fcckenmarks fort und bildet f\u00fcr diese das n\u00e4chste, st\u00fctzende Ger\u00fcste. Diese, Neuroglia genannte, im frischen Zustande sehr weiche, durch Kochen fester werdende Substanz zeigt ein feines Reticulum, dessen Interstitien durch eine sehr feink\u00f6rnige Grundsubstanz, cytogene K\u00f6rpereben und verschiedene, selbst multipolare Bindege-websk\u00f6rperchen ausgef\u00fcllt sind. Obschon die Histologen jetzt im Allgemeinen \u00fcber diesen histologischen Bau der Neuroglia \u00fcbereinstimmen, so sprechen sie sich im Einzelnen \u00fcber den fasrigen Bestandteil derselben doch noch verschieden aus. Bald wird er dem fasrigen Bindegewebe, bald dem elastischen Gewebe zugez\u00e4blt, bald als ein Fasernetz sternf\u00f6rmiger Bindegewebszellen angesprochen. Der Antbeil, welchen die Bindesubstanzen an dem mittleren Tbeile der grauen Substanz nehmen und welcher fr\u00fcher durch Angaben von Bidder und seinen Sch\u00fclern \u00fcber- und durch Stilling untersch\u00e4tzt wurde, ist jetzt dahin festgesetzt worden, dass das Epithel des Centralkanals, eine feink\u00f6rnige Substanz, welche zwischen und dicht unter den Zellen desselben sich findet, sowie eine dann folgende Lage mehr fasriger Structur ihnen zugez\u00e4hlt werden. Erst die vor und hinter diesen Elementen, die man in ihrer Gesammtheit als centralen Ependymfaden, identisch mit Stilling\u2019s Substantia gelatinosa centralis, bezeichnet, querziehenden Fasern rechnen die meisten Histologen zu den Nervenfasern. Die von der Pia ausgehenden, aus Fasern und Endothelpl\u00e4ttchen bestehenden Septa geben \u00fcberall Scheiden zu den Blutgef\u00e4ssen ab, die Nervenelemente werden da von ihr nicht unmittelbar, sondern nur von der Neuroglia ber\u00fchrt. In der weissen Substanz des Gehirns ist an verschiedenen Stellen, wie im Balken, den \u00e4ussersten weissen Lagen des Gross- und Kleinhirns ein \u00e4hnliches Bindegewebe-Reticulum mit freien Kernen nachgewiesen worden. Dagegen sind die Ansichten getheilt \u00fcber die \u00e4usserst feink\u00f6rnige, mit Kernen versehene Substanz, welche man in den gr\u00f6sseren grauen Ganglienmassen und in der \u00e4ussersten Schicht der Oberfl\u00e4che des grossen und kleinen Gehirns findet. Einige Histologen halten sie f\u00fcr eine dem Protoplasma der Ganglienk\u00f6rper gleiche oder \u00e4hnliche Substanz, aus welcher die Forts\u00e4tze der vielstrahligen Ganglienzellen hervorgehen sollen, und bezeichnen sie daher wohl als eine zerflossene Gangliensubstanz, welcher sie insbesondere an der Oberfl\u00e4che des Gehirns den Namen der grauen Deckplatte gegeben haben.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Bindesubstanzen. Nervenzellen.\nD\nAndere z\u00e4hlen sie zu den Bindesubstanzen, m\u00fcssen jedoch dabei zugestehen, dass der Nachweis, dieselben treten in der Form eines weichen Reticulums auf, zum mindesten sehr schwer zu erbringen sei. Das Vorhandensein aber einer sehr feink\u00f6rnigen Zwischensubstanz \u00fcberhaupt in den grauen Theilen des R\u00fcckenmarks und Gehirns neben dem Bindegewebe-Reticulum wird man nicht l\u00e4ugnen k\u00f6nnen. Ob sie in der That so sparsam vorhanden ist, wie es an geh\u00e4rteten Pr\u00e4paraten den Anschein hat, bleibt vorerst dahin gestellt.\nNerv\u00f6se Elemente. Im R\u00fcckenmark kennt man bis jetzt als solche mit Sicherheit nur Nervenfasern und Ganglienzellen. Die ersteren kommen in der weissen und grauen Substanz, die letzteren in der grauen so ausschliesslich vor, dass sie in der weissen nur ganz vereinzelt und dann immerhin in der N\u00e4he der grauen angetroffen wer.den. Die Fasern sind von ausserordentlich verschiedener Gr\u00f6sse, lassen eine Primitivscheide mit der Sicherheit wie die peripherischen Nervenfasern nicht erkennen, weshalb man sie ihnen gew\u00f6hnlich abspricht, haben besondere Neigung, Varicosit\u00e4ten zu bilden und zeigen an manchen Orten, wie z. B. im hinteren grauen Horn, wiederholte Theilungen. Die Nervenzellen wechseln gleichfalls in ihrer Gr\u00f6sse ausserordentlich, die kleineren Formen kann man oft nicht mit Sicherheit von Bindegewebszellen unterscheiden. Sie alle stellen h\u00fcllenlose Protoplasmak\u00f6rper mit grossem, deutlichem Kern dar und besitzen eine verschiedene Anzahl von Forts\u00e4tzen. Deiters 1 entdeckte, dass an den gr\u00f6sseren Nervenzellen stets zwei Arten von Forts\u00e4tzen Vorkommen. Die eine Art, wie es scheint, an dem Ganglienk\u00f6rper nur einmal vertreten, geht in den Axencylinder einer Nervenfaser \u00fcber, die andere, mehrfach vorhandene, Protoplasmaforts\u00e4tze genannte Art, sahen Deiters und nach ihm Andere nicht mit Nervenfasern in deutlicher Verbindung, aber sie konnten sich doch nicht des Eindruckes erwehren, dass sie nerv\u00f6ser Art seien und wahrscheinlich zur Verbindung der Ganglienzellen unter einander dienen m\u00f6chten. Beobachtungen von Gerlach 2 scheinen diese Vermuthungen zu best\u00e4tigen. Unter geschickter Anwendung des Goldchloridkalis und des Carminammoniaks fand dieser Anatom, dass die Protoplasmaforts\u00e4tze eines jeden Ganglienk\u00f6rpers sich in ein un-gemein reiches Netz von feinen Nervenfasern aufl\u00f6sen, das seine Lage in der grauen Substanz hat. Die verschiedenen Ganglienk\u00f6rpern zugeh\u00f6rigen Netze sollen unter sich Zusammenh\u00e4ngen. Ob eine jede der zahllosen Ganglienzellen des R\u00fcckenmarkes einen Axencylinder\n1\tDeiters, Untersuchungen \u00fcber Gehirn und R\u00fcckenmark. 1865.\n2\t1. c. S. 679.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. Einleitung. Histologie der Centralorgane.\nund in ein Nervennetz ausgehende Protoplasmaforts\u00e4tze besitzt, bleibt noch zu untersuchen. Gehen wir nun etwas n\u00e4her auf die Anordnung der Nervenfasern und Ganglienzellen in den verschiedenen Theilen des R\u00fcckenmarks und ihren Zusammenhang mit den Nervenwurzeln als die Physiologie besonders interessirende Punkte ein. Obschon die Ganglienzellen in allen Theilen der grauen Substanz in verschiedener Form, Gr\u00f6sse und regelloser Anordnung Vorkommen, so sind doch einige constant wiederkehrende Verh\u00e4ltnisse aufgefunden worden. Beim Menschen und den verschiedenen Wirbelthieren weichen dieselben in manchen Punkten von einander ab; es lohnt sich jedoch zur Zeit noch nicht, auf diese Unterschiede einzugehen, da wir denselben mit dem Experimente noch nicht zu folgen verm\u00f6gen. In dem Hals- und Lendentheil sind grosse, multipolare Ganglienzellen in der Form zweier S\u00e4ulen angeordnet, welche im grauen Vorderhorn auf der inneren vordem und \u00e4usseren hintern Seite gelegen sind. Sie werden h\u00e4ufig als motorische Nervenzellen bezeichnet. An manchen Stellen ist die erstere in zwei zerlegt, so dass auf Querschnitten drei deutlich von einander getrennte Gruppen zu sehen sind. Im Brusttheile treten mehr vereinzelte Nervenk\u00f6rper an ihre Stelle. Dagegen findet sich hier am vorderen Ende des Hinterhorns, ein wenig r\u00fcckw\u00e4rts und nach aussen von der grauen Commissur, eine S\u00e4ule von etwas kleineren Zellen, als die eben genannten. Sie wird jetzt gew\u00f6hnlich als die CLARKE\u2019sche S\u00e4ule oder STiLLiNG\u2019scher Kern bezeichnet. Die Fasern der weissen Str\u00e4nge verlaufen zum Theil longitudinal, zum Theil horizontal oder schr\u00e4g, die der Commissuren meist quer, die der grauen Substanz theils horizontal, theils vertikal, theils so irregul\u00e4r, dass kaum noch von bestimmten Richtungen die Rede sein kann. Mit den jetzigen Mitteln sind s\u00e4mmtliche R\u00fcckenmarksfasern nur auf kurze Strecken zu verfolgen, ein Mangel, welchen die Physiologie besonders empfindlich f\u00fchlt. Doch ist immerhin von dem Bekanntgewordenen Manches f\u00fcr den Physiologen werthvoll. Dies sehliesst sich der Hauptsache nach an die mikroskopische Verfolgung der in das R\u00fcckenmark ein- und austretenden Nervenwurzeln. Die vorderen Wurzeln der Spinalnerven lassen sich b\u00fcndelweise in horizontalen, schr\u00e4gen und bogenf\u00f6rmigen Richtungen zwischen den vertikalen Fasern der weissen Vorderstr\u00e4nge gegen das vordere graue Horn verfolgen. Daselbst gehen sie pinself\u00f6rmig auseinander, und die klare Erkennung ihres weiteren Verlaufes ist von da an so ausserordentlich erschwert, dass man sehr auf seiner Hut sein muss, nicht auf Grund dunkler Faserz\u00fcge eine Beschreibung zu geben, die f\u00fcr Andere einfacher und bestimmter lautet, als sie sich bei der Nach-","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Nervenzellen und Nervenwurzeln.\n7\nUntersuchung findet, Die Mehrzahl der Forscher, welche sich l\u00e4ngere Zeit und intensiv mit diesem Gegenstand besch\u00e4ftigt haben, stimmen darin \u00fcberein, dass die vorderen Wurzeln jedenfalls in der gr\u00f6sseren Mehrzahl ihrer Fasern nach der grauen Substanz Vordringen und, nicht etwa ohne diese zu ber\u00fchren, die gerade aufsteigenden Fasern der vorderen weissen Str\u00e4nge darstellen. Ueber den weiteren Verlauf der motorischen Wurzelf\u00e4den lauten die Angaben nur in Bezug auf einige wenige Punkte \u00fcbereinstimmend. Im Allgemeinen sagen fast alle Angaben aus, dass sich die gegen die grauen Vorderh\u00f6rner richtenden B\u00fcndel der vorderen Wurzeln nach drei Zugrichtungen hin verfolgen lassen. Die eine geht durch die graue Substanz des Vorderhornes nach der vorderen weissen Commissur und von da in die weissen Vorderstr\u00e4nge der anderen Seite, die zweite f\u00fchrt durch dieselbe graue Substanz und von dort nach den weissen Seitenstr\u00e4ngen derselben Seite, eine dritte begibt sich direct nach hinten so tief in die graue Substanz hinein, dass \u00fcber ihr weiteres Schicksal sich noch nicht mit Bestimmtheit hat entscheiden lassen. Fasern dieses letzten Zuges l\u00e4sst Stilling in directe Communication mit solchen der hinteren Wurzeln treten. F\u00fcr die Lehre von den Reflexbewegungen m\u00f6chte diese Angabe erw\u00fcnscht sein; da aber dieselbe bis jetzt von keinem zweiten Histologen mit gleicher Bestimmtheit wiederholt worden ist, so darf sie vorerst nur als beachtenswerth, nicht aber als ausgemacht angesehen werden. An jenen beiden ersten Zugrichtungen scheint \u00fcbrigens noch Einiges aufzukl\u00e4ren zu sein, namentlich ihr Verhalten zu den Nervenzellen und den von Gerlach angegebenen Netzen, welche von den Protoplasmaforts\u00e4tzen derselben gebildet werden sollen. Man hat zwar mehrfach Nervenr\u00f6hren der vorderen Wurzeln mit Ganglienzellen im Zusammenhang gesehen, ob das aber mit allen und zwar ausnahmslos mit denen der Vorderh\u00f6rner der Seite, wo die Wurzeln eintreten, der Fall ist, muss noch in gr\u00f6sserer Ausdehnung sicher gestellt werden. Der Verlauf der von den hinteren Wurzeln abstammenden Nervenr\u00f6hren ist innerhalb des Marks viel schwieriger zu erforschen, in diese Versicherung stimmen alle Beobachter ein. Indem jene horizontal von aussen nach innen durch die weisse Substanz des R\u00fcckenmarks ziehen, trennen sie sich in zwei Z\u00fcge, von denen der eine lateral, der andere medial durch die L\u00e4ngsfasern der weissen Substanz streicht. Der erstere, in der Regel kleinere Zug zieht hierauf zum Theil b\u00fcndelweise durch die Substantia gelatinosa und geht in L\u00e4ngsb\u00fcndel \u00fcber, die, unter dem Namen der longitudinalen B\u00fcndel der Hinterh\u00f6rner bekannt, sich unmittelbar vor der Substantia gelatinosa finden und","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. Einleitung. Histologie der Centralorgane.\nderen weiterer Verlauf noch besser aufzuhellen ist, zum Theil dringt er vor der gelatin\u00f6sen Substanz in die graue ein und stellt theil-weise die Bahnen dar, von denen Stilling einen Zusammenhang mit den vorderen Wurzeln statuiren zu d\u00fcrfen glaubt. Der gr\u00f6ssere mediale Tract zieht in dem Theil des hinteren Stranges, welcher an die gelatin\u00f6se Substanz grenzt, bogenf\u00f6rmig auf- oder absteigend, worauf er mehr oder weniger jene Substanz selbst durchziehend in die graue Substanz der Hinterh\u00f6rner eindringt. Von den hinteren Wurzeln abstammende Fasern der grauen Substanz sieht man nach den Fasern der hinteren grauen Commissur gehen und die Vorstellung erwecken, als f\u00e4nde hier Kreuzung sensibler Fasern der beiderseitigen hinteren Wurzeln statt. Eine einzelne continuirlich von der hinteren Wurzel bis in die hintere graue Commissur ziehende Faser d\u00fcrfte aber wohl noch Niemand gesehen haben. Die Beziehungen der Nervenr\u00f6hren der hinteren Wurzeln zu den Gangliengebilden sind noch sehr unvollst\u00e4ndig aufgekl\u00e4rt. Man hat zwar, namentlich im Dorsaltheil des Marks, von dem medialen Faserzug der hinteren Wurzeln Bestandtheile in die CLARKE\u2019schen S\u00e4ulen eintreten und von diesen Faserz\u00fcge nach den Seitenstr\u00e4ngen ziehen sehen, aber befriedigend klar ist der Zusammenhang der Nervenfasern mit den Zellen nicht zu erkennen, obschon man beim Anblick hierauf bez\u00fcglicher Pr\u00e4parate gern bereit ist, einen solchen anzunehmen. Seit das GERLACH\u2019sche Nervennetz in die Darstellungen des Baues des R\u00fcckenmarks eingetreten ist, sind die Angaben \u00fcber den directen Zusammenhang von Nervenr\u00f6hren mit einem Axencylinder der Ganglienzelle mit besonderer Kritik aufzunehmen. Auch die \u00fcber die Verbindungsart der Ganglienzellen unter einander bed\u00fcrfen einer erneuten Untersuchung. Es werden zwar breite Verbindungsfasern zwischen zwei Ganglienzellen von einzelnen Forschern statuirt, h\u00e4ufig scheinen sie aber auf keinen Fall zu sein, da sonst die Angaben dar\u00fcber h\u00e4ufiger und positiver lauten m\u00fcssten.\nIm verl\u00e4ngerten Mark und Gehirn werden die anatomischen Verh\u00e4ltnisse ausserordentlich verwickelt und da zugleich hier eine F\u00fclle neuer Functionen von nicht geringer Complication auftritt, so ist die Verkn\u00fcpfung der einzelnen, keine grossen Strecken umfassenden anatomischen Bilder unter sich sehr erschwert. Vorsichtige Forscher, welche sich auf den rein histologischen Standpunkt stellen, sind daher in der Ausdeutung des Gesehenen auch in hohem Grade zaghaft und ertheilen einem grossen Theil ihrer Aussagen einen hypothetischen Charakter. Verkn\u00fcpft man mit den anatomischen Wahrnehmungen physiologische und pathologische Erfahrungen, dann kann","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Faserverlauf im Gehirn.\n9\nman gewissen Annahmen \u00fcber die Bedeutung anatomischer Bilder eine gr\u00f6ssere oder geringere Wahrscheinlichkeit verleihen und auf diese Weise ein leidliches Bild vom Bau des Gehirns entwerfen, welches trotz vielfacher Activer Elemente, die es noth wendiger Weise enthalten muss, keinen \u00fcblen Eindruck macht. Gegen solche Versuche ist, wenn man sich ihres wahren Werthes bewusst bleibt, Nichts einzuwenden; sie geben Veranlassung zur weiteren Pr\u00fcfung und Forschung. Um eine solche Uebersicht \u00fcber den Gehirnbau zu geben, muss aber die Bekanntschaft nicht allein derjenigen physiologischen Lehren vorausgesetzt werden, deren Darstellung f\u00fcr dieses Buch mir zugefallen ist, sondern auch derer, welche sich auf die Leistungen der Hirnrinde und der Sinnesorgane beziehen, und ist daher die Auseinandersetzung der bisherigen Versuche \u00fcber diesen Gegenstand an einer anderen Stelle vorzunehmen. Zur Zeit haben sich um die Betrachtung des Hirnbaues in der angedeuteten Beziehung Luys, Mey-nert, Huguenin und Gudden verdient gemacht. Wer ohne die Originale dieser Autoren bis in ihre Details durchzustudiren, von ihren Leistungen Kenntniss nehmen will, ist auf einen sehr n\u00fctzlichen Artikel von Paul Berger1 zu verweisen, wo er auch die hierhergeh\u00f6rige Literatur verzeichnet findet. Dies der Grund f\u00fcr die beschr\u00e4nkte Auswahl der wenigen folgenden S\u00e4tze : 1. In den verschiedenen Hirn-theilen tritt unverh\u00e4ltnissm\u00e4ssig mehr graue Substanz auf, als man sie im R\u00fcckenmarke trifft. Ausser den aus der descriptiven Anatomie her bekannten, mit unbewaffnetem Auge sichtbaren, m\u00f6chten an mikroskopischen Bildungen dieser Art die folgenden hervorzuheben sein. Im unteren Theile des verl\u00e4ngerten Marks in der H\u00f6he der Pyramidenkreuzung tritt im hinteren medialen Theile des Seitenstranges graue Substanz, unter dem Namen des Kernes dieses Stranges auf, welche von vielen Nervenfasern durchzogen wird. Der hinterste Theil des Hinterhorns nimmt daselbst eine st\u00e4rkere Entwicklung und mehr seitliche Stellung an. Im Funiculus gracilis und etwas weiter aufw\u00e4rts auch im Funiculus cuneatus tritt ebenwohl neue graue Substanz auf, welche als Kerne beider Str\u00e4nge beschrieben werden. Unmittelbar hinter der Oeffnung des Centralkanals in die Rautengrube sind diese grauen Nester gleichfalls noch zu sehen, aber die fr\u00fchere, gr\u00f6ssere zusammenh\u00e4ngende Masse der grauen Substanz ist jetzt nur noch in n\u00e4chster N\u00e4he um den Centralkanal zu beobachten,\nl Paul Berger, Distribution et parcours des diff\u00e9rents ordres de fibres qui entrent dans la composition de l\u2019axe c\u00e9r\u00e9bro-spinal, d\u2019apr\u00e8s quelques travaux modernes. Archives de physiologie etc. publi\u00e9es par M. M. Brown-S\u00e9quard, Charcot, Vulpian. 2. s\u00e9rie. I. p. 383. 1874.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. Einleitung. Histologie der Centralorgane.\nwo sie auf jeder Seite vor und seitlich nach hinten zwei H\u00e4ufchen von Ganglienzellen zeigt, die resp. als Hypoglossus- und Accessorius-kern Stilling\u2019s bekannt sind. Neben den Oliven finden sich nach vom und aussen die Olivennebenkerne und es treten in den Pyramiden noch die sogenannten Pyramidenkerne, gew\u00f6hnlich drei an der Zahl, auf. In der Gegend der Rautengrube findet sich graue Masse auf ihrem Boden. Diese ist besonders bedeutungsvoll durch ihren Zusammenhang mit den meisten Hirnnerven geworden. Die Kerne der Seitenstr\u00e4nge zerfallen nach oben in mehre Abtheilungen. In der H\u00f6he des macroscopischen Ursprungs des Facialis und Acusticus findet sich die bei Thieren st\u00e4rkere, beim Menschen schw\u00e4chere obere Olive. Zwischen den Faserlagen der Br\u00fccke sind Ganglienk\u00f6rper in unregelm\u00e4ssiger Weise eingestreut. Im Cerebellum begegnen wir der grauen Substanz ausser an der Oberfl\u00e4che im Dache des vierten Ventrikels, Dachkern, ferner im Innern auf der centralen Bahn der Processus cerebelli ad corpora quadrigemina, Pfropf, dann unterhalb dieses, von demselben durch weisse Fasermasse gesondert, Kugel-kern, und im Innern des weissen Marks als Corpus dentatum.1 Die graue Lage an der Oberfl\u00e4che besteht aus der tieferen rostfarbenen und der \u00e4usseren eigentlich grauen Schicht. Die erstere besteht aus Nervenfasern und K\u00f6rnern. Die letzteren sehen einige Histologen, z. B. K\u00f6lliker, als unter einander zusammenh\u00e4ngend und als zu dem das Reticulum des Cerebellum darstellenden Theil der Bindesubstanz an, andere, z. B. Gerlach, z\u00e4hlen sie zu den Nervenelementen und lassen damit die aus dem weissen Mark kommenden und gegen die eigentliche graue Lage ziehenden Nervenfasern in Verbindung treten. Die oberfl\u00e4chliche Schicht besteht in ihrer tiefen Lage aus Nervenfasern und grossen multipolaren Zellen, in ihrer \u00e4ussersten aus kernhaltiger Bindesubstanz, kleifien Nervenzellen und Ausl\u00e4ufern der grossen Nervenzellen. Von den grossen multipolaren Nervenzellen der tiefem Schicht ist stets ein ungeteilter, d\u00fcnner Fortsatz nach der rostfarbenen Schicht, die geteilten Forts\u00e4tze dagegen nach aussen gerichtet. 2. Die Erfahrungen \u00fcber den Zusammenhang der Nervenfasern mit Ganglienzellen \u00fcbertreffen mit Sicherheit wohl nicht die in Bezug auf das R\u00fcckenmark gekannten Erfahrungen. Es ist wahr, dass man bei s\u00e4mmtlichen Hirnnerven die intracerebralen St\u00fccke die Fasermassen oft sehr deutlich durchbrechen und den unter dem Namen der STiLLiNG\u2019schen Nervenkerne bekannten Ganglienzellen zueilen sieht, was die Vermutung bekr\u00e4ftigt,\n1 Stilling, Neue Untersuchungen \u00fcber den Bau des kleinen Gehirns. Cassel 1878. S. 181 ff.","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Graue Substanz des Kleinhirns.\n11\ndass alle peripherischen Nervenfasern unweit ihres Eintritts in Gehirn und R\u00fcckenmark mit Ganglienzellen in Verbindung treten; aber die wirklich gut gesehenen Zusammenh\u00e4nge von Axencylindern der multipolaren Ganglienzellen mit peripherischen Nervenfasern sind kaum zahlreicher als beim R\u00fcckenmark zu nennen. Was die anderweitigen Zusammenh\u00e4nge der Ausl\u00e4ufer der Zellen der Nervenkerne unter sich und mit anderen Hirntheilen anlangt, so reicht auch hier die jetzige Einsicht nicht weiter. Jene Nervenkerne Urspr\u00fcnge der von ihnen ausgehenden Nerven zu nennen, ist ein Ausdruck, den man ohne weitere Verst\u00e4ndigung sparsamer als bisher anwenden sollte, da deren physiologische Bedeutung keineswegs klar ist. F\u00fcr die meisten steht fest, dass gewisse, in den bez\u00fcglichen Hirnnerven verlaufende Innervationsvorg\u00e4nge anderswo, als in jenen Kernen entstehen und^ es kann ebenso gut sein, dass die Ganglienk\u00f6rper darin dazu bestimmt sind, nur geeignete Punkte darzustellen, um von verschiedenen Richtungen her Innervationen zu empfangen, als dass man annimmt, es entst\u00fcnden in ihnen gewisse Innervationen prim\u00e4r. F\u00fcr manche Zellenhaufen mag der erw\u00e4hnte Ausdruck dereinst sich gerechtfertigt erweisen, gegenw\u00e4rtig aber kann man ihn noch nicht gen\u00fcgend begr\u00fcnden. Die Beschreibung der topographischen Lage jener Nervenkerne, insofern sich hieran physiologische Erfahrungen kn\u00fcpfen, f\u00e4llt der speciellen Physiologie der Gehirnnerven anheim. 3. Ueber die Faserungsverh\u00e4ltnisse als Grundlagen f\u00fcr die Topographie der Innervationswege gibt zwar die mikroskopische Untersuchung auf grosse Strecken keinen sichern Aufschluss. Man muss aber auf der andern Seite jede hierauf bez\u00fcgliche Wahrnehmung, sei sie auch so klein, d\u00fcrftig und vereinzelt, beachten und suchen, sie in Verbindung mit physiologischen Erfahrungen zu bringen. Bei der k\u00e4rglichen Auswahl, die ich in den folgenden S\u00e4tzen getroffen, wolle man bedenken, dass ich alles Phantastische und auf unbedeutende Erfahrungen hin Gemuthmasste ausgeschlossen habe. Man wolle indess daraus nicht schliessen, dass ich mit Geringsch\u00e4tzung auf die histologischen Arbeiten Uber das Gehirn herabs\u00e4he. Ich weiss recht gut einerseits die Schwierigkeiten zu w\u00fcrdigen, welche sich hier der Erkenntnis entgegenstellen, und den Fleiss zu sch\u00e4tzen, welcher auf die bez\u00fcglichen Untersuchungen bereits verwendet worden ist, andrerseits auch die N\u00fcchternheit und Ruhe zu achten, mit welcher die bedeutendsten Forscher das Gesehene interpretiren. Ich verkenne auch den Werth der Winke nicht, welche in den bisherigen Resultaten der histologischen Forschung f\u00fcr die Experimentalphysiologie liegen. Hier aber sehe ich es als meine Aufgabe an, nur Dasjenige","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. Einleitung. Histologie der Centralorgane.\naus dem sicheren Erwerb der microscopischen Untersuchung herauszuheben, was sich mit gut beobachteten Thatsachen der Physiologie in einen verst\u00e4ndigen, naturgem\u00e4ssen und nicht erk\u00fcnstelten Zusammenhang bringen l\u00e4sst. Ein erster hierher geh\u00f6riger Punkt betrifft den Bau der Pyramiden und ihre Kreuzung. Die Pyramidenkreuzuug wurde zuerst von Mistichelli 1 beschrieben und von Petit 2 zum ersten Male zur Erl\u00e4uterung der Kreuzung der motorischen Innervationswege herangezogen. Nach den Untersuchungen von Stilling und Clarke, welche der Hauptsache nach durch sp\u00e4tere Forscher best\u00e4tigt worden sind, enthalten zwar die vorderen Pyramiden sich nicht kreuzende Bestandtheile der vorderen R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge, aber die gr\u00f6ssere Menge ihrer sich kreuzenden Fasern stammt von den weissen Seiten- und Hinterstr\u00e4ngen, sowie von der hinteren Abtheilung der grauen Substanz. Deiters hat sp\u00e4ter die sich kreuzenden Fasern s\u00e4mmtlich als solche aufgefasst, welche mit Ganglienzellen Zusammenh\u00e4ngen, namentlich denen, welche in der Medulla oblongata in der Form der Kerne der Seiten- und Hinterstr\u00e4nge auf-treten. Diese Meinung ist indess noch weiter zu pr\u00fcfen. Meynert1 2 3 unterscheidet eine untere motorische und obere sensitive Pyramidenkreuzung. In der ersteren sollen die sich kreuzenden Fasermassen von den Vorderstr\u00e4ngen, in der letzteren von den Hinterstr\u00e4ngen stammen. Wo jener die ausreichende Begr\u00fcndung dieser Unterscheidung gegeben hat, habe ich in dessen Schriften noch nicht aufgefunden. Daraus, dass man auf Querschnitten durch die Pyramidenkreuzung Faserz\u00fcge zu sehen bekommt, welche nach den Hinterstr\u00e4ngen ziehen, kann er wohl keinen Grund f\u00fcr die Aufstellung einer sensiblen Kreuzung entnommen haben. Wie, wenn es nun nach Deiters wahr w\u00e4re, dass jene Fasern zu den Ganglienzellen f\u00fchrten, die in dieser Gegend bereits im hintern Strang sichtbar werden, und dem vasomotorischen Systeme angeh\u00f6rten. Ein zweiter physiologisch noch wenig verwertheter Punkt bezieht sich auf die \u00fcbrigen Faserungsverh\u00e4ltnisse im verl\u00e4ngerten Mark. Dicht oberhalb der vollendeten Pyramidenkreuzung ist die geringe Menge longitudinaler Fasern bemerkenswerth ; sie beschr\u00e4nkt sich auf die vorderen Pyramiden, Reste der Seitenstr\u00e4nge und B\u00fcndel der Cuneati und Graciles. Dagegen sind sehr viele horizontal bogenf\u00f6rmig verlaufende Fasern sichtbar, die vorzugsweise von den verschiedenen grauen Kernen\n1\tDomenico Mistichelli, Trattato dell\u2019Apoplessia. cap. IY. p. 13. 1709.\n2\tLettres d\u2019un m\u00e9decin \u00e0 des h\u00f4pitaux du roi \u00e0 un autre m\u00e9decin de ses amis, p. 10. 11. Namur 1710.\n3\tMeynert, VomGehirn derS\u00e4ugethiere. STRicxER\u2019sHandb. etc. II. S. 804.1872.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Pyramidenkreuzung. Blutgef\u00e4sse.\n13\nkommen und sich zu der Rliaphe des verl\u00e4ngerten Marks begeben. Weiter nach oben nehmen die Pyramiden durch longitudinale Fasern an Dicke zu. Dieselben m\u00f6gen tbeils Fortsetzung der vorhergenannten horizontalen Fasern, tbeils von den Pyramidenkernen ausgehende sein. Von dem weiteren Verhalten der Fasern des verl\u00e4ngerten Marks in der Br\u00fccke, den Grosshirnstielen u. s. w. giebt das Microscop allein nicht sehr weit reichende Aufschl\u00fcsse. Nur die Thatsache mag noch erw\u00e4hnt werden, dass ein Theil der Fasern der Hirnstiele, wie es scheint, ohne die grossen Gehirnganglien zu ber\u00fchren, bis zu der Hirnrinde vordringt, w\u00e4hrend ein anderer in das Corpus striatum und den Sehh\u00fcgel eindringt und sich h\u00f6chst wahrscheinlich mit den Ganglienzellen derselben in Verbindung setzt. Gerade f\u00fcr die Erforschung des Faserlaufs in dieser Gegend hat sich die vorher erw\u00e4hnte Verkn\u00fcpfung physiologischer und microscopischer Erfahrung lehrreich elwiesen. Die Faserungsverh\u00e4ltnisse des kleinen Gehirns sind sehr ausf\u00fchrlich und genau von Stilling 1 untersucht. Die Physiologie aber hat zur Zeit noch zu sehr mit der Erforschung der physiologischen Grundbedeutung dieses Hirntheils zu thun, dass sie die Resultate der Arbeit Stilling\u2019s im Einzelnen bis jetzt noch nicht in Beziehung zu ihren Fragen gesetzt hat. Ein letzter f\u00fcr die Hirnphysiologie wichtiger Punkt bezieht sich auf die intracerebralen Kreuzungen der Hirnnerven. Da dies besser in der speciellen Physiologie der Nerven dargestellt wird, so beschr\u00e4nke ich mich darauf, nur anzumerken, dass die Kreuzungen der beiderseitigen analogen Hirnnerven meist vor ihrem Eintritt in die centralen Nervenzellen stattfinden und dass die bez\u00fcglichen Verh\u00e4ltnisse mehr oder minder klar beim Trochlearis, Trigeminus, Facialis, Glossopharyngeus, Hypoglossus und Accessorius beobachtet worden sind. Doch sind in neuerer Zeit \u00fcber den Ort der Kreuzung der Gehirnnerven Angaben bekannt geworden, welche die bisherige Vorstellung unsicher machen. Man vergleiche hier\u00fcber die im letzten Capitel abgehandelten Kreuzungen der Innervationswege im Gehirn.\nBez\u00fcglich der Blutgef\u00e4sse, deren macroscopisches Verhalten hier vorausgesetzt werden kann, mag nur bemerkt werden, dass die graue Substanz \u00fcberall viel mehr Blutgef\u00e4sse als die weisse f\u00fchrt. Die Besichtigung des ersten besten Querschnittes durch ein injicirtes R\u00fcckenmark oder ein Hirnganglion, insbesondere das Corpus striatum, l\u00e4sst dies sofort erkennen. Da, wo Zellengruppen liegen, wie an\n1 B. Stilling, Untersuchungen \u00fcber den Bau des kleinen Gehirns des Menschen. 1. u. 2. Heft. Cassel 1S65. S. 67 und: Neue Untersuchungen \u00fcber den Bau des kleinen Gehirns. Cassel 1878.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14 Eckhaed, R\u00fcckenmark und Gehirn. Einleitung. Histologie der Centralorgane.\nverschiedenen Stellen der grauen Substanz des R\u00fcckenmarks, sind die Maschen des Capillarnetzes besonders eng. Wenn auch in den weissen Str\u00e4ngen die Blutgef\u00e4sse weniger zahlreich sind, so finden sich doch Unterschiede in den verschiedenen Theilen; die Hinterstr\u00e4nge, insbesondere die Keilstr\u00e4nge, sind gef\u00e4ssreicher, als die weissen Vorderstr\u00e4nge. Da, wo die graue Masse Schichtung zeigt, wie am kleinen Gehirn, ist auch die Entwicklung des Capillarnetzes in den verschiedenen Schichten eine andere. F\u00fcr die S\u00e4ftebewegung in den Centraltheilen des Nervensystems scheinen die um die Blutgef\u00e4sse derselben herum vorkommenden, von His perivaseul\u00e4re R\u00e4ume genannten Hohlr\u00e4ume bedeutungsvoll zu werden. Die Aussagen verschiedener Histologen \u00fcber diesen Punkt lauten noch nicht ganz \u00fcbereinstimmend. Gem\u00e4ss der ersten von His gegebenen Beschreibung sollten die Gef\u00e4sse des Gehirns derart von R\u00e4umen umh\u00fcllt sein, dass diesen eine besondere, eigene, sie gegen die Hirnsubstanz hin abgrenzende Haut fehle. Es sollten ferner dieselben in einen grossen, zwischen Hirnoberfl\u00e4che und Pia befindlichen Raum, Epicerebralraum, m\u00fcnden, welcher in Zusammenhang mit den in der Pia verlaufenden Lymphgef\u00e4ssen stehe. Am R\u00fcckenmark sollten die Verh\u00e4ltnisse analog sein, nur mit dem Unterschiede, dass sich die Lymphgef\u00e4sse nicht von dem epimedull\u00e4ren Raume f\u00fcllen Hessen. Ueber das Vorkommen solcher R\u00e4ume um die Blutgef\u00e4sse der Central theile des Nervensystems \u00fcberhaupt ist kaum ein Zweifel ausgesprochen worden, wohl aber \u00fcber ihre genauere Lage und ihren weiteren Zusammenhang. Ohne die \u00fcber diesen Gegenstand gethanen Aeusserungen im Einzelnen zu verfolgen, was Diejenigen, welche das Bed\u00fcrfniss hiernach empfinden, an der Hand der nebenbei bezeich-neten Schrift1 leicht thun k\u00f6nnen, bemerke ich Folgendes: Ein grosser epicerebraler und epimedullarer Raum wird von mehren Seiten in Abrede gestellt. Ebenso l\u00e4sst man die perivascul\u00e4ren R\u00e4ume nicht unmittelbar an die Neuroglia der R\u00fcckenmarkssubstanz stossen, sondern gegen diese durch eine Haut abgegrenzt sein, die bald als structures, bald als aus endothelialen Zellen bestehend geschildert und bald einfach als Tunica adventitia der Gef\u00e4sse, bald als eine trichterf\u00f6rmige Fortsetzung der Pia betitelt wird. Key und Retzius, welche die letztere Meinung vertreten, geben an, diese R\u00e4ume durch Injection von den subarachnoidalen Spatien des Gehirns und R\u00fcckenmarks direct ohne Dazwischenkunft eines epicerebralen oder epime-dullaren Raumes bei schwachem Druck injicirt zu haben.\n1 A. Key und G. Retzius, Studien in der Anatomie des Nervensystems und des Bindegewebes. Erste H\u00e4lfte. S. 14S ff. Stockholm 1875.","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Allgemeine Physiologie der Ganglienzelle.\n15\nERSTES CAPITEL.\nAllgemeine Physiologie der Ganglienzelle.\nWenn man die Frage aufwirft, welche Formelemente des Gehirns und R\u00fcckenmarks sich bei deren Th\u00e4tigkeiten betheiligen und in welcher Weise, so k\u00f6nnen wir darauf nur eine sehr unbefriedigende Antwort geben. Wir wissen zwar bestimmt, dass die Nervenfasern irgendwo und irgendwie erregte Innervationsvorg\u00e4nge fortpflanzen, aber in welchen Theilen diese mit ihren verschiedenen Eigenth\u00fcm-lichkeiten entstehen und welche Vorstellung wir uns von der Art ihrer Entstehung machen m\u00fcssen, dar\u00fcber liegt zur Zeit noch viel Dunkel. Sei't der Entdeckung der Ganglienzellen sind wir gew\u00f6hnt, diesen alle diejenigen Th\u00e4tigkeiten zuzuschreiben, wrelche wir aus den uns bekannten Leistungen der Nervenr\u00f6hren nicht begreifen k\u00f6nnen. Diese Gewohnheit hat bereits eine solche Macht \u00fcber uns bekommen, dass wir kaum noch darnach fragen, wie fest der Grund unseres Verfahrens ist, und wir sind ausserordentlich froh, eine solche Zuflucht zu haben. Man kann im Vertrauen auf diese vielseitige Leistungsf\u00e4higkeit der Ganglienzellen die physiologischen Eigent\u00fcmlichkeiten, welche wir an Nerventheilen beobachten, in denen jene besonders zahlreich Vorkommen, diesen microscopischen Theilen zuschreiben und durch Zusammenstellung der bekannten Erfahrungen eine Art Lehre der Ganglienzelle entwerfen. Obschon dies nur in allgemeine Formen gekleidete Abstractionen von ganz speciellen Erfahrungen sind, deren Mittheilung sp\u00e4ter doch gegeben werden muss, so mag es immerhin von einigem Nutzen sein, einen derartigen Versuch zu machen. Er f\u00fchrt uns die verschiedenartigen der Ganglienzelle zuertheilten Leistungsf\u00e4higkeiten \u00fcbersichtlich vor Augen und giebt Gelegenheit zu mancherlei n\u00fctzlichen Bemerkungen.\nWir sehen uns zuerst nach den Gr\u00fcnden und dem Gewicht ihrer Beweisf\u00e4higkeit um, auf welche hin wir der Ganglienzelle die erw\u00e4hnte, wichtige Bedeutung beilegen. Die \u00fcberzeugendsten w\u00fcrden in der Darlegung von Erfahrungen bestehen, welche nachwiesen, entweder dass irgend eine Erscheinung mit der alleinigen Wegnahme einer Ganglienzelle, oder eines Nerventheils, der ohne Zweifel keine anderen Elemente als Nervenk\u00f6rper enth\u00e4lt, verschwindet, oder dass irgend eine Einwirkung auf eine Nervenbahn mit reinen, interponirten Ganglienzellen diesseits und jenseits derselben nach einer und der-","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16 Eckhaed, R\u00fcckenmark und Gehirn. l.Cap. Physiologie der Ganglienzelle.\nselben Richtung bin verschiedene Effecte hervorbringt. Eine methodisch ausgef\u00fchrte Untersuchung, die es sich zur Aufgabe gemacht h\u00e4tte, solche Erfahrungen aufzusuchen, zu sammeln und kritisch im Interesse .der Bedeutung der Ganglienzelle zu w\u00fcrdigen, existirt in der Nervenphysiologie nicht. Dagegen pflegt diese, jedoch mehr gelegentlich, auf folgende Wahrnehmung aufmerksam zu machen. Man weist auf die Bewegungen der wirbellosen Thiere hin, deren Nervensystem ausser den Nerven nur aus Ganglien bestehe. Ich kenne aber keinen, bisher wirklich ausgef\u00fchrten Versuch an einem solchen Ganglion, welcher den obigen Anforderungen entspr\u00e4che; ich gebe zu, dass die Wahrscheinlichkeit daf\u00fcr spricht, es werde ein Versuch sich so gestalten, wie wir uns ihn gew\u00f6hnlich vorstellen und auf das Papier schematisch hinzeichnen, aber ich w\u00fcnsche den Versuch zuvor ausgef\u00fchrt und das reine Bestehen der Ganglien aus Nervenk\u00f6rpern und Nervenfasern hergestellt zu sehen. Ich kenne zwar die neueren Versuche von Romanes, darin bestehend, dass gezeigt wird, wie das Ausschneiden des \u00e4ussersten Randes des Nectocalyx der Medusen in jenem die Bewegung bestehen l\u00e4sst, in dem ganzen Rest des Nectocalyx dagegen aufhebt und wie ein einziger Augenfleck mit einem St\u00fcckchen contraction Gewebes ausgeschnitten dem letzteren noch Bewegung einpr\u00e4gt. Es treten aber in diesen allerdings sch\u00f6nen und den bekannten Herzbewegungen sich anschliessenden Wahrnehmungen die Eigenschaften der Ganglien nicht befriedigend gegen\u00fcber denen der contraction Substanz wegen Mangels r\u00e4umlicher Sonderung hervor.1 In \u00e4hnlicher Weise berufen wir uns darauf, dass bei den Wirbelthieren gewisse Bewegungen, wie etwa die Athembewegung nach der Zerst\u00f6rung beschr\u00e4nkter Stellen ganglienreicher, grauer Nervensubstanz fortfallen, aber der skeptische Histologe wird nicht die Behauptung als erwiesen ansehen, dass in Gehirn und R\u00fcckenmark'die nerv\u00f6sen Elemente nur in der Form von Nervenfasern und Ganglienzellen Vorkommen. Ueber die fast \u00fcberall im Gehirn und R\u00fcckenmark auftretende feink\u00f6rnige, oder im frischen Zustand selbst dies nicht einmal, Substanz, die Zellen- und K\u00f6rnerformationen, welche man in den peripherischen Ganglien und in der N\u00e4he der Ganglienk\u00f6rper des Gehirns und R\u00fcckenmarks trifft und welche man heute, wenigstens zum Theil, hypothetisch als Entwickelungsstufen der sich ge-nerirenden Nervenelemente ansieht, ist schwerlich das letzte Wort gesprochen. Ausserdem sind wir, wie sp\u00e4ter gezeigt werden wird, zur Zeit noch nicht im Stande, die Abh\u00e4ngigkeit der erw\u00e4hnten und\n1 J. Romanes, Preliminary observations on the locomotor system of Medusae. Philosophical transactions of the Roy. Soc. of London. Vol. 166. p. 269.","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Allgemeine Physiologie der Ganglienzelle.\n17\n\u00e4hnlicher Bewegungen von wirklichen Ganglienhaufen nachzuweisen. Weiter wird auf die Reflexbewegungen aufmerksam gemacht; man behauptet, zur Erkl\u00e4rung ihrer Entstehung und ihrer mannigfaltigen Eigenschaften besonderer Elemente des Gehirns und R\u00fcckenmarks zu bed\u00fcrfen, welche, wie man sich ausdr\u00fcckt, die centripetal fortgepflanzte Erregung in eine centrifugal verlaufende umsetzen. Da zufolge der Beobachtung, dass man durch Reizung nur weniger cen-tripetalleitender Fasern Erregungen in sehr vielen motorischen hervor-rufen kann, man das Bed\u00fcrfnis empfand, eben so viele Communica-tionen zwischen beiden zu kennen, so empfahl es sich, die Ganglienzellen mit ihren vielen Ausl\u00e4ufern einzuschieben. Dadurch allein wurde ihnen indess zun\u00e4chst keine tiefere Bedeutung bei der Entstehung der Reflexbewegungen zuertheilt. Wegen der weiteren Beobachtung aber, dass oft geringf\u00fcgige Reize so m\u00e4chtige, mit der ein wirkenden Ursache nicht in Vergleich zu bringende Bewegungserscheinungen zur Folge haben, bedurfte man irgend eines Momentes, durch welches diese Erfahrung begreiflich wurde. Wie man sich dasselbe auch vorstellen mochte, die Annahme schien unerl\u00e4sslich, dass dasselbe nicht auf der scheinbar homogenen Nervenfaser liegen k\u00f6nne, und somit war die Ganglienzelle das geeignetste Mittel, das Bed\u00fcrfnis zu befriedigen. Ob aber dieser unter den gedachten Umst\u00e4nden gethane Griff der f\u00fcr die wissenschaftliche Einsicht richtige war, bleibt noch zu beweisen. Es ist eine Frage, ob sich mit der Entdeckung des Netzes, in welches die Protoplasmaforts\u00e4tze \u00fcbergehen sollen, unsere Kenntniss von dem Bau des R\u00fcckenmarks vollkommen nennen kann, und ob nicht zum Theil schon in diese Netze und in Das, was noch neu zu entdecken ist, die Einrichtungen zu verlegen sind, deren wir zu bed\u00fcrfen glauben. Selbst diejenigen Erfahrungen, welche sich auf einfachere peripherische Ganglien beziehen, haben zur Zeit wenig oder gar keine Beweiskraft. Hierher z\u00e4hlen die Behauptung Bernard\u2019s von der reflectorischen Bedeutung des Ganglion linguale und die Hemmung der Herzbewegung durch Vagusreizung. Die erstere, zwar von K\u00fchne unterst\u00fctzt, wird von mir und Heidenhain bestritten und kann also vorl\u00e4ufig nicht in Betracht kommen. Behufs der Erl\u00e4uterung der Wirkung des Vagus auf das Herz sind, wie das in der speciellen Physiologie des Lungenmagennerven darzustellen ist, in letzter Zeit mehre Thatsachen bekannt geworden, die es zum mindesten in Frage stellen, ob es hierbei nothwendig sei, die Herzganglien heranzuziehen. Damit tritt auch die ganze Summe der auf das sogenannte Hemmungsnervensystem bez\u00fcglichen Erfahrungen in den Zustand unzureichender Beweisf\u00e4higkeit bez\u00fcglich der\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t2","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nEckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 1. Cap. Ganglienzellen.\nBedeutung der Ganglien. Am \u00fcberzeugendsten scheint die Erfahrung zu sprechen, dass das Blutherz nach Wegnahme all seiner Ganglien nicht mehr spontan schl\u00e4gt. Man m\u00f6chte aber w\u00fcnschen, die Ganglien l\u00e4gen ausserhalb des Herzens, so dass man bei ihrer Entfernung den Herzmuskel nicht in so ausserordentlichem Maasse zu sch\u00e4digen brauchte. Ziehen wir neben diesen und \u00e4hnlichen Erfahrungen noch Folgendes in Betracht. Nachweislich giebt es Bewegungen im K\u00f6rper, wie z. B. die Flimmerbewegungen und die der Samenf\u00e4den, bei'denen wir kein uns bekanntes microscopisches Ner-venelement betheiligt sehen. Wir sehen das embryonale Herz zu einer Zeit schlagen und zwar so rhythmisch wie sp\u00e4ter, wo noch keine Ganglienzelle im gew\u00f6hnlichen Sinne in ihm zu entdecken ist. Engelmann 1 hat bei seinen Untersuchungen \u00fcber die Bewegung des Ureters die Ueberzeugung gewonnen, dass diese unabh\u00e4ngig von Ganglienzellen geschieht; er fand die spontane Erregung und Fortpflanzung von Contractionswellen an Ureterenstiicken, wo das Micro-scop schlechterdings keine Ganglienzellen entdecken konnte. Wir kennen ferner mehre macroscopische Ganglien, von denen, trotz darauf gerichteter, im Ganzen leicht ausf\u00fchrbarer und darum des Vertrauens w\u00fcrdiger Versuche, sich keine Einsicht in irgend welche Function bat ergeben wollen. So finden wir keinen Unterschied des Erfolgs der Durchschneidung und Reizung des N. splanchnicus vor und nach seinem Durchtritt der gr\u00f6sseren in der N\u00e4he der Nieren liegenden Ganglien. Es ist das Ganglion mesentericum inferius und sehr grosse St\u00fccke des Gl. mesent. superius ausgeschnitten worden, ohne dass man mit Sicherheit einen Erfolg beobachtet h\u00e4tte, welcher nicht auf die Verwundung selbst bezogen werden k\u00f6nnte. Der Unterschied, welcher sich in den Ern\u00e4hrungsst\u00f6rungen des Auges nach der Trigeminusdurchschneidung vor und nach seiner Verbindung mit dem Ganglion Gasseri einstellen sollte, hat sich nicht mit Sicherheit best\u00e4tigen lassen, wie denn \u00fcberhaupt die fr\u00fchere Lehre von dem Ursprung der Gef\u00e4ssnerven in den Ganglien hat verlassen werden m\u00fcssen. Diese letzteren Bemerkungen sind nicht darauf angelegt, den Ganglien ihre Bedeutung abzusprechen, sondern einsichtlich helfen zu machen, dass es ein Bedtirfniss der Physiologie ist, durch besondere Versuche mehr als es bisher geschehen, dem Werthe der Ganglienzellen nachzusp\u00fcren. Ich sage daher, da einerseits jede Kritik bestehende Versuche, bestimmte Functionen der Ganglienzelle darzulegen, fehlen, andrerseits viele Ganglien vorhanden sind, f\u00fcr welche jede\n1 Engelmarn, Zur Physiologie des Ureters. Arch. f. d. ges. Physiol. IL S. 243.1869.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Allgemeine Physiologie der Ganglienzelle.\n19\nPr\u00fcfung auf etwaige Functionen fruchtlos war, so ist es rathsam, sich jeder Zeit zu erinnern, dass die von uns den Ganglienzellen zuertheilten Functionen noch nicht allen Charakter des Hypothetischen verloren haben, und dass es f\u00fcr unsere weiteren physiologischen Untersuchungen nur wohlth\u00e4tig wirken kann, uns stets zu erinnern, dass wir bei der heutigen, so warmen Pflege des Ganglienkultus der Gefahr, in G\u00f6tzendienst zu verfallen, noch nicht mit Sicherheit entr\u00fcckt sind. Wir m\u00fcssen um so vorsichtiger sein, als die rein micro-scopische Entscheidung, ob ein Gebilde eine Ganglienzelle sei, unsicher ist und die Versuche m\u00f6glicher Weise darthun k\u00f6nnen, dass die Formen, welche wir heute Ganglienzellen nennen, von sehr ungleichem Werthe sind. Nehmen wir aber, zu Folge der vielseitigen Erfahrung, dass in allen Nerventheilen, an denen wir Wirkungen wahrnehmen, die wir aus den uns bekannten Eigenschaften der Nervenr\u00f6hren nicht zu verstehen verm\u00f6gen, viele Ganglienzellen gefunden werden, und dass solche Theile mit verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig vielen Blut-capillaren durchzogen sind, an, dass die besondere Wirkungsweise jener von diesen abh\u00e4nge, so kann man, wie vorher erw\u00e4hnt wurde, aus dem Inhalte der speciellen Nervenphysiologie die verschiedenartige Wirkungsweise ganglienzellenhaltiger Nerventheile \u00fcbersichtlich zusammenstellen, Reflexionen daran kn\u00fcpfen und sich die Er-laubniss nehmen, zu sagen, jene stelle die Th\u00e4tigkeit der Ganglienzelle und ihre Darstellung die Lehre von der Ganglienzelle dar.\nDie nach dieser Verst\u00e4ndigung von den Ganglienzellen ausge\u00fcbten Th\u00e4tigkeiten treten nun in folgenden einzelnen Formen auf. Zuerst sehen wir gewisse Contractionen muscul\u00f6ser Gebilde durch dieselben so besorgt, dass jene mit gr\u00f6sseren oder geringeren im Ganzen aber unregelm\u00e4ssigen Schwankungen l\u00e4ngere Zeit andauern und zwar bedarf es dazu keiner \u00e4usseren, absichtlich von uns eingef\u00fchrten Anregung, was indess nicht ausschliesst, weder, dass eine solche von uns unbemerkt besteht, noch dass man durch eine solche jene Zusammenziehungen nach irgend einer Beziehung ab\u00e4ndern k\u00f6nne \u2014 automatisch-tonische Wirkungen der Ganglienzellen. Von der Entstehung dieser Wirkungsart haben wir noch keine klare Vorstellung. Wir kennen weder die Natur dieser Kr\u00e4fte, noch die stofflichen Ver\u00e4nderungen, bei denen sie frei werden. An diese schliessen sich die automatisch-rhythmischen Ganglienwirkungen an, bei denen Muskelzusammenziehungen in nahezu gleichen Zeiten in nahezu derselben Weise wiederkehren, wie z. B. bei den Athem- und Herzbewegungen. Auch hier stehen wir bei dem Versuche die Bewegungsursache zu zergliedern vor demselben Dunkel. Etwa darauf hinzu-","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nEckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 1. Cap. Ganglienzellen.\nweisen, dass sich die regelm\u00e4ssig wiederkehrenden Bewegungen aus der Annahme erl\u00e4utern, dass stetig frei werdenden Kr\u00e4ften Hindernisse entgegenstehen, zu deren Ueberwindung die ersteren erst jedesmal eine gewisse Tension erlangt haben m\u00fcssen, bis effective Bewegung eintritt, um hierauf von neuem sich anzusammeln, ist nur f\u00fcr Solche berechnet, welche sich nicht oft mit physischen Erscheinungen und ihren Zergliederungen besch\u00e4ftigen, nicht mit den verschiedenen Arten, wie man stetig wirkende Kr\u00e4fte in periodische Bewegungen verwandeln kann, bekannt sind. Solche Bemerkungen f\u00fchren uns nicht tiefer in das hier vorliegende Geheimniss ein. Als eine dritte Wirkungsart der Ganglienzelle nehmen wir die re fleet or is che an, bei der die Th\u00e4tigkeit derselben erst durch einen Innervationsvorgang, welcher zu ihr hin sich fortpflanzt, geweckt wird und sich in der Anregung eines Innervationsvorgangs in einer anderen mit ihr zusammenh\u00e4ngenden Faser und mit einer bestimmten Th\u00e4tigkeit in dem zu diesem geh\u00f6rigen Gewebstheil offenbart. Nichts ist weder von der Natur der dabei auftretenden Kr\u00e4fte, noch von den damit verkn\u00fcpften stofflichen Ver\u00e4nderungen in den Ganglienzellen bekannt. Wir kennen zwar eine Anzahl von Einwirkungen, wie z. B. Temperatur, ge\u00e4nderte Zusammensetzung des Blutes etc., welehe die normalen Reflexbewegungen und, wie nachtr\u00e4glich noch bemerkt werden mag, auch die normalen automatisch-tonischen und automatisch rhythmischen Th\u00e4tigkeiten mannigfach ab\u00e4ndern und k\u00f6nnen gem\u00e4ss der vorher gemachten Bemerkung dies als Eigent\u00fcmlichkeiten der Ganglienzellen ansehen, aber es ist bis jetzt noch nicht m\u00f6glich gewesen, aus diesen Erfahrungen etwas Nennenswertes \u00fcber die inneren Vorg\u00e4nge in der Ganglienzelle abzuleiten. Endlich ist es auch bereits Mode geworden, alle diejenigen Erscheinungen, welche wir im gew\u00f6hnlichen Leben als see lise he Th\u00e4tigkeiten bezeichnen, durch die Ganglienzellen vermittelt auszugeben. Die n\u00fcchternsten Physiologen sind hierin kaum weiter gegangen, als dass sie nur vor\u00fcbergehend an diese M\u00f6glichkeit gedacht haben; es kann, sagen sie, so sein, es kann aber auch anders sein. Wer es liebt, von Ganglienzellen verschiedenen psychischen Wertes, von h\u00f6herer oder niederer Dignit\u00e4t derselben zu sprechen und glauben machen will, er habe die Entstehung des psychischen Lebens verstanden, mag sich solch unschuldiger, jedoch unwissenschaftlicher Besch\u00e4ftigung immerhin hingeben. Wir kennen zwar gr\u00f6ssere Hirntheile, mit deren Entfernung gewisse Seiten des Seelenlebens vernichtet werden, aber damit ist weder bewiesen, dass diese allein durch jene entstehen, sondern nur, dass sie bei ihrer Anwesenheit hervorgebracht werden, noch ist","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Allgemeine Physiologie der Ganglienzelle.\n21\ndamit dargethan, dass wenn in dem abgetragenen Tlieil sich recht viele Ganglienzellen finden, diese die Seelenbildner waren. Es fehlt jeder \u00fcberzeugende Beweis f\u00fcr die Behauptung, dass die psychischen Th\u00e4tigkeiten in den Ganglienzellen entstehen und da der Physiologe nicht aper\u00e7us f\u00fcr wissenschaftliche Wahrheit nimmt, so gesteht er lieber ein, \u00fcber den fraglichen Punkt noch nicht unterrichtet zu sein, als dass er seiner Phantasie die Z\u00fcgel schiessen l\u00e4sst.\nAusser den angegebenen Th\u00e4tigkeiten, welche wir uns durch die Ganglienzelle hervorgebracht denken, sind noch einige andere Eigenschaften des R\u00fcckenmarks und Gehirns bekannt geworden, von denen wir geneigt sind, sie gleichfalls auf deren Gehalt an Ganglienzellen zu beziehen. Hierher geh\u00f6rt einmal die Angabe, dass die Fortpflanzungsgeschwindigkeit von ausserhalb der Centraltheile erregten Innervationsvorg\u00e4ngen w\u00e4hrend ihrer Bewegung durch jene merkbar verz\u00f6gert wird. Die quantitative Seite dieser Erfahrung wird weiter unten zur Besprechung kommen. Man kann f\u00fcr die erw\u00e4hnte Ansicht eine besondere St\u00fctze in der Angabe von Wundt 1 finden, dass die Leitung in den hinteren Wurzeln w\u00e4hrend ihres Zuges durch die Spinalganglien hm ebenfalls verz\u00f6gert werde, also an einem Orte, wo wegen des einfacheren Baues der Nerventheile weniger leicht der Verdacht auf die Dazwischenkunft von noch unbekannten Structur-verh\u00e4ltnissen aufkommen kann. Beim Gehirn und R\u00fcckenmark sind indess die Verh\u00e4ltnisse nicht so einfach. Manche der hierher geh\u00f6rigen Versuche, n\u00e4mlich diejenigen, bei welchen gemessene L\u00e4ngen des in gerader Linie verlaufenden R\u00fcckenmarks in Rechnung kommen, sind nicht sehr \u00fcberzeugend, weil die wirklichen L\u00e4ngen der Innervationswege davon augenscheinlich verschieden sind und sogar sehr wesentlich davon differiren werden, wenn sich Geelach\u2019s Beobachtung eines von den Ausl\u00e4ufern der Ganglienzellen gebildeten Nervenfasernetzes best\u00e4tigen sollte, wie es bereits den Anschein hat. Bei einem anderen Theil dagegen, wie diejenigen, in welchen es sich um die bei der Reflexbewegung n\u00f6thige Uebertragungszeit handelt, sind allerdings die Zeiten so gross und bewegen sich die Innervationsvorg\u00e4nge durch so kleine R\u00fcckenmarksst\u00fccke, dass die L\u00e4nge der Zeit kaum allein auf die geringen Umwege der Nervenfasern im Mark bezogen werden kann, so dass man hier noch ein besonderes Glied voraussetzen muss, durch welches die Verz\u00f6gerung bewirkt wird. Dass dies aber in den Ganglien und zwar in diesen allein zu suchen ist, ist nur eine unbewiesene Annahme. Es ist allerdings noch\n1 Wundt, Untersuchungen zur Mechanik der Nervencentren. II. Abth.","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nEckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 1. Cap. Ganglienzellen.\ndie mitgetheilte Angabe Wundt\u2019s \u00fcbrig. Man k\u00f6nnte wobl hier von den wenigen Schl\u00e4ngelungen der Nervenfasern innerhalb der Ganglien absehen, aber die Annahme, dass die Ganglienzellen die Verz\u00f6gerung hervorrufen, wird durch die Behauptung erfahrener Histo-logen 1 erschwert, dass die Nervenfasern der sensiblen Wurzeln in gar keinen Zusammenhang mit den Ganglienzellen treten, sondern diese als neue Faserurspr\u00fcnge anzusehen sind und von rein appo-nirten Ganglienzellen noch gar keine Wirkung bekannt ist. Wichtiger sind die Erfahrungen \u00fcber gewisse Eigent\u00fcmlichkeiten, welche die vom R\u00fcckenmark aus erzeugten Muskelzusammenziehungen, verglichen mit denen durch directe Erregung der motorischen Nerven erzeugten, aufweisen. Den ersteren ist n\u00e4mlich eine gewisse Tr\u00e4gheit gegen\u00fcber den letzteren eigenthiimlich. Es zeigt sich diese einmal darin, dass die auf electrischem Wege erzeugte einzelne Reflexzuckung mehr in die L\u00e4nge gezogen ist, als die durch directe Reizung der Muskelnerven erzeugte 2, sodann aber in der Ab\u00e4nderung der Schwingungszahl des Muskeltons bei electrischer Tetanisirung des R\u00fcckenmarks. Auch hiervon wird weiter unten eingehend die Rede sein. Hier werde nur bemerkt, dass beim k\u00fcnstlichen Tetanisiren der Muskelnerven durch Inductionsvorricbtungen der dabei der Muskelcon-traction zukommende Ton eine von der Anzahl der Inductionsst\u00f6sse abh\u00e4ngige, mit dieser \u00fcbereinstimmende Schwingungszahl besitzt, w\u00e4hrend den Muskelt\u00f6nen, welche wir durch Tetanisirung des R\u00fcckenmarks oder den Willen hervorrufen, stets die Schwingungszahl c. 19 in der Secunde zukommt. Es m\u00fcssen also, so schliesst man, in den Centraltheilen Apparate vorhanden sein, welche die Wirkungen der k\u00fcnstlichen Reize ab\u00e4ndern. Da die Ganglienzellen bereits so vieles auf sich genommen haben, so wird es ihnen nicht schwer sein, auch diese neue Zumuthung zu \u00fcbernehmen. Ich breche Hier mit den allgemeinen Betrachtungen \u00fcber die Functionen der Ganglienzellen ab. Man sieht, dass des \u00fcberzeugend Thats\u00e4chlichen bez\u00fcglich ihrer Leistungen ausserordentlich Wenig, des Hypothetischen aber kein Ende ist.\nIndem wir uns nun dem speciellen Theil der Physiologie des Gehirns und R\u00fcckenmarks innerhalb der mir zugewiesenen Grenzen zuwenden, werde bemerkt, dass es sich in erster Linie um die Darstellung des gegenw\u00e4rtigen Standes dieser Lehre bez\u00fcglich des Thats\u00e4chlichen in der Art handeln soll, dass die gut ausgemittelten, von den meisten Physiologen mit Vertrauen belegten Thatsachen dem\n1\tK\u00f6lliker. Handb. der Gewebelehre des Menschen. 5. Aufl. S. 317. 1867.\n2\t\"Wtjndt, Untersuchungen zur Mechanik der Nerven etc. II. Abth. 1876.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Allgemeine Physiologie der Ganglienzelle.\n23\nminder Feststehenden und Hypothetischen klar gegen\u00fcbergestellt werden sollen. Dabei halte ich es f\u00fcr n\u00fctzlicher, \u00fcberall die bestehenden M\u00e4ngel r\u00fccksichtslos aufzudecken, als durch Verschweigung von Unsicherheiten eine Art bestechender Zufriedenheit zu erwecken. Ich rede nicht von den Th\u00e4tigkeiten des Gehirns und R\u00fcckenmarks je im Besonderen. F\u00fcr gewisse Gruppen derselben zeigen sich keine erheblichen Unterschiede, ob ihre Ursachen in dem einen oder anderen Theile zu suchen sind. Andere sind zwar in erster Linie dem Gehirn, scheint es, eigenth\u00fcmlich, aber die Frage, inwieweit sich Spuren davon auch beim R\u00fcckenmark nackweisen lassen, kann nicht umgangen werden und empfiehlt es sich daher, auch in dieser Beziehung beide Theile zusammen abzuhandeln. Die Classification der Erscheinungen macht einige Schwierigkeiten. Es sind n\u00e4mlich manche derselben bis jetzt nur so unvollkommen zergliedert, andere kaum mehr als ihrer \u00e4usseren Erscheinung nach bekannt, so dass man keine sicheren Anhaltspunkte hat, wo sie einzureihen sind. Da ich bei dem Leserkreis, f\u00fcr welchen unser Buch bestimmt ist, voraussetzen darf, es werde ihm mehr um die Bekanntschaft mit den Thatsachen und die Erwerbung einfacher und klarer Vorstellungen zu thun sein, als um die Frage, wie man eine Thatsache am besten und k\u00fcrzesten bezeichne und wo man dieselbe einzureihen habe, so macht es mir keine grosse Sorge, wenn in der Anordnung das Eine oder Andere nicht gef\u00e4llt. Manchem mag die folgende Theilung des Stoffes und die Verkn\u00fcpfungsweise der Einzelerscheinungen nicht Zusagen, macht man\u2019s aber anders, so wird der Tadel auch nicht fehlen.\nZWEITES CAPITEL.\nReflectorische Erscheinungen des Gehirns und R\u00fcckenmarks.\nDer Begriff der re fl ecto rischen Erscheinungen ist jetzt dahin fixirt, dass unter diesen von dem Willen unabh\u00e4ngige Th\u00e4tig-keiten in dem Bereiche peripherischer Nerven bestimmter physiologischer Function verstanden werden, welche durch prim\u00e4re Erregung von anderen Nerven dergestalt hervorgerufen werden, dass dabei ein Zwischenglied zu unterstellen und auch bis zu einem gewissen Grade uachzuweisen ist, welches einen anderen Bau und damit auch eine","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nandere Wirkungsart besitzt, welche wir aus den uns bekannten Eigenschaften peripherischer Nerven nicht ableiten k\u00f6nnen. Je nach der physiologischen Natur der betheiligten Nervenfasern sind verschiedene Klassen reflectorischer Erscheinungen aufgestellt worden.1 F\u00fcr manche derselben l\u00e4sst sich jedoch nicht gen\u00fcgend nachweisen, dass sie dem eben gegebenen Begriff genau entsprechen. Bekanntlich sind es die Ausdr\u00fccke: Reflexbewegung, Reflexempfindung, Mitbewegung und Mitempfindung, mit welchen man die verschiedenen Arten reflectorischer Erscheinungen bezeichnet. Bei den Reflexbewegungen treffen die Reize zuerst irgend eine Fl\u00e4che, die sich bei Anwesenheit eines normalen Gehirns in der Mehrzahl der F\u00e4lle als eine empfindende ausweist. Darauf sehen wir Bewegungen in Muskeln eintreten und stellen uns vor, dass diese Bewegungen zu Stande kommen durch die primitive Erregung von Empfindungs- und die secund\u00e4re von Bewegungsnerven. Die Voraussetzung, dass sich hierbei die gew\u00f6hnlichen Empfindungsnerven betheiligen, ist bestritten worden, wovon sp\u00e4ter; einstweilen lassen wir diese Art des Ausdrucks zu. Mit Reflex empfin dung bezeichnet man Erscheinungen, die man sich als einfache Reflexe in der Art deutet, dass man dabei annimmt, es \u00fcbertrage sich eine Erregung motorischer Nerven ohne Zuthun des Willens auf sensitive Bahnen. Als Beispiele f\u00fchrt man unter anderen das Gef\u00fchl der Erm\u00fcdung nach anhaltender Muskelanstrengung, und das mehrfach beobachtete eigent\u00fcmliche Gef\u00fchl eingeschlafener Glieder, welches sich nach der Tenotomie Jahre lang verk\u00fcrzter Muskeln einstellt, an. Auch die Empfindung der Gr\u00f6sse des Widerstandes, welche zu hebende Gewichte hervorrufen, ist hierher gez\u00e4hlt worden. Da aber in die Muskeln sensitive Nerven eindringen, auch mit h\u00f6chster Wahrscheinlichkeit die Nerven doppelsinnig leiten, so ist anderen, leicht aufzufindenden Erkl\u00e4rungsweisen Raum gegeben, die nicht mit Sicherheit als unzul\u00e4ssig zur\u00fcckzuweisen sind. Bei den Mitbewegungen als re-flectorischen Erscheinungen nimmt man als betheiligte Faserklassen zwei motorische Nervenbahnen an und z\u00e4hlt dahin Erscheinungen, wie z. B. die Pupillenverengerung bei der Zusammenziehung des Rectus internus, oder die Verzerrung der Gesichtsmuskeln beim Heben schwerer Lasten, oder die Bewegungen, welche Hemiplegische willk\u00fcrlich nicht ausf\u00fchren k\u00f6nnen, sie aber mit anderen Bewegungen\n1 L. Stromeyer, Ueber Combination motorischer und sensorieller Nerventh\u00e4tig-keitetc. G\u00f6ttinger gel. Anzeigen. S. 689. 1836; Valentin, Lehrbuch der Physiologie. 2. Aufl. II. 2. S. 475 ff.; Volkmann, Nervenphysiologie, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch d. Physiologie. II. S. 530; Henle, Rationelle Pathologie. I. S. 204.","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Reflexbewegungen. Reflexempfindungen. Mitbewegungen. Mitempfindungen. 25\nmitunter combinirt ausf\u00fchren. Auch sie sind, gleich den als Reflexempfindungen ausdeutbaren Erscheinungen, mehrfacher Auslegung f\u00e4hig. Man kann sie auch so ansehen, dass man annimmt, es sei unter gewissen Bedingungen dem ersten Willensanstoss nicht m\u00f6glich, sich allein auf die beabsichtigte Muskelgruppe zu erstrecken. F\u00fcr viele unter den Mitbewegungen, insbesondere die, welche man durch Uebung vermeiden lernt, ist diese Erl\u00e4uterung einfacher. Irre ich nicht, so ist der Ausdruck Mitbewegung oder associirte Bewegung zuerst von Joh. M\u00fcller1 2, welcher die letztere Deutung bevorzugte, f\u00fcr derartige Erscheinungen gebraucht worden. Endlich hat man noch die Mitempfindungen unterschieden, reflectorische Erscheinungen, bei welchen die betheiligten Faserklassen beide sensitive sind. Es scheint, als ob sich f\u00fcr diese noch am ehesten gute, unbestreitbare Beispiele finden Hessen, wenn auch eine scharfe Kritik nicht alle hierher gez\u00e4hlte Wahrnehmungen gelten l\u00e4sst. Die eigen-th\u00fcmliche Empfindung in der Nase, wenn man versucht, in die Sonne zu schauen, oder die analoge, wenn das Ohr von unangenehmen, kreischenden T\u00f6nen afficirt wird, geh\u00f6ren hierher. Es hat kein belehrendes Interesse, auf die drei zuletzt erw\u00e4hnten Formen der re-flectorischen Erscheinungen n\u00e4her einzugehen, da man sie mit Sicherheit nicht eingehend zergliedern kann. Das in der Physiologie \u00fcber reflectorische Erscheinungen vorhandene Material bezieht sich in weitaus seinem gr\u00f6sseren Theil auf die Reflexbewegungen.\nI. Historische Skizze \u00fcber die Lehre von den Reflexbewegungen.\nVon den Thatsachen, die wir heute in dieses Gebiet ziehen, sind manche schon in fr\u00fcher Zeit bekannt gewesen und haben die Aufmerksamkeit der Aerzte auf sich gezogen; ihre Zergliederung dagegen ist manchem Wechsel unterworfen gewesen. Galen kannte die durch Schluss und Beleuchtung des Auges erzeugbaren reflectorischen Bewegungen der Pupille; allerdings deutete er sie nicht so aus, wie wir heute dies thun. Achillini 2 kannte bereits die von verschieden intensiver Beleuchtung abh\u00e4ngige, wechselnde Pupillen weite. Die seit alten Zeiten bekannten Sympathien, f\u00fcr welche schon gegen das Ende des 16. und den Anfang des 17. Jahrhunderts die Bedeutung des Nervensystems hervorgehoben wurde, enthalten manche hierher geh\u00f6rige Erscheinung. Von der zweiten H\u00e4lfte des 17. Jahrhunderts\n1\tJoh. M\u00fcller, Handbuch der Physiologie des Menschen. 4. Aufl. I. S. 587.\n2\tMorgagni, Advers. anat. I. p. 34.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nan werden reflectorische Erscheinungen, insbesondere Reflexbewegungen an Menschen und Thieren, als ohne Betheiligung des Bewusstseins vor sich gehend, durch Descartes l 2 3 4, Swammerdam 2 und Willis 3 geschildert und damit eine ihrer wesentlichsten Eigenschaften zum ersten Male hervorgehoben. Zu derselben Zeit lehrten Redi 4 und Boyle5 die Reflexbewegungen gek\u00f6pfter Kaltbl\u00fcter auf Hautreize kennen, sodass derartige Bewegungen gegen das Ende des 17. Jahrhunderts bereits allgemein bekannte Erscheinungen waren. Obschon Descartes und Willis f\u00fcr manche dieser unbewusst vor sich gehenden Th\u00e4tigkeiten das Gehirn als mitwirkenden Theil bezeichnet hatten, so blieb doch bei dem Mangel von besonderen Erfahrungen dar\u00fcber es zweifelhaft, wo und wie die Uebertragung der auf die sen-sibeln Nerven gemachten Eindr\u00fccke auf die motorischen stattfinde. Willis liess in beschr\u00e4nkter, Vieussens6, Comparetti7 8 9 und Andere in weitester Ausdehnung die Uebertragungen durch die Nervenanasto-mosen zu Stande kommen; f\u00fcr die an Thieren gemachten Erfahrungen waren einzelne Aerzte der Annahme eines seelischen Prineips im Mark nicht abhold. Den Anastomosen machte Astruc s durch scharfe Ueberlegungen, und Hales und Whytt 9 durch den Fundamentalversuch 10 der Reflexbewegungen ein Ende. Ueberdies lieferte der letztere, besonders in den Abhandlungen \u00fcber vitale und unwillk\u00fcrliche Bewegungen und Beobachtungen \u00fcber die Irritabilit\u00e4t, den bis dahin bedeutendsten Beitrag au experimentellen Erfahrungen, bez\u00fcglich der in Rede stehenden Lehre. Obschon Whytt das R\u00fcckenmark als einen f\u00fcr die Entstehung der Reflexbewegungen noth-wrendigen Theil anerkennen musste, so nahm er doch behufs der Erl\u00e4uterung dieser Erscheinungen ein besonderes Lebens-Princip in den Nerven und Muskeln an. Man sieht aber bei seinen Auseinan-\n1\tAuf Descartes\u2019 Bedeutung f\u00fcr die Lehre von der Reflexbewegung haben Arnold, Die Lehre von der Reflexbewegung. 1S42. S. 16 und Du Bois - Reymond, Ge-d\u00e4chtnissrede auf Joh. M\u00f6ller. 1S59. S. 77, 78, 182 aufmerksam gemacht. Uebrigens waren die Physiologen des vor. Jahrhunderts, namentlich R. Whytt, mit Descartes\u2019 Lehre sehr wohl bekannt, und es war der eigne Mangel vieler Physiologen der Neuzeit, dass sie sich durch Andere besonders auf Descartes mussten hin weisen lassen.\n2\tSwammerdam, Bibel der Natur. S. 333. Leipzig 1752.\n3\tThomae Willis, Opera omnia Cap. XVIII Genevae 1690.\n4\tRedi, Osservazioni etc. Firenze 1861.1. p. 123 der 1712 in Venedig herausgekommenen Ausgabe.\n5\tVol. I. S. 467 der MiLLER\u2019schen Ausgabe.\n6\tVieussens, Neurographia generalis, besonders in libr. III.\n7\tA. Comparetti, Occursus medici. Venetiis 1780.\n8\tAstruc, An sympathia partium a certa nervorum positura in interno sensorio ? Abgedruckt p. 473 d. IV. Bds. der Haller\u2019sehen Disputationen.\n9\tThe works of R. Whytt, publ. by his son. p. 290. Edinb. 1768.\n10\tSo nenne ich den Versuch, weicherzeigt, dass beim gek\u00f6pften Frosch mit der Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks die Reflexbewegungen aufh\u00f6ren.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Historische Skizze.\n27\ndersetzungen die Nothwendigkeit dieser Annahme nicht ein, noch ist er auch immer ausreichend klar. Prochaska 1 und Marshall Hall 1 2 3 betonten noch einmal den Mangel der Mitwirkung des Bewusstseins bei diesen Bewegungen, indem sie auf die Reflexbewegungen von Apoplektikern und bei R\u00fcckenmarksverletzungen aufmerksam machten. Obschon der letztere dieser beiden Forscher sich eines besonderen Rufes als F\u00f6rderer der Lehre von den Reflexbewegungen erfreut, so ergiebt ein genaueres Studium der Geschichte, dass derselbe \u00fcbertrieben worden ist. Die meisten der von ihm beschriebenen Thatsachen waren vor ihm bekannt, und die Deutung derselben war ebenfalls nicht ganz neu. Als ihm eigenth\u00fcmlich kann man nur einige neue Formen von Reflexerscheinungen und die hypothetische Aufstellung des excito-motorischen Fasersystems ansehen. Es schien den damaligen Physiologen anders zu sein; das bereits auf diesem Gebiete Geleistete war ihnen nicht pr\u00e4sent. Die Nothwendigkeit der grauen Substanz des R\u00fcckenmarks f\u00fcr die Entstehung der Reflexbewegungen deutete zuerst Grainger 3 an. Unserem Zeitalter verdankt man eine reiche Detailforschung und mehrfache Versuche, tiefer in das Verst\u00e4ndniss der Reflexerscheinungen einzudringen.4\nII. Gehirn und R\u00fcckenmark als Uebertragimgsorgane im\nAllgemeinen.\nWie erw\u00e4hnt, bed\u00fcrfen die Reflexbewegungen zu ihrer Entstehung ausser den beiden erw\u00e4hnten Faserklassen stets noch der Mitwirkung eines Nerventheils anderer Bauart, oder wie wir uns gew\u00f6hnlich aus-dr\u00fccken, der Anwesenheit eines Uebertragungs- oder Centralorgans.\nDass f\u00fcr die am h\u00e4ufigsten vorkommenden dies das R\u00fcckenmark sei, hat nach einer Bemerkung Whytt\u2019s zuerst Hales bewiesen, indem letzterer zeigte, wie die bei einem gek\u00f6pften Frosch auf Hautreize entstehenden Bewegungen mit der Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarkes auf h\u00f6ren. Whytt best\u00e4tigte diese Beobachtung, zeigte aber zugleich, dass auch noch einzelne St\u00fccke des R\u00fcckenmarks die F\u00e4higkeit haben, zur Entstehung von Reflexbewegungen Veranlassung zu geben.\n1\tProchaska, Adnotationum academicarum fasciculus tertius. Cp. IV. bes. p. 119. Pragae 1784.\n2\tAn vielen Orten, z. B. Memoirs on the nervous system. London 1837.\n3\tGrainger, Observations on the structure and functions of the spinal cord, p. 34. 46 ff. 1837.\n4\tWer f\u00fcr diese knappe historische Skizze n\u00e4here Ausf\u00fchrung und Begr\u00fcndung sucht, den verweise ich auf meine demn\u00e4chst erscheinenden Abhandlungen zur Geschichte der Physiologie des Nervensystems, insbesondere auf die: Geschichte der Reflexerscheinungen.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nDie letztere Thatsache ist sp\u00e4ter von Legallois, M. Hall und Volkmann erw\u00e4hnt worden, ohne dass wie es scheint, diese Forscher von Whytt\u2019s Beobachtungen Kenntniss gehabt haben. Doch sind nicht s\u00e4mmtliche Theile des R\u00fcckenmarks mit dieser Eigenschaft behaftet. Schon Volkmann1 2 3 hob hervor, dass dem untersten R\u00fcckenm\u00e4rksabschnitt dieselbe abgehe, und Sanders-Ezn 2 studirte dieselbe beim Frosch genauer. Er fand, dass bei diesem Thiere ein Querschnitt nahe unter den Ursprungs wurzeln des 7. R\u00fcckenmarksnervenpaares alle Reflexbewegungen aufhebt, die man vorher durch Reizung der Haut an den unteren Extremit\u00e4ten ausl\u00f6sen kann. Ich kann zufolge eigner Wahrnehmung hinzuf\u00fcgen, dass sich dies selbst bei Fr\u00f6schen so verh\u00e4lt, deren Reflexerregbarkeit man durch Strychnin k\u00fcnstlich gesteigert hat. Dass auch nach der Zerst\u00f6rung einzelner Hirntheile unbewusst auf Reize entstehende Bewegungen wegfallen und somit auch das Gehirn als Uebertragungsorgan fungiren k\u00f6nne, hat wenn ich nicht irre, zuerst M. Hall 3 durch den Versuch dargethan, indem er zeigte, dass bei Ber\u00fchrung des Auges eines abgetrennten Kopfes die Augenlider sich schlossen und diese Bewegung nach Zerst\u00f6rung des Gehirns aufh\u00f6rte.\nIII. Methoden, die Reflexbewegungen zu erzeugen.\nUm die Reflexbewegungen hervorzurufen, hat man die Empfindungsnerven auf verschiedene Arten gereizt. F\u00fcr die m e c h an i s c h e Reizungsart, die sich in ihren milderen Formen zur Ausl\u00f6sung von Reflexbewegungen besonders geeignet erweist, weiss man nur, dass ein continuirlich und langsam wachsender Hautreiz bis zur Zerst\u00f6rung der sensitiven Fl\u00e4che gesteigert werden kann, ohne Reflexbewegung hervorzurufen, w\u00e4hrend ein pl\u00f6tzliches St\u00e4rkerwerden desselben j dies thut4 ; aber wie dieser Zuwachs an mechanischer Erregung in der Zeiteinheit auszudr\u00fccken ist, das ist zur Zeit noch nicht for-mulirt.\n1\tA. W. Volkmann, Ueber Reflexbewegungen. Arch. f. Anat. u. Physiol. S. 15ff.\n1838.\n2\tH. Sanders-Ezn , Vorarbeit f\u00fcr die Erforschung des Reflexmechanismus etc. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Mai 1867. Vgl. jedoch hierzu: Koschewnikoff, Ueber die Empfindungsnerven der hinteren Extremit\u00e4ten beim Frosch. Arch. f. Anat. u. Physiol.\nS. 326. 1868 ; Masius et Vanlair, Recherches exp\u00e9rimentales sur la r\u00e9g\u00e9n\u00e9ration anatomique et fonctionelle de la moelle \u00e9pini\u00e8re. M\u00e9moires couronn\u00e9s et autres m\u00e9moires publi\u00e9s par l\u2019academie royale de Belgique. XXI. 1870.\n3\tM. Hall, A brief account of a particular function of the nervous system. Proceedings of the committee of science and correspondence of the zoological society of London. II. p. 190. 27. Nov. 1832.\n4\tCarl Fratscher, Ueber continuirliche u. langsame Nervenreizung. Jenaische Ztschr. f. Naturwissensch. N. F. II. S. 130.145.1875.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden, Reflexe auszul\u00f6sen.\n29\nBei der Anwendung von chemischen Reizen ist man in sofern etwas besser daran, als man durch die Concentration der L\u00f6sung dem Reize eine unver\u00e4nderliche St\u00e4rke geben kann; es bietet aber diese Reizungsart nicht die Bequemlichkeit, sie auf Fl\u00e4chen gew\u00fcnschter Gr\u00f6sse \u00fcberall anzuwenden. Man hat sich nach einer Empfehlung von T\u00fcrck:1 in den letztvergangenen Zeiten einer sehr verd\u00fcnnten Schwefels\u00e4urel\u00f6sung bedient; leider geben gerade die Forscher, welche sie in grosser Ausdehnung angewendet haben, den Concentrationsgrad nicht immer genau an; sie begn\u00fcgen sich zu sagen, dass die L\u00f6sungen so schwach zu nehmen seien, dass man ihren sauren Geschmack eben noch mit der Zunge entdecken k\u00f6nne. Meihuizen2 empfiehlt eine Vs0 o S\u00e4ure. T\u00fcrck hatte eine Vs \u2014 4/s % empfohlen. Man r\u00fchmt diesen schwachen chemischen Reizen nach, dass sie mehreremal hintereinander auf dieselbe Hautstelle angebracht, genau dieselben reflectorische\u00fc Bewegungen nach derselben Zeit hervorriefen, besonders wenn man nach jeder Reizung sorgf\u00e4ltig die gereizte Stelle abw\u00e4scht. Uebrigens ist hierbei zu bemerken, dass die Application dieser schwachen S\u00e4uren, \u00e4hnlich wie bei den mechanischen Reizen, pl\u00f6tzlich geschehen muss; denn man kann, wie bei der mechanischen Reizung, die chemische Einwirkung so langsam steigern, dass sie gleichfalls keine Reflexbewegung ausl\u00f6st.3 Selbstverst\u00e4ndlich k\u00f6nnen auch andere chemische Reizmittel .denselben Dienst thun, es sind aber noch wenige derselben genauer studirt. Aus den wenigen bisher angestellten Versuchen hat sich ergeben, dass f\u00fcr jedes Reizmittel eine untere Concentrationsgrenze besteht, welche in der Mehrzahl der F\u00e4lle \u00fcberhaupt noch Reflexbewegung ausl\u00f6st, und dass jedesmal vom Eintauchen des Nerven bis zum Erscheinen der Reflexbewegung eine gewisse Zeit verstreicht, die um so k\u00fcrzer ist, je st\u00e4rker die Concentration der L\u00f6sung. Jene untere, mit der Temperatur und anderen Umst\u00e4nden etwas schwankende Concentration hat man die untere Reflexschwelle genannt. Die Wirkungsoder Latenzzeiten vom Eintauchen der Hautfl\u00e4che bis zur Erhebung des Schenkels sind f\u00fcr verd\u00fcnnte Schwefels\u00e4ure von Baxt 4 genauer studirt worden; sie sollen n\u00e4herungsweise in einer geometrischen Proportion zunehmen, w\u00e4hrend die S\u00e4ureconcentration in einer arithmetischen abnimmt. Von dem Urheber dieser Methode ist die Frage\n1\tT\u00fcrck, Ueber d. Zustand d. Sensibilit\u00e4t nach theilweiser Trennung d. R\u00fcckenmarks. Wien. Ztschr. d. Gesellsch. d. Aerzte. S. 1\u201413. M\u00e4rz 1851.\n2\tMeihuizen Arch. f. d. ges. Physiol. VII. S. 205.\n3\tCarl Fratscher, 1. c. S. 130. 138.\n4\tBaxt, Die Reizung der Hautnerven durch verd\u00fcnnte Schwefels\u00e4ure. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math. phys. Abth. S. 309.1871.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\naufgeworfen worden, in wieweit die erw\u00e4hnten chemischen Reize mit den mechanischen durch Ber\u00fchrung und Druck gleich zu setzen w\u00e4ren. Er ist der Meinung, dass die S\u00e4urereizung und die Compression der Pfoten denselben Erfolg h\u00e4tten. Setschenow 1 f\u00fcgt hinzu, dass dies nur so lange der Fall sei, als die letztere zwischen den Fingern des Beobachters allm\u00e4hlich verst\u00e4rkend geschehe. Je schneller dieselbe ausgef\u00fchrt werde, desto mehr mische sich ein tactiles Moment ein, und die sogenannten tactilen Reflexe stimmten nicht mit den durch S\u00e4urereizung hervorgerufenen \u00fcberein.1 2 Sp\u00e4ter hat Danilewsky 3 tactile und pathische Reflexe unterschieden. Zu den ersteren z\u00e4hlt er schwache mechanische, chemische und thermische, zu den letzteren die schmerzhaften. Diese Unterscheidung scheint mir nicht mit der von Setschenow gemachten \u00fcbereinzustimmen. Der von T\u00fcrck angeregte Punkt muss wohl durch eine neue Untersuchung ins Klare gesetzt werden.\nBenutzt man zur Ausl\u00f6sung von Reflexbewegungen thermische Einwirkungen, so hat man sich folgender Erfahrung zu erinnern. Allm\u00e4hliche Temperatursteigerungen 4 5 sind ung\u00fcnstig f\u00fcr die Erzeugung von Reflexbewegungen, und der Versuch kann, wenn jene zweckm\u00e4ssig langsam ausgef\u00fchrt werden, sogar angestellt werden, dass das Thier ohne Bewegung in W\u00e4rmestarre verf\u00e4llt. Gr\u00f6ssere Hautfl\u00e4chen mit allm\u00e4hlich steigender Temperatur zu belegen, ist wenigstens bei noch mit Kreislauf versehenen, decapitirten Fr\u00f6schen eine nutzlose Art, Reflexbewegungen hervorzurufen. Durch das zum R\u00fcckenmark str\u00f6mende, in der Haut erw\u00e4rmte Blut werden die der Reflexion dienenden Nervenelemente geschw\u00e4cht, und \u00fcberdies ist, wie eben erw\u00e4hnt, die allm\u00e4hlich steigende Temperatur an und f\u00fcr sich ung\u00fcnstig, die reflectorische Bewegung zu erzeugen. Dies ist auch, wie Forster 5 zeigte, die Ursache, weshalb der decapitirte Frosch in Wasser gesetzt, das man nach und nach zu 30\" C. erw\u00e4rmt, bei dieser Einwirkung nicht die mindeste Reflexbewegung zeigt. Man wird also kleine Fl\u00e4chen mit m\u00f6glichst grossen, pl\u00f6tzlichen Temperaturunterschieden zu versehen haben. Man kann auch f\u00fcr die ther-\n1\tJ. Setschenow, Physiologische Studien \u00fcber d. Hemmungsmechanismen. S. 4. Berlin 1863.\n2\tSetschenow und Paschutin, Neue Versuche am Hirn und R\u00fcckenmark des Frosches. S. 78. Berlin. 1856.\n3\tDanilewsky, Untersuchungen zur Physiologie d. Centralnervensystems. Arch, f. Anat. u. Physiol. 1866. S. 677.\n4\tA. Heinzmann, Ueber d. Wirkung sehr allm\u00e4hlicher Aenderungen thermischer Reize auf die Empfindungsnerven. Arch. f. d. ges. Physiol. VI. S. 222. 1872.\n5\tForster, On the effects of a gradual rise of temperature on reflex actions. Studies from the physiol, laboratory in the university of Cambridge. I. p. 36. 43. 1873.","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Reflexe durch thermische und electrische Reize.\n31\nmische Reizung die Frage nach einem Schwellenwerth erheben, und kann von einer obern und untern thermischen Reflexschwelle reden, je nachdem die reizende Temperatur ober- oder unterhalb der jeweiligen Normaltemperatur des Thieres liegt. Diese m\u00fcssen je nach der Temperatur des Thieres und anderen, die Reflexbewegungen bedingenden Umst\u00e4nden verschieden sein. Ueber diesen Punkt haben Tarchanow 1 und Heinzmann 2 einzelne Angaben gemacht.\nWas endlich die electrischen Einwirkungen als Ausl\u00f6sungsmittel f\u00fcr reflectorische Bewegungen anlangt, so sind bald constante, bald inducirte Str\u00f6me in Anwendung gekommen. Die Reizungen mit constanten Ketten sind in den vorhandenen Untersuchungen1 2 3 am Stamm des N. ischiadicus des Frosches vorgenomm\u2019en worden, nicht an den peripherischen Ausbreitungen der Hautnerven. Man erh\u00e4lt durch Schliessungen und Oeffnungen von Str\u00f6men, die den Pfl\u00fcger-schen Tetanus geben und st\u00e4rkeren, einzelne reflectorische Zuckungen oder geordnete reflectorische Bewegungen. Die nebenbei genannten Autoren stimmen in mehren diese Angelegenheiten betreffenden Einzelheiten nicht \u00fcberein und haben die Differenzen ihrer Angaben nicht erl\u00e4utert. Geschlossene, in ihrer St\u00e4rke allm\u00e4hlich wachsende Str\u00f6me sollen keine reflectorische Bewegung ausl\u00f6sen. H\u00e4ufige Unterbrechungen constanter Str\u00f6me erh\u00f6hen die Reizbarkeit und sum-miren die Effecte. Man zeigt dies klar in der Art, dass man so schwache Str\u00f6me w\u00e4hlt, deren einzelne Schliessungen u. s. w. keinen Erfolg geben. Schon eine geringe Zahl von Unterbrechungen, etwa 60 in der Minute, geben anfangs schwache beschr\u00e4nkte, von da an st\u00e4rkere und ausgebreitetere Zuckungen, bis- schliesslich eine ganze Bewegung der Extremit\u00e4t durchbricht. Einzelne Induetions-str\u00f6me sind ausserordentlich unwirksam, so dass man nur bei sehr heftigen Schl\u00e4gen Bewegung und dann auch nicht immer bekommt.4 Ueber diesen Punkt sind alle Forscher einig, auch diejenigen, welche den Reiz nicht auf einen Nervenstamm, sondern auf die Schenkelhaut wirken liessen. Dagegen ist eine h\u00e4ufige Wiederholung der Induetions-\n1\tTakchanow, Zur Physiologie d. thermischen Reflexe. Rudnow\u2019s Journ. f. normale u. pathol. Histol. Y. S. 333. 1872.\n2\t1. c. VI. S. 222. 1872.\n3\tSetschenow, Ueber d. electrische u. chemische Reizung d. sensibeln R\u00fcckenmarksnerven d. Frosches. Graz 1868; J. Takchanow, Ueber die Summirungserschei-nungen bei Reizungen sensibler Nerven d. Frosches. Bull, de l\u2019acad. d. sciences de St. Petersbourg. XVI. p. 75. 1872.\n4\tSetschenow und Tarchanow in den vorher citirten Abhandlungen. A. Fick, Einige Bemerkungen \u00fcber Reflexbewegungen. Arch. f. d. ges. Physiol. III. 326. 1870. Wundt, Physiologische Psychologie. S. 262. 1874. W. Stirling, Ueber die Summation electrischer Hautreize. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Dec. 1874. S. 372.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nstr\u00f6me eine sehr zweckm\u00e4ssige Anregungsart zu reflectoriscker Bewegung. Dies l\u00e4sst sich auf verschiedene Weise zeigen. Bestimmt man z. B. bei einem Inductionsapparat mit beliebiger Unterbrechungszahl den Abstand der Rollen, bei welchem eben noch deutliche Reflexbewegungen entstehen, so wird man finden, dass man die Rollen viel n\u00e4her bringen muss, wenn es gelingen soll, durch einen Einzelschlag eine Bewegung zu erhalten. Daraus l\u00e4sst sich schliessen, und besondere Versuche haben es best\u00e4tigt, dass die reflectorische Bewegung viel besser durch eine Wiederholung der Reize, als durch eine Verst\u00e4rkung derselben gef\u00f6rdert wird. Auch bei dieser Reizungsart zeigen sich, wie bei der chemischen, die oben erw\u00e4hnten Latenzzeiten. Stirling1 2 hat ihre Abh\u00e4ngigkeit von der Wiederholung und der St\u00e4rke der Reize eingehend studirt. Besonders be-merkenswerth sind noch die sogenannten vorl\u00e4ufigen Reflexe. Schon T\u00fcrck hatte bei der S\u00e4urereizung beobachtet, dass den heftigen Beuge- und Streckbewegungen geringe Bewegungen vorausgehen, so dass man f\u00fcr die Latenzzeit eigentlich zwei Zahlen bekommt, eine f\u00fcr die vorl\u00e4ufigen, eine andere gr\u00f6ssere f\u00fcr die definitiven Reflexe. Sanders -Ezn - hat diese Erscheinungen f\u00fcr die chemische Reizung sp\u00e4ter besprochen. Diese Erscheinung zeigt sich nun auch bei der electrischen Reizung mittelst sich oft wiederholender Inductionsstr\u00f6me. Sie k\u00f6nnen vor den endgiltigen Reflexen verschiedene Male und in verschiedener Form auftreten. Da die Summation electrischer Hautreize sich so bedeutsam f\u00fcr die Ausl\u00f6sung reflectorischer Bewegung erweist, so kann man auf die Vermuthung kommen, dass Reflexe \u00fcberhaupt nur durch wiederholte Erregungen der nerv\u00f6sen Centralorgane zu Stande kommen. Diese Annahme verlangt aber alsdann Aufkl\u00e4rung dar\u00fcber, wie die einzelne Oeffnung und Schliessung der constanten Kette und der einzelne Inductionsstoss wiederholte Erregungen darstellen. F\u00fcr den letzteren kann dies in der Erfahrung gefunden werden, dass derselbe, namentlich der Oeffnungsin-ductionsstrom, eine oscillirende Entladung darstellt.3 Bei den durch sehr heftige Inductionsschl\u00e4ge ausgel\u00f6sten Bewegungen vermisse ich \u00fcbrigens den durch Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks leicht zu f\u00fchren gewesenen ausdr\u00fccklich angegebenen Nachweis, dass sich in die Bewegung keine paradoxe Zuckung eingemischt habe.\nObschon es bei der Darstellung der Methoden, die reflectorischen\n1\tStieling, 1. c. S. 372.1874.\n2\tSanders-Ezn, Arbeiten aus der physiolog. Anstalt zu Leipzig. S. 29.1867.\n3\ts. Wiedemann, Die Lehre vom Galvanismus und Electromagnetismus. 2. Aufl. II. 2. S. 128. 360. 1874.","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Hemmimgsmeckanismen.\n33\nBewegungen hervorzubringen, nicht vermieden werden konnte, eine Anzahl empirischer Eigenschaften derselben zu ber\u00fchren, so gehe ich doch jetzt erst dazu \u00fcber, die bis jetzt bekannten Eigent\u00fcmlichkeiten der Reflexbewegungen in ihrem ganzen Umfang zu schildern.\nIY. Einfluss des Gehirns auf die durch das R\u00fcckenmark vermittelten Reflexbewegungen.\nDie auf Hautreize durch R\u00fcckenmarksnerven vermittelten Bewegungen fallen bei Thieren verschieden aus, jenachdem das R\u00fcckenmark noch mit einem normalen Gehirn verkn\u00fcpft, oder von demselben getrennt ist. Im letzteren Falle folgt unter \u00fcbrigens gleichen Umst\u00e4nden demselben Reiz dieselbe Bewegung, im ersteren Falle f\u00e4llt der Erfolg des Reizes verschieden aus: bald folgt eine Bewegung, bald fehlt sie und wenn sie eintritt, erscheint sie in verschiedener Form. Beim Menschen ist zwar die Gelegenheit, diese Unterschiede zu constatiren, nicht so h\u00e4ufig als bei Thieren gegeben, aber so viel weiss man, dass es hier nicht anders ist. Zugleich macht man hier die Wahrnehmung, dass man durch den Willen die Bewegungen, zu denen uns die Hautreize anregen, innerhalb gewisser Grenzen unterdr\u00fccken kann. Der erw\u00e4hnte Unterschied hat also jedenfalls theilweise darin seinen Grund, dass in dem einen Fall durch den Reiz seelische Th\u00e4tigkeiten angeregt werden, die das Bewegungsresultat bestimmen helfen, w\u00e4hrend dies Moment im anderen Falle fehlt. Man muss sagen theilweise, weil es nicht undenkbar ist, dass derselbe Mechanismus, dessen sich der Wille zur Hemmung-gewisser Bewegungen bedient, auch bei Reizen, welche die Haut bei Gegenwart des Gehirns treffen, unbewusst in Th\u00e4tigkeit gesetzt werden k\u00f6nnte. Nimmt man hierzu noch die seit Whytt1 bekannte Erfahrung, dass in den ersten Zeiten nach dem K\u00f6pfen eines Thieres Hautreize gar keine oder nur unscheinliche Bewegungen hervorrufen, was man sich so deuten kann, dass man annimmt, es seien durch die Enthauptung die vorher angedeuteten Mechanismen direct zu ihrer Hemmung angeregt worden, so hat man in der That Aufforderung genug, der Existenz und den Eigenschaften dieser Hemmungsmechanismen, centres mod\u00e9rateurs, inhibitory system, nachzusp\u00fcren. Whytt, welcher nur die oben erw\u00e4hnte, von ihm zuerst gesehene Erscheinung in Betracht zog, deutete sich dieselbe nach der Hippokratischen Regel: \u201eduobus doloribus, simul abortis, non in eodem loco, vehementior obscurat alterumDies gen\u00fcgt\n1 The works of Robert Whytt, published by his son. p. 302. Edinburgh 1768. Handbuch, der Physiologie. Bd. Ha.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nuns nicht mehr; seihst wenn wir in clem gegebenen Falle uns von dem Vorhandensein eines Schmerzes \u00fcberzeugen k\u00f6nnten, w\u00fcrden wir wissen wollen, wie es kommt, dass ein Schmerz den anderen ausl\u00f6scht. Sp\u00e4tere Forscher haben wohl den Thatsachen, von denen wir ausgingen, insgesammt Rechnung getragen, aber \u00fcber den Mechanismus, mittelst dessen das Gehirn das Auftreten der constanten Reflexbewegungen, die nach seiner Entfernung hervortreten, verhindert, geben sie nur hypothetisch und ungen\u00fcgende Auskunft. Schiff 1 ist der Meinung, dass die Beschr\u00e4nkung der Reflexbewegungen durch das Gehirn, wenigstens zum Theil, darin eine Erl\u00e4uterung finde, dass dieses durch seine Anwesenheit der reizenden Einwirkung eine gr\u00f6ssere Ausbreitung erlaube, wodurch der Antrieb zur Bewegung an Intensit\u00e4t entsprechend einb\u00fcsse. Als St\u00fctze f\u00fcr diese Hypothese weist er darauf hin, dass bei gek\u00f6pften Eidechsen die Bewegungen der hinteren Extremit\u00e4ten und des Schwanzes um so heftiger bei denselben Reizen w\u00fcrden, je mehr man von vorn her vom R\u00fcckenmark abtrage. Anregend wirkte die Behauptung von Setschenow 2, dass es im Gehirn gewisse r\u00e4umlich abgegrenzte Theile g\u00e4be, deren Erregung irgend welcher Art direct hemmend auf die Erzeugung von Reflexbewegungen wirke. Seit dieser Zeit ist f\u00fcr jene auch erst der Ausdruck \u201eHemmungsmechanismen\u201c in Aufnahme gekommen. Als solche betrachtet er beim Frosche die Thalami optici, die Zweih\u00fcgel und den oberen Theil des verl\u00e4ngerten Marks. Er kommt zu dieser Ansicht durch die Erfahrungen, dass die mechanische Reizung der genannten Gehirntheile, wie ein jeder Schnitt durch dieselben sie darstellt, sowie auch Reizungen durch Kochsalz etc. eine minutenlang dauernde Depression des Reflexverm\u00f6gens hervorrufen. Der Ausdruck hemmend bezog sich auf die Verl\u00e4ngerung derZeit des Eintritts der Reflexbewegung, vom Moment der Reizung der Hautnerven an gerechnet, die durch die Erregung der sogenannten Hemmungsmechanismen eintrat. Die Messung der Zeiten geschah nach der T\u00fcRCK\u2019schen Methode. Mehr oder minder hypothetisch ertheilt er diesen Hemmungsmechanismen die Eigenschaft, sich in schwacher tonischer Erregung zu befinden und auf reflectorischem Wege in eine\n1\tM. Schiff, Lehrbuch d. Physiologie des Menschen. I. Muskel u. Nervenphy-siologie. S. 199 ff. Lahr. 1858\u20141859.\n2\tJ. Setschenow, Physiologische Studien \u00fcber d. Hemmungsmechanismen f. d. Reflexth\u00e4tigkeit im Gehirn d. Frosches. Berlin 1863. Weiteres \u00fcber Reflexhemmung beim Frosch: Ztschr. f. rat. Med. (3) XXII. S. 6; J. Setschenow u. Paschutin, Neue Versuche am Hirn u. R\u00fcckenmark d. Frosches. Berlin 1865 ; Setschenow, Zur Frage \u00fcber d. Reflexhemmungen. Bull. d. l\u2019acad. imp\u00e9riale de St. Petersbourg. XX. S. 537 ; Setschenow, Ueber d. electrische u. chemische Reizung d. sensiblen R\u00fcckenmarksnerven des Frosches. Graz 1S68.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Hemmungsmechanismen.\n35\nst\u00e4rkere zu verfallen. Die Bahnen, auf denen sich die deprimirende Wirkung der Sehh\u00fcgelreizung vorz\u00fcglich fortpflanzt, sollen vorzugsweise in den vorderen R\u00fcckenmarkstheilen liegen; die graue Substanz soll daran keinen Antheil haben. F\u00fcr rein tactile Reflexe sollen keine Hemmungsmechanismen existiren. Unter dem Einfl\u00fcsse von auf gegnerischer Seite entdeckten Thatsachen glaubt sich endlich Setschenow sp\u00e4ter noch davon \u00fcberzeugt zu haben, dass auch im R\u00fcckenmark selbst (und in den \u00fcbrigen Th eilen des centralen Nervensystems?) Reflexhemmungscentren, wenigstens f\u00fcr gewisse Muskelgruppen, vork\u00e4men. Diese Lehre fand Anh\u00e4nger und Widersacher. Wesentlich neue Thatsachen haben die ersteren1 der von Setschenow angegebenen nicht hinzugef\u00fcgt. Bei den Gegnern2 st\u00f6sst man auf die folgenden Thatsachen und Erw\u00e4gungen. Einige berufen sich im Streite gegen die besonderen, localisirten Hemmungsmechanismen neben andern untergeordneten Gr\u00fcnden auf die Erfahrung, dass eine intensive Reizung, sei es centraler, sei es peripherer Ner-ventheile bei Thieren mit oder ohne Setschenow\u2019s Hemmungsmechanismen, wenn nicht stets, doch sehr oft eine Depression des Reflexverm\u00f6gens hervorrufe, und dass insbesondere eine Reizung der unteren Abtheilung des R\u00fcckenmarks eine Depression der Reflexe im vorderen K\u00f6rpertheile bewirke. Gegen die Richtigkeit dieser Angabe ist wohl kaum aufzukommen. Unter den Gegnern, welche aus der eben erw\u00e4hnten Erfahrung ihren haupts\u00e4chlichsten Grund gegen die SETSCHENOw\u2019sche Lehre entnehmen, hat sich nach dem Vorg\u00e4nge von Goltz 3 die Hypothese gebildet, dass ein Reflexcentrum, welches einen gewissen Reflexact vermittelt, an Erregbarkeit f\u00fcr diesen einb\u00fcsst, wenn es zu derselben Zeit, in der es f\u00fcr jenen angeregt wird, noch von anderer Seite her Erregungen erf\u00e4hrt. Es wird mithin der Grund f\u00fcr die Reflexhemmung in einer Zustands\u00e4nderung des Reflexcentrums selbst gesucht. Diese Deutung ist der alten Hippokratischen im Gebiete der Empfindungen analog. Soll jedoch mit Hilfe dieser Annahme die Bedeutung des Gehirns f\u00fcr die Reflexbewegungen erl\u00e4utert\nr Matkiewicz, Ueber d. Wirkung d. Alkohols, Strychnins u. Opiums auf d. re-fiexhemmenden Mechanismen d. Frosches. Ztschr. f. rat. Med. XXL S. 230. 1864; Simonoff, Die Hemmungsmechanismen d. S\u00e4ugethiere experimentell bewiesen. Arch, f. Anat. u. Physiol. 1866. S. 545 ; Danilewsky , Untersuchungen zur Physiologie des Centralnervensystems. Ibid. 1866. S. 677 ; Weil, Die physiologische Wirkung d. Digitalis auf d. Reflexhemmungs centra d. Frosches. Ibid. 1871. S. 257.\n2\tA. Herzen, Exp\u00e9riences sur les centres mod\u00e9rateurs. Turin 1864; Lewisson, Ueber Hemmung d. Th\u00e4tigkeit d. motorischen Nervencentren durch Reizung sensibler Nerven. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1869. S. 255.\n3\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre v. d. Functionen d. Nervencentren d. Frosches. Berlin. 1869; Freusberg, Ueber d. Erregung u. Hemmung d. Th\u00e4tigkeit d. nerv\u00f6sen Centralorgane. Arch. f. d. ges. Physiol. X. S. 174.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nwerden, so wird man immerhin doch noch fragen m\u00fcssen, ob es im Gehirn gewisse, abgegrenzte Stellen gibt oder nicht, von denen aus den Reflexcentren diejenigen Erregungen zugef\u00fchrt werden, welche die gedachte Zustands\u00e4nderung bewirken. Ergibt eine genaue Untersuchung die Existenz solcher, so kann man festsetzen, sie Hemmungsmechanismen zu nennen; aber sie w\u00fcrden keine specifische, dem Gehirn allein zukommende Vorrichtungen darstellen. Daher bedenke man auch, dass der gesammte Hemmungsapparat aus zwei Theilen bestehen w\u00fcrde, einer im Gehirn liegenden Abtheilung, von welcher die Erregung ausginge und einer im R\u00fcckenmark befindlichen, durch welche die Hemmung vollzogen w\u00fcrde. Andere Gegner der Set-scHENOw\u2019schen Hemmungsmechanismen m\u00f6gen diese aus einem anderen Grunde nicht. Sie gehen davon aus, dass in den von Setschenow angestellten Versuchen keine wirkliche Hemmung der Reflexbewegungen, sondern nur eine Verz\u00f6gerung ihres Eintritts beobachtet werde. Cyon1, von welchem diese Bemerkung ausgegangen ist, behauptet, durch besondere Versuche nachgewiesen zu haben, dass ein Reiz, welcher die Haut w\u00e4hrend der Reizung der Thalami durch Kochsalz trifft, n\u00e4herungsweise zu derselben Zeit, wo derselbe Reiz bei Abwesenheit der Thalamireizung eine Reflexbewegung aus-l\u00f6sst, eine allm\u00e4hliche Contraction des Gastrocnemius hervorzurufen beginnt, die sp\u00e4ter in eine energische Zuckung \u00fcbergeht, die unter Umst\u00e4nden st\u00e4rker ausf\u00e4llt, als die bei Abwesenheit der Thalamireizung. Er schliesst hieraus, dass der Erfolg der Reizung des erw\u00e4hnten Hirntheils nicht in einer Hemmung, sondern in einer Verz\u00f6gerung der Reflexbewegung bestehe und macht die Annahme, dass die Verz\u00f6gerung des Reflexes von einer Vergr\u00f6sserung der Widerst\u00e4nde herr\u00fchre, welche durch die erregten Thalami sich der Fortpflanzung der Erregung durch die Ganglienzellen entgegenstellen. Er verwirft aus diesem Grunde die speciellen reflexhemmenden Centra. Man muss in der That zugeben, dass die von Setschenow gew\u00e4hlte Versuchsform nach einer Seite hin nicht ganz gl\u00fccklich gew\u00e4hlt ist. Ein etwaiger Unterschied in der St\u00e4rke der Reflexzuckung auf einen sehr kurzen sich gleichbleibenden, etwa elektrischen Reiz, bei gereizten und nicht gereizten Hirntheilen w\u00fcrde eine anschaulichere Belehrung \u00fcber den Einfluss etwaiger hemmender Hirntheile geben. Eigentlich ist aber diese Art des Versuchs, wenn auch nicht besonders elegant, in der Erfahrung gegeben, dass unmittelbar nach der Enthauptung ein mechanischer Reiz von einer St\u00e4rke, die sp\u00e4ter\n1 E. Cyon, Zur Hemmungstheorie d. re\u00fcectorischen Erregungen. Beitr\u00e4ge zur Anat. u. Physiol, als Festgabe Carl Ludwig gewid. v. s. Sch\u00fclern. 1. Hft. S. 96. 1875.","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Hemmungsmechanismen.\n37\nsehr deutliche Reflexbewegungen ausl\u00f6sst, gar keine, also eine Zuckung von der St\u00e4rke Null gibt. Tr\u00e4gt man allen bis jetzt auf diesem Gebiet bekannten Erfahrungen Rechnung, so kommt man meines Erachtens \u00fcber die Annahme nicht hinaus, dass von dem Gehirn im Ganzen, oder in einzelnen seiner Theile Wege nach dem R\u00fcckenmark gehen, durch deren Erregungen die am R\u00fcckenmark auftretenden Reflexbewegungen in ihrer normalen Erscheinungsweise gehindert werden k\u00f6nnen. Diese Einwirkung scheint sich sowohl auf die Zeit, die zwischen Einwirkung des Reizes und dem Eintritte der Bewegung verfliesst, als auch auf die St\u00e4rke der Zuckung zu erstrecken. Man kann jene Wege, inclusive der Oerter, wo sie zum ersten Male von den Erregungen betreten werden, Hemmungsmechanismen nennen. Diesem Gebrauch steht nach dieser Verst\u00e4ndigung Nichts im Wege. Wir haben aber in diesen Vorrichtungen nichts Specifisches, dem Gehirn Eigenthiimliches zu erblicken, da auch Erregungen anderer Theile des Nervensystems denselben Effect haben k\u00f6nnen. Von Hirntheilen ausgehende Erregungen aber m\u00fcssen wir annehmen und k\u00f6nnen uns die Sache mit Schiff nicht so vorstellen, dass in Folge der Abtragung des Gehirns die sensiblen Anregungen sich auf einen geringem Theil des Nervensystems ausbreiten und darum effectvoller sind, weil gem\u00e4ss dem alten WsYTT\u2019schen Versuch in der ersten Zeit nach dem K\u00f6pfen des Thieres eine Depression des Reflexverm\u00f6gens auftritt, die hernach verschwindet. Dies schliesst nicht aus, dass bei gewissen Erregungsformen des Gehirns auch eine blosse Verz\u00f6gerung des Reflexvorganges Vorkommen kann.\nBei der bisherigen Darstellung ist nur von dem Einfl\u00fcsse des Gehirns auf die refleetorischen Bewegungen der Skeletmuskeln die Rede gewesen. Es kommen aber auch Hemmungen von Seiten des Gehirns im Gebiete andrer reflectorischer Erscheinungen vor. Von ihnen werde ich an einem Orte, der mir zweckm\u00e4ssiger, als der gegenw\u00e4rtige scheint, handeln.\nV. Geschwindigkeit der hei den Reflexbewegungen stattfindenden Innervationsvorg\u00e4nge*\nHelmholtz1 entdeckte mittelst Versuche am Myographion, dass bei den Reflexbewegungen die Zeit, welche w\u00e4hrend der Uebertra-gung der in sensiblen Nerven erzeugten Erregung auf die motorischen Nerven vergeht, gegen 12 mal so gross sei, als die, welche w\u00e4hrend\n1 Bericht \u00fcber die zur Bekanntmachung geeigneten Abhandl. d. Berliner Acad. S. 332. 1854.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nder Leitung in den sensiblen und motorischen Nerven verstreicht. Ausf\u00fchrlicher ist der genannte Autor auf diesen Gegenstand nicht wieder zur\u00fcckgekommen. Erst gegen 20 Jahre sp\u00e4ter haben andre Forscher diese Frage nach der Geschwindigkeit der Uebertragung innerhalb des R\u00fcckenmarks wieder vorgenommen. Versuche von Rosenthal 1 liegen bis jetzt nur in kurzen S\u00e4tzen ohne Mittheilung der Methode vor. Sie best\u00e4tigen im Allgemeinen den verh\u00e4ltniss-m\u00e4ssig sp\u00e4ten Eintritt reflectorischer Zuckungen verglichen mit denen durch directe Reizung motorischer Nerven erzeugten. Ausserdem enthalten sie eine Anzahl Einzelheiten \u00fcber die Reflexzeit, unter welcher die Zeit verstanden wird, welche w\u00e4hrend der Uebertragung und Umwandlung des sensiblen Vorgangs auf die motorischen Nerven innerhalb des Marks vergeht. Dieselbe ist abh\u00e4ngig von der Reizst\u00e4rke, sie nimmt mit der St\u00e4rke des Reizes ab und kann bei sehr starken Reizen unmerklich werden. Es ist anzunehmen, dass, falls sich der Verf. electrischer Reize bediente, er sich \u00fcberzeugt hat, dass er es stets mit \u00e4chten Reflexbewegungen zu thun hatte. Bestimmt man die Reflexzeit f\u00fcr einen Muskel derselben und den analogen der anderen Seite bei Reizung einer gewissen Hautstelle, so ist die Reflexzeit im letzteren Falle gr\u00f6sser, als im ersteren. Die Gr\u00f6sse dieses Betrags wird die Zeit der Quer leitun g genannt. Auch sie ist eine Function der Reizst\u00e4rke. Reflexzeit und Querleitung \u00e4ndern sich mit der Erm\u00fcdung des R\u00fcckenmarks. Reizungen eines sensiblen Nerven an Stellen, die verschieden weit vom R\u00fcckenmark entfernt sind, f\u00fchren unter der Voraussetzung der Anwendung von Reizen, die das Maximum der Reflexzuckung geben, zu verschiedenen Werthen der Reflexzeit, von welchen der, welcher der dem R\u00fcckenmark n\u00e4heren Stelle entspricht, der kleinere ist. Man kann dies ungezwungen durch die Annahme erkl\u00e4ren, dass die\u2018Nerven der Leitung einen Widerstand entgegensetzen, welcher den Reiz abschw\u00e4cht. Es ist bemerkenswerth, dass auch bei Reflexen, bei denen das Gehirn als Uebertragungsorgan fungirt, f\u00fcr einen st\u00e4rkern Reiz eine k\u00fcrzere Reflexzeit gefunden worden ist. Exner1 2 fand f\u00fcr das durch die electrische Reizung der Lidhaut hervorgerufene reflectorische Augenblinzeln f\u00fcr die reducir ten 3 Reflexzeiten die Werthe\n1\tAbhandl. d. Berliner Acad. 1873. S. 104 ; 1875. S. 419.\n2\tSigm. Exner, Experimentelle Untersuchungen d. einfachsten psychisch. Pro-cesse. 2. Ahhandlg. Ueber Reflexzeit u. R\u00fcckenmarksleitung. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 526.1874.\n3\td. h. nach Abzug der f\u00fcr die Leitung in den sensiblen und motorischen Nerven verbrauchten Zeiten. Exner nennt also reducirte Reflexzeit die Zeit, welche andere Forscher einfach Reflexmt nennen.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Reflexzeit.\n39\n0,0471 und 0,055 Secunde, von denen der kleinere dem st\u00e4rkeren Reize entsprach. F\u00fcr das durch den schwachem optischen Eindruck eines electrischen Funkens hervorgerufene Augenblinzeln ergaben sich viel gr\u00f6ssere Reflexzeiten. Ebenso ist anzumerken, dass die von Rosenthal gemachte Angabe, dass die Uebertragung von einer Seite zur anderen mehr Zeit verlange, als wenn sie auf derselben Seite des R\u00fcckenmarks geschieht, von andrer Seite, durch Wundt \\ best\u00e4tigt worden ist. Dagegen glaubt dieser Forscher gefunden zu haben, dass die Reflexzeit von der Reizst\u00e4rke unabh\u00e4ngig sei. Uebrigens verrechnet Wundt wie es scheint als Reflexzeit eine etwas andere Gr\u00f6sse, als Rosenthal. Er l\u00e4sst auf ein Pendelmyograph zwei Curven schreiben, von denen die eine der directen Reizung des motorischen Nerven, die andere der reflectorischen Erregung durch Reizung der hinteren Wurzel entspricht. Dieder gesammten Verr\u00fcckung beider Curven entsprechende Zeit, welche mithin auch noch die Zeit in sich schliesst, die w\u00e4hrend der Fortpflanzung des Reizes im sensiblen Nervenst\u00fcck verfliesst, wird als Reflexzeit gerechnet. Indess wegen der geringen L\u00e4nge dieses Nervenst\u00fccks kommt diesem Punkt wohl kaum eine sachliche Bedeutung zu. Uebrigens wechseln die Werthe der Reflexzeiten unter gleichen Umst\u00e4nden je nach den besonderen Zust\u00e4nden, in denen sich die Centralorgane befinden. Hiervon weiter unten.\nVI. Einfluss verschiedener Zust\u00e4nde des R\u00fcckenmarks auf die\nReflexbewegungen.\nSchon M. Hall wusste, dass die vom R\u00fcckenmark abh\u00e4ngigen Reflexbewegungen Aenderungen erfahren, wenn man den Thieren gewisse Gifte einverleibt. Sp\u00e4tere Forschungen ergaben, dass auch andere Einwirkungen, wie Druck, Temperatur etc. \u00e4hnliche Einfl\u00fcsse aus\u00fcben. Die Untersuchung dieser Seite der Reflexbewegungen hat heute bereits eine grosse Ausdehnung gewonnen, insbesondere sind sich hier durch eine genaue Untersuchung des Einflusses verschiedener in das Blut eingef\u00fchrter Stoffe auf die Reflexbewegungen Physiologen und Pharmacologen begegnet und haben ein reiches Erfahrungsmaterial zusammengebracht. Es kann nicht meine Absicht sein, alle bis jetzt bekannten Erfahrungen auf diesem Gebiete mitzutheilen; dies ist Aufgabe eines Handbuchs der Pharmacologie. Ich treffe eine kleine Auswahl und lasse mich dabei von dem Gesichtspunkt leiten,\n1 Wundt, Untersuchung zur Mechanik der Nerven und Nervencentren. 2. Abh. Ueber den Retiexvorgang und das Wesen der centralen Innervation. Stuttgart 1S76.","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nmir solche Beispiele besonders vorzuf\u00fchren, welche einerseits verschiedenartige Wirkungen zeigen, andererseits so methodisch und klar durchgearbeitet sind, dass man daran zeigen kann, welche Punkte man bei derartigen Untersuchungen besonders zu ber\u00fccksichtigen hat und durch welches Verfahren man sie ins Klare setzt.\nStrychnin.1 Die Kenntniss des Strychninkrampfes \u00fcberhaupt ist alt, \u00e4lter als die Kenntniss des reinen Alkaloids.2 Dass es die durch das R\u00fcckenmark vermittelten Reflexe bei decapitirten Thieren, selbst an St\u00fccken des R\u00fcckenmarks, erh\u00f6ht, ist zuerst von M. Hall gesehen worden.3 4 5 6 7 Dieser hat dadurch, dass er zeigte, wie mit der Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks die Strychninkr\u00e4mpfe aufh\u00f6ren, Stannius 4 in der Art, dass, wenn der Zutritt strychninhaltigen Blutes zum R\u00fcckenmark verhindert wird, die Kr\u00e4mpfe fehlen, und Meyer 5 auf die Weise, dass er darthat, die motorischen Nerven k\u00f6nnen durch directe Application des Giftes auf sie nicht erregt werden, mehr denn ausreichend bewiesen, dass der Strychnintetanus eine Folge der Wirkung des Giftes auf das R\u00fcckenmark ist. Der letztere suchte ausserdem durch besondere Versuche noch nachzuweisen, dass die graue Substanz des Marks der eigentliche Angriffspunkt des Giftes sei. Um zu erfahren, ob das Strychnin nicht neben seiner Wirkung auf das R\u00fcckenmark auch noch die Erregbarkeit der Nerven erh\u00f6he, hat Meihuizen 6 die Zuckungen verglichen, welche der n. ischiadicus bei gleicher St\u00e4rke des Reizes vor und nach der Vergiftung giebt. Es fand sich kein Unterschied. Bernstein 1 machte den Versuch, darzuthun, dass auch die Reizbarkeit der sensiblen Nerven keine Aenderung durch das Strychnin erfahre. Nach diesem Forscher bekommt das R\u00fcckenmark des Frosches bis auf einen kleinen unteren Abschnitt sein Blut vom verl\u00e4ngerten Mark her. Theilte er nun das Mark und vergiftete mit Strychnin, so \u2018zeigte der untere Abschnitt normale, der'vordere erh\u00f6hte Reflexth\u00e4tigkeit. Da die Blutzufuhr zu allen Hautnerven nicht alterirt worden war, so hatte das Gift die zum hinteren R\u00fcckenmark-\n1\tIch ziehe hier das Strychnin nur in seiner Wirkung auf die Reflexe der Skeletmuskeln in Betracht, \u00fcber seine Wirkung auf andere Muskelfasern weiter unten.\n2\tMagendie, Examen de l\u2019action de quelques v\u00e9g\u00e9taux sur la moelle epini\u00e8re. Paris 1807 ; Pelletier et Caventou, Memoire sur un nouveau alcali (la strychnine) etc. Ann. d. chim. et phys. X. p. 142.1818.\n3\tM. Hall, On the reflexfunction etc. Philos. Transact. Roy. Soc. 1833. II. p. 635.\n4\tH. Stannius, Ueber die Wirkung des Strychnins etc. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1837. S. 223.\n5\tH. Meyer, Ueber die Natur des durch Strychnin erzeugten Tetanus. Ztschr f. rat. Med. V. S. 257. 1846.\n6\tS. Meihuizen, Invloed van sommige Stoffen op de reflexprikkelbaarheid van het ruggemerg. Groningen 1872. Arch f. d.ges. Physiol. VIL S. 201. 1873\n7\tBernstein, Molescb. Unters. X. S. 280.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung des Strychnins auf die Reflexe.\n41\nabschnitt geh\u00f6rigen Hautnerven in ihrer Erregbarkeit nicht erh\u00f6ht. Bernstein warnt vor zu starker Vergiftung, und ich selbst muss aus eigner Erfahrung die gr\u00f6sste Vorsicht anempfehlen, dieses Verfahren in allgemeinere Anwendung zu bringen, indem ich F\u00e4lle genug gesehen habe, bei denen auch trotz schwacher Vergiftung der hintere Abschnitt erh\u00f6hte Reflexth\u00e4tigkeit zeigte, und somit der beabsichtigte Schluss nicht gemacht werden konnte. Die die Reflexe vermehrende Wirkung des Strychnins, Brucins, Thebains, Coffeins, soll geschw\u00e4cht, sogar gehindert werden durch apnoisches Blut. Ich begn\u00fcge mich mit dieser einfachen Bemerkung, da dieser mehrfach widersprochene Punkt durch weitere Arbeiten erst noch der Kl\u00e4rung bedarf.1 Die Gaben, welche von einen Strychninpr\u00e4parat nothwendig sind, seinen Einfluss auf die Reflexerregbarkeit zu zeigen, wechseln nach der Art des Thieres, dem es administrirt wird. F\u00fcr Fr\u00f6sche gen\u00fcgt V\u00dfo Milligramm des Acetats, Meerschweinchen und H\u00fchner sind besonders unempfindlich gegen Strychninpr\u00e4parate.2 Die Wirkung auf das Reflexpr\u00e4parat zeigt sich darin, dass bei schw\u00e4chern Vergiftungen weniger intensive Reize gen\u00fcgen, die am vergifteten Thiere darstellbaren Reflexe auszul\u00f6sen3, bei st\u00e4rkeren Vergiftungen auf die geringf\u00fcgigsten Reize andere Formen der Reflexbewegungen, heftige Streckkr\u00e4mpfe, Strychnintetanus, hervortreten. S. Mayer4 hat behauptet, dass die Krampfwirkung des Strychnins mit einer Wirkung auf das verl\u00e4ngerte Mark anfange und sich dann erst auf das R\u00fcckenmark erstrecke. Er glaubte diese Meinung aus seiner Erfahrung ab-\n1\tMan vergl. dazu die folgenden Arbeiten: Leube, Unters, \u00fcb. d. Strychnin Wirkung u. deren Paralysirung durch k\u00fcnstl. Respiration. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1867. S. 629; Uspensky, Der Einfluss der k\u00fcnstl. Respiration auf die nach Vergiftung mit Brucin, Thebain etc. eintretenden Kr\u00e4mpfe. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868. S. 522; H. Ebner, Ueber d. Wirkung d. Apno\u00eb bei Strychninvergiftung. Inaug.-Diss. Giessen 1870 ; R. B\u00fcchheim, Ueber d. Einfluss d. Apno\u00eb auf Strychnin- u.Brucinvergiftungen. Arch. f. d. ges. Physiol. XL S. 177 ; Filehne , Ueber Apno\u00eb u. d. Wirkung eines energischen Kohlens\u00e4urestromes auf d. Schleimh\u00e4ute d. Respirationsapparates u. \u00fcber d. Einfluss beider auf verschied. Krampfformen. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1873. S. 361; Brown - S\u00e9quard, Note sur un moyen etc. Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1872! Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. S. 190 ; Rossbach, Ueber d. Einfluss d. kiinst. Respir. auf Strychninvergiftung. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1873. S. 369; J. Jochelsohn, Ueber d. Einfluss d. k\u00fcnstl. Respir. auf Strychninvergiftung. W\u00fcrzburger Verh. N. F. V. S. 107. 1874 ; R. Buchheim, Ueber d. therapeut. Verwendung d. Sauerstoffs. Arch, f. exper. Pathol, u Pharmak. IV. S. 137 ; insbes. S. 144. 145; L. Pauschinger, Der Einfluss d. Apno\u00eb auf d. durch Strychnin hervorgerufenen Kr\u00e4mpfe. Arch. f. Anat. u. Physiol. Physiol. Abthlg. 5. u. 6. S. 401. 1878.\n2\tW. Leube, Unters, \u00fcber d. Strychninwirkung etc. Arch. f. Anat. \u00fc. Phvsiol\nS. 629.1867.\tJ '\n3\tEs w\u00e4re w\u00fcnschenswerth, \u00fcber diesen Punkt noch eine besondere Untersuchung auszuf\u00fchren.\n4\tS. Mayer , Ueber d. Einwirkung d. Strychnins auf d. vasomotorische Nerven-centrum. Sitzungsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. LIV. Nov.-Hft. 1871.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nleiten zu d\u00fcrfen, dass bei einem strychninisirten Thiere, dessen R\u00fcckenmark im Brusttkeile durchschnitten ist, der Krampf zuerst im oberen und dann im unteren K\u00f6rpertkeile ausbricht. Dieser Angabe ist jedoch von Freusberg widersprochen worden. Hervorzuheben ist noch, dass nur Ber\u00fchrungen und nicht Reize mit S\u00e4uren diesen Strychnin tetanus erzeugen k\u00f6nnen. Zur Erl\u00e4uterung dieses Verhaltens ist an peripherische Ursachen nicht zu denken, wie Meihuizen1 nachwies. Die ausgebreiteteren und verst\u00e4rkten Reflexbewegungen, welche man nach Strychninvergiftung beobachtet, kann man beziehen entweder auf eine Vergr\u00f6sserung der Erregbarkeit derjenigen Theile, welche die sensiblen Nervenerregungen in motorische \u00fcberf\u00fchren, so dass die verst\u00e4rkten Erregungen, welche von jenen Theilen ausgehen, nun verst\u00e4rkte Bewegungen hervorrufen und sich auch auf Bahnen fortpflanzen k\u00f6nnen, wohin sie vorher wegen ihrer Schw\u00e4che nicht drangen, oder auf eine Hinwegr\u00e4umung gewisser Widerst\u00e4nde in den vorher benutzten, zugleich aber auch in fr\u00fcher nicht betretenen Nervenbahnen. Entscheidende Thatsachen f\u00fcr die eine oder andere Ansicht sind meines Erachtens nicht vorhanden. Zum Schluss mag noch bemerkt werden, dass nach Rosenthal das Strychnin die Uebertragungszeit verkleinert, aber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in den peripherischen Nerven unver\u00e4ndert l\u00e4sst, nach Wundt dagegen die Reflexzeit vergr\u00f6ssert.\nChloroform. Schon M. Hall hat angegeben, dass hierdurch die Reflexth\u00e4tigkeit vermindert werde. Cayrade sah diese Wirkung ebenfalls und zwar, wie er ausdr\u00fccklich bemerkt, an Fr\u00f6schen, denen er zuvor das Gehirn abgetragen hatte. Diese l\u00e4hmende Wirkung, die \u00fcbrigens an dem bekirnten Thiere in der Regel nach einem kurzen Stadium der Aufregung eintritt, ist so oft beobachtet worden, dass es nicht nothwendig ist, daf\u00fcr noch besondere Zeugnisse beizubringen. Dagegen muss die Frage, auf welche Abtheilungen des Reflexapparates das Chloroform so deprimirend wirke, noch besonders vorgenommen werden. Ihre Zergliederung r\u00fchrt besonders von Bernstein'2 her. Dieser schaltete durch Gef\u00e4ssunterbindung ein Glied von der Einwirkung des Chloroforms aus und verglich die Erregbarkeit seiner motorischen Nerven mit der des analogen vergifteten Gliedes, als bereits an diesem die Verminderung der Reflexerregbarkeit deutlich ausgesprochen war. Er fand zu dieser Zeit keinen wesentlichen\n1\tMeihuizen, lieber d. Einfluss einiger Substanzen auf d. Reflexerregbarkeit d. R\u00fcckenmarks. Arch. f. d. ges. Physiol. VII. S. 201.\n2\tBernstein, Ueber die physiol. Wirkung d. Chloroforms. Molesch. Unters. X. S.2S0.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung des Chloroforms und der Temperatur auf die Reflexe.\t43\nUnterschied und bewies somit, dass die erw\u00e4hnte Wirkung des Chloroforms nicht auf einer Verminderung der Erregbarkeit der motorischen Nerven beruhe. Um zu sehen, ob die sensiblen Nervenst\u00e4mme etwas mit der Sache zu thun haben, wurde der Zufluss des vergifteten Blutes zu einer Extremit\u00e4t von Neuem gehemmt und dann die Reflexerregbarkeit derselben mit der analogen nicht vergifteten verglichen. Es wurde kein Unterschied gefunden; es trat in gleicher Weise L\u00e4hmung in beiden mit einander verglichenen Gliedern ein. Da man bereits wusste, dass die motorischen Nerven nicht wesentlich bei der Herabsetzung der Reflexerregbarkeit betheiligt waren, so folgte aus dem letzten Versuch ein Gleiches f\u00fcr die sensiblen Nerven. Somit ergab sich, dass die Herabsetzung der Reflexerregbarkeit durch Chloroform ihren vorz\u00fcglichsten Grund in einer Einwirkung des Giftes auf die Centralorgane haben musste. In \u00e4hnlicher Wreise wie diese beiden Gifte sind noch eine Anzahl anderer mehr oder weniger vollst\u00e4ndig durchgearbeitet, so: Picrotoxin, Morphin, Narco-tin, Thebain, Aconitin, Chinin, Blaus\u00e4ure etc. etc.\nAuch die Temperatur, auf welcher sich die einzelnen bei den Reflexbewegungen betheiligten Nerventheile befinden, hat Einfluss auf die Erzeugung der Reflexbewegungen. Man vermenge mit diesem Punkte nicht die oben S. 30 gegebenen Darlegungen, welche sich auf die Ausl\u00f6sung von Reflexbewegungen durch Temperaturreize bezogen. Es ist eine bekannte, durch Brown-S\u00e9quard 1 etwas genauer verfolgte Erfahrung, dass Reflexpr\u00e4parate bei niederen Temperaturen ihre Eigenschaften l\u00e4nger, als bei hohem erhalten. Bringt man nach Cayrade jene in allm\u00e4hlich steigende Temperaturen, jedoch der Art, dass das Anwachsen derselben nicht so rasch geschieht, dass es selbst als Reflexreiz wirkt, so werden mit der Erh\u00f6hung der Temperatur die auf irgend eine Art erzeugten Reflexe energischer, und die einzelnen Contractionen dauern l\u00e4nger an. Bei Temperaturen von 29\u201430\u00b0 C. kann auf diese Art sogar Tetanus entstehen.1 2 3 Ob dabei sich die Wirkung ausschliesslich auf das Mark oder auch zugleich auf die betheiligten Nerven erstreckt, liess sich aus seinen Versuchen nicht ersehen. Tarchanow 3 erw\u00e4rmte einzelne R\u00fcckenmarksabschnitte und fand, dass bei 24\u201470\u00b0 C. eine Erh\u00f6hung der durch Kneifen erzeugten Reflexe stattfindet, die jedoch um so fl\u00fcchtiger ist\n1\tBrown-S\u00e9quard, De la survie des Batraciens et Tortues apr\u00e8s l\u2019ablation de leur moelle allong\u00e9e. Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1851. p. 476.\n2\tCayrade, Recherches critiques et exp\u00e9r. sur les mouvements reflexes, p. 48.\n3\tTarchanow, Ueber d. Wirkung d. Erw\u00e4rmung resp. Erk\u00e4ltg. auf d. sensiblen Nerven etc. Bull. d. l\u2019acad. d. sciences de St. Petersbourg. XYI. p. 226.1870.","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nund einer Depression Platz macht, je h\u00f6her die Temperatur. Hieraus ergiebt sich, dass eine blosse Temperatursteigerung der R\u00fcckenmarkssubstanz die Reflexth\u00e4tigkeit erh\u00f6ht. Aehnliche Versuche stellte Archangelsks 1 an Reflexpr\u00e4paraten an, indem er das ganze R\u00fcckenmark zu erw\u00e4rmen suchte und die Reflexerregbarkeit nach T\u00fcrck\u2019s Methode pr\u00fcfte. Seine Erfahrungen widersprechen denen des vorigen Autors nicht. Er hebt nur besonders hervor, dass bei allm\u00e4hlicher Erw\u00e4rmung die Steigerung nicht wahrgenommen werde. Auf der andern Seite steigert aber auch eine bestimmte Erniedrigung der Temperatur ebenfalls die Reflexerregbarkeit. Tarchanow beobachtete und Freusberg best\u00e4tigte es, dass Einpacken des nicht enth\u00e4uteten Rumpfes des Reflexpr\u00e4parates des Frosches in Eis, diesen Einfluss habe. Ueber die Art der Deutung dieses Einflusses sind die beiden genannten Autoren verschiedener Meinung, die in ihren Arbeiten nachzusehen ist.1 2 3 Auch Wundt ist der Ansicht, dass die K\u00e4lte die Reflexth\u00e4tigkeit erh\u00f6he, er macht aber noch die Zus\u00e4tze, dass einmal, \u00fcbereinstimmend mit den Aussagen anderer Experimentatoren, der Eintritt der Muskelzuckung verl\u00e4ngert sei, sodann aber, dass bei l\u00e4ngerer Einwirkung die Reflexe ausblieben und zwar so hartn\u00e4ckig, dass sie selbst durch Strychnin nicht hergestellt werden k\u00f6nnten. Diese Wirkung der K\u00e4lte auf die Strychninkr\u00e4mpfe scheint nur bei gewissen Dosen des Giftes stattzufinden, indem nach einer \u00e4lteren Beobachtung von Kunde 3 bei geringen Strychningaben eine W\u00e4rmezufuhr den Tetanus unterdr\u00fccken, eine W\u00e4rmeentziehung ihn hervor-rufen und bei st\u00e4rkeren Gaben sich die Sache umgekehrt verhalten soll. Uebrigens gestatten die Angaben von Kunde keinen sichern Vergleich mit denen von Wundt, da ersterer nicht so auf die Dauer der Einwirkung der Temperatur geachtet hat, als letzterer.\nMan hat auch versucht, welchen Einfluss durch das R\u00fcckenmark geschickte electrische Str\u00f6me auf die Entstehung der Reflexbewegungen haben. Ich ziehe hierher nicht die \u00e4lteren, von Nobili und Matteucci herr\u00fchrenden Versuche, bei denen diese Absicht nicht durchleuchtet und aus denen auch nicht zu ersehen ist, ob die Str\u00f6mung nur das R\u00fcckenmark und nicht auch die gr\u00f6sseren Ner-venst\u00e4mme durchzog, sondern nur einige neuere, bei denen man auf\n1\tSchwalbe u. Hofmann, Jahresber. IL S. 556.\n2\tFreusberg, K\u00e4lte als Reflexreiz. Arch. f. d. ges. Physiol. S. 174. 181. 1875; Tarchanow. Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1875. No. 23 u. 34 ; Freusberg, K\u00e4lte als Reflexreiz. Arch. f. exper. Pathol, u. Pharmak. VI. S. 49. 1877.\n3\tKunde, Ueber d. Einfluss d. W\u00e4rme u. d. Electric, auf d. R\u00fcckenmark. W\u00fcrzburger Verhandl. VIII. S. 175. 1858; Virchow, Arch. f. pathol. Anat. XVIII. S. 357. 1860.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung electrischer Str\u00f6me durch das R\u00fcckenmark.\n45\nbeide Punkte Bedacht genommen findet. Ranke1 fand, dass bei einer gewissen Wahl der Stromst\u00e4rke beide Stromesrichtungen durch das R\u00fcckenmark gek\u00f6pfter Fr\u00f6sche der L\u00e4nge nach geschickt, die Strychninkr\u00e4mpfe und die auf tactile Reize entstehenden normalen Reflexbewegungen schw\u00e4cher werden und resp. verschwinden. Quere Durchstr\u00f6mung hat keinen solchen Erfolg. Der Autor ist der Ansicht, dass der Strom die zur Reflexbewegung nothwendige Arbeit der Ganglienzelle gerade so l\u00e4hme, wie er unter Umst\u00e4nden den Innervationsvorgang jn seiner Fortpflanzung hemmen kann. Legkos und Onimus2 schreiben dem absteigenden Strom eine st\u00e4rkere als dem aufsteigenden zu, welcher letztere nur zuweilen eine Aufhebung, meistens aber eine Steigerung der Reflexe zur Folge habe. Hiermit stimmen nicht die Versuche von Uspensky.3 Er leitete die Str\u00f6me durch das R\u00fcckenmark nicht enthaupteter Fr\u00f6sche; bei nicht zu langer Dauer der Str\u00f6me, welche das R\u00fcckenmark l\u00e4hmen, fand er, dass der aufsteigende Strom die Reflexbewegungen der unteren Extremit\u00e4ten schw\u00e4chte oder aufhob, der absteigende sie bestehen liess. Picrotoxinkr\u00e4mpfe wurden durch den aufsteigenden am Entstehen verhindert, der absteigende bes\u00e4nftigte sie. Es ist eine erneute Untersuchung dieser Einwirkung auf das R\u00fcckenmark bez\u00fcglich der Reflexbewegungen angezeigt. Ich m\u00f6chte rathen, dabei die Bewegungen nicht an den hinteren Extremit\u00e4ten auszul\u00f6sen. F\u00fcr diese laufen die Nerven eine so betr\u00e4chtliche Strecke im Wirbelkanal, dass es schwer sein wird, den Strom nur auf das R\u00fcckenmark zu beschr\u00e4nken. Ueberhaupt aber will es mir scheinen, als ob die s\u00e4mmtlichen Versuche, welche es sich zum Ziel setzen, die Aenderungen der Reflexbewegungen in Folge verschiedener Einwirkungen auf das R\u00fcckenmark zu untersuchen, keine besondere Frucht treiben wollten. Setzt man die etwa practisch verwerthbaren Erfahrungen bei Seite, so werden sie schwerlich neue Einsichten in das Wesen der Reflexbewegungen erschliessen. Man wird kaum dahin gelangen, die Nerven-anf\u00e4nge von jenen Wirkungen auszuschliessen und so wird man, worauf doch alles ankommt, keine reine Erfahrungen \u00fcber das eigentliche Centralorgan sammeln. Nur Studien \u00fcber solche Einwirkungen, welche keinen Einfluss auf den peripherischen Nerven haben, werden hier f\u00f6rdern.\nAnalog den ver\u00e4nderten Reflexbewegungen je nach den Einwir-\n1\tJoh. Ranke, Ueber d. krampfstillende Wirkung d. electr. Stromes. Ztschr f Biologie. II. S. 398. 1866.\n2\tLegros u. Onimus, De l\u2019infliience etc. Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1868. p. 547.\n3\tP. Uspensky, Ueber d. Einfluss d. constanten Stromes auf d. R\u00fcckenmark. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1869. S. 577.","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nkungen, welchen wir die Centraltheile unterwerfen, sind diejenigen, welchen wir in pathologischen und vereinzelten physiologischen Zust\u00e4nden jener begegnen. Zu den ersteren geh\u00f6ren die noch unverstandenen Erscheinungen des traumatischen Tetanus und der Hydrophobie, zu den letzteren der normale Begattungskrampf m\u00e4nnlicher Fr\u00f6sche. Den letzteren hat Goltz 1 studirt und gefunden, dass sein Centrum in dem obersten Abschnitte des B\u00fcckenmarks liegt, und zur Zeit der Begattung durch die Beizung der Haut der Brust und der Beugeseite der Arme reflectorisch angeregt werden kann. Wie aber gerade zur Begattungszeit die grosse Erregbarkeit jenes R\u00fccken-markstheils sich ausbildet, ist noch unbekannt.\nVII. Abh\u00e4ngigkeit der Reflexe von dem Orte des sensiblen Nerven, an welchem der Reiz angreift.\nVon Mar. Hall '1 2 r\u00fchrt die Beobachtung her, dass sich die Reflexbewegungen von den \u00e4usseren Enden der Nerven leichter als von ihren St\u00e4mmen ausl\u00f6sen lassen. Sie ist seit jener Zeit zum \u00f6fteren best\u00e4tigt worden, z. B. von Volkmann3 und auch in die Lehrb\u00fccher der Physiologie \u00fcbergegangen. Der letztere Physiologe hob schon die auffallende Thatsache hervor, dass die directe Reizung einer gesammten hinteren Wurzel eines R\u00fcckenmarksnerven einen so erstaunlich geringen Erfolg habe. Fick und Erlenmeyer 4 haben die unter der R\u00fcckenhaut des Frosches leicht isolirbaren Ner-venst\u00e4mmchen zur Darstellung des angegebenen Verhaltens empfohlen. Sie machen bei dieser Gelegenheit darauf aufmerksam, dass bei elec-trischen Reizungen jener St\u00e4mmchen durch den einzelnen Inductions-schlag, wofern er \u00fcberhaupt eine Bewegung ausl\u00f6st, nur einzelne Zuckungen und keine geordneten Gliederbewegungen 'eintreten, wie sie bei Reizung der Endverzweigungen der Nerven in der Haut entstehen. Eine irgend erweisbare Erkl\u00e4rung dieser Thatsache ist bis jetzt nicht gegeben worden. Man kann daran denken, dass es periphere Einrichtungen der Nerven giebt, welche durch die einwirkenden Reize dem weiteren Verlaufe der Nerven solche Innervationsvor-g\u00e4nge einpr\u00e4gen, die zur Ausl\u00f6sung von Reflexbewegungen mehr geeignet sind als diejenigen, welche wir unmittelbar in den St\u00e4mmen\n1\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre v. d. Nervencentren d. Frosches. S. 29. 30. 1869.\n2\tM. Hall, Memoirs on the nervous system. London 1837.\n3\tVolkmann, Artikel Nervenphysiologie. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol. II. S. 544.\n4\tFick u. Erlenmeyer, Einige Bemerkungen \u00fcber Reflexbewegungen. Arch. f. d. ges. Physiol. III. S. 326.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Reflexe von verschiedenen Stellen eines Nerv. Reflexionsgesetze.\n47\nerregen. Es k\u00f6nnte aber auch sein, dass die gleichzeitige Erregung so vieler Nervenfasern, wie sie bei der Reizung eines Nervenstammes stattfindet, so ungeordnete Erregungen der Centralorgane zu Stande bringt, dass die eine hemmt, was die andere anregt, so dass wir also etwa nur in anderer Form die oben Seite 35 erw\u00e4hnte Erfahrung vor uns h\u00e4tten, dass die Entstehung von Reflexbewegungen durch die gleichzeitige Erregung anderer Nerven gehindert werden kann. Es ist bis jetzt zwischen diesen Annahmen noch nicht entschieden. Ob sich die erstere nicht w\u00fcrde pr\u00fcfen lassen, wenn man f\u00fcr einen sehr kleinen Hautzweig seinen peripheren Verbreitungsbezirk bestimmte und dann in einem Versuch denselben im Ganzen der Reizung unterw\u00fcrfe und in einem andern ebenso das Nervenst\u00e4mmchen?\nVIII. Gesetzm\u00e4ssige Beziehungen der Riiekeimiarkreflexe zwischen Reiz und erfolgender Bewegung.\nDie Erfahrung hat gezeigt, das zwischen den die Haut treffenden Reizen und den erfolgenden Bewegungen gesetzm\u00e4ssige Beziehungen bestehen, welche in eine Anzahl von Regeln zusammenfassbar sind. Diese Formulirungen hat Pfl\u00fcger 1 gegeben. Derselbe stellte die folgenden Reflexionsgesetze auf. Wenn einem Hautreize eine einseitige Bewegung am K\u00f6rper folgt, so liegt diese stets auf der gereizten Seite \u2014 Gesetz der gleichseitigen Leitung f\u00fcr einseitige Reflexe. F\u00fcgen sich den Bewegungen auf der gereizten Seite solche der anderen hinzu, so treten diese in den Muskeln auf, welche auf der prim\u00e4r erregten Seite betroffen waren. Es k\u00f6nnen mithin doppelseitige Reflexe nie in gekreuzter Richtung auftreten. So kann man z. B. durch Erregung der sensiblen Nerven einer hinteren Extremit\u00e4t nie diese nebst der vorderen der entgegengesetzten Seite allein erregen. Erst dann gelingt letzteres, wenn am Reflexpr\u00e4parat noch ein die Pyramidenkreuzung enthaltendes St\u00fcck der medulla oblongata sich vorfindet. Von einem speciellen Falle gekreuzten Reflexes berichtet Gergens1 2 \u2014 Gesetz der Reflexsymmetrie. Wenn der auf einer Seite angebrachte Reiz auf beiden Seiten Reflexe der Art ausl\u00f6st, dass sie auf einer Seite heftiger als auf der andern sind, so finden die st\u00e4rkern Bewegungen auf der gereizten Seite statt \u2014 Gesetz des ungleich intensiven Auftretens bei dopp eiseitigen Reflexen. Wenn in Folge der Reizung eines Empfindungsnerven prim\u00e4r ein motorischer Nerv angeregt worden\n1\tPfl\u00fcger, Ueber d. sensorischen Functionen d. R\u00fcckenmarks. Berlin 1853.\n2\tGergens, Ueber gekreuzte Reflexe. Arch. f. d. ges. Physiol. XIV. S. 340. 1877.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nist, und nun die Erregung auf andere entferntere motorische Bezirke tibergeht, so geschieht diese Fortschreitung im Gehirn nach hinten und im R\u00fcckenmark nach oben, also in beiden F\u00e4llen in der Richtung gegen das verl\u00e4ngerte Mark \u2014 Gesetz der intersensitiv-motorischen Bewegung und Reflex-Irradiation.\nIX. Reflexe von verschiedenartigen Nerven ausgel\u00f6st.\nBekanntlich sind es die Ausbreitungen der Nerven in der \u00e4usseren Haut und den Schleimh\u00e4uten, durch deren Erregungen zumeist die Reflexbewegungen ausgel\u00f6st werden. Auch die hohem Sinnes-nerven erweisen sich dazu tauglich. Weniger gel\u00e4ufig sind die als Muskel- und Sehnenreflexe bekannten Bewegungen, welche durch Reizung der in den Muskeln und Sehnen sich ausbreitenden Nerven entstehen. Ueber diese m\u00f6gen, da sie theilweise den practischen Arzt interessiren, hier einige Bemerkungen stehen. Sachs 1 giebt an, durch die directe Reizung des m. Sartorius beim Frosche, sowie durch die des zu demselben gehenden Nervenst\u00e4mmchens Reflexbewegungen erhalten zu haben. Erb 2 und Westphal 3 beobachteten, dass durch schnelle Schl\u00e4ge, welche man auf das ligamentum patellare des Menschen aus\u00fcbt, Zuckungen im quadriceps entstehen. Aehnliches melden sie von anderen Sehnen. Derartige Reflexe sollen auch bei Kaninchen Vorkommen und nach hohen Durchschneidungen des R\u00fcckenmarkes in der Gegend des dritten Brustwirbels noch fortbestehen.1 * * 4 Erb sieht in jenen Bewegungen Reflexbewegungen, welche durch die mechanische Reizung der in den Sehnen sich verbreitenden Nervenfasern entstehen. Westphal machte auf die M\u00f6glichkeit aufmerksam, dass es sich dabei um eine directe Reizung des Muskels durch Ausdehnung handeln k\u00f6nne. Da aber nach Schultze die beim Kaninchen gesehenen Sehnenreflexe nach Durchschneidung der bez\u00fcglichen Muskelnerven aufh\u00f6ren, so wird wohl Erb\u2019s Deutung richtig sein. Es liegt nahe, anzunehmen, dass einzelne Sehnen mit mehr Nerven Verbreitungen, vielleicht auch mit besonderen Eigenth\u00fcmlichkeiten derselben versehen seien, als man bisher wusste. In der That hat auch Rollet 5\n1. C. Sachs, Physiologische u. anatomische Untersuchungen \u00fcber d. sensiblen Nerven d. Muskeln. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1874. S. 175.188.\n2\tErb, Ueber Sehnenreflexe. Verh. d. naturhist.-med. Ver. z. Heidelberg I. S. 137.1855.\n3\tC. Westphal, Ueber einige Bewegungserscheinungen an gel\u00e4hmten Gliedern. Arch. f. Psychiatrie. V. S. 792. 1875.\n4\tFr. Schultze u.P. F\u00fcrbringer, Experimentelles \u00fcber d. Sehnenreflexe. Cen-tralbl. f. d. med. Wiss. 1875. Nr. 54. S. 929.\n5\tA. Rollet, Ueber einen Nervenplexus etc. Sitzgsber. d. Wiener Acad. 3. Abth. LXXX1II. Jan.-Hft. 1876.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Einzelne Reflexcentra.\n49\nin cler Sehne des M. sterno - radialis des Frosches die Existenz eines reichen Nervenplexus mit besondern, von ihm Nervenschollen genannten, Bildungen entdeckt, aber es ist ihm nicht gelungen, weder von der Sehne des genannten Muskels Reflexe auszul\u00f6sen, noch auch jenes Verhalten in sichere Beziehung zu irgend einem anderen Reflexe, etwa dem Umarmungsreflexe bei der Begattung, zu bringen.\nX. Centra einzelner reflectorisclier Bewegungen.\nDie Bewegungen, welche man durch Reizung einer bestimmten Stelle reflectorisch hervorrufen kann, sind je nach der Intensit\u00e4t und Dauer des Reizes in Energie und Ausdehnung verschieden. Indess zeigt sich im Allgemeinen die Gesetzlichkeit, dass unter nicht k\u00fcnstlich abge\u00e4nderten Verh\u00e4ltnissen der Erregbarkeit der Nerven und Centralorgane den schw\u00e4chsten Reizen, welche einen sensiblen Punkt treffen, stets dieselbe Bewegung entspricht. W\u00e4ren wir im Stande eine leicht zu handhabende Scale der Intensit\u00e4t der Reize einzuf\u00fchren, so w\u00fcrde sich mit hoher Wahrscheinlichkeit f\u00fcr jeden angewandten Reizgrad auch ein und dieselbe Energie und Ausdehnung der Bewegung f\u00fcr verschiedene gereizte Hautpunkte ergeben, wenigstens innerhalb gewisser Grenzen. Solche Untersuchungen haben sich zur Zeit so scharf nicht ausf\u00fchren lassen, als man sie sich vorstellt. Indess hat sich soviel, wenigstens f\u00fcr die \u00e4ussere Haut, ausserdem aber auch noch f\u00fcr manche andere Orte, ergeben, dass den schw\u00e4chsten Reizen isolirte Bewegungen der Muskeln folgen, welche die Gliederabtheilung bewegen, der die gereizte Hautstelle angeh\u00f6rt, oder es combiniren sich damit nur noch die n\u00e4chst nachbarlichen. Verst\u00e4rkt man die Reize, so gut als es eben nach einer Ueberschlagung geschehen kann, so treten zun\u00e4chst Bewegungen in anderen Gliederabtheilungen derselben Seite ein und bei weiterer Verst\u00e4rkung kommen auch die Muskeln der anderen Seite an die Reihe. Hiernach h\u00e4ngen die Theile des Mechanismus, welcher innerhalb des Centralorgans die Umwandlung und Uebertragung der incitirenden Erregungen in und auf motorische besorgt, miteinander zusammen. Dieser Zusammenhang besteht nicht an allen Orten mit gleicher Innigkeit, so dass bei einigen gewisse incitirende Erregungen, innerhalb weiter Grenzen ihrer Intensit\u00e4t sich stets auf dieselben motorischen Elemente erstrecken, w\u00e4hrend bei anderen mit geringem Aenderungen ihrer Intensit\u00e4t sich auch sofort die Bewegungsart \u00e4ndert. Auch zeigt die Erfahrung, dass die centralen Abtheilungen des Reflexmechanismus f\u00fcr einzelne reflectorische Bewegungen mehr oder weniger\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\ntrennbar von einander sind, ohne dabei von der Bedeutung, die sie f\u00fcr jene haben, etwas Wesentliches einzubitssen. Solche Abtheilungen hat man als die Centren gewisser, einzelner reflectorischer Bewegungen bezeichnet und sie nach ihren haupts\u00e4chlichsten Eigenschaften studirt. Ich berichte nunmehr \u00fcber die hierher geh\u00f6rigen Bestrebungen. 1\n1. Centrum f\u00fcr die reflectorische Pupillarbewegung.\nDie schon unvollkommen von Galen gekannte reflectorische Pupillarbewegung ist als solche zum ersten Male richtig von Whytt zergliedert worden, wenn auch nicht genau in den Vorstellungs- und Ausdrucksweisen, wie wir dies heute zu thun pflegen.'2 Die dabei betheiligten peripheren Nerven lehrte Mayow3 kennen, der auch schon nachwies, dass der Trigeminus mit dieser Erscheinung Nichts zu thun habe. Beim Menschen steht je ein Opticus mit beiden nn. oculomotorii in reflectorischer Beziehung, bei den meisten Thieren jedoch nur mit dem seiner Seite. Dieser Zusammenhang kann bei jenem bei cerebraler Erblindung bestehen bleiben. Als Stelle der Uebertragung des durch den Opticus eingeleiteten Innervationsvorganges auf den Oculomotorius wies Flourens die Zweih\u00fcgel bei V\u00f6geln und die Vierh\u00fcgel bei S\u00e4ugethieren nach. Er zeigte, dass eine vollst\u00e4ndige Durchschneidung oder vollst\u00e4ndige Abtragung dieser Gebilde die Contraction der Iris auf hebt. Er gebraucht zwar nicht den Ausdruck reflectorisch bei der Beschreibung seiner Versuche, aber man muss aus dem Zusammenhang schliessen, dass er die durch Lichtreizung des Auges hervorgerufene Irisbewegung meint. Budge 4 suchte die Stelle der Uebertragung innerhalb der Vierh\u00fcgel noch n\u00e4her zu bestimmen und kam zu der Meinung, dass sie in der innern H\u00e4lfte des vorderen Vierh\u00fcgels bei S\u00e4ugethieren gelegen sei. Knoll5 behagt dieser Ausdruck nicht, weil bei den dieser Ansicht zu Grunde liegenden Versuchen der macroscopische Verlauf der Sehnerven verletzt wird, und es ihm nicht gelang, bei solchen Zerst\u00f6rungen der vorderen Vierh\u00fcgel, welche die macroscopischen Verh\u00e4ltnisse des Opticus und Oculomotorius intact Hessen, die reflectorischen Irisbewe-\n1\tDie hier gemachten Mittheilungen werden sich auch an anderen Stellen dieses Buches finden. Da sie jedenfalls in der Form, vielleicht auch in der Sache von jenen ab weichen, so erblicke man darin keinen Nachtheil. Derartige Verschiedenheiten tragen stets, wenn sachlich aufgefasst, zur Kl\u00e4rung dunkler Gebiete bei.\n2\tThe works of Rob. Whytt etc., published by his son. Edinburgh 1768. p. 64.\n3\tH. Mayow, Anatomical and physiol, commentaries. No. II. p. 4ff. July 1823.\n4\tBudge, Ueber die Bewegungen der Iris. 1855.\n5\tKnoll, Beitr\u00e4ge zur Physiologie der Vierh\u00fcgel. Eckhard\u2019s Beitr. z. Anat. u. Physiol. IV. S. 109.","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Centra f\u00fcr Pupille, Augenlid, Schlund.\n51\ngungen aufzulieben. Man kann sich incless wohl bis auf Weiteres dabin ausdr\u00fccken, dass eine vollst\u00e4ndige Zerst\u00f6rung der vorderen Yierb\u00fcgel die in Rede stehende Bewegung aufbebt, zugleich aber das Bediirfniss nach einer weitergebenden Untersuchung bekennen. Ich bemerke bei dieser Gelegenheit, dass es stets sein Missliches haben wird, die Lage irgend eines reflectorischen Centrums in der Weise allein zu bestimmen, dass man es an den Ort setzt, dessen Verletzung eine bestimmte reflectorische Bewegung aufbebt. Eine solche Operation kann nur irgend eine der betheiligten Nervenbahnen verletzt haben. Man wird jene immer nur n\u00e4herungsweise in gewisse Grenzen einschliessen k\u00f6nnen, indem man andrerseits die Stellen ausmittelt, deren Verletzung die jedesmalige reflectorische Bewegung nicht st\u00f6rt.\n2.\tCentrum f\u00fcr das reflectorische Augenblinzeln.\nBekanntlich kann das reflectorische Augenblinzeln durch starke Erregungen des Opticus sowohl als auch durch Trigeminusfasern von der Conjunctiva her ausgel\u00f6st werden. Ob die Centren f\u00fcr beide an derselben Stelle liegen und dieselbe Ausdehnung haben, ist nicht bekannt. F\u00fcr die zweite Erregungsart liegt es nach Exner 1 in der N\u00e4he der Spitze des calamus scriptorius, oder ragt wenigstens bis dorthin.\n3.\tDie reflectorische Erregung der Centra ciliospinalia, \u00fcber deren Existenz und Lage der folgende Abschnitt nachzusehen ist, scheint eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig seltene Erscheinung zu sein. Budge behauptet, sie bei Reizung der hinteren Wurzeln des siebenten Hals-bis zweiten Brustnerven beobachtet zu haben. Salkowski 2 hat zwar sp\u00e4ter bei Reizung des n. dorsalis pedis und auricularis des Kaninchen Erweiterung der Pupille gesehen, aber es ist zweifelhaft, ob dieselbe in die Kategorie der \u00e4chten Reflexbewegungen zu verweisen ist.\n4.\tCentrum f\u00fcr die Schluckbewegungen.\nDie Grenzen desselben sind anatomisch noch nicht bestimmt. Wir legen es hypothetisch in den Boden des vierten Ventrikels, von wo aus es m\u00f6glicher Weise bis zu den Oliven ragt und zwar mit R\u00fccksicht darauf, dass die centrifugalen und centripetalen Nerven, welche sich beim Schlingacte betheiligen, dort in ihre Nervenkerne\n1\tExxer, Experimentelle Untersuchung der einfachsten psychischen Processe. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 530.\n2\tSalkowski, Ueber das Budge\u2019sche Ciliospinal-Centrum. Zeitschr. f. rat. Med. (3) XXIX. S. 166. 188. 1867.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\neintreten1 und nach einem Versuche von Vulpian2 an jungen Katzen nach Wegnahme aller vor dem verl\u00e4ngerten Mark liegenden Theile das Schlucken noch m\u00f6glich ist, w\u00e4hrend dies nach ausgiebiger Zerst\u00f6rung der letzteren nicht mehr ausgef\u00fchrt werden kann. Nach Versuchen von Mosso3 setzt sich dieses Centrum aus Theilen zusammen, welche dergestalt mit einander verkettet sind, dass wenn einer davon erregt wird, diese Erregung auf die anderen in der Reihenfolge \u00fcbertragen wird, dass die motorischen Bahnen des Schlundes successive von oben nach unten angeregt werden. Es liegt also der Wellenbewegung der Speiser\u00f6hre vom Pharynx nach dem Magen hin eine Th\u00e4tigkeit im verl\u00e4ngerten Mark zu Grunde, die, einmal entstanden, daselbst in einer bestimmten Weise vorschreitet, ohne dass sie durch den hinabgleitenden Bissen von Neuem der Anregung bedarf. Zugleich besitzt diese Erregung im Mark die Eigentktimlick-keit, dass wir sie zwar willk\u00fchrlich anregen, aber, einmal entstanden, in ihrem weiteren Vorschreiten nicht hemmen k\u00f6nnen.\n\u00f6. Centren f \u00fcr rejlectorische Secretionen.\nEin der Speichelsecretion dienendes, refleetorisch erregbares Centrum ist gleichfalls weder anatomisch abgegrenzt, noch seinem Bau nach bekannt. Vermuthungsweise setzen wir es ebenwohl in den Boden der Rautengrube. Den Grund dazu entnehmen wir aus der Erfahrung, dass man bei mechanischen Verletzungen dieser Gegend so reichliche Speichelsecretion einleiten kann, wie es durch mechanische Reizung der peripherischen Speichel nerven nicht gelingt.4 Dieses Centrum ist durch die sensitiven Zweige des n. lingualis trigemini und glossopharyngeus isolirt zu erregen. Merkw\u00fcrdig ist es, dass dasselbe auch durch den n. ischiadicus und den n. splanchnicus refleetorisch angeregt werden kann, also durch Bahnen-, die theil-weise mit dem gesammten Muskelapparate des Skelets in reflectori-scher Beziehung stehen.5 H\u00f6chst wahrscheinlich liegen im Boden des vierten Ventrikels noch andere, refleetorisch erregbare Centren f\u00fcr verschiedene Secretionen. Es ist bekannt, dass die Thr\u00e4nense-\n1\tMan vergl. hierzu einen auf anatomische Erw\u00e4gungen gest\u00fctzten Versuch, die Lage dieses Centrums zu bestimmen bei Schr\u00f6der v. d. Kolk, Bau u. Physiol, d. med. spin. u. obl. Uebersetzt von Theile. S. 175. 1859.\n2\tVulpian, Le\u00e7ons sur la physiol, etc. p. 497. Paris 1866.\n3\tMosso, Ueber die Bewegungen der Speiser\u00f6hre. Molesch. Unters. XL S. 327.\n1874.\n4\tLoeb, Ueber die Secretionsnerven der Parotis und \u00fcber Salivation nach Verletzung des vierten Ventrikels. Meine Beitr\u00e4ge. V. S. 1.1870.\n5\tOwsjannikow u. Tschiriew, M\u00e9langes biologiques etc. de St. Petersb. VIII. und Bull. d. Petersb. Acad. XVIII. S. 26 ; Gr\u00fctzner, Beitr. z. Physiologie d. Speichelsecretion. Arch. f. d. ges. Physiol. VII. S. 522.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Centra f\u00fcr Secretionen, Sphincteren, Uterus.\n53\ncretion sehr leicht durch die sensitiven Conjunctivalzweige des Trigeminus angeregt werden kann. Da der dabei betheiligte centrifugal e Nerv ebenfalls dem Trigeminus angeh\u00f6rt und dieser anatomisch und physiologisch bis zum verl\u00e4ngerten Mark und dem allerobersten Theil des R\u00fcckenmarks und nicht weiter verfolgt worden ist, so ist zu vermuthen, dass dies Centrum nicht leicht \u00fcber jene Stellen hin-.ausliegen kann. Es ist endlich anzuf\u00fchren, dass, da einerseits vom Vagus und seinen Zweigen reflectorisch Diabetes1 2 hervorzurufen ist, wenn auch nicht mit Vermehrung der Harnmenge, andrerseits die vorz\u00fcglichste Stelle seiner centralen Erzeugung ebenwohl eine ziemlich beschr\u00e4nkte Stelle des verl\u00e4ngerten Marks ist, die Annahme f\u00fcr das Vorhandensein eines reflectorisch erregbaren Diabetescentrums im verl\u00e4ngerten Mark naheliegt.\n6. Rp flex centra f\u00fcr den After schliesser und die Entleerung der Blase.\nUeber die reflectorischen Wirkungen dieser im n\u00e4chsten Abschnitt ihrer Lage und sonstigen Eigenschaften nach zu beschreibenden Centren ist Folgendes in Erfahrung gebracht worden. Die Reize f\u00fcr die reflectorische Entleerung der Blase unter dem alleinigen Einfl\u00fcsse des vom \u00fcbrigen R\u00fcckenmark getrennten Lendenmarks bestehen in Druck auf die untere Bauchgegend, Ber\u00fchrung der Vorhaut und Kitzeln der Aftergegend. Die motorischen Bahnen dieser Reflexbewegung sind noch nicht genauer studirt worden. Es w\u00e4re w\u00fcn-sehenswerth, dass dies gesch\u00e4he, da eine darauf gerichtete Untersuchung auf die noch nicht n\u00e4her gepr\u00fcfte Angabe Giannuzzi\u2019s 2 zur\u00fcckzukommen h\u00e4tte, dass die Blase durch zwei Nervenarten in zwei verschiedene Formen der Zusammenziehung gebracht werden k\u00f6nne. Um den Afterschliesser zu erregen, ist die Ber\u00fchrung der Schleimhaut des Afters ein geeignetes Mittel. Beim Hunde geschehen nach Trennung des bez\u00fcglichen Centrums von den anderen Theilen des Marks die Bewegungen rhythmisch.3\n7. Centrum der Utero-Vagmalbewegungen.\nUeber die Stellung des Nervensystems zu den Bewegungen des Uterus und der Vagina ist verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig Viel gearbeitet worden. Es ist nicht meine Aufgabe, das gesammte, auf diesen Punkt sich\n1\tBernard, Le\u00e7ons sur la physiol, et la pathol. du syst\u00e8me nerveux. IL p. 442. C. Eckhard, Ueber den Morphiumdiabetes. Meine Beitr\u00e4ge. VIII. S. 95. Filehne, Melliturie nach Depressorreizung beim Kaninchen. Centralbl. f. d. med. Wiss. Nr. 18. S. 321. 1S78.\n2\tGiannuzzi, Journal de la physiol. 1863. VI. 22.\n3\tGoltz, Ueber d. Funct. d. Lendenmarks. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 481.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nbeziehende Material hier zu reproduciren, ich habe nur dasjenige zusammenzustellen, welches f\u00fcr die Behauptung spricht, dass innerhalb des Cerebrospinalsystems Orte vorhanden sind, welche man als reflectorische Centren jener Bewegungen ansprechen kann. Uterus und Vagina zeigen am nicht schwangeren Kaninchen nach einer Blosslegung, bei welcher jene kein merklicher Reiz trifft, w\u00e4hrend bis zu einer halben Stunde reichenden Zeit in der Regel keine sehr in die Augen fallende Bewegung; es giebt aber F\u00e4lle, namentlich bei tr\u00e4chtigen Thieren, in denen, wahrscheinlich durch bei der Blosslegung unabsichtlich gesetzte Reize Bewegungen auftreten, die sich, einmal angefacht, mehrmals wiederholen k\u00f6nnen, ohne dass scheinbar ein neuer Reiz hinzutritt; sie beruhigen sich aber bald wieder. Bei Hunden und Katzen sind derartige Bewegungen seltener und tr\u00e4ger. F\u00fcr diese Bewegungen scheint man im Cerebrospinalorgan ein Centrum annehmen zu m\u00fcssen, da sie nach der Trennung s\u00e4mmt-licher Uterinnerven, ja schon nach der des Plexus hypog. posterior, verschwinden \\ wenn sie sich auch unmittelbar nach der Operation einige wenige Male wiederholen k\u00f6nnen, und Uterus und Vagina noch f\u00e4hig sind, auf sie treffende Reize noch fortschreitende Contractionen zu zeigen. Unterst\u00fctzt wird diese Annahme durch die Erfahrung, dass man in dem ruhigen Utero-Vaginalkanal durch Reizung verschiedener Abschnitte des Gehirns und R\u00fcckenmarks Bewegungen hervorrufen kann. Diese Nerventheile hier sammtlich zusammenzustellen, ist jetzt f\u00fcr uns kein Punkt von Belang. Auf ein Centrum weist auch die besonders durch Scanzoni bekannt gewordene Erfahrung hin, dass man durch Reizung der Brustwarze reflectorische Ute-ruscontractionen hervorzurufen vermag. Neuere Erfahrungen haben das so vermuthete Centrum sicher gestellt. Schlesinger 2 konnte durch centrale Reizung des Plexus brachialis Uterus beWegungen erzeugen, welche aber versagte, wenn das Halsmark in der Gegend des Atlas abgetrennt worden war. Auch soll mach demselben Autor die Absperrung des Blutstroms nach dem Gehirn vor der Durchschneidung an genannter Stelle Uteruscontractionen hervorrufen, welche nach dieser Operation fehlen. Dies sagt, dass ein reflectorisch wirkendes Centrum f\u00fcr den Utero-Vaginalkanal oberhalb jener Stelle liegt, oder doch bis dorthin ragt. Da sich aber ferner ergeben hat, dass nach Durchschneidung des Halsmarks auf centrale Reizung des\n1\tF. A. Kehrer, Ueber die Zusammenziehimgen des weiblichen Genitalkanals. S. 28. 1863.\n2\tW. Schlesinger, Ueber Reflexbewegung d. Uterus. Wiener med. Jahrb\u00fccher. Redig. v. Stricker. S. 1. 1873.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Centra f\u00fcr Uterus und Lymphherzen.\noo\nH\u00fcftnerven noch Uteruscontractionen eingeleitet werden k\u00f6nnen, so ist dies ein Beweis daf\u00fcr, dass auch das R\u00fcckenmark noch Central-theile f\u00fcr jene in sich schliesst. Auch der Umstand, dass nach am Occiput durchschnittenem Mark seihst die centrale Reizung des Plexus brachialis sich reflectorisch wirksam erweist, wenn man vorher das Thier strychninisirt hat, spricht in demselben Sinn. Der im R\u00fcckenmark liegende Theil des Centrums f\u00fcr die Utero-Vaginalcon-tractionen scheint vorzugsweise im Lendenmark entwickelt zu sein. Goltz 1 sah nach der Durchschneiduug desselben an seiner vorderen Grenze bei einer H\u00fcndin diese tr\u00e4chtig werden und den Geburtsact ohne Kunsthilfe vor sich gehen und R\u00f6hrig1 2 sah. nach der Durchschneidung des Marks die nach Strychninisirung auftretenden Uteruscontractionen fehlen, wenn das Lendenmark zerst\u00f6rt wurde. Auch soll nach einer Angabe des letzteren dyspnoisches Blut nach Zerst\u00f6rung des Lendenmarks die Uteruscontractionen nicht mehr erregen, was bei Unverletztheit desselben geschieht. Von einer Wirkung dieses Centrums, dessen Erstreckung in das verl\u00e4ngerte Mark hinein \u00fcbrigens noch genauer zu studiren ist, ohne reflectorische Anregung ist im normalen, nicht schwangeren Zustande Nichts bekannt.\n8. Die rejlectirenden Eigenschaften des Athmungscentnnns und die des regierenden Herznervencentrums werden an anderen Stellen dieses Lehrbuchs besprochen werden. Was \u00fcber die der Gef\u00e4ssnervencentra zu sagen ist, will ich, um die Lehre von den Gef\u00e4ssnerven nicht allzusehr zu zerreissen, im folgenden Abschnitt Vorbringen. Es sollen nur noch die reflecto-rischen Centren f\u00fcr die Lymphherzen und die K\u00f6rpermusculatur besprochen werden.\n9. Die Centren der Lymphherzenbewegung.\nVon den tonischen Eigenschaften derselben werde ich in dem Abschnitt \u00fcber die automatischen Erregungen des R\u00fcckenmarks ein Meh-reres sagen. Hier will ich nur Dasjenige hervorheben, was \u00fcber die reflectorischen Einwirkungen auf dieselben bekannt geworden ist. Joh. M\u00fcller3 beobachtete, noch ehe man die Stellen des R\u00fccken-\n1\tF. Goltz, Ueber den Einfluss des Nervensystems auf die Vorg\u00e4nge w\u00e4hrend der Schwangerschaft und des Geb\u00e4ractes. Arch. f. d. ges. Physiol. IX. S. 552. 1874. Nach Valentin, Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. II. 2. Abth. S. 480. 1848 w\u00e4re Aehn-liches vom menschlichen Weibe bekannt, ich kann dar\u00fcber aber keine mich befriedigende Originalmittheilung auftreiben.\n2\tA. R\u00f6hrig, Experimentelle Untersuchungen \u00fcber die Physiologie der Uterusbewegungen. Arch. f. pathol. Anat. LXXVI. S. 1. 1879.\n3\tJ. M\u00fcller, Ueber die Lymphherzen der Schildkr\u00f6ten. Vorgetragen in der kgl. Acad. d. Wiss. zu Berlin am 14. Oct. 1839. Berlin 1840. S. 4.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56 Eckhard. R\u00fcckenmark u. Gehirn 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nmarks kannte, von denen der Hauptsache nach die Bewegungen der Lymphherzen abh\u00e4ngen, dass man reflectorisch auf diese wirken k\u00f6nne. Er sah, wie bei einer gek\u00f6pften Schildkr\u00f6te an den bereits geschw\u00e4chten Bewegungen der Lymphherzen diese sich jedesmal zusammenzogen, falls er die Hinterbeine mechanisch reizte. Auch f\u00fcr den Frosch ist sp\u00e4ter Aehnliches beobachtet worden, sowohl beim Kneifen der Zehen, als auch bei der Reizung der centralen St\u00fcmpfe einzelner Nerven. Endlich ist noch zu erw\u00e4hnen, dass nach Goltz1 2 bei Reizung der Eingeweide diastolischer Stillstand der Lymphherzen entsteht. Bei all diesen reflectorischen Wirkungen, die letztere nicht ausgenommen, treten zugleich reflectorische Bewegungen der K\u00f6rpermuskeln auf. Suslowa 2 hat unter dem Einfluss von Set-schenow die GoLTz\u2019sche Erfahrung im Interesse der Rettung der Hemmungsmechanismen des letzteren verwerthet. Dabei werden die Lymphherzen als Analoga der Reflexbewegungen der K\u00f6rpermuskeln angesehen und dann von ihnen gezeigt, dass sie wie diese einerseits nach Entfernung des Gehirns in verst\u00e4rkte Th\u00e4tigkeit, und andrerseits in diastolischen Stillstand verfallen, wenn die sogenannten Hemmungsmechanismen gereizt werden. Die Gegner der spezifischen Hemmungsmechanismen im Gehirn sind noch nicht ausf\u00fchrlich auf diese Versuche und Betrachtungen eingegangen. Es d\u00fcrfte ein solches Unternehmen auch wenig erspriesslich sein. Gesetzt, es Hessen sich keine gegnerischen Thatsachen, wie sie oben bei den Hemmungsmechanismen der Reflexbewegungen angezogen wurden, auffinden, so k\u00f6nnten immerhin f\u00fcr die Lymphherzen specifische Hemmungsapparate bestehen, nicht aber f\u00fcr die Reflexbewegungen. Man kann ausserdem die Berechtigung des Vergleichs beider Bewegungsarten dadurch bestreiten, dass man sagt, das wahre Analogon zu den Reflexbewegungen der K\u00f6rpermuskeln w\u00fcrden im Gebiete der Lympkherzenbe-wegung die reflectorischen Aenderungen derselben sein, die man bei ihnen durch Reizung von Hautnerven erzielen kann.\n10. Refie\u00e6centra f\u00fcr einzelne Abtheilungen der K\u00f6rpermusculatur.\nBeim Frosche kann man nach Entfernung des Gehirns, einschliesslich des verl\u00e4ngerten Marks, bei hinl\u00e4nglich intensiver Reizung von irgend einem beliebigen Hauttheil aus, in allen noch vorhandenen K\u00f6rpermuskeln Reflexe ausl\u00f6sen. Bei S\u00e4ugethieren scheint dies an-\n1\tGoltz, Reflexhemmung der Bewegung der Lymphherzen. Centralbl. f. d. med. Wiss. S. 17.1863.\n2\tSuslowa, Beitr\u00e4ge zur Physiologie der Lymphherzen. S. 23. 24. Z\u00fcrich 1867.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Reflexcentra f\u00fcr die K\u00f6rpernmskeln.\n57\nders zu sein. Bei Kaninchen erh\u00e4lt man bei der Reizung der Haut einer Extremit\u00e4tenart, der vorderen z. B. nur dann noch Reflexe in der andern, z. B. der hinteren, welche Reflexe man wohl allgemeine genannt hat, wenn von dem verl\u00e4ngerten Mark zum Mindesten noch etwas mehr als das untere Drittel vorhanden ist. Wird aber dies entfernt, so sind nur noch \u00f6rtliche Reflexe zu erhalten, das heisst, die Reizung der Haut einer hinteren Pfote giebt keine Bewegung in der vorderen mehr, sondern nur noch in den hinteren und in dem Schw\u00e4nze, und umgekehrt. Beachtenswert!! aber ist es, dass in letzterem Falle das Strychnin noch allgemeine Reflexkr\u00e4mpfe hervorbringt. W\u00e4hrend also f\u00fcr geordnete allgemeine Reflexe im R\u00fcckenmark kein reflectirendes Organ vorhanden ist, besteht daselbst eins f\u00fcr allgemeine Reflexkr\u00e4mpfe, das jedoch, so lange sich das R\u00fcckenmark unter normalen Verh\u00e4ltnissen befindet, vollkommen latent ist, und durch eine Strychningabe erst aus diesem Zustande geweckt und zu wirklicher Th\u00e4tigkeit angefacht wird.1 Freilich wird vorerst wohl nichts im Wege stehen, wenn man sich gem\u00e4ss Dem was oben S. 42 \u00fcber die Wirkungsart des Strychnins erw\u00e4hnt wurde auch hier so ausdr\u00fcckt, dass man sagt, das Gift r\u00e4ume nur gewisse vorherbestandene Hindernisse weg.1 Man hat ferner noch den Versuch gemacht, diejenigen Orte des R\u00fcckenmarks n\u00e4her zu bestimmen, welche f\u00fcr die ungest\u00f6rten reflectorischen Bewegungen ganzer Glieder, oder einzelner Bewegungsformen f\u00fcr Abtheilungen solcher vorhanden sein m\u00fcssen, und spricht wohl zufolge der dabei gemachten Erfahrungen von einzelnen reflectorischen Centren innerhalb des gesammten R\u00fcckenmarks. So geben Masius und Vanlair2 an, dass, falls ich dieselben richtig verstehe, das Reflexcentrum f\u00fcr die vorderen Extremit\u00e4ten des Frosches 1 bis 1 V2 mm. vor dem Abgang des zweiten R\u00fcckenmarksnervenpaares beginne und mit einer Ausdehnung von 3\u20143V2 mm. unterhalb des Abganges des dritten Nervenpaares reiche, so dass also bei Integrit\u00e4t dieser Stelle von jedem Punkte der Haut der vorderen Extremit\u00e4ten, noch solche Bewegungen an den vorderen Extremit\u00e4ten hervorg\u00e8rufen werden k\u00f6nnen, wie beim unverletzten R\u00fcckenmark, jeder Eingriff aber in jenes St\u00fcck die Reflexbewegungen der vorderen Extremit\u00e4t in irgend einer Art st\u00f6re. F\u00fcr die hintere Extremit\u00e4t des Frosches geben dieselben Forscher die L\u00e4nge des Marks an, welche von der Gegend des vierten bis sech-\n1\tOwsjannikow, Ueber einen Unterschied in d. reflectorischen Leistungen des verl\u00e4ngerten und des R\u00fcckenmarks. Ber. d. sacks. Ges. d. Wiss. 19. Nov. 1874.\n2\tMasius u. Vanlair, Recherches exp\u00e9rimentales etc. M\u00e9moires couronn\u00e9s etc. de l\u2019acad. etc. de Belgique. XXI. p. 23.1870.","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nsten Wirbels reicht. Koschewnikoff 1 hatte sich bereits vor den genannten Autoren mit dieser Bestimmung befasst; die seine weicht nicht nennenswerth von der durch Masius und Vanlair gegebenen ab. Letztere haben versucht, das Reflexcentrum f\u00fcr die hinteren Extremit\u00e4ten noch weiter zu zerlegen, und sprechen von so vielen Centren als Nervenpaare mit jenem verkn\u00fcpft sind. Falls ich nichts in der Arbeit der belgischen Forscher \u00fcbersehen habe, m\u00f6chte ich Zweifel an der Richtigkeit dieser Angaben aussprechen. Ich finde im Allgemeinen mit Sanders-Ezn, wie oben S. 32 angegeben, dass das zur Ausl\u00f6sung von Reflexen ungeeignete Ende des R\u00fcckenmarks des Frosches schon unterhalb des siebenten Nervenpaares beginnt, und dass in den Gegenden des 8\u201410. R\u00fcckenmarksnervenpaares sich \u00fcberhaupt die gesammten Bedingungen f\u00fcr Reflexe nicht mehr finden. Es kann also auch von einem Reflexcentrum des 8\u201410. Nervenpaares, welches an den Ursprungsstellen des jedesmaligen Paares l\u00e4ge, keine Rede sein. F\u00fcr Masius und Vanlair ist nur das St\u00fcck nach Abgang des letzten Nervenpaares unf\u00e4hig, Reflexe zu geben. Gelegentlich mag mitgetheilt werden, dass das R\u00fcckenmarksst\u00fcck des Frosches, welches unterhalb des Abgangs des 10. Nervenpaares liegt, bei Reizungen Bewegungen giebt, die bei Anwesenheit des Gehirns anders als bei Abwesenheit desselben ausfallen. Diese Beobachtung hat zuerst Koschewnikoff gemacht. Von den Bedingungen, welche am R\u00fcckenmark erf\u00fcllt sein m\u00fcssen, damit noch gewisse Bewegungsformen an den hinteren Gliedmassen auftreten, hat Sanders-Ezn gehandelt.-\nXI. Heber die bei den Reflexerselieinimgeii th\u00e4tigen Nervenelemente.\nDie Frage nach diesen tritt in der Lehre von den Reflexbewegungen in einer bestimmten Form zuerst bei M. Hall hervor. Wenn vor diesem von der Bet\u00e4tigung des Nervensystems bei den fraglichen Erscheinungen die Rede war, so handelte es sich dabei stets nur um gr\u00f6ssere Theile, nicht wie hier um Elementartheile desselben. M. Hall nahm bekanntlich ein besonderes, excitomotorisches Nervensystem als Grundlage f\u00fcr die Reflexbewegungen innerhalb des R\u00fcckenmarks an, so dass dieses aus zwei v\u00f6llig von einander unabh\u00e4ngigen Theilen bestehen sollte. Der eine Bestandteil sollte der bewussten Empfindung und willk\u00fchrlich motorischen Bewegung dienen,\n1\tKoschewnikoff, Ueber die Empfindungsnerven der hinteren Extremit\u00e4ten. Arch. f. Anat. u. Physiol. ! 86s*.\n2\tSanders-Ezn, Vorarbeit f\u00fcr die Erforschung etc. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 21. Mai. 1867.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Nervenelemente f\u00fcr die Reflexbewegungen.\n59\nder andere, Yon Hall das eigentliche R\u00fcckenmark genannt, jenes excitomotorische, f\u00fcr die Reflexbewegungen bestimmte Fasersystem sein, so dass also jede Hautstelle und jeder Muskel mit zwei Faserarten versehen w\u00e4re, die sich daselbst jedesmal neben einander f\u00e4nden und wovon keine den Dienst der anderen \u00fcbernehmen kann. Anatomische Merkmale, an denen das System der einen oder anderen Faserart erkannt werden k\u00f6nne, hat M. Hall nicht angegeben. Auch scheint er keine tiefer gehenden Pr\u00fcfungen \u00fcber die etwaige Notkwendigkeit dieser Unterscheidung vorgenommen zu haben; in seinen Schriften ist f\u00fcr die letztere kein anderer Grund aufzufinden, als die Beobachtung, dass durch Decapitation des Thieres bewusste Empfindung und willkiihrliche Bewegung verloren gehen und er dabei unterstellt, dass die diesen Functionen dienenden Nervenwege auf ihrer ganzen L\u00e4nge paralysirt werden, kein Grund f\u00fcr anderweitigen Gebrauch vorhanden w\u00e4re.1 Grainger2 adoptirte diese Scheidung und durch die von ihm angeblich sch\u00e4rfer als zuvor gemachte Beobachtung \u00fcber den theilweisen Zusammenhang der Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven mit der grauen Substanz des R\u00fcckenmarks behauptete er, dass das excitomotorische Fasersystem M. Hall\u2019s durch die. graue Substanz und diejenigen Fortsetzungen der Nervenwurzeln, welche sich bis zu dieser verfolgen lassen, dargestellt werde, w\u00e4hrend die der Empfindung und willk\u00fchrlichen Bewegung dienenden Bestandtheile der Nervenwurzeln, ohne die graue Substanz zu ber\u00fchren in den weissen Str\u00e4ngen in die H\u00f6he steigen. Diese Hypothese hat sich jedoch, wie der Abschnitt \u00fcber die Leitungsverh\u00e4ltnisse im Mark nackweisen wird, nicht in dieser Fassung best\u00e4tigt, obschon zuzugeben ist, dass zur Zeit kein Reflexph\u00e4nomen ohne Betheiligung der grauen Substanz bekannt ist. Volkmann 3 hat zuerst Zweifel \u00fcber die Existenz eines besonderen excitomotoriscken Fasersystems und zwar in der Weise erhoben, dass es ihm sehr unwahrscheinlich erschien, dass, da ein jeder Hautpunkt bewusst empfindet und auch zur Ausl\u00f6sung von Reflexbewegungen geeignet ist, daselbst sich zwei physiologisch verschiedene Nervenfasern verbreiten sollten. Heute, wo man weiss, dass an einzelnen Hautstellen von Punkten, an denen wir \u00fcberhaupt noch experimentiren k\u00f6nnen, den Reflexen dienende Wege in zwei verschiedene R\u00fcckenmarks-nerven, also in zwei verschiedene Primitivnervenfasern f\u00fchren, darf\n1\tM. Hall, an vielen Stellen, z. B. New memoir on the nervous system. London\n1843.\n2\tGrainger, Observations on the structure and functions of the spinal cord. London 1837. p. 46 ff.\n3\tYolkmann, Ueber Reflexbewegungen. Arch. f.Anat.u.Physiol. S. 15.38.1838.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nauf diesen Einwand kein so grosses Gewicht mehr gelegt werden.1 Beil\u00e4ufig bemerkt, hat Volkmann damals zuerst die Giltigkeit des BELL\u2019sehen Gesetzes f\u00fcr das gek\u00f6pfte Thier bewiesen. Dass die den Reflexen dienenden Wege theilweise verschieden sind von denen, die der willk\u00fchrlichen Bewegung und Empfindung dienen, geht schon aus dem Fortbestehen der Reflexe nach dem K\u00f6pfen des Thieres hervor und im letzten Abschnitte werden noch andere dies beweisende Thatsachen mitgetheilt werden. Die Frage ist nur die, ob in den peripherischen Bahnen bereits die beiden Arten von Innervationsvorg\u00e4ngen dienenden Nervenwege vollst\u00e4ndig von einander getrennt verlaufen. Neuere Beobachter haben diese Frage bejaht und man muss die M\u00f6glichkeit einer solchen Beantwortung namentlich in Anbetracht des abgeschw\u00e4chten VoLKMANN?schen Wahrscheinlichkeitsbeweises zulassen. Insbesondere sollten nach Paschutin nur zwei motorische Wurzeln der vier zu der hinteren Extremit\u00e4t des Frosches gehenden Nervenpaare Reflexe, die beiden anderen will-k\u00fchrlich motorische Bewegung vermitteln und nach Beresin 2 eine der hinteren Wurzeln derselben Nerven nur Incidenzfasern f\u00fcr die Reflexe f\u00fchren. Diese Angaben sind jedoch als irrth\u00fcmlich bewiesen worden.3 Da sich somit kein Nerv hat entdecken lassen, der nur den Reflexen diene, so sind zwar damit Vorstellungen, wie sie Paschutin und Beresin aussprach en, zur\u00fcckgewiesen, aber damit ist noch nicht die Frage erledigt, wie sich die Primitivfasern innerhalb eines peripherischen Nerven f\u00fcr die erw\u00e4hnten Vorg\u00e4nge verhalten. Hier\u00fcber liegen zur Zeit keine Erfahrungen vor, die in dem Sinne von- M. Hall oder der anderen Ansicht spr\u00e4chen. Man kann wohl mit R\u00fccksicht auf den Umstand, dass, da es noch andere motorische Processe ausser den willk\u00fchrlichen und Reflexbewegungen gibt, mithin man noch weitere Classen motorischer Fasern annehmen m\u00fcsste, was zu einer unnat\u00fcrlichen Complication f\u00fchren w\u00fcrde, die Annahme einfacher finden, es seien die Nervenprimitivfasern ausser-\n1\tC. Eckhard, Ueber Reflexbewegungen der vier letzten Nervenpaare des Frosches. Ztschr. f. rat. Med. VII. 1847; Peyek, Ueber die peripherischen Endigungen der mot. und sensibl. Fasern der in den Plex. brach, des Kaninchens eintretenden Nerven. Daselbst N. F.IV ; T\u00fcrck, Vorl\u00e4ufige Ergebnisse von Experimentaluntersuch. zur Ermittelung der Hautsensibilit\u00e4tsbezirke der einzelnen R\u00fcckenmarks-Nervenpaare. Sitzgsber. d Wiener Acad. 1856.\n2\tBeresin, Ein experimenteller Beweis, dass die sensiblen und die excitomoto-rischen Nervenfasern der Haut des Frosches verschieden sind. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1866. Nr. 9.\n3\tSa.nders-Ezn, Vorarbeit f\u00fcr die Erforschung des Reflexmeckamsmus etc. Ber. d. s\u00e4chs. Ges d Wiss. Math.-phys. Abth. XIX. S. 17. 1867 ; Koschewnikoff, Ueber die Empfindungsnerven d. hint. Extremit\u00e4ten beim Frosche. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868. S. 326; Masius et Vanlair , M\u00e9moires couronn\u00e9s et autres m\u00e9moires publi\u00e9s par l\u2019acad. roy. d. sciences d. lettres et des beaux arts de Belgique. XXI. p. 19. 1870.","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Nervenelemente f\u00fcr die Reflexbewegungen.\n61\nhalb des R\u00fcckenmarks mehren Arten centrifugaler und centripetaler Innervationsvorg\u00e4nge gemeinsam und erst innerhalb des ersteren zweigten sich die Bahnen f\u00fcr die einzelnen durch ihre Entstehungsart von einander verschiedenen Vorg\u00e4nge ab, aber ein \u00fcberzeugender Beweis daf\u00fcr ist zur Zeit noch nicht gef\u00fchrt. In gleicher Weise sind wir sehr mangelhaft dar\u00fcber unterrichtet, welche Elemente sich innerhalb des R\u00fcckenmarks bei der Entstehung der Reflexbewegungen betheiligen. Seit der Entdeckung der Ganglienzellen und insbesondere seitdem man in den 40er Jahren durch R. Wagner und Robin 1 Ausl\u00e4ufer an denselben und Zusammenh\u00e4nge mit Nervenfasern des Gehirns und R\u00fcckenmarks kennen lernte, wurden diese Elemente als wichtige an der Entstehung der Reflexbewegungen sich betheiligende Bildungen angesehen. Es mag dieser Gedanke manchem der damaligen Physiologen gekommen sein, wie es scheint hat Ihn jedoch R. Wagner1 2 zuerst in unsere Literatur eingef\u00fchrt. Es ist kein'Zweifel, dass man die allermeisten der den Reflexbewegungen zukommenden Eigent\u00fcmlichkeiten unter Hinzuziehung dieser Gebilde bis zu einem gewissen Grade verst\u00e4ndlich finden kann, namentlich, wenn man einige der neueren Zeit ange-h\u00f6rige Beobachtungen \u00fcber den Verlauf der Nervenwurzeln innerhalb des Marks hinzunimmt Die oft weit reichende Ausdehnung der Reflexbewegung bei nur wenig ausgedehnter Hautreizung und der Uebertritt der Nervent\u00e4tigkeit von einer centripetal leitenden in eine centrifugal leitende Faser erscheinen uns angenehm anschaulich, namentlich wenn man sich auf die Bestimmtheit verl\u00e4sst, mit welcher Stilling einen Theil der hinteren Nervenwurzeln zu den motorischen durch Ganglienvermittelung \u00fcbertreten l\u00e4sst. Auch die L\u00e4nge der Reflexzeit erscheint uns begr\u00fcndet, da die Innervation durch ein Gebilde scheinbar anderen Baues als die Nervenfaser durchzusetzen hat. Es ist jedoch r\u00e4thlicb, neben den Empfehlungen, welche der Gan\u00b0\u2019-lientheorie zur Seite stehen, sich eine Anzahl von Thatsachen zu vergegenw\u00e4rtigen, aus denen die M\u00f6glichkeit hervorgeht, dass den Reflexbewegungen ein anderer, als lediglich durch die Ganglien bewirkter Mechanismus zu Grunde liegt. Die weitgreifende Ausdehnung der Reflexe auf geringf\u00fcgige Reize w\u00fcrde in gleicher Weise der Vorstellung durch jede Art reichlicher Verkn\u00fcpfung der beiden Arten von Innervationswegen, etwa durch ein Nervennetz, zug\u00e4nglich werden und ebenso w\u00fcrde es bei dieser Unterstellung keine besonderen Schwierigkeiten haben, auf die Erregung centripetaler Inner-\n1\tSiehe Wagner's Handw\u00f6rterb. d. Physiol. III. 2. S. 361. 1846.\n2\tEbendaselbst S. 399.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 2. Cap. Reflectorische Erscheinungen.\nvationsvorg\u00e4nge centrifugale auftreten zu sehen. Selbst die Verz\u00f6gerung der Fortpflanzungsgeschwindigkeit zu begreifen, w\u00fcrde bei Annahme eines Netzes keine absurden Voraussetzungen verlangen. Wenn wir uns auch den Innervationsvorgang nicht als einen fliessenden Strom vorstellen, der in Capillarien eine auffallende Verz\u00f6gerung seiner Geschwindigkeit erf\u00e4hrt, so ist doch immerhin denkbar, dass er in so unendlich feinen Nervenwegen, wie sie in den Nervennetzen des R\u00fcckenmarks auftreten, einen gr\u00f6sseren Widerstand, als in den Fasern gr\u00f6sseren Calibers erf\u00fchre. In der That hat man ja auch die Ganglienk\u00f6rper nur deswegen f\u00fcr geeignet gehalten, die Reflexbewegungen zu vermitteln, weil sie sich wegen ihrer Ausl\u00e4ufer als die motorischen und sensiblen Fasern verbindende* Glieder an-sehen Hessen; irgend eine andere Eigenschaft hat sie uns bei ihrer Entdeckung f\u00fcr diesen Zweck nicht empfohlen. Da die Axencylin-der der mit den Ganglienk\u00f6rpern zusammenh\u00e4ngenden Nervenfasern in die Substanz des Ganglienprotoplasmas \u00fcbergehen, so scheint gar kein stofflicher Unterschied zwischen beiden Bildungen zu sein und da beide inmitten eines reichlichen Blutgef\u00e4ssnetzes liegen, so weiss man kaum noch einen stichhaltigen Grund daf\u00fcr anzugeben, den Ganglienk\u00f6rper mehr als das Netz zu betonen oder \u00fcberhaupt jenen nur anzuf\u00fchren. Es bleibt nur die Erfahrung noch \u00fcbrig, dass der Ganglienk\u00f6rper eine Zellenformation darstellt und man andere Functionen des K\u00f6rpers oft von einer solchen ausge\u00fcbt sieht. Diese Bemerkungen sollen indess nur eine der m\u00f6glichen Arten enthalten, sich das Zustandekommen der Reflexbewegungen ohne eine tiefere Mitwirkung des Ganglienk\u00f6rpers, als einer in das Wegsystem zwischen beiden Faserarten eingeschalteten Anastomosen vermittelnden Bildung vorzustellen. Man muss, wenn man erw\u00e4gt, dass m\u00f6glicher Weise zur Erzeugung der Reflexbewegung die Centralorgane noch besondere physische Bedingungen, als blossen Zusammenhang zwischen centripetalen und centrifugalen Nerven zu vermitteln, enthalten, die wir zur Zeit noch gar nicht kennen, zugestehen, dass sich jene Bewegungsform noch auf andere Weisen vollziehen kann, ohne dass die Ganglienk\u00f6rper eine wesentliche Rolle dab'ei spielen. Ich m\u00f6chte diesen Gedanken nicht ausschliessen, wenn ich daran denke, dass von der Ganglienzelle keine einzige, ihr eigenthiimliche, positive, physische Eigenschaft bekannt, f\u00fcr kein einziges peripheres Ganglion eines Wirbelthieres eine reflectorische Wirkung unbestritten aufgezeigt und die Reflexbewegung der wirbellosen Thiere durch gute Versuche noch nicht aufgekl\u00e4rt ist. Mir f\u00e4llt ferner auf, dass der untere, keine Reflexbewegungen gebende Theil des R\u00fcckenmarks","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Nervenelemente f\u00fcr die Reflexbewegungen. Tonische Erregungen.\n63\nnicht auffallend \u00e4rmer an Ganglienzellen sein kann, als der Rest; dies w\u00e4re jedenfalls wohl schon bemerkt worden. Es lohnte sich wohl der M\u00fche, besonders nachzusehen, ob sich bez\u00fcglich der Ganglienzellen oder ihrer Verkn\u00fcpfungen unter sich und mit den Nerven wurzeln Unterschiede am obern und untern Theile des R\u00fcckenmarks finden Hessen. Wir kennen ausserordentlich viele empirische Merkmale der Reflexbewegungen, aber sie sind fast s\u00e4mmtlich nicht darnach angethan, uns einen nur einigermassen befriedigenden Blick in ihre physische Entstehungsweise zu gestatten.\nDRITTES CAPITEL.\nDie tonischen Erregungen des Cerebrospinalorgans.\nAn den muscul\u00f6sen Theilen eines Thieres, an dem keine Spuren des Willens mehr bemerkbar sind, welches aber auf \u00e4ussere Reize noch mehr oder weniger deutliche Reflexbewegungen zeigt, beobachtet man auch ohne absichtlich von uns angebrachte Reize eine Reihe von Contractionserscheinungen. Ein Theil derselben verschwindet mit der Zerst\u00f6rung des Gehirns und R\u00fcckenmarks, ist also von diesen Theilen abh\u00e4ngig. Es ist Gebrauch geworden, diese Th\u00e4tig-keiten der genannten Nerventheile als die toniseben Erregungen derselben zu bezeichnen. Die Physiologen sind dar\u00fcber einig, dass dieselben nicht als eine charakteristische Gruppe den reflectorischen Erregungen gegen\u00fcber zu stellen sind, da einerseits sich bei genauerer Pr\u00fcfung wenigstens f\u00fcr viele derselben ergiebt, dass sie zum grossen Theil, vielleicht in ihrem ganzen Umfange durch nicht leicht in die Augen fallende \u00e4ussere Anregungen zu Stande kommen, also in Wirklichkeit mehr oder weniger reflectorische Erscheinungen sind, andrerseits bekannt geworden ist, dass ihre Erscheinungsweise in hohem Grade von der physischen Beschaffenheit der Centralorgane, namentlich von der Natur der diese jeweilig durchdringenden Fl\u00fcssigkeit, der Temperatur, etc., abh\u00e4ngt, und die Vorstellung, welche wir uns dereinst von der Wirkungsart dieser Umst\u00e4nde zu machen haben werden, m\u00f6glicherweise nicht wesentlich ab weichen wird von derjenigen, welche \u00fcber die reflectorischen Einwirkungen gebildet werden muss. So bleibt es dann auch der Willk\u00fchr der Darstellung \u00fcber-","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nlassen, sie mit den reflectoriscken Erscheinungen gemeinsam oder gesondert abzuhandeln. Indess welche Ordnung man auch vorziehen m\u00f6ge, gewisse Unbequemlichkeiten bleiben bei jeder Wahl bestehen. Im vorigen Capitel habe ich solche Erscheinungen beschrieben, welche einen vorherrschend reflectoriscken Charakter hatten, in dem jetzigen sollen diejenigen an die Reihe kommen, bei denen scheinbar oder wirklich mehr die tonische Wirkung hervortritt.\nI. Tonus der Skeletmuskeln und Spliincteren.1\nEs ist nicht meine Absicht, s\u00e4mmtliche im Laufe der Geschichte der Physiologie vorgebrachte Thatsachen, die von einem vom R\u00fcckenmark abh\u00e4ngigen Tonus Zeugniss ablegen sollten, vorzuf\u00fchren und der Kritik zu unterwerfen. Viele von ihnen, namentlich \u00e4ltere, sind der Art, dass der bereits physiologisch vorgebildete Leser, wie er hier vorausgesetzt wird, leicht dar\u00fcber weg kommt. Ich gehe nur auf diejenigen ein, welche auf irgend eine Weise eine bemerkenswertke Rolle bei der Ausbildung der gegenw\u00e4rtigen Vorstellung vom Muskeltonus gespielt haben. Seit ernstlich \u00fcber Muskeln und Nerven experimentirt wird, ist wohl die Lehre vom Tonus der Skeletmuskeln niemals in der Weise vorgetragen worden, dass man behauptet habe, es befinde sich das hirnlose R\u00fcckenmark ohne \u00e4ussere Zuthat der Art in Th\u00e4tigkeit, dass es jedem Skeletmuskel zu gleicher Zeit eine gewisse, geringe Contraction einpr\u00e4ge. Ich weiss recht gut, dass man Citate des einen oder anderen Physiologen Vorbringen kann, deren Wortlaut gegen mich ist, aber mir ist kein Physiologe bekannt, der es versucht h\u00e4tte, einen Beweis im erw\u00e4hnten Sinne anzutreten, und dann kenne ich keinen Gegner der Tonuslehre, der in analoger Weise f\u00fcr sich gewirkt h\u00e4tte. Es waren immer nur einzelne Muskeln oder Muskelgruppen, f\u00fcr welche man Beweis und Gegenbeweis antrat und wenn man daraus einen Schluss f\u00fcr alle Muskeln zog, so geschah dies mehr in Form eines aper\u00e7u, als aus wissenschaftlicher Ueberzeugung. In der Eile mag dies sich vorgestellt, oder auch wohl ausgesprochen worden sein, aber so viel ich sehe niemals der Art, dass dieses Moment mit wissenschaftlichem Bewusstsein betont worden w\u00e4re. Noch weniger ist behauptet und versucht worden, zu erweisen, dass sich s\u00e4mmtliche Skeletmuskeln zu derselben Zeit in demselben Grade der Erregung bef\u00e4nden. Gleich\n1 Isidor Cohnstein, M\u00e9moire en r\u00e9ponse \u00e0 la question suivante: Faire un expos\u00e9 historique de la th\u00e9orie du tonus musculaire etc. M\u00e9moire couronn\u00e9 par l\u2019acad. royale etc. de Belgique. XXXIII. des m\u00e9moires couronn\u00e9s et m\u00e9moires des savants \u00e9trangers etc. 1867.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Tonus der Sphincteren.\n65\nzu Anfang der neuern physiologischen Bewegung in den 20er und 3\u00fcer Jahren trat die Tonuslehre in dieser Form bei Joh. M\u00fcllek 1 auf. Er betrachtet es als eine automatische Th\u00e4tigkeit des vom Gehirn getrennten R\u00fcckenmarks, wenn die enthauptete Salamandra maculata noch auf ihren F\u00fcssen steht, oder der gek\u00f6pfte Aal sich windet; beides Muskelzusammenziehungen, bei denen von einer gleichen Erregung der Muskeln durch das R\u00fcckenmark keine Rede sein kann. Ich ziehe diese Stellen nicht an, um damit s\u00e4mmtliche Gr\u00fcnde anzugeben, die M\u00fcller zur Annahme eines Tonus veran-lassten, sondern nur, um damit zu beweisen, dass er sich, wenigstens in sp\u00e4terer Zeit, keineswegs s\u00e4mmtliche Muskeln in einer gleichen tonischen Erregung vom Cerebrospinalorgan abh\u00e4ngig dachte. Aehn-lich M. Hall 2, der zwar den Tonus als Reflextonus auffasst, durch ihn aber Gleichgewicht der Systeme von Muskelgruppen bedingt sein l\u00e4sst, wobei also gleichfalls wohl Innervirung verschiedenen Grades verschiedener Muskeln stattfinden muss. Die starke Schliessung der Sphincteren sieht er in gleicher Weise3 als einen besonders kr\u00e4ftigen durch das R\u00fcckenmark reflectorisch vermittelten Einzeltonus an. Beide Forscher sind also \u00fcber die Erscheinungsweise des durch das R\u00fcckenmark vermittelten Tonus an den Muskeln offenbar einerlei Meinung, \u00fcber die Art der Entstehung desselben vom R\u00fcckenmark aus differiren sie. Wir sehen nun das nachfolgende Geschlecht mit den beiden Fragen besch\u00e4ftigt, ob erstens Sphincteren und einzelne Skeletmuskeln einen Tonus zeigen, wenn das R\u00fcckenmark vom Gehirn getrennt ist und falls dem so ist, zweitens, mit der Untersuchung \u00fcber die Wirkungsart des R\u00fcckenmarks bei der Unterhaltung desselben. F\u00fcr die Sphincteren der Blase und des Mastdarms ist auf der einen Seite jeder Tonus irgend welcher Art gel\u00e4ugnet worden und zwar mit R\u00fccksicht auf die Erfahrung, dass der Inhalt des Mastdarmes und der Blase nach dem Tode vor Eintritt der Todesstarre noch betr\u00e4chtlichen Dr\u00fccken ausgesetzt werden kann, ohne dass er abfliesst. Lesser-Rosenthal 4 leitet diesen Verschluss von der nat\u00fcrlichen Elasticit\u00e4t der Sphincteren ab. Ich bemerke, dass hier der Ausdruck Sphincter allgemein f\u00fcr Verschlussmittel zu nehmen ist. Es ist nach mehrfachen Untersuchungen kaum noch\n1\tJoh. M\u00fcller, Handb. d. Physiol, d. Menschen. I. Abschnitt R\u00fcckenmark. S. 698 der 1844 erschienenen 4. Aufl. In der 1. Aufl. kommen verschiedene Stellen \u00e4hnlicher Aeusserungen vor.\n2\tM. Hall, On the reflex function of the medulla oblongata and med. spinalis. Phil, transact. MDCCCXXXIII.\n3\tEbendaselbst p. 639.\n4\tLesser-Rosenthal, De tono cum muscul. turn eo imprimis qui sphincterum vocatur. Regiomonti 1857.\nHandbuch der Physiologie Bd. lia.\n5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nfraglich, dass Das, was die descriptive Anatomie sphincter vesicae nennt, hier nicht in Betracht kommt. Budge 1 konnte den Wasserstrahl, welchen er durch Einfluss von Wasser in einen Ureter bei einer gewissen Druckh\u00f6he aus der Urethra unterhielt, nur durch Reizung der vor dem eigentlichen Sphincter vesicae liegenden eontractilen Gebilde hemmen. Andrerseits geben Heidenhain undCoLBERG1 2 an, dass der Schliessmuskel der Blase w\u00e4hrend des Lebens, selbst in tiefer Narkose, einen grossem Druck als nach dem Tode aushalte, und nehmen demgem\u00e4ss einen unwillk\u00fcrlichen Tonus des Blasen-sphincters an. Von einer bestimmten Abtheilung des R\u00fcckenmarks, welche denselben unterhalte, melden sie Nichts und ebenso gehen sie nicht ernst auf die Frage ein, ob dieser Tonus ein reflectorischer oder anderer Art sei. Abgesehen von einem Streite zwischen den durch die Versuche der genannten Autoren angedeuteten Ansichten3 ist sp\u00e4ter die Existenz eines unwillk\u00fcrlichen Tonus des Blasen- und Afterschliessmuskels von andern Forschern4 dargethan und zugleich bewiesen worden, dass derselbe von umgrenzten Stellen des R\u00fcckenmarks abh\u00e4nge. Masius unterscheidet ein centrum ano-spinale, welches bei Kaninchen in der H\u00f6he der Bandscheibe liegt, die den 6. und 7. Lumbalwirbel mit einander verbindet, bei Hunden sich im unteren Theile des 5. Lendenwirbels findet, und ein centrum vesico-spinale, welches er bei beiden Thieren dicht hinter das centrum ano-spinale, vollkommen getrennt von diesem, legt. Er ertheilt beiden Centren tonische und reflectorische Wirkungen, untersucht aber die Frage nicht, ob der Tonus in letzter Instanz nicht doch etwa ein reflectorischer sei. Ueberhaupt ist f\u00fcr die Sphincteren die letztere Frage nicht so mehrseitig gepr\u00fcft und discutirt worden, als es f\u00fcr den Tonus der Skeletmuskeln geschehen ist. Der einzige Grund, welcher bis jetzt f\u00fcr einen, nicht auf dem Wege des Reflexes erzeugten Tonus beizubringen ist, k\u00f6nnte in der Thatsache gefunden\n1\tBudge, Ueber den Einfluss des Nervensystems auf die Bewegung der Blase. Ztschr. f. rat. Med. (3) XXIII. S. 78 ff. 1865.\n2\tHeidenhain u. Colberg, Versuche \u00fcber d. Tonus des Blasenschliessmuskels. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1858. S. 437.\n3\tv. Wittich, Anatomisches etc. \u00fcber den Blasenverschluss. K\u00f6nigsb. med. Jahrb. IL S. 12 ; III. S. 249; Sauer, Durch welchen Mechanismus wird der Verschluss der Harnr\u00f6hre bewirkt? Arch. f. Anat. u. Physiol. 1861. S. 112. Cohnstein, Kurze Uebersicht der Lehre des Muskeltonus. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1863. S. 172.\n4\tGiANNUzzietNAWROCKi, De l\u2019influence des nerfs sur les sphincters de la vessie et de l\u2019anus. Compt. rend. XXXXVI. p. 1161. 1863; Giannuzzi, Contribuzione alla conoscienza del tono musculare. 1868. Budge, Ueber den Einfluss des Nervensystems auf die Blase. Ztschr. f. rat. Med. (3) XXIII. S. 78. 93 ff. 1865. Masius, Recherches exp\u00e9rimentales sur l\u2019innervation des sphincters de l\u2019anus et de la vessie. Bull. d. l\u2019acad. d. Belg. XXIV et XXV. 1867.1868 und Robin, Journ. d. l\u2019anat. et d. 1. physiol. 1869. p. 103.","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Tonus der Sphincteren und Skeletmuskeln.\n67\nwerden, dass auch der Sphincterentonus in narcotischen Zust\u00e4nden beobachtet worden ist, in denen die Reflexbewegungen bedeutend herabgesetzt waren. Hiernach giebt es also einen von umschriebenen, im unteren Theil des R\u00fcckenmarks gelegenen, Stellen abh\u00e4ngigen, unwillk\u00fcrlichen Tonus des Blasen- und Mastdarmverschlusses, von dem erwiesen, dass er reflectorischer Verst\u00e4rkung f\u00e4hig ist, von welchem aber noch sch\u00e4rfer die Ursache seiner Entstehung zu erforschen ist. Die peripherischen Nervenfasern, welche den Tonus der Sphincteren unterhalten, liegen in den Bahnen der Sacralnerven.\nDie Bearbeitung der die Skeletmuskeln betreffenden Abtheilung der Tonusfrage hat das folgende Schicksal gehabt. In den f\u00fcnfziger Jahren wurden vielfach Zweifel dar\u00fcber laut, dass die bis dahin f\u00fcr einen Tonus der Skeletmuskeln vorgebraekten Thatsachen wirklich als Ausdruck eines vom R\u00fcckenmark unterhaltenen Tonus zu betrachten seien.1 Diesen Bedenken suchte man auf dem scheinbar rationellsten Wege dadurch zu begegnen, dass man mittelst feiner Messmethoden, Fernrohr und Kathetometer, die L\u00e4nge eines Muskels w\u00e4hrend seiner Verbindung mit, und nach seiner Trennung vom R\u00fcckenmark zu bestimmen suchte. Derartige Versuche sind von mehreren Seiten'2 3 her angestellt worden; sie einzeln anzuf\u00fchren, ist hier \u00fcberfl\u00fcssig, da sie alle zu demselben Resultate f\u00fchrten und nur in der Methode abwichen, wie der Zusammenhang des Muskelnerven mit dem R\u00fcckenmark gel\u00f6st wurde. Das Ergebniss war, dass sich bei Fr\u00f6schen und Kaninchen keine merkbare Verl\u00e4ngerung des Muskels nach \u2019Trennung seines Nerven vom R\u00fcckenmark nachweisen lasse. Nur eine Angabe von Steinmann1 weicht davon ab, indem dieser eine Verl\u00e4ngerung des mit 20 Grm. belasteten gastrocnemius um 2\u20145 mm. sah, als er die hinteren Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven am nicht gek\u00f6pften Thiere durchschnitt. Pr\u00e4gen nach dieser Beobachtung die hinteren Wurzeln den Muskeln gewisse Erregungen ein, so h\u00e4tten die fr\u00fcheren Beobachter auch bei Trennung der bez\u00fcglichen motorischen Nerven vom R\u00fcckenmark eine Verl\u00e4ngerung der Muskeln sehen m\u00fcssen. Nur durch Unterstellung bez\u00fcglich Wahl und Herrichtung der Pr\u00e4parate bei den verschiedenen\n1\tEine Uebersicht des hierher geh\u00f6rigen Materials hat Heidenhain, Physiolog. Studien. S. 9 ff. Berlin 1856. gegeben.\n2\tHeidenhain, in der sub 1 angef\u00fchrten Arbeit ; Auerbach, Ueber die Natur des Muskeltonus. Jahresb. d. schles. Ges. f. vaterl. Cultur. Breslau 1856; Schwalbe, Zur Lehre vom Muskeltonus ; Pfl\u00fcger\u2019s Untersuchungen aus dem physiologischen Laboratorium zu Bonn. S. 64.\n3\tSteinmann, Ueber den Tonus der willk\u00fcrlichen Muskeln. M\u00e9langes biolog., tir\u00e9s du Bull, de l\u2019acad. imp\u00e9riale d. sciences d. St. Petersbourg. VII. p. 806. 1871.","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nBeobachtern l\u00e4sst sich die Abweichung erkl\u00e4ren; ich komme darauf zur\u00fcck. Die erw\u00e4hnten negativen Versuchsergebnisse schienen ihrer Zeit den Eindruck bei der Mehrzahl der Physiologen hervorzurufen, dass es in der That keinen Tonus der Skeletmuskeln g\u00e4be, weder einen tonischen noch refleetorischen. Derselbe verwischte sich jedoch wieder, als Brondgeest1 zeigte, wie ein decapitirter, aufgeh\u00e4ngter Frosch, welchem man auf einer Seite den Plexus ischiadicus durchgeschnitten hat, auf der nicht operirten Seite die Abtheilungen der hinteren Extremit\u00e4t st\u00e4rker gekr\u00fcmmt tr\u00e4gt, als auf der anderen. Obschon das Experiment den Namen seines Erfinders seit jener Zeit tr\u00e4gt und die Tonusfrage von Neuem anregte, so war es doch nur eine neue, etwas modificirte Form der allbekannten Erfahrung, dass der decapitirte Frosch bei unverletztem R\u00fcckenmark stets eine ganz bestimmte Stellung einnimmt. Die Unterschiede beider Erfahrungen liegen nur in den hier unbedeutenden Umst\u00e4nden, dass die Gleichgewichtsbedingungen f\u00fcr die Unterst\u00fctzung des K\u00f6rpers und die Ber\u00fchrungsart der Hautnerven mit den umgebenden Medien andere sind. Beide lehren, dass der gek\u00f6pfte Frosch mit intactem R\u00fcckenmark eine bestimmte Lage seiner Glieder annimmt ; dass dieses variirt je nach den Bedingungen, die wir \u00e4usserlieh hinzuf\u00fcgen, ist selbstverst\u00e4ndlich. Obgleich die Richtigkeit des BRONDGEEsFschen Experimentes bestritten 2 worden ist, so haben doch mehrere3 Forscher bezeugt, und ich schliesse mich denselben nach eigenen Wahrnehmungen an, dass dies ohne ausreichenden Grund geschehen. Es ist wahr, dass es nicht bei jedem Frosch in gleich \u00fcberzeugender Weise gelingt, namentlich wenn man bei etwas h\u00f6herer Temperatur arbeitet, aber man sieht in den meisten F\u00e4llen doch einen Unterschied in der Stellung beider Beine; die Abk\u00fcrzung der Beobachtungszeit und Beobachtung des Frosches unter Wasser beg\u00fcnstigen die Wahrnehmung. Eine l\u00e4ngere Wirkung der Schwere der Schenkel oder Anh\u00e4ngen von Gewichten gleichen den Stellungsunterschied beider Beine bald aus. Auf eine Quecksilberoberfl\u00e4che den Frosch gelegt, soll jedoch der erw\u00e4hnte Unterschied sich nicht auspr\u00e4gen. Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks oder ausgiebige Vergiftungen mit Curare und Chloroform lassen keinen Stellungsunterschied beider Beine\nt Brondgeest, Onderzoekingen over den Tonus der willekeurigen spieren. Academische Proefschrift. Utrecht 1860.\n2\tTh. J\u00fcrgensen, Ueber den Tonus der willk\u00fcrlichen Muskeln ; Heidenhain, Studien des physiologischen Instituts zu Breslau. I.Hft. 1861. S. 139.\n3\tJ. Cohnstein, Kurze Uebersicht der Lehre vom Muskeltonus. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1863. S. 168; Sustschinsky, Ueber den Muskeltonus. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1871. S. 529; du Bois-Reymond, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1860. S. 704.","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Tonus der Skeletmuskeln.\n69\nauf kommen. Brondgeest hatte sich durch verschiedenartig modifi-cirte Versuche davon \u00fcberzeugt, dass die Muskelcontractionen, welche dem nicht operirten Beine die gr\u00f6ssere Beugung seiner Gelenke verschaffen, von den Reizen herr\u00fchren, welche die Hautnerven dem R\u00fcckenmark zuf\u00fchren, und er bezeichnete daher jene Zusammenziehung als einen Reflextonus. Nach Cohnstein ist es im BRONDGEEST\u2019schen Experiment vorzugsweise der Zug, welchen die Hautnerven bei der Dehnung durch die Schwere erleiden, durch welche die Erscheinung zu Stande kommt. Schon Stilling 1 hat die Idee von einem solchen Reflextonus gehabt, da aber bei ihm der Tonus mehr eine Annahme, als ein Factum war, so tritt diesmal die Lehre eines Reflextonus scharfer begr\u00fcndet auf. Mit derselben sind Behauptungen in Zusammenhang gebracht worden, welche von Cyon 2 ausgingen. Dieser gab an, dass beim Frosch die hinteren Wurzeln dergestalt einen Einfluss auf die vorderen aus\u00fcben, dass die Gegenwart jener die Erregbarkeit dieser erh\u00f6he; so dass also bei gleichem Reize nach der Trennung der hinteren Wurzel die von einer vorderen Wurzel nunmehr erhaltene Zuckung schw\u00e4cher ausfalle, als zuvor. Zun\u00e4chst das That-s\u00e4chliche anlangend, so bleibt dasselbe vorerst mit einigen Zweifeln belastet, da keine grosse Differenz zwischen der Zahl der Stimmen f\u00fcr1 2 3 und gegen4 die gemachte Behauptung besteht. Es wird daher hier auch gen\u00fcgen, nur den Gedanken anzugeben, der diese Versuchsweise mit dem BRONDGEEST\u2019schen Experimente verkn\u00fcpft. Man nimmt n\u00e4mlich an, dass wenn sich ein Muskel von seinem Nerven aus in gelinder Erregung befinde, ein bestimmter Reiz gleichsam durch Addition zu jener eine st\u00e4rkere Zuckung gebe, als dies ohne die erste Anregung der Fall ist, und erlaubt sich unter Annahme der Richtigkeit von Cyon\u2019s Angaben dann den umgekehrten Schluss: wenn bei Anwesenheit der hinteren Wurzeln ein an den vorderen angebrachter Reiz eine st\u00e4rkere Zuckung giebt> als beim Fehlen derselben, so muss in der vorderen Wurzel vorher schon eine Erregung, ein Tonus, bestanden haben. Wenn ich hierzu bemerke, dass die hier\n1\tB. Stilling, Fragmente zur Lehre von der Verrichtung des Nervensystems. Arch. f. physiol. Heilk. 1842. S. 98.\n2\tE. Cyon, Ueber den Einfluss der hinteren Nervenwurzeln des R\u00fcckenmarks auf die Erregbarkeit der vorderen. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Abth. 1865. S. 85.\n3\tGuttmann, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1867. Nr. 44; Steinmann, Ueber den Tonus der willk\u00fcrlichen Muskeln. M\u00e9langes biologiques etc. de St. Petersbourg. VII. p. 787.1871.\n4\tv. Bezold u. Uspensky, Centralbl. f. d. med. Wiss. Nr. 39. 1867; Arbeiten aus dem physiol. Laboratorium zu W\u00fcrzburg. 3. Hft. 1868; G. Heidenhain , Ueber den Einfluss der hinteren R\u00fcckenmarkswurzeln auf die Erregbarkeit der vorderen. Arch, f. d. ges. Physiol. IV. S. 435.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\ngemachte Voraussetzung anfechtbar ist, und Versuche 1 ihre Zul\u00e4ssigkeit zum mindesten in hohem Grade zweifelhaft machen, so wird man es gerechtfertigt finden, wenn ich empfehle, das von Cyon zuerst ber\u00fchrte Gebiet von Thatsachen zur Zeit noch nicht im Interesse der Tonusfrage zu verwerthen. Ueberblicke ich diese Erfahrungen, so scheint es mir, dass sich \u00fcber den Tonus der Skeletmuskeln Folgendes sagen l\u00e4sst. Aus der constanten Stellung, welche ein gek\u00f6pftes Thier unter denselben \u00e4usseren Bedingungen stets f\u00fcr eine gewisse Zeit noch einnimmt, welche aber selbstverst\u00e4ndlich mit der Ver\u00e4nderlichkeit der \u00e4usseren Umst\u00e4nde wechselt, und welche mit der Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks schwindet, ist zu schliessen, dass im R\u00fcckenmark ein Etwas vorhanden ist, unter dessen Mitwirkung besagte Erscheinung zu Stande kommt. Da zwingende Gr\u00fcnde fehlen, dies Etwas Seele zu nennen, so kann man ihm den Namen Tonus belassen, um diesem nun einmal eingeb\u00fcrgerten Worte eine bestimmte Bedeutung zu geben. Da mit der Entfernung der Haut, oder der Durchschneidung der hinteren Wurzeln der R\u00fcckenmarksnerven die gedachte Stellung mehr oder weniger schwindet, so folgt daraus, dass der Tonus ein reflectorischer ist. Bei ihm sind nachweislich nicht alle Muskeln in Erregung, noch viel weniger s\u00e4mmt-lich in demselben Grade erregt.2 Wenn directe Messungen der Muskell\u00e4ngen vor und nach ihrem Zusammenhang mit dem R\u00fcckenmark keine Aenderungen ihrer Gr\u00f6ssen ergeben haben, so spricht diese Erfahrung nicht gegen die Existenz eines Reflextonus; denn es k\u00f6nnen die f\u00fcr die Messung der Muskell\u00e4ngen angewendeten dehnenden Gewichte so gross gewesen sein, dass sie den Tonus verdeckten, oder jene an enth\u00e4uteten Thieren angestellt worden sein, bei denen die Anregung zum Tonus fehlte, oder endlich an Muskeln, denen im Reflextonus gar keine, oder kaum merkbare Contraction zukam. Die Resultate der Versuche \u00fcber den Einfluss der hinteren Wurzeln auf die Erregbarkeit der vorderen gestatten zur Zeit noch keine sichere Verwerthung f\u00fcr die Lehre von Tonus. F\u00fcr die Existenz eines vom R\u00fcckenmark ohne \u00e4usseren Reiz in den Skeletmuskeln unterhaltenen Tonus sind bis jetzt keine sichern Beweise zu erbringen.\nII. Der Tonus verschiedener Abtlieilungen des Gef\u00e4sssystems.\nEs ist bekannt, dass bei den S\u00e4ugethieren der Herzschlag von einer Abtheilung des verl\u00e4ngerten Markes regulirt wird. Bei\n1\tGr\u00fcnhagken, Bemerkungen \u00fcber die Summation von Erregungen in der Nervenfaser. Ztschr. f. rat. Med (3) XXVI. S. 190 ff.\n2\tL. Hermann,.Beitrag zur Erledigung d. Tonusfrage. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1861. S. 350 ff.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Regulator. Herznervencentmm.\n71\nHunden bringt die Befreiung des Herzens von dieser Einwirkung mittelst Vagusdurchschneidung eine sehr namhafte Pulsbeschleunigung hervor, bei dem an und f\u00fcr sich schon sehr schnell schlagenden Kaninchenherzen ist es in geringerem Grade der Fall, Fr\u00f6sche haben bei derselben Nervendurchschneidung mit Sicherheit noch keine Vermehrung des Pulses erkennen lassen. Eine Abgrenzung der wirksamen Stelle ist bis jetzt durch eine methodisch gef\u00fchrte Untersuchung noch nicht geschehen. Es stehen auch f\u00fcr diesen Zweck in Aussicht zu nehmenden Versuchen verschiedene Schwierigkeiten entgegen. Da beim Frosch die Vagisection keine merkbare Pulsbeschleunigung gibt, so f\u00e4llt dieses uns sonst so n\u00fctzliche Thier aus; denn man w\u00fcrde bei ihm voraussichtlich durch Zerst\u00f6rung irgend einer beschr\u00e4nkten Hirnstelle keine Vermehrung des Herzschlags erhalten. Die Verlangsamung oder der Herzstillstand nach directen Reizungen des Gehirns w\u00fcrde uns keinen Aufschluss geben, da man kein sicheres Mittel hat zu entscheiden, ob die ge\u00e4nderte Herzbewegung ihren Ursprung einem directen Eingriffe auf das von uns vorausgesetzte Centrum, oder der refleetorischen Erregung von Nerven verdankt, die etwa an dem Orte der Einwirkung verlaufen. Es k\u00f6nnten die Pr\u00fcfungen nur an solchen Thieren vorgenommen werden, deren Vagisection eine recht auffallende Beschleunigung der Pulszahl gibt, so dass zu hoffen ist, dass Schnitte durch das Mark vor und hinter dem angenommenen Centrum auf die * Dauer keine merkbare Erh\u00f6hung der Pulszahl geben. Eine solche Untersuchung ist meines Wissens bis jetzt nicht durchgef\u00fchrt worden. Man k\u00f6nnte vielleicht versucht sein, aus dem Umstande, dass beim Frosch mechanische Verletzungen des Marks von dem Abgang des ersten Halsnerven an bis zu den Corpora quadrigemina hinauf mehr oder weniger deutlichen Herzstillstand geben, mit R\u00fccksicht darauf n\u00e4mlich, dass einfache mechanische Reizungen von, zum Vagus in reflec-torischer Beziehung stehenden Nerven diesen Erfolg nicht haben, zu schliessen, dass das fragliche Centrum \u00fcber jenen Raum verbreitet sei. Dies ist indess nicht gestattet, da innerhalb des Marks die fraglichen Nerven vielleicht eine andere, dauernde Reizung, als ausserhalb desselben durch jene Reizungsart erfahren.1 Obschon von dem, was wir Seele nennen, affieirbar, entfaltet dieses St\u00fcck Nervensub-stanz unabh\u00e4ngig von jener, wie aus der im Ganzen Un Ver\u00e4nderlichkeit des Herzschlags nach Entfernung der Grosshirnhemisph\u00e4ren hervorgeht, continuirlich seinen hemmenden Einfluss und kann daher dieser unter die tonischen Wirkungen des Cerebrospinalsystems ein-\n1 C. Eckhard, Herzensangelegenheiten. Meine Beitr\u00e4ge. VIR. S. 185.","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\ngereiht werden. Bekannt ist von ihm, wie es ver\u00e4nderlich ist in seiner Wirkung je nach der Beschaffenheit der Fl\u00fcssigkeit, die das verl\u00e4ngerte Mark durchtr\u00e4nkt und den Wirkungen, welche gereizte centripetalleitende Nervenfasern auf dasselbe aus\u00fcben. Hier soll jedoch von den dahin geh\u00f6rigen Einzelerfahrungen keine Rede sein, da dieselben in der Lehre von der Herzbewegung abgehandelt werden. Nur die Frage soll ber\u00fchrt werden, ob Gr\u00fcnde f\u00fcr die Annahme vorhanden sind, dass es sich auch hier, wie bei dem Tonus der Skeletmuskeln, in letzter Instanz um einen Reflextonus handle, oder nicht. Man neigt sich zufolge einer Untersuchung von Bernstein 1 der ersteren Ansicht zu. Nachdem dieser durch eine Durchschneidung des R\u00fcckenmarks zwischen dem dritten und vierten Wirbel das regulatorische Herznervensystem der reflectorischen Einwirkung der R\u00fcckenmarksnerven entzogen hatte, erhielt er nach der Vagisection keine Beschleunigung des Herzschlags mehr, woraus er schloss, dass das genannte Centrum die Anregung zu seiner Th\u00e4tigkeit durch die reflectorische Erregung der abgetrennten Nerven erhalten habe. Uebri-gens leistet diese Versuchsform den strengsten Anforderungen noch keine Gen\u00fcge.. Da n\u00e4mjich auch von dem Grosshirn aus auf die Zahl der Herzschl\u00e4ge gewirkt werden kann, so m\u00fcsste, nachdem die anatomischen Grenzen des Centrums f\u00fcr das regulatorische Nervensystem festgesetzt worden sind, dies nach R\u00fcckenmark und Gehirn hin abgetrennt, und dann die Pulszahl vor und nach der Vagisection bestimmt werden. Ich f\u00fcrchte indess, dass, wenn unter diesen Umst\u00e4nden die Vagisection den Puls nicht beschleunigt, das Bedenken auftaucht, dass man keinen normalen Kreislauf mehr im verl\u00e4ngerten Mark gehabt habe, und demgem\u00e4ss auch keine Rede mehr von der normalen Wirkung des regulatorischen Herznervensystems sein k\u00f6nne, ein Einwand, von dem die bereits vorliegenden Versuche* nicht ganz frei sein d\u00fcrften. Man kann sogar die bessere, gleichfalls schon von Bernstein angeordnete Versuchsform, die Vagi nach der einer hohen R\u00fcckenmarksdurchschneidung gleichwerthigen Entfernung beider Grenzstr\u00e4nge, in welchen die in das R\u00fcckenmark eintretenden Reflexfasern verlaufen, zu durchschneiden, nicht f\u00fcr ganz \u00fcberzeugend finden , indem man darauf aufmerksam macht, dass durch die hierbei entstehende L\u00e4hmung aller Gef\u00e4ssnerven eine gewisse An\u00e4mie des verl\u00e4ngerten Marks entstehen und die normale Th\u00e4tigkeit des letzteren sich \u00e4ndern m\u00fcsse. Ich rechtfertige diese skeptischen Gedanken durch den Hinweis auf den Frosch. Bei ihm macht sich die Er-\n1 Bernstein, Untersuchungen \u00fcber den Mech. des reg. Herzr. Arcb. f. Anat. u. Physiol. 1864. S. 614. 653 if.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Regulator. Herznervencentrum. Lymphherzencentra.\t73\nregung des Sympathicus auf das regulatorische Herznervensystem des verl\u00e4ngerten Marks im Versuche eben so prompt, als beim S\u00e4ugethier, und dennoch tritt nach der Vagisection keine Beschleunigung des Herzschlags auf, es existirt also bei diesem Thiere kein tonisches, reflectorisch angeregtes Centrum als Regulativ f\u00fcr die Herz-th\u00e4tigkeit. Mit dieser Bemerkung soll kein Gegenbeweis f\u00fcr Bernstein\u2019s Ansicht gef\u00fchrt, sondern nur die Angelegenheit zu neuer Pr\u00fcfung und noch sch\u00e4rferer Beweisf\u00fchrung empfohlen werden. Von dem Caudalherzen des Aales, welches beil\u00e4ufig bemerkt, ein Lymph-herz sein soll, hat Mayer 1 behauptet, dass die Ursachen seiner Bewegungen ausserhalb des R\u00fcckenmarks zu suchen seien. Sp\u00e4ter fand ich -, dass nach sorgf\u00e4ltiger Zerst\u00f6rung des Marks, namentlich seines untersten, sehr d\u00fcnnen Theiles, die normalen Bewegungen aufh\u00f6ren, und h\u00f6chstens unvollkommene und unregelm\u00e4ssige Contractionen wiederkehren, \u00e4hnlich wie es bei den nunmehr zu besprechenden Lymph-herzen der Amphibien stattfindet. F\u00fcr diese wies zuerst Volkmann beim Frosch nach, dass nach Zerst\u00f6rung von zwei mehr oder weniger beschr\u00e4nkten Stellen des R\u00fcckenmarks in der Gegend des dritten und achten Wirbels die gew\u00f6hnlichen Bewegungen derselben cessi-ren. Da die letzteren nach der K\u00f6pfung des Thieres und der Durchschneidung der sensiblen Wurzeln bei Integrit\u00e4t des R\u00fcckenmarks fortbestehen, so schloss Volkmann daraus, dass das R\u00fcckenmark des Frosches automatisch wirkende Stellen besitze, und es bildete seit jener Zeit die erw\u00e4hnte Beobachtung, zumal da inzwischen der Tonus der Skeletmuskeln der Hauptsache nach als ein reflectoriscber erkannt worden war, den haupts\u00e4chlichsten Beweis daf\u00fcr, dass das R\u00fcckenmark automatisch wirkende Stellen in sich schliesse, die keiner reflectorischen Anregungen von aussen bed\u00fcrfen. Mir1 2 3 und Schiff4 kamen Bedenken gegen Volkmann\u2019s Ansicht. Wir beobachteten, dass nach Trennung des zweiten und zehnten Spinalnerven, welche die vom R\u00fcckenmark gelieferten Nervenfasern f\u00fcr die Lymphherzen in sich schliessen, oder nach Zerst\u00f6rung des R\u00fcckenmarks, die bez\u00fcglichen Bewegungen nur f\u00fcr eine gewisse Zeit aufh\u00f6ren, dann aber von Neuem, allerdings nicht mehr in der fr\u00fcheren Vollkommenheit, wieder beginnen. Sp\u00e4tere Beobachter haben Dasselbe gesehen. Ich war zu jener Zeit nicht abgeneigt, die automatischen Centren f\u00fcr die Bewe-\n1\tFroriep\u2019s Notizen. 1850. S. 99.\n2\tMeine Beitr\u00e4ge. III. S. 167.\n3\tlieber das Abh\u00e4ngigkeitsverh\u00e4ltniss der Bewegungen der Lymphherzen der Fr\u00f6sche vom R\u00fcckenmark. Ztschr. f. rat. Med. VIII. S. 212. 1849.\n4\tM. Schiff, Vorl\u00e4ufige Bemerkungen \u00fcber den Einfluss etc. Ztschr. f. rat. Med. IX. 1850. S. 258.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\ngungen der Lymphkerzen in der Substanz dieser zu suchen, da ich unter dem Einfluss der damals eben bekannt gewordenen Entdeckung Weber\u2019s \u00fcber die Stellung des Vagus zum Blutherzen, die durch Reizung der Lympkkerzennerven entstehende Zusammenziehung f\u00e4lschlich f\u00fcr einen Stillstand in Diastole nahm. Allein Heidenhain\u2019s Beobachtung, dass man die Lymphkerzen durch Hindurchleitung eines aufsteigenden eleetriscken Stromes, auf dessen krampfstillende Wirkung ich damals hinwies, durch die zu den Lymphkerzen gehenden Nerven zum Stillstand bringen k\u00f6nne, bekehrte mich ; nicht minder die schon von Schiff gemachte und von Heidenhain best\u00e4tigte Erfahrung, dass das Verhalten der Lympliherzennerven eleetriscken Reizen gegen\u00fcber dasselbe sei, wie das der quergestreiften Muskeln. Dadurch wurde bewiesen, dass in der Substanz der Herzen die Erregungsursache nicht liege, und es musste in der Hauptsache zu Volkmann\u2019s Vorstellung zur\u00fcckgekehrt werden, zumal sch\u00e4rfer darauf hingewiesen wurde, dass die neuen Pulsationen der Lymphkerzen sich dauernd von den alten unterscheiden. Zwar entdeckte Waldeyer 1 2 in der Umgebung der Lympkherzen Ganglienzellen, und Goltz 2 behauptete, dass einige Wochen nach der Durchschneidung der Lympk-herzennerven sich die normalen Pulse der Lymphkerzen wieder herstellten, Umst\u00e4nde, welche geeignet waren, die kaum gerettete Anschauung Volkmann\u2019s von Neuem zu zerst\u00f6ren, allein eine sorgf\u00e4ltige Beobachtung ergab, dass hierzu kein gen\u00fcgender Grund vorhanden sei. Waldeyer hat n\u00e4mlich, der Annahme von Goltz entgegen, dargethan, dass selbst nach wochenlangen Durchschneidungen der Lympkkerzennerven sich die normalen Pulse nicht wieder ker-stellen. Zur befriedigenden Reinigung dieser Angelegenheit w\u00fcrde nun noch der Nachweis der Ursachen geh\u00f6ren, von denen die nach Trennung der Lympkkerzennerven von Neuem entstehenden Bewegungen abh\u00e4ngen. Wir wollen uns aber hier mit diesem Punkte nicht befassen; die Frage kehrt in analoger Weise f\u00fcr die Contractionen der Blutgef\u00e4sse wieder und soll in Verbindung mit dieser am passenden Ort vorgenommen werden. Durch Erw\u00e4rmung des R\u00fcckenmarks auf 32\u201440 0 C. werden die Lymphkerzen anfangs zu schnellerem Schlage veranlasst, dann stehen sie in Diastole still. Erk\u00e4ltet man hierauf das Mark, so kehren die Pulsationen wieder zur\u00fcck.3\n1\tW. Waldeyer, Zur Anatomie und Physiologie der Lymphherzen von Rana und Emys europaea. Heidenhain, Studien des physiologischen Instituts zu Breslau. 3. Hft. S. 71.1865.\n2\tGoltz, Neue Thatsachen \u00fcber den Einfluss d. Nerven auf die Herzbewegung. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1863. Nr. 32. S. 497.\n3\tMeine Beitr\u00e4ge. IV. S. 39.","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Lymphherzen und Athmungscentrum.\n75\nBekanntlich \u00e4ndern auch andere automatische Centren ihre Tli\u00e4tig-keit, wenn sie besonderen Einwirkungen unterliegen.\nIII. Das Athmungscentrum.\nDie Darstellung der physiologischen Eigenschaften desselben ist einem anderen Bearbeiter \u00fcberwiesen. Hier soll es sich nur um eine genauere Ortsbestimmung desselben handeln. Schon im Alterthum war bekannt, dass die Gegend des Occiput eine f\u00fcr den Fortbestand des Lebens wichtige Stelle sei. Dass sie an das verl\u00e4ngerte Mark gekn\u00fcpft ist, deutete zuerst Lorry 1 an. Legallois1 2 bezeichnete f\u00fcr Warm- und Kaltbl\u00fcter die Stelle des Marks vom Occiput bis zu den ersten Halswirbeln als 'Quelle der Athembewegungen. Flourens 3 gab als diese zuerst den Theil des Marks an, welcher dem Vagus als Ursprung dient, sp\u00e4ter eine noch mehr eingeengte Stelle, die nur durch die Spitze des Calamus scriptorius gebildet werde. Brown-S\u00e9quard, Volkmann, Longet und Schiff griffen die Lehre von Flourens an, theils indem man, wie Brown-S\u00e9quard 4 5, den Tod der Thiere in den Versuchen jenes Forschers nicht der einfachen Entfernung einer gewissen Menge der Nervensubstanz des verl\u00e4ngerten Marks zuschrieb, sondern den Erregungen des Vagus, von denen die centrale Stillstand der Athembewegungen, die peripherische solchen des Herzens gebe, welche das Thier t\u00f6dten k\u00f6nnen, aber nicht m\u00fcssen, theils indem man sich einfach auf die Erfahrung berief, dass man die kleine in der Mittellinie liegende, von Flourens zuletzt noeud-vital genannte Stelle durch einen L\u00e4ngsschnitt zerst\u00f6ren und exstir-piren k\u00f6nne, ohne die Athembewegung dauernd aufzuheben. Neue Angaben \u00fcber die Lage eines Athmungscentrums machten sp\u00e4ter Longet 5 und Schiff6. Der letztere gab an, dass das Athmungscentrum doppelt sei, auf jeder Seite des verl\u00e4ngerten Markes in der Gegend des vorderen Theiles der Ala cinerea liege und jedes unab-\n1\tLorry, Sur les mouvements du cerveau. Second m\u00e9moire sur les mouvements contre nature etc. M\u00e9moires de math\u00e9matique et de physique, pr\u00e9sent\u00e9s \u00e0 l\u2019acad\u00e9mie Royale des sciences par divers savants, et lus dans les assembl\u00e9es. III. p. 344. 1760.\n2\tLegallois, Exp\u00e9rience sur le principe de la vie. Paris 1812. Abgedruckt in den: Oeuvres de Car. Legallois etc. avec des notes de M. Pariset. Paris 1824 u. 1830. I. p. 66. 251.\n3\tFlourens, Recherches sur le syst\u00e8me nerveux, ed. prem. 1824. Compt. rend, etc. 1847. 1851.\n4\tBrown-S\u00e9quard , Recherches sur les causes de mort apr\u00e8s l\u2019ablation de la partie de la moelle allong\u00e9e, qui a \u00e9t\u00e9 nomm\u00e9e noeud vital. Journ. d. 1. physiol. 1858. Y olkmann, Artikel Gehirn in Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol.: Longet, Arch, g\u00e9n. de med. XIII. 1847 ; Schiff, Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. I. 1858\u201459.\n5\tLonget, Trait\u00e9 de physiologie. 3. 1869.\n6\tSchiff, Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. 323; Arch. f. d. ges. Physiol. 1870. Widerlegung einer Behauptung von Brown-S\u00e9quard.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nh\u00e4ngig vom anderen functioniren k\u00f6nne, indem einseitige Verletzung desselben die Athembewegung auch nur einseitig aufbebe. In einer sp\u00e4tem Mittheilung schloss sich Flourens 1 den Angaben Schiff\u2019s, sachlich wenigstens, an, wenn er auch w\u00f6rtlich von ihnen etwas abweicht. In neuerer Zeit haben Gierke und Rokitansky weitere Aufschl\u00fcsse \u00fcber das Athmungseentrum gegeben. Der letztere1 2 zeigte, dass Kaninchen, nachdem man die Athembewegungen mittelst vollkommener Markdurchschneidung an der Spitze der Rautengrube zum Stillstand gebracht hat, w\u00e4hrend des durch eine darauf folgende Strychnininjection hervorgerufenen Krampfes einzelne Athembewegungen ausf\u00fchren. Hiernach g\u00e4be es eine Art Athmungseentrum, welches weiter abw\u00e4rts als das f\u00fcr die normalen Athembewegungen im R\u00fcckenmark liegt und nur unter besonderen Umst\u00e4nden zur Th\u00e4tig-keit angeregt werden kann, vorausgesetzt, dass die weitere Zergliederung der durch Strychninvergiftung erzeugten Erscheinung den Ausdruck Centrum rechtfertigt. Gierke suchte noch weiter wie Schiff in die Lage des Athmungscentrums einzudringen, indem er mit den Verwundungen, die er am verl\u00e4ngerten Mark anbrachte, eine micro-scopische Untersuchung der bez\u00fcglichen Gegend verband.3 Es gelang ihm bei diesen Versuchen nicht, einen bestimmten Zellenhaufen ausfindig zu machen, dessen Zerst\u00f6rung die Athembewegung zum Stillstand gebracht h\u00e4tte. Dagegen fand er, dass in der Gegend, welche bereits von Schiff und durch die letzten Angaben von Flourens angedeutet war, nach aussen von der Ala cinerea, die auch wohl Vaguskern heisst, ein L\u00e4ngsb\u00fcndel von Fasern zieht, welches, bilateral durchschnitten, dauernd die Athmung sistirt. Bei unilateraler Durchschneidung steht jene f\u00fcr kurze Zeit auf beiden Seiten still, beginnt aber bald wieder auf der nicht verletzten Seite. Es bleibt also zur Zeit vollkommen unentschieden, ob ein besonderer, abgegrenzter Ganglienhaufen vorhanden ist, von welchem die Athembewegungen ausgehen, oder ob nicht durch eine gewisse Anzahl von Kernen, die durch das erw\u00e4hnte B\u00fcndel verkn\u00fcpft sind, jene eingeleitet werden.\nIV. Gref\u00e4ssnervencentra.4\nEin erstes und . zwar das hervorragendste Gef\u00e4ssnervencentrum, insofern es nachweislich die Gef\u00e4ssnerven sehr verschiedener K\u00f6rper-\n1\tFlourens, Compt. rend. etc. 1858.\n2\tP. Rokitansky, Untersuchungen \u00fcber die Atkemnerven-Centra. Strieker\u2019s Med. Jahrb. S. 31.1874.\n3\tGierke, Die Theile der Medulla oblongata etc. Arch. f. d. ges. Physiol. VII. 583. 1873.\n4\tA. Vulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vasomoteur etc. r\u00e9dig\u00e9es et publi\u00e9es par","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Athmungscentrum. Gef\u00e4ssnervencentra.\n77\nregionen in sehr ausgiebiger Weise beherrscht, liegt im Allgemeinen im mittleren Theile des verl\u00e4ngerten Marks. Genauer angegeben findet sich dasselbe nach den mehrfach best\u00e4tigten Untersuchungen Owsjannikow\u2019s 1 bei Kaninchen auf dem Boden des vierten Ventrikels, wo es ohngef\u00e4hr 4 \u2014 5 mm. vor der Spitze des Calamus beginnt und sich bis in die N\u00e4he der hinteren Vierh\u00fcgel erstreckt, in diese selbst jedoch nicht hineinragt. Nach Zerst\u00f6rung dieser Stelle, oder einem Querschnitte durch das Mark an der hinteren Grenze derselben, sieht man den arteriellen Blutdruck m\u00e4chtig absinken, zum Zeichen, dass dem Blutstrom durch jenen Hirntheil vorher verengte Bahnen nun zu einem weiteren Strombette ge\u00f6ffnet sind. Entsprechend nimmt f\u00fcr l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Zeit der Durchmesser der kleineren arteriellen Gef\u00e4sschen an verschiedenen, weit entlegenen K\u00f6rperstellen zu. Es muss \u00fcbrigens bemerkt werden, dass schon vor Owsjannikow Versuche bekannt waren, welche andeuteten, dass \u00fcber das obere Ende des R\u00fcckenmarks hinaus f\u00fcr die Arterienweite einflussreiche Stellen des Cerebrospinalorgans gelegen sein mussten.* 1 2 Diese haben augenscheinlich dazu mitgewirkt, jenen auf den richtigen Weg zu f\u00fchren. Unter den fr\u00fcheren Versuchen sind die von Schiff an S\u00e4ugethieren angestellten f\u00fcr die Entwickelung der Lehre von den Gef\u00e4ssnerven insofern werthvoll gewesen, als sie zeigten, dass die Annahme, zu welcher man ehedem hinneigte, die Ganglien seien die physiologischen Ursprungsst\u00e4tten der Gef\u00e4ssnerven, irrig war. Nach Owsjannikow hat Dittmar3 die Grenzen des erw\u00e4hnten Gef\u00e4ssnerven-centrums noch einmal bestimmt. Die hiernach an der obigen Angabe anzubringende Correction ist unbedeutend. Die erw\u00e4hnte Wirkung des Gef\u00e4ssnervencentrums ist keine gleichm\u00e4ssige; an vielen, der Beobachtung zug\u00e4nglichen Arterien sieht man ohne \u00e4usserlich wahrnehmbare Ursache, wie sie mehr oder weniger regelm\u00e4ssig an- und abschwellen. Selbstverst\u00e4ndlich schwinden auch diese Wechsel im Gef\u00e4sslumen mit der Abtrennung der bez\u00fcglichen Nerven vom Ge-\nll. C. Car ville. Paris 1875; Schiff, Influenza della midolla spinale nei nervi vaso-motori delle estremit\u00e0. Napoli 1861.\n1\tOwsjannikow, Die tonischen und reflectorischen Centra der Gef\u00e4ssnerven. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math. -physik. Abth. Mai 1871; C. Eckhard, Ueberdie Centren der Gef\u00e4ssnerven. Meine Beitr\u00e4ge. VIL S. 81. 1876.\n2\tM. Schiff, Untersuchungen zur Physiologie des Nervensystems mit Ber\u00fccksichtigung der Pathologie. I. S. 198 fl. 1855; Lister, An inquiry regarding the parts of the nervous system which regulate the contractions of the arteries. Phil, transact, for the year 1858. p. 607, London 1859 ; C. Dittmar, Ein neuer Beweis f\u00fcr die Reizbarkeit der centripetalen Fasern des R\u00fcckenmarks. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-physioL Abth. 4. M\u00e4rz 1870.\n3\tDittmar, Ueber die Lage des sogenannten Gef\u00e4ssnervencentrums. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Abth. XXV. S. 443. 1873.","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg d. Cerebrospinalorg.\nf\u00e4ssnervencentrum. Diese Erscheinungen hat zuerst Schiff 1 beschrieben. Es fragt sich, ob ausser dem erw\u00e4hnten Centrum noch andere analoge im Gehirn und R\u00fcckenmark vorhanden sind. F\u00fcr das erstere ist nicht bekannt, dass nach Entfernung irgend eines seiner Theile bis zu den Vierh\u00fcgeln hin eine auffallende und dauernde Erniedrigung des Blutdrucks oder sichtbare Erweiterung der Arterien ein trete, welche auf das Vorhandensein einer tonisch wirkenden Stelle daselbst zu beziehen sei. Lister 2 gab zuerst f\u00fcr das R\u00fcckenmark des Frosches an, dass die Gef\u00e4sse der Schwimmhaut um so weiter werden, je mehr man von dem R\u00fcckenmark abtr\u00e4gt und war daher der Ansicht, dass dieser Nerventheil die Gef\u00e4sse bis zu einem gewissen Grade zusammengezogen erhalte, jedoch der Einfluss desselben auf die Arterien nicht auf einzelne Abtheilungen desselben beschr\u00e4nkt sei. Sp\u00e4ter hat Goltz 3 in etwas anderer Form als Lister ebenfalls die theilweise Abh\u00e4ngigkeit des Gef\u00e4sstonus vom R\u00fcckenmark f\u00fcr den Frosch dargethan. Die Priorit\u00e4t bez\u00fcglich der Entdeckung von Gef\u00e4ssnervencentren im R\u00fcckenmark der Wirbelthiere wird hiernach Goltz wohl an Lister abtreten m\u00fcssen, aber es kommt ihm das Verdienst zu, die von Legallois1 2 3 4 gemachte Erfahrung, dass bei gek\u00f6pften S\u00e4ugethieren, deren Athmung man k\u00fcnstlich unterh\u00e4lt, der Kreislauf rascher erlischt, wenn man das R\u00fcckenmark oder gr\u00f6ssere Theile desselben zerst\u00f6rt, als wenn man dasselbe unverletzt erh\u00e4lt, auf die Anwesenheit vasomotorischer Centren im R\u00fcckenmark bezogen und durch neue Experimente am Hunde dieselben nachgewiesen zu haben.5 6 Bez\u00fcglich des experimentellen Nachweises, dass auch das R\u00fcckenmark der S\u00e4ugethiere Gef\u00e4ssnervencentra f\u00fchre, muss noch angemerkt werden, dass Schlesinger gleichzeitig mit Goltz zu demselben Resultate gekommen ist; habe ich Nichts \u00fcbersehen, so geht sogar der Publication von Goltz 'die Schle-singer\u2019s 6 voraus. Der Nachweis der spinalen Gef\u00e4ssnervencentren geschah ausser auf die erw\u00e4hnte Art vorzugsweise mittelst der sogleich\n1\tM. Schiff, Ein accessorisches Kaninchenherz. Vierordt\u2019s Arch. 1854. S. 523.\n2\tLister 1. c.\n3\tFr. Goltz, Ueber den Tonus der Gef\u00e4sse und seine Bedeutung f\u00fcr die Blutbewegung. Arch. f. pathol. Anat. XXIX. S. 394.\n4\tLegallois, Exp\u00e9riences sur le principe de la vie. Eine Sammlung v. M\u00e9moires, welche er vor Professoren der Facult\u00e4t der Medicin und im Institut gelesen und 1812 publicirt hat. In den von Pariset 1830 herausgegebenen : Oeuvres de C. Legallois steht die erw\u00e4hnte Abhandlung in T. I. p. 33\u2014215. Die hier angezogenen Versuche stehen von p. 96 an.\n5\tFr. Goltz, Ueber die Functionen des Lendenmarks des Hundes. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 493. 1874.\n6\tWilh. Schlesinger, Ueber die Centra d. Gef\u00e4ss- u. Uterusnerven. Strieker\u2019s med. Jahrb. 1874. S. 1.","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00e4ssnervencentra.\n79\nanzugebenden Eigenschaften. In die Vertheilungsart der Gef\u00e4ssner-vencentren innerhalb des eigentlichen R\u00fcckenmarks hat man noch keine gen\u00fcgende Einsicht; nach der vorliegenden Erfahrung scheinen sie zwar \u00fcberall im R\u00fcckenmark vorzukommen, jedoch im Lendenmark vorzugsweise entwickelt zu sein.\nWie sich die Wirkungen der Gef\u00e4ssnervencentren des verl\u00e4ngerten und R\u00fcckenmarks gestalten, wenn sie von allen peripherischen Einwirkungen mittelst Durchschneidung s\u00e4mmtlicher zu ihnen f\u00fchrender centripetalleitender Nerven befreit w\u00e4ren, ist nicht bekannt, und man kann daher zur Zeit nicht sagen, ob ihre sogenannte tonische Wirkung im Grunde eine reflectorische sei, oder nicht. Dagegen weiss man, dass sie je nach der Beschaffenheit des sie durchstr\u00f6menden Blutes und der Erregung gewisser peripherischer Nerven in ihren Th\u00e4tigkeiten modificirt werden k\u00f6nnen. In diesen Beziehungen sind folgende Erfahrungen bekannt. Vielen, in das Blut eingef\u00fchrten Substanzen gegen\u00fcber zeigen die Gef\u00e4ssnervencentra und ihre Nerven besondere Eigent\u00fcmlichkeiten. Gegen manche Gifte zeigen sie, verglichen mit anderen Abtheilungen des Nervensystems, eine besondere Widerstandsf\u00e4higkeit. Ein werthvolles Beispiel hierzu bildet ihr Verhalten der Curaravergiftung gegen\u00fcber; bei Dosen dieses Giftes, welche die willk\u00fchrlichen Bewegungen und die Reflexmechanismen f\u00fcr die K\u00f6rpermusculatur unwirksam machen, behalten die Gef\u00e4ssnervencentra und ihre Nerven ihre Erregbarkeit bei. Damit wird selbstverst\u00e4ndlich nicht behauptet, dass die Curaravergiftung gar keinen weiteren Einfluss auf die Gef\u00e4ssnervencentra habe. Ein solcher findet allerdings statt ; er ist je nach dem Grade und der Dauer der Vergiftung verschieden; bald beobachtet man Herabsetzung, bald Erregung des Gef\u00e4sstonus.1 Hierauf gr\u00fcndet sich bekanntlich das werthvolle, zuerst von Traube ge\u00fcbte Verfahren, unter Zuhilfenahme der k\u00fcnstlichen Respiration, Untersuchungen \u00fcber das Gef\u00e4ssnerven-system zu machen, ohne durch die Zuckungen der K\u00f6rpermusculatur gest\u00f6rt zu sein. Eine besondere Anregung erfahren die Gef\u00e4ssnervencentra durch Strychninvergiftung. Schon geringe Gaben 0,0016 Gr. Strych. nitr. geben bei Hunden, welche man vorher curarisirt hat, deutliche Blutdruckerh\u00f6hung, auch dann noch, wenn w\u00e4hrend des Versuchs Verlangsamung des Herzschlags eintritt. Viele kleine, mit blossem Auge noch sichtbare Arterien sieht man bei verschiedenen Thieren erblassen. Nach vorheriger Abtrennung des Halsmarks fehlen\n1 C. Eckhard, Ueber die Centren der Gef\u00e4ssnerven. Meine Beitr\u00e4ge. VIL S. 83. 84; Gergens u. Weber, Ueber locale Gef\u00e4ssnervencentren. Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. S. 57 ; Huizinga, Untersuch, \u00fcber die Innervation etc. Ebendaselbst XI. S. 212.","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\ndiese Erscheinungen zum Theil ; ganz bleiben sie nicht aus, was ein Zeichen daf\u00fcr ist, dass im R\u00fcckenmark oder auch an anderen Stellen gef\u00e4ssverengernde Vorrichtungen bestehen, welche durch das Strychnin erregt werden.1 F\u00fcr eine Wirkung des letzteren auf Ge-f\u00e4ssnervencentra im R\u00fcckenmark spricht der Umstand, dass nach Abtrennung des verl\u00e4ngerten Marks durch Erregung centripetaler R\u00fcckenmarksnerven reflectorisch der Blutdruck ge\u00e4ndert werden kann. Aehnliche Wirkungen werden von Nicotin und Calabar auf das Gef\u00e4ssnervensystem ausge\u00fcbt.2 Diesen Gegenstand hat die Pharmacologie noch weiter reichlich ausgebildet; ihre Erfahrungen m\u00fcssen aber hier \u00fcbergangen werden. Nicht minder als durch Gifte erfahren die Gef\u00e4ssnervencentra aussergew\u00f6hnliche Anregungen durch dys-pnoisches Blut. Diese Eigenschaft hat zuerst Hering rein dargestellt. Er zeigte, wie bei curarisirten Thieren, deren Kreislauf durch k\u00fcnstliche Athmung unterhalten wird, mit dem Aufh\u00f6ren der Einblasungen der Blutdruck betr\u00e4chtlich unter wellenf\u00f6rmigem Auf- und Absinken in die H\u00f6he geht und diese Erscheinung auf eine periodische Th\u00e4tigkeit der Gef\u00e4ssnervencentra bezogen werden muss. Wegen einer gewissen Aehnlichkeit dieser Schwankungen mit den Atbmungsphasen und seiner Meinung, dass sich dieselben mit den letzteren associirten, nannte Hering dieselben die Athembewe-gungen des Gef\u00e4sssystems. Auf eine genauere Darlegung dieses Punktes und insbesondere, wie diese Versuche durch Arbeiten von Thiry und Traube bereits vorbereitet waren, geht die Darstellung der Lehre von den Athembewegungen ein. Da zu jener Zeit nur das vorz\u00fcglichste der Gef\u00e4ssnervencentra bekannt war, so hatte Hering keinen besonderen Anhaltspunkt die erw\u00e4hnten Erscheinungen auf einen anderen, als jenen Theil zu beziehen. Mit der Entdeckung von Gef\u00e4ssnervencentren im R\u00fcckenmark un'd der Beobachtung Schlesinger\u2019s, dass beim strychninisirten enthirnten Thiere mit der Athmungssuspension gleichfalls noch Schwankungen im erh\u00f6hten Blutdruck auftreten, kann die Frage entstehen, ob bei der von Hering zuerst gemachten Beobachtung sich nicht auch die Gef\u00e4ssnervencentra des R\u00fcckenmarks betheiligen. Neue Versuche haben hier\u00fcber zu entscheiden.\n1\tRichter, Die Wirkungen des amerikanischen Pfeilgiftes und der k\u00fcnstlichen Respiration bei Strychninvergiftung. Ztschr. f. rat Med. (3) VIII. S. 76; S. Mayer, Studien zur Physiologie des Herzens und der Blutgef\u00e4sse. 1. Abhdlg. Sitzgsber. d. Wiener Acad. 2. Abth. Nov.-Hft. 1871; Schlesinger, Ueber die Centra der Gef\u00e4ss-und Uterusnerven. Strieker\u2019s med. Jahrb. 1874. S. 1.\n2\tSurminsky, Ueber die Wirkungsweise des Nicotin etc. Ztschr. f. rat. Med. (3) XXXVI. S. 211. 1869; v. Bezold u. Goetz, Ueber einige physiologische Wirkungen des Calabar-Giftes. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1867. Nr. 16.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00e4ssnerven centra.\n81\nDie Gef\u00e4ssnervencentra des Gehirns und R\u00fcckenmarks sind auch reflectorisch erregbar. In, wie es scheint, den meisten F\u00e4llen bekommt man durch Reizung sensibler Hautzweige eine Verengerung der kleineren Arterien in einem kleineren oder gr\u00f6sseren Bezirk. Nach Nachlass des Reizes, bisweilen sogar schon w\u00e4hrend der Fortsetzung desselben, tritt Erweiterung der vorher verengten Gef\u00e4sse ein. In anderen F\u00e4llen kann sogar der Reizung ohne vorausgegangene deutliche Arterienverengerung sogleich eine Erweiterung folgen. Ob die Erweiterung gr\u00f6sser ist, als die, welche einer einfachen L\u00e4hmung der centrifugalen Gef\u00e4ssnerven durch einfache Trennung derselben vom Centrum entspricht, ist im einzelnen Falle zu untersuchen. Bei solchen Versuchen ist auch an die M\u00f6glichkeit zu denken, dass auf Reizung eines sensiblen Nerven die in einem Gef\u00e4ss auftretende Erweiterung dadurch bedingt sein kann, dass jenes keiner directen Nervenwirkung in dem speciellen Versuche unterliegt, sondern sich nur desshalb erweitert, weil es mehr Blut in Folge eines anderswo verengten Bezirks empf\u00e4ngt. Reflectorische Erweiterungen ohne vorausgegangene Verengerungen hat man an den Ohrgef\u00e4ssen bei Reizung sensibler Nerven des Halsmarks und des N. ischiadicus, in dem Gebiete des Splanchnicus bei Reizung des Depressor cordis und in vielen anderen F\u00e4llen gesehen.1 Da die Reizung einer und derselben centripetalen Bahn in demselben Gef\u00e4ssbezirk bald Verengerung, bald Erweiterung giebt, wie dies f\u00fcr verschiedene Hautnerven in Bezug auf die Ohrgef\u00e4sse beobachtet worden ist, so sind manche Physiologen der Meinung nicht abhold, dass alle Gef\u00e4sse des K\u00f6rpers verengernde und erweiternde Bahnen bek\u00e4men, und dass je nach Umst\u00e4nden bald die eine, bald die andere Gattung der Gef\u00e4ssnerven reflectorisch erregt w\u00fcrde. Indess ist diese Lehre bis jetzt weder in voller Allgemeinheit bewiesen, noch sind die Umst\u00e4nde gen\u00fcgend aufgekl\u00e4rt, von denen der verschiedene Erfolg einer und derselben sensiblen Hautreizung abh\u00e4ngt. Auf einen und denselben Gef\u00e4ssbezirk kann entsprechend einem Charakter der Reflexbewegungen \u00fcberhaupt, von den verschiedenartigsten, oft weit von einander liegenden Hautnerven eingewirkt werden; so z. B. auf die Arterien des \u00e4ussern Kaninchenohrs durch den Aurieularis vagi, Auricularis posterior, durch Zweige und den Stamm des Trigeminus, den Vagus, sensible Bahnen\n1 Owsjannikow u. Tschiriew , Heber den Einfluss der reflectorischen Th\u00e4tig-keit d. Gef\u00e4ssnervencentra. Bull, de l\u2019acad. imp. d. sciences de St. Petersbourg. XVIII. p. 18 ; E. Cyon u. C. Ludwig, Die Reflexe eines der sensiblen Nerven des Herzens auf die motorischen Nerven der Blutgef\u00e4sse. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. CI. 5.Nov. 1866; Goltz, Ueber gef\u00e4sserweiternde Nerven. Arch. f. d. ges. Physiol. IX. S. 189. 1874; OstroumofT, Versuche \u00fcber Hemmungsnerven. Ebendas. XI. S. 252.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t6","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"- 82 Eckhard, K\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\ndes Plexus brachialis und ischiadicus.1 Bemerkenswerth ist es noch, dass man auch die Obrgef\u00e4sse durch Reizung gewisser Hirntheile, wie z. B. des Cerebellums, der Grosshirnstiele etc. verengern kann; diese Erscheinungen sind indess noch nicht hinl\u00e4nglich zergliedert. Man hat wohl daraus schliessen wollen, dass ausser den angegebenen Nervencentren noch Gef assnervencentren im Gehirn vorhanden w\u00e4ren, da man aber nach Entfernung von vor den Vierh\u00fcgeln inch dieser liegenden Hirntheilen keine dauernde Erweiterung der Blutgef\u00e4sse und kein namhaftes Absinken des Blutdrucks beobachtet hat, so haben sich die meisten Physiologen noch nicht ernstlich zu einer solchen Annahme entschliessen k\u00f6nnen. Auch auf andere angebliche Erfahrungen hin, haben einige wenige Physiologen ein Gef\u00e4ssnerven-centrum vor dem verl\u00e4ngerten Mark angenommen, insbesondere hat Cyon von einem solchen gehandelt. Da derselbe die Widerspr\u00fcche noch nicht beseitigt hat, die seinen Aufstellungen entgegengesetzt worden sind, so begn\u00fcge ich mich, um Verwickelungen durch noch streitige Punkte zu vermeiden, auf die unten angef\u00fchrte Literatur in dieser Beziehung zu verweisen.2 Von den reflectorisch erregbaren Gef\u00e4ssnerveneentren des R\u00fcckenmarks ist noch insbesondere Einiges anzuf\u00fchren, weil auf diese Art die Existenz jener mehrfach aufgezeigt worden ist. J. J. Putnam3 gab an, dass bei Fr\u00f6schen nach der Zerst\u00f6rung des verl\u00e4ngerten Marks die Gef\u00e4sse der Schwimmhaut des Frosches einer hinteren Extremit\u00e4t sich verengern, wenn man die sensitiven Nerven der anderen auf irgend eine Art reize. Diese Angabe hat sp\u00e4ter Best\u00e4tigung und weitere Ausf\u00fchrung durch Nussbaum, Vulpian und Andere erhalten. Der erstere4 sah am cura-risirten Frosch, dem Gehirn und verl\u00e4ngertes Mark zerst\u00f6rt worden waren, durch Reizung sensibler Nerven auf sehr verschiedene Reizungsmethoden die Arterien sich con trahir en. Vulpian5 beobachtete, dass nach der Zerst\u00f6rung des Gehirns und R\u00fcckenmarks bis in die Gegend des Abgangs der Brachialnerven die Gef\u00e4sse der\n1\tSnellen, De invloed der zenuwen op de ontsteeking etc. Utrecht 1857; Lov\u00fcn, Ueber die Erweiterung der Arterien in Folge einer Nervenerregung. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. CI. 30. Mai 1866; C. Eckhard, Ueber die Centren der Gef\u00e4ssnerven. Meine Beitr\u00e4ge. VIL S. 81.\n2\tCyon, Sur les actions r\u00e9flexes etc. Compt. rend. 1869; 3. ao\u00fbt. Hemmungen u. Erregungen im Centralnervensystem der Gef\u00e4ssnerven. M\u00e9langes biologiques tir\u00e9s du Bull. etc. de St. Petersb.. VII. p. 757. 1871 ; Heidenhain, Ueber Cyon\u2019s neue Theorie der centralen Innervation der Gef\u00e4ssnerven. Arch. f. d. ges. Physiol. IV. S. 551. 1871 ; C. Eckhard, Ueber die Centren der Gef\u00e4ssnerven. Meine Beitr\u00e4ge. VII. S. 104.\n3\tJ. J Putnam, A report of some experim. on the reflex contractions of bloodvessels. The Boston med. and surg. Journal. Vol. 82. Nr. 25. p. 469. 1870.\n4\tM. Nussbaum, Ueber die Lage des Gef\u00e4ssnervencentrums. Arch. f. d. ges. Physiol X. S. 374. 1874.\n5\tA. Vulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vaso-moteur, p. 288. Paris 1875.","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00e4ssnervencentra.\n83\nSchwimmhaut sich erweiterten, wenn er die Haut mit Senf\u00f6l reizte und zwar in viel h\u00f6herem Grade, als dies nach der Durchschneidung aller zur betreffenden Extremit\u00e4t gehenden Nerven der Fall war. Die Bedingungen f\u00fcr diese Verschiedenheiten sind noch nicht erkannt; in einer verschiedenen L\u00e4nge des Marks k\u00f6nnen sie nicht liegen, da Nussbaijm die reflectorischen Contractionen auch noch erhielt, nachdem er das R\u00fcckenmark unterhalb des Plexus brachia-lis durchschnitten hatte. Es liegt die Vermuthung nahe, dass, da Vulpian mit Senf\u00f6l reizte, die Erweiterung keine rein spinalreflec-torische war, sondern mit einer \u00f6rtlichen L\u00e4hmung der Ringmuscula-tur zusammenhing, wie sie nach den Versuchen von Weber1 an Schwimmh\u00e4uten, welche ausser aller Nervenverbindung mit dem R\u00fcckenmark sind, vorkommt. Vulpian kannte allerdings diese Erfahrung und behauptet, dass die von ihm gesehenen Erweiterungen gr\u00f6sser, als die von Weber beschriebenen gewesen seien. Derartige Sch\u00e4tzungen d\u00fcrften aber ohne genauere Messungen tr\u00fcgerisch sein. Bei curarisirten S\u00e4ugethieren scheint unter Ausschluss weiterer Einwirkungen auf das Mark die Erregung sensibler Nerven keine merkbare Blutdrucksteigerung und also auch wohl keine Gef\u00e4ssverenge rung hervorzubringen, aber m\u00e4chtig hervorzutreten, wenn man vorher stryehninisirt.2 Dagegen sind reflectorische Erweiterungen in mehrfachen Formen bekannt. Goltz macht die Angabe, dass die Reizung des centralen Stumpfes des n. ischiadicus bei einem Hunde, dessen Lendenmark von dem Dorsalmark getrennt war, Erh\u00f6hung der Temperatur des Beins der anderen Seite in Folge von Gef\u00e4sserwei-terung hervorbrachte und dass es ihm an solchen Hunden l\u00e4ngere Zeit nach der R\u00fcckenmarkstrennung gelungen ist, durch die Reizung sensibler Nerven Erection des Penis hervorzurufen. Gem\u00e4ss diesen Versuchen behauptet er, dass das Lendenmark das Centrum der gef\u00e4sser-weiternden Nerven der hinteren Extremit\u00e4ten und des Penis sei.3 Eine Pr\u00fcfung dieser Angaben von anderer Seite ist bisher nicht erfolgt.\nMit der Losl\u00f6sung der Gef\u00e4ssnerven von ihren Centren oder\n1\tH. Weber, Experimente \u00fcber die Stase an der Froschschwimmhaut. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1852. S. 361.\n2\tW. Schlesinger, Ueber die Centra der Gef\u00e4ss- und Uterusnerven. Strieker\u2019s med. Jahrb. 1874. S. 20.\n3\tGoltz & Freusberg, Ueber die Functionen des Lendenmarks des Hundes. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 460 und Ueber gef\u00e4sserweiternde Nerven. Ebendas. IX. S. 147. 1874. Ich benutze diese Gelegenheit zu bemerken, dass Herr Goltz mir eine Aeusserung in den Mund legt, welche ich nicht gethan habe. Er behauptet, ich h\u00e4tte aus dem Umstand, dass man durch Reizung von Hirntheilen Erections-blutung erzeugen kann, geschlossen, das Centrum der Erection l\u00e4ge im Gehirn. Mein Gegner wird den Beweis f\u00fcr seine Behauptung durch kein Cit\u00e2t aus meinen Schriften beweisen k\u00f6nnen.\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nder Zerst\u00f6rung der letzteren werden wie bereits erw\u00e4hnt die bez\u00fcglichen Gef\u00e4sse weiter und verlieren den etwa vorher bestandenen Wechsel der Weite ihres Lumens. Am sch\u00f6nsten sieht man dies an den pulsirenden Venen der Flughaut der Fledermaus.1 Dies jedoch nur f\u00fcr kurze Zeit. Seltener nach Stunden, gew\u00f6hnlich erst nach Tagen, treten von neuem hier und da Verengerungen ein, die sich wieder l\u00f6sen und an anderen Stellen eintretenden Verengerungen unter mancherlei Variationen Platz machen. In F\u00e4llen, wo vor der Trennung der Gef\u00e4ssnerven die Contractionen sich mit einer gewissen Regelm\u00e4ssigkeit einstellten, empf\u00e4ngt man meist den Eindruck, dass die neuen den alten Rhythmus gar nicht mehr, oder doch sehr unvollkommen zeigen, Um beim Studium der neuen Bewegungen keiner T\u00e4uschung zu verfallen, ist es wichtig, sich zu versichern, dass s\u00e4mmtliche, zu einem Gef\u00e4ssbezirke gehende Nervenbahnen abgetrennt worden sind. F\u00fcr die Ohrgef\u00e4sse des Kaninchens ist beispielsweise eine solche Vorsicht besonders am Ort, da jene vom Sympathicus und Auricularis major her versorgt werden. Solche Contractionen der Gef\u00e4sse unabh\u00e4ngig vom centralen Nervensystem sind von vielen Beobachtern gesehen worden. Ich habe unten 2 eine Anzahl der hierher geh\u00f6rigen Beobachtungen zusammengestellt. Diese f\u00fchren zu der Annahme peripherer die Gef\u00e4ssweite beherrschender Einrichtungen. Zu derselben Voraussetzung ist man noch durch andere Wahrnehmungen gef\u00fchrt worden. Vorher habe ich der \u00e4lteren, von Weber gemachten und durch Vulpian best\u00e4tigten Erfahrung gedacht, dass man an Gef\u00e4ssen, die keinen Zusammenhang mehr mit Gehirn und R\u00fcckenmark haben, durch Application von Senf\u00f6l noch Erweiterung hervorrufen kann. Dieselbe Wahrnehmung tritt in dem vielfach citirten Versuch von Goltz3 hervor, dass dieser an einem Kaninchenbein, welches in Folge einer galvanocaustischen Operation nur noch mittelst der vasa cruralia mit dem \u00fcbrigen K\u00f6rper zusammenhing, durch K\u00e4lte und Senf\u00f6l, R\u00f6the, also Gef\u00e4sserweiterung\n1\tSchiff, Gaz. hebd. d. Paris 1854. p. 421.\n2\tCunning. Onderzoekingen over bloedsbeweging en statis. p. 37. Utrecht 1857; Lister, An enquiry regarding tbe parts of tbe nervous system which regulate etc. Phil, transact. 1858. p. 507; Roever, Kritische und experimentelle Unters, des Nerveneinflusses auf die Erweiterung und Verengerung der Blutgef\u00e4sse. S. 16 ff. 1869. Wiederbeginn der Contractionen der Ohrarterien nach Durchschneidung des Sympathicus; Asp, Beobachtungen \u00fcber Gef\u00e4ssnerven. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. AViss. Math.-phys. CI. 1867. S. 141. R\u00fcckkehr d. Blutdrucks nach 11\u201412 Tagen nach d. Splanchn. - Durchgehn. ; Huizinga, Untersuchungen \u00fcber die Innervation der Gef\u00e4sse in der Schwimmhaut des Frosches. Arch. f. d. ges. Physiol. XI. S. 207. 1875; Gergens & Werber, Ueber locale Gef\u00e4ssnervencentra. Ebendas. XIII. S. 44. 1876 ; Putzeys & Tarchanoff, Ueber die Einfl\u00fcsse des Nervensystems auf den Zustand der Gef\u00e4sse. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1874. S. 371.\n3\tBericht der Naturforschervers. zu K\u00f6nigsberg. 1860. S. 139.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00e4ssnervencentra.\n85\nhervorrief. Endlich kann man in demselben Sinn die Gef\u00e4sserwei-terungen deuten, welche man bei von dem Cerebrospinalorgan losgel\u00f6sten peripherischen Nerven beobachtet. Ausser den l\u00e4nger bekannten beschleunigten Blutstr\u00f6men durch die Submaxillardr\u00fcse und den Penis bei Reizung der chorda und nn. erigentes rechnet man in neuerer Zeit noch die alte Wahrnehmung dahin, dass eine Extremit\u00e4t deren Htiftnerve durchschnitten, f\u00fcr eine gewisse Zeit w\u00e4rmer ist, als die analoge andere. Fr\u00fcher sah man diese Wirkung als eine Folge der L\u00e4hmung der gef\u00e4ssverengernden Nerven und der dadurch bedingten gr\u00f6sseren Blutzufuhr an. Goltz 1 hat dieselbe dahin gedeutet, dass er in der Durchschneidung einen Reiz f\u00fcr in dem n. ischiadicus verlaufende, gef\u00e4sserweiternde Nerven erblickte. Er wurde in dieser Deutung nicht allein durch den bereits bekannten Umstand best\u00e4rkt, dass die erw\u00e4hnte Erw\u00e4rmung sp\u00e4ter wieder abnimmt, son-auch durch die von ihm angegebene Wahrnehmung, dass bei elec-trischer Reizung des H\u00fcftnerven Temperaturerh\u00f6hung in der Hinterpfote entsteht. Indess ist diese Vorstellungsweise und das zuletzt erw\u00e4hnte Versuchsergebniss angetastet worden. Der Mangel einer analogen Gef\u00e4sserweiterung bei der einfachen Durchschneidung der chorda oder nn. erigentes stimmt nicht gut mit jener Ausdeutung, ausserdem fanden andere Forscher1 2, dass an dem frisch durchschnittenen Ischiadicus die \u00fcbliche electrische Reizung Gef\u00e4ssveren-gerung und nur die eines einige Tage zuvor durchschnittenen Gef\u00e4sserweiterung giebt. Um dies verschiedene Resultat der Reizung begreiflich zu finden, kann man entweder annehmen, dass die Reizung eines degenerirten Nerven einen anderen Erfolg, als die eines gesunden giebt, oder dass in den H\u00fcftnerven zwei Arten von Gef\u00e4ss-nerven verlaufen, von denen die gef\u00e4ssverengernden fr\u00fcher absterben, als die gef\u00e4sserweiternden. Auf Grund der Thatsache, dass auch der frische Nerv bei electrischer Erregung Erweiterung giebt, wenn man denselben rhythmisch, etwa so reizt, dass er in Zeitintervallen von etwa 5 Sec. von einem Inductionsstoss durchfahren wird, kann man die letztere Annahme beg\u00fcnstigen. So spr\u00e4che denn auch diese in Verbindung mit den vorher erw\u00e4hnten Thatsachen f\u00fcr die Existenz peripherer Einrichtungen, unter deren Einfluss die Weite der feinen K\u00f6r-pergef\u00e4sse gestellt ist. Man fragt sich, worin dieselben bestehen? Lister stellte zuerst die Hypothese auf, dass sie auf Ganglienzellen zu beziehen seien, welche sich in den gef\u00e4sshaltigen K\u00f6rpertheilen\n1\tGoltz, Ueber gef\u00e4sserweiternde Nerven. Arch. f. d. ges. Physiol. IX. S. 174.\n2\tP\u00fctzeys u. Tarchanoff, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1874. S. 371 ; A. Ostrou-moff, Versuche \u00fcber die Hemmungsnerven der Hautgef\u00e4sse. Arch. f. d. ges. Physiol. XII. iS. 255 ff.","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"86 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nbefinden m\u00f6chten. Weitere Gr\u00fcnde, als die Existenz von Gef\u00e4ssver-engerung an den nach Zerst\u00f6rung des Marks weiter gewordenen Ge-f\u00e4ssen bat er nicht vorgebracht. Neuere Forscher sprechen bisweilen diese Hypothese als die ihrige an, keiner von ihnen aber hat, so lange er nicht \u00fcber den allgemein gehaltenen Ausspruch Lister\u2019s hinausgeht, eine Anwartschaft auf Priorit\u00e4t. Unter denen, die versucht haben, mit Hilfe der Ganglientheorie in diese Angelegenheit weiter einzudringen, sind Huizinga und Ostroumoff zu erw\u00e4hnen. Der erstere unterscheidet, wie dies bereits mehr oder weniger deutlich vor ihm schon ausgesprochen worden ist, spinale und locale Gef\u00e4ssnervencentra. Die Erregungszust\u00e4nde beider l\u00e4sst er durch cen-tripetale Nerven beeinflusst werden. Reize von m\u00e4ssiger St\u00e4rke erregen nach ihm beide Gef\u00e4ssnervencentra und rufen reflectorische Ge f\u00e4ssver enge rung hervor. Wird der Reiz sehr stark, so vernichtet er zeitweilig die Th\u00e4tigkeit beider Centra und es entsteht Gef\u00e4sser weite rung. Damit der letztere Effect zu Stande komme, m\u00fcssen f\u00fcr die spinalen Centren die Reize st\u00e4rker, als f\u00fcr die localen sein. Von dem thats\u00e4ehlichen Material, auf welches hin Huizinga die erw\u00e4hnte Vorstellung ausgesprochen hat, hebe ich hervor, dass sich die Gef\u00e4sse der Schwimmhaut, nachdem sie vom Cerebrospinalorgan gel\u00f6st sind, sich noch reflectorisch bei mechanischer starker Reizung der Zehen erweitern, bei schw\u00e4chern verengern sollen\u2019. Ostroumoff1 2 stellt sich die Angelegenheit etwas anders vor. Die die Rolle von Gef\u00e4ssnervencentra spielenden peripherischen Ganglien stehen nach ihm unter dem Einfl\u00fcsse der gef\u00e4ssverengernden und ge-f\u00e4sserweiternden Nerven. Zu dem von den localen Gef\u00e4sscentren unterhaltenen Gef\u00e4sstonus addiren sich die automatischen Erregungen der ersteren, die der letzteren setzen die Wirksamkeit der Centren herab. Der jeweilige Zustand des Gef\u00e4sstonus h\u00e4ngt daher ab von der jeweiligen automatischen Erregung der peripheren Gef\u00e4ssgan-glien und der Resultante, die aus den Wirkungen der gef\u00e4ssverengernden und gef\u00e4sserweiternden Nerven auf die localen Centren entspringt. Die Theorie der localen Gef\u00e4ssnervencentren, welche definitive Form sie auch annehmen m\u00f6ge, scheint bereits eine grosse St\u00fctze in dem Umstand zu haben, dass man in der Umgebung der kleinen Gef\u00e4sse und den Gef\u00e4ssw\u00e4nden selbst mit Ganglienzellen versehene Nervenplexus beobachtet hat.3\n1\tHuizinga, Untersuchungen \u00fcber die Innervation der Gef\u00e4sse. Arch. f. d. ges. Physiol.XLS. 217.\n2\tA. Ostroumoff, Versuche \u00fcber die Hemmungsnerven der Gef\u00e4sse. Arch. f. d. ges. Physiol. XII. S. 219. 1876.\n3\tVulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vaso-moteur. I. p. 172.","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Gef\u00e4ssnervencentra.\n87\nEine \u00e4hnliche Deutungsart, wie sie hier f\u00fcr die von den cerebrospinalen Nerven unabh\u00e4ngigen Gef\u00e4sscontractionen gegeben worden ist, hat man auch f\u00fcr die flimmernden Bewegungen an der Zunge des Hundes nach der Hypoglossussection und, was uns hier n\u00e4her liegt, die neuen Contractionen der Lymphherzen nach Trennung ihrer R\u00fcckenmarksnerven versucht. F\u00fcr die genannten Bewegungen der Zunge habe ich auf eine andere m\u00f6gliche Deutung aufmerksam gemacht. Da n\u00e4mlich das erw\u00e4hnte flimmernde Spiel erst einige Tage nach der Nervendurchschneidung sich zu zeigen anf\u00e4ngt und man nicht recht begreift, weshalb die peripheren Ganglien nicht sofort von ihrem Rechte Gebrauch machen, auch die Art der Bewegung wenig einheitliche Wirkung von gangli\u00f6sen Apparaten, sondern mehr eine planlose Erregung geringer Intensit\u00e4t in verschiedenen Nervenfasern anzudeuten scheint, so sagte ich, dies Alles werde auch durch die Annahme verst\u00e4ndlich, dass sich der durchschnittene Nerv, etwa in Folge seines chemischen Zerfalls, in ungeordneter Erregung befinde und meinte, dass auch der Wiederbeginn von Gef\u00e4sscontractionen nach L\u00f6sung des Zusammenhanges zwischen den Ge-f\u00e4ssnerven und dem cerebrospinalen Nervensystem eine solche Erl\u00e4uterung zulasse.1 Diese Ansicht wird sich nun freilich nicht mehr f\u00fcr solche Gef\u00e4sse halten lassen, bei denen die Beobachtung eine reflectorische Einwirkung, unabh\u00e4ngig von Gehirn und R\u00fcckenmark dargethan hat, falls sich diese wirklich als eine durch locale Gef\u00e4ss-nervencentren vermittelte ausweist. Man verwerfe indess nicht f\u00fcr alle neuen Gef\u00e4sscontractionen diese M\u00f6glichkeit, ihre Pr\u00fcfung und Zur\u00fcckweisung durch neue Thatsachen kann der Sicherung der Ganglientheorie nur dienlich sein. Was die Lymphherzen anlangt, so kann man sich auch noch nicht \u00fcberzeugend entschliessen, dass ihre neuen Contractionen auf die wenigen Ganglienzellen zu beziehen sind, die Waldeyer in ihrer N\u00e4he gesehen ; denn da Hindurchleiten l\u00e4hmender, constanter Str\u00f6me durch die Nerven normal schlagender Lymphherzen diese zur Ruhe verweist, so geht daraus eine ziemliche Bedeutungslosigkeit der Ganglienzellen f\u00fcr die Bewegungen jener hervor; es m\u00fcsste sich dann ihre Bedeutung erst nach der Trennung der Lymphherzennerven ausbilden, eine Annahme, die indess noch n\u00e4her zu begr\u00fcnden w\u00e4re. Aus der ganzen Darstellung aber \u00fcber die verschiedenen Eigenschaften der Gef\u00e4ssnervencentren erhellt, dass auch diese Lehre noch ihres definitiven Abschlusses harrt.\nDie Centren f\u00fcr die Schweisssecretion und die f\u00fcr Tem-\nl Meine Beitr\u00e4ge. VII. S. 107. 1873.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"88 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerehrospinalorg.\nperaturregulirung angenommenen werden in anderen Artikeln unseres Buches besprochen werden.\nY. Beziehungen zwischen den verschiedenen Centren des verl\u00e4ngerten Marks.\nEs ist \u00fcberraschend, zu vernehmen, wie zusammengesetzt der physiologische Bau des verl\u00e4ngerten Markes ist. Abgesehen davon, dass in ihm bereits weniger als f\u00fcr das R\u00fcckenmark zu bezweifelnde Spuren sogenannter seelischen Th\u00e4tigkeiten und f\u00fcr die Bewegung der Skeletmuskeln wichtige Vorrichtungen, wie im folgenden Abschnitte nachzusehen, Vorkommen, ist hier, wie sich aus den beiden vorhergegangenen Abschnitten ergibt, eine gr\u00f6ssere Anzahl besonderer Centren localisirt. Da finden wir: das der Athmung, des regulatorischen Herznervensystems, das jedenfalls hervorragendste unter den Gef\u00e4ssnervencentren, das der Speichelsecretion, des Schlingactes und die wichtige Stelle f\u00fcr die Zuckerausscheidung. Obschon im Vorigen die wesentlichsten Eigenschaften aller dieser Centren abgehandelt worden sind, so erscheint es nicht \u00fcberfl\u00fcssig jetzt noch einmal auf dieselben in der Weise zur\u00fcckzukommen, dass ich darzustellen versuche, in welchen gegenseitigen Beziehungen dieselben zu einander stehen. Zuerst ist darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle in derselben Weise erregbar sind. Durch den Willen ist nur das Ath-mungscentfum und das Centrum der Schlingbewegung zu erreichen, selbstverst\u00e4ndlich nicht in ihrem ganzen Umfang; alle \u00fcbrigen sind der directen Einwirkung des Willens entzogen. Andere seelische Zust\u00e4nde, wie die Phantasie, so scheint es wenigstens, verm\u00f6gen auch noch auf das Gef\u00e4ssnervencentrum und das des regulatorischen Herznervensystems einzuwirken; wir schliessen dies aus dem ver\u00e4nderten Herzschlag und der ver\u00e4nderten Blutf\u00fclle einzelner K\u00f6rper-theile bei jenen Erregungen. Vielleicht geh\u00f6rt auch das Centrum der Speichelsecretion in diese Categorie. Nicht alle scheinen sich in tonischer Erregung zu befinden, dieser Ausdruck im Sinne von S. 63 genommen, indem die Speichelsecretion nicht continuirlich, sondern nur reflectorisch geschieht ; vielleicht reiht die weitere Forschung auch gewisse Seiten der Bildung und Ausscheidung von Harnbestandtheilen hier ein. Ob die Schluckbewegung hierher geh\u00f6rt, ist zweifelhaft, da bisweilen eine solche ohne nachweisbaren Reiz zu geschehen scheint. Re fl ecto rischen Einwirkungen sind sie s\u00e4mmtlich zug\u00e4nglich. Sodann ist hervorzuheben, dass mit der Erregung des einen, sich sehr leicht die eines oder mehrer andern verkn\u00fcpft. Ueber diese Associationen ist Folgendes bekannt. Einige jener Centren verfallen","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Beziehungen zwischen Centren des verl\u00e4ngerten Marks.\n89\nsehr schwer in Mitth\u00e4tigkeit und ziehen in ihre Erregungszust\u00e4nde ebenso selten oder gar nicht andere mit hinein. Es ist nicht bekannt, dass w\u00e4hrend einer Schlingbewegung andere Centren nennenswert in Erregung verfallen; doch m\u00fcssen hier\u00fcber erst noch einige Versuche angestellt werden, indem m\u00f6glicher Weise das Centrum der Speichelsecretion w\u00e4hrend dieser Zeit eine Anregung erf\u00e4hrt. Nur das Athmupgscentrum wird ber\u00fchrt, insofern dasselbe w\u00e4hrend jenes Actes zur Ruhe verwiesen wird. Umgekehrt stellt sich bei der Erregung irgend eines anderen Centrums nie eine Schlingbewegung ein, auch nicht w\u00e4hrend der reflectorischen Speichelabsonderung, es sei denn, dass der bereits abgesonderte Speichel einen neuen Reiz einf\u00fchrt. Hiernach k\u00f6nnte es scheinen, als ob auch das Centrum der Speichelsecretion sich in \u00e4hnlicher Abgeschiedenheit bef\u00e4nde. Dies ist jedoch nicht ganz so. Die reflectorische Erregung desselben durch schmeckbare Substanzen von der Mundh\u00f6hle aus setzt zwar keinen anderen sehr in die Augen fallenden Reflex, aber aus den Erfahrungen, dass die normale Speichelsecretion stets von einem ge\u00e4nderten Blutstrom mindestens durch die Submaxillardr\u00fcse hindurch begleitet ist, und dass die Reizung des centralen Ischiadicusstumpfes, welche bekanntlich reflectorisch auf das Gef\u00e4sscentrum wirkt, auch die Speichelsecretion anregt, folgt, dass das Centrum dieser in einer Verkn\u00fcpfung mit dem Gef\u00e4ssnervencentrum steht, welche f\u00fcr das Centrum der Schlingbewegung nicht zu bemerken ist. Beachtenswertst und zu einer n\u00e4heren Untersuchung einladend ist jedoch der Umstand, dass sich nur mit einer Erregung des Gef\u00e4ssnervencentrums auf dem reflectorischen Wege der Ischiadicusreizung das Centrum der Speichelsecretion sollte ansprechen lassen. In einer, wenn auch nicht g\u00e4nzlichen, so doch hervorragenden Abgeschiedenheit scheint auch das Diabetescentrum zu leben, wenn \u00fcberhaupt von einem solchen die Rede sein kann, was bekanntlich zur Zeit noch sehr fraglich ist. Innerhalb weiter Grenzen k\u00f6nnen die Th\u00e4tigkeiten s\u00e4mmtlicher im verl\u00e4ngerten Mark liegender Centren ver\u00e4ndert werden, ohne dass man eine merkbare Th\u00e4tigkeit des eben erw\u00e4hnten Centrums bemerkt. Bei diesem Ausspruch sehe ich selbstverst\u00e4ndlich ab von den Einwirkungen, welche das verl\u00e4ngerte Mark bei mechanischen Einwirkungen, oder in das Blut eingef\u00fchrten Substanzen treffen, da hierbei nicht entschieden werden kann, ob ein Centrum durch Association oder durch directen Eingriff seine Arbeit beginnt. Bekannt ist bis jetzt nur, dass eine Erregung des centralen Vagusstumpfes oder des obern Kehlkopfnerven Diabetes gibt. Diese Einwirkung erstreckt sich bekanntlich auf die Centren der Athembewegung, des","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"90 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 3. Cap. Tonische Erreg, d. Cerebrospinalorg.\nregulatorischen Herznervensystems und der Gef\u00e4ssnerven und es ist daher fraglich, mit der Erregung welches dieser Centren das Diabetescentrum vorzugsweise verkn\u00fcpft ist. Hier\u00fcber lassen sich zur Zeit nur unsichere Conjecturen machen. Viel inniger unter einander ist der Rest der Centren des verl\u00e4ngerten Marks verkn\u00fcpft. Dies wird durch eine ganze Reihe von Wahrnehmungen bewiesen. Schon ohne alle experimentelle Zuthat treten diese Beziehungen hervor. Es ist bekannt und in den Bearbeitungen der Herz- und Athembewegun-gen unseres Werkes nachzusehen, wie mit den verschiedenen Ath-mungsphasen die Herzbewegungen und der Blutdruck sich \u00e4ndern, und zwar der letztere in einer Weise, welche aus den rein mechanischen Wirkungen der Athembewegungen auf den Kreislauf allein nicht verst\u00e4ndlich ist, sondern die Annahme einer periodischen Wirkung des Gef\u00e4ssnervencentrums verlangt, deren Existenz f\u00fcr sich auch in der That sich hat nachweisen lassen.1 Ausserdem l\u00e4sst sich durch viele Versuche die angegebene Beziehung darlegen. Dabei ist jedoch die Vorsicht zu gebrauchen, dass die Folgen der ver\u00e4nderten Wirkung eines Centrums, die sich unter Umst\u00e4nden so gestalten k\u00f6nnen, dass sie in das Erscheinungsgebiet eines anderen hineingreifen nicht f\u00fcr eine Association des letzteren genommen werden. Wenn wir willk\u00fchiTich das Athmungscentrum* in irgend einer Form in ungew\u00f6hnliche Th\u00e4tigkeit versetzen, so k\u00f6nnen Ver\u00e4nderungen im Herzschlag und in der Blutf\u00fclle einzelner Theile Vorkommen, welche auf eine gleichzeitig eintretende Ver\u00e4nderung in der Wirkungsweise der beiden anderen Centren bezogen werden k\u00f6nnten. Da aber dabei der Gasgehalt des Blutes ein anderer wird und auch die mechanischen Wirkungen der Athmung auf die Blustr\u00f6mung in Betracht kommen k\u00f6nnen, so ist es nicht leicht festzusetzen, ob und wieviel dabei auf Rechnung ver\u00e4nderter Th\u00e4tigkeit der anderen Centren durch diese Umst\u00e4nde kommt. Aehnlich verh\u00e4lt es sich, wenn der Gang der Athembewegungen durch Reizung des reinen centralen Vagusstumpfes abge\u00e4ndert wird. Dagegen l\u00e4sst sich bei reflectorischen Erregungen, durch welche nur die Centren des regulatorischen Herznervensystems und der Gef\u00e4sse gleichzeitig in aussergew\u00f6hnliche Wirkungsweise treten, oft, freilich mehr oder weniger \u00fcberzeugend, dar-thun, dass es sich um reine Associationen derselben handelt. Die Reizung des centralen Stumpfes des N. depressor cordis erzeugt zu gleicher Zeit Verlangsamung des Pulses und Absinken des Blutdrucks. Um zu entscheiden, ob es sich hier um gleichzeitige Erregung des\nl vgl. oben S. 80.","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Beziehungen zwischen Centren des verl\u00e4ngerten Marks.\n91\nGef \u00e4ssnervencentrums und des regulatorischen Herznervencentrums handle, oder das Sinken des Blutdrucks nicht einfache Folge der verlangsamten Schlagfolge des Herzens ist, durchschneidet man vor der Reizung beide Vagi. Da man dann .noch Absinken des Blutdrucks, aber keinen verlangsamten Puls mehr findet, so kann es sich hier nur um eine gleichzeitige reflectorische Erregung der beiden genannten Centren handeln. So in \u00e4hnlichen F\u00e4llen. Ob hei diesen Associationen die bez\u00fcglichen Centren durch Anastomosen direct unter sich verkn\u00fcpft sind, oder ob die Innervationswege, durch deren Erregung jene hervorgerufen werden, sich irgendwo trennen und ihre Zweige einzeln mit je einem Centrum verkn\u00fcpft sind, ist zur Zeit noch unentschieden.\nVIERTES CAPITEL.\nAndere Functionen des R\u00fcckenmarks und\nGehirns.\nEine scharfe Definition von den seelischen Th\u00e4tigkeiten kann die Physiologie nicht geben; wir beginnen von solchen zu reden, sobald ihre Zergliederung sich dem Versuche nicht mehr befriedigend f\u00fcgt, sie auf Erfahrungen zur\u00fcckzuf\u00fchren, die sich als eine Kette rein physischer Ursachen und Folgen begreifen lassen. So kommt es, dass f\u00fcr viele Th\u00e4tigkeiten des Gehirns eine gewisse Willk\u00fchr und Verschiedenheit bei der Anwendung einer kurzen Bezeichnungsweise herrscht. Ich gebe daher gern zu, dass man dar\u00fcber streiten kann, ob die im Folgenden beschriebenen Th\u00e4tigkeiten verschiedener Hirn-theile mit Recht ihren Platz in diesem Capitel zu finden h\u00e4tten. F\u00fcr manche ist es augenscheinlich, dass wir sie nicht zu den seelischen zu rechnen haben, dennoch habe ich sie hier eingereiht, weil sie entweder in ihrer Entstehung ebenso unklar sind, als die sogenannten psychischen, oder wenn sie klarer sind, entweder in naher Beziehung zu letzteren stehen, oder ihre Heranziehung sich deshalb empfiehlt, weil dadurch die Functionen der einzelnen Hirntheile weniger von einander getrennt werden. Da, wie ich glaube, es den Lesern, f\u00fcr welche unser Buch bestimmt ist, in erster Linie um die Kenntniss des Thats\u00e4chlichen zu thun ist, so wird der Nachtheil, der","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nmeinem Verfahren vorgeworfen werden kann, praktisch von keinem erheblichen Belang sein.\nI. Seelische Th\u00e4tigkeiten des R\u00fcckenmarks.1\nIch nehme hierbei die Grenzen des R\u00fcckenmarks in der jetzt in der descriptiven Anatomie \u00fcblichen Weise. Da wir von einem Thiere, welches aller vor seinem R\u00fcckenmark liegender Nerventheile beraubt ist, in der Regel keine Bewegungen der Art mehr ausf\u00fchren sehen, wie wir sie an einem noch mit dem ganzen Gehirn versehenen zu beobachten gewohnt sind, so sagen wir, das R\u00fcckenmark entwickelt keine seelischen Th\u00e4tigkeiten. Indess ist bekannt, dass solche derart existiren k\u00f6nnen, dass sie nicht augenf\u00e4llig und so ohne Weiteres in die Erscheinung treten. Der Sprachgebrauch hat entschieden, dass sich nicht \u00e4ussernde Empfindungen, selbst die Traumbilder zu den seelischen Th\u00e4tigkeiten gerechnet werden sollen. Man muss daher die M\u00f6glichkeit zugeben, dass ein Thier ohne Gehirn mittelst seines R\u00fcckenmarks derartige Th\u00e4tigkeiten entwickeln k\u00f6nne. Es muss also genauer untersucht werden, ob ein solches nicht gelegentlich ver-rathe, dass es derartige Eigenschaften besitze. Die neurologische Forschung hat in der That diesen Versuch gemacht und einzelne Forscher sprechen sich zufolge gewisser Beobachtungen und Erw\u00e4gungen g\u00fcnstig f\u00fcr die Existenz einer R\u00fcckenmarkseele aus. Man hat darauf aufmerksam gemacht, dass bei einem nur mit R\u00fcckenmark versehenen Thiere auf Hautreize Bewegungen entstehen k\u00f6nnen, die so aussehen, als ob sie f\u00fcr eine Abwehr oder einen Schutz gegen diesen Reiz berechnet seien. Da aber bei Anwesenheit des Gehirns in \u00e4hnlichen F\u00e4llen ebenso und zwar, wie aus Erfahrungen beim Menschen im wachenden und schlafenden Zustande hervorgeht, unbewusst, verfahren wird, so ist keine N\u00f6thigung vorhanden, bei jenen Erscheinungen ein seelisches Princip vorauszusetzen. Ferner ist gesagt worden, dass die eben erw\u00e4hnten Bewegungen oft anders ausfielen, als nach den Reflexbewegungen zu erwarten sei; aber es ist erst zu begr\u00fcnden, was bez\u00fcglich der Bewegungen, um die es sich jeweilig handelt, f\u00fcr das bestimmte Thier Reflexionsgesetz sei, da das, was man bei einem Thiere f\u00fcr ein solches Gesetz h\u00e4lt, f\u00fcr\n1 Ausser \u00e4lteren Naturforschern und Aerzten, wie z. B. Boyle, Marherrus vergl.man: Volkmann, Ueber Reflexbewegungen. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1838. S. 1 ; George Paton , On the perceptive power of the spinal cord etc. Edinburgh med. and surg. journ. LXV. p. 251. 1846; Ed. Pfl\u00fcger, Die sensoriellen Functionen d. R\u00fcckenmarks etc. Berlin 1853; Auerbach, Ueber psychische Th\u00e4tigkeiten d. R\u00fcckenmarks. G\u00fcnzburg\u2019s med. Zeitschr. IV. 1853; J. Blumenthal, De medullae spinalis sensorio. Berolini 1862. Ausf\u00fchrlich historische kritische Darstellung.","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckenmarksseele.\n93\neines anderen Baues es nicht zu sein braucht. Unter den hierher geh\u00f6rigen Erfahrungen z\u00e4hlt die so h\u00e4ufig erw\u00e4hnte, dass, wenn man dem Schw\u00e4nze eines gek\u00f6pften Salamanders oder eines Aales einen brennenden K\u00f6rper n\u00e4here, jener so bewegt werde, dass er nicht mit diesem in Ber\u00fchrung komme. Nach der Anordnung der Musculatur aber und dem Gesetze der einseitigen Reflexe sei, so sagt man, das Gegentheil zu erwarten gewesen. Um diesem Versuche noch eine gr\u00f6ssere Beweiskraft zu verschaffen, hat man angegeben, dass ein gek\u00f6pfter, mit salpetersaurem Strychnin vergifteter Aal w\u00e4hrend des Krampfparoxysmus den Schwanz der Lichtflamme zubiege, meinend, dass dann die Empfindung ausgeschlossen sei. Auerbach aber versichert, dass dies keine constante Erscheinung sei. Uebrigens b\u00fcsst dieser Grund den gr\u00f6ssten Theil seiner Beweisf\u00e4higkeit durch die neuere Beobachtung ein, dass gek\u00f6pfte Schlangen den K\u00f6rper gl\u00fchenden Kohlen zuwenden.1 Einen weiteren Grund hat man der Erfahrung entnommen, dass die auf gewisse Reize erfolgenden Bewegungen verschieden ausfallen, je nachdem man dem kopflosen Pr\u00e4parat gewisse Bewegungsm\u00f6glichkeiten gestattet, oder auf die eine oder die andere Art versagt, indem man dazu bemerkt, dass, wenn es sich dabei um bestimmte durch mechanische Einrichtungen gegebene Beziehungen zwischen sensitiven und motorischen Nerven handle, dieselben durch die erw\u00e4hnten Umst\u00e4nde nicht gelockert werden d\u00fcrften. Hierher geh\u00f6ren die Versuche, in denen die Thiere nach dem Abschneiden von Gliedern auf gewisse Reize andere Abwehrbewegungen etc. ausf\u00fchren, als sie nach denselben \u00e4usseren Anregungen bei nicht verst\u00fcmmeltem K\u00f6rper machen. Indess ist hierbei zu beachten, dass, indem gewisse Bewegungen versagt sind, also der Reiz durch solche auch nicht sofort entfernt oder in seiner Einwirkung gem\u00e4ssigt werden kann, ihm durch l\u00e4ngeres Fortbestehen gestattet ist, sich durch Summation auf andere Bahnen auszubreiten. Ferner ist zu bedenken, dass bei der unvollkommenen Vorstellung, die wir \u00fcber die molekul\u00e4ren Vorg\u00e4nge der Innervation haben, es nicht m\u00f6glich ist zu \u00fcberschlagen, ob sich die Erregungen bei der h\u00f6chstwahrscheinlichen doppelten Leitungsf\u00e4higkeit der Nerven in gleicher Weise ausbreiten werden, wenn eine Bewegung effectiv zu Stande kommt, oder verhindert ist. Einen letzten Grund hat man aus dem Verhalten des m\u00e4nnlichen Frosches w\u00e4hrend der Begattung entnehmen wollen. Schneidet man einem solchen den Kopf ab, betupft den Arm mit Essigs\u00e4ure und zieht man, w\u00e4hrend er die Arme zur Ent-\n1 Osawa u. Tiegel, Beobachtungen \u00fcber die Functionen des R\u00fcckenmarks der Schlangen. Arch. f. d. ges. Physiol. XVI. S. 90. 1877.","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"94 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nfernung des Reizes \u00f6ffnet, das Weibchen weg, so reagirt er nachher nicht auf verschiedene Gegenst\u00e4nde, die man auf ihm hin und her bewegt, wohl aber thut er dies bisweilen, wenn man einen sich bewegenden Frosch auf ihn legt, indem er die gebeugten Arme \u00f6ffnet und jenen fest umschliesst. Aber auch diese Art der Beweisf\u00fchrung f\u00fcr die Existenz einer R\u00fcckenmarksseele ist nicht \u00fcberzeugend, denn der kopflose vom Weibchen befreite Frosch umklammert sinnlos nicht allein auch einen m\u00e4nnlichen ihm zwischen die Arme geschobenen Frosch, sondern auch andere Gegenst\u00e4nde. Bemerken wir hierzu noch, dass F\u00e4lle von R\u00fcckenmarksverletzungen beim Menschen bekannt sind, wo, wie die Section nachwies, dieselben einer Trennung gleichkamen, und das untere St\u00fcck zur Ausl\u00f6sung der vollendetsten Reflexbewegungen f\u00e4hig war, bei welchen niemals der Mensch, der jedenfalls \u00fcber die Existenz von Empfindungen und seelischen Th\u00e4tigkeiten die beste Auskunft geben kann, von noch bestehenden Empfindungen etwas berichtet hat. Nun k\u00f6nnen zwar bei verschiedenen Thieren die seelischen Th\u00e4tigkeiten auf sehr verschiedene Nervenabschnitte vertheilt sein, so dass beim Salamander, Aal etc. den Thieren, bei denen man die f\u00fcr die Existenz einer R\u00fcckenmarkseele g\u00fcnstigsten Resultate erhalten hat, dem R\u00fcckenmark eine andere Bedeutung zukommt, als beim Menschen ; f\u00fcr diese Annahme m\u00fcssen dann aber auch, was bisher unm\u00f6glich war, Zeugnisse beigebracht werden, die keiner mehrfachen Auslegung f\u00e4hig sind. Es muss dies um so mehr *verlangt werden, als neben den erw\u00e4hnten Versuchen Erfahrungen gemacht worden sind, welche ebenso stark gegen eine R\u00fcckenmarksseele sprechen, als die vorher erw\u00e4hnten daf\u00fcr zu reden scheinen. Abgesehen von der vorher erw\u00e4hnten Beobachtung am Menschen ist noch auf folgende aufmerksam zu machen : Goltz 1 2 beobachtete zuerst und Foster 2 best\u00e4tigte es, dass, wenn man einen nur noch mit R\u00fcckenmark behafteten Frosch in Wasser setzt, welches man allm\u00e4hlich bis zu ca. 40 0 C. erw\u00e4rmt, das Pr\u00e4parat ohne die geringsten Fluchtversuche zu machen, allm\u00e4hlich dem Rigor caloris verf\u00e4llt, w\u00e4hrend, wenn man den Versuch an einem Frosch wiederholt, dem man noch das verl\u00e4ngerte Mark, oder ausser diesem noch andere Hirntheile gelassen hat, er mehr oder weniger deutliche Versuche macht, dem warmen Elemente zu entfliehen, oft schon bei 300 C. Es ist jedoch dabei zu beachten, dass wenn man die allm\u00e4h-\n1\tGoltz, K\u00f6nigsberger med. Jahrb. II. S. 218 und: Beitr\u00e4ge zur Lehre von den Functionen der Nervencentreu des Frosches. 8.127\u2014128. Berlin 1869.\n2\tFoster, On the effects of a gradual rise of temperature on reflex actions in the frog ; in : Studies from the physiological laboratory in the University of Cambridge. 1. p. 36. 1873.","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckenmarksseele.\n95\nliehe Erh\u00f6hung der Temperatur sehr vorsichtig langsam, etwa in der Art ausf\u00fchrt, dass auf die Secunde ca. V300 0 und weniger Erh\u00f6hung kommt, auch der noch mit verschiedenen Hirntheilen versehene Frosch, ohne Bewegungen zu machen, der W\u00e4rmestarre verfallen kann.1 Es treten also die Unterschiede des nur noch mit R\u00fcckenmark versehenen Thieres einerseits, und desjenigen, dem man mehr oder minder Hirn-theile gelassen hat andererseits, nur bei einer gewissen Schnelligkeit der Temperaturerh\u00f6hung auf. Aus diesen Mittheilungen ersieht man, dass die Versuche, welche man f\u00fcr das Vorhandensein einer R\u00fcckenmarkseele angef\u00fchrt hat, nicht vollkommen beweisend sind, und dass sich denselben andere gegen\u00fcberstellen lassen, denen zufolge man dem R\u00fcckenmark eine Seele absprechen muss. Wer sich noch mit anderen, jedoch minder wichtigen Thatsachen bekannt machen will, auf die sich die Vertheidiger einer R\u00fcckenmarkseele berufen, der lese die vorher citirten Schriften, vers\u00e4ume aber zugleich nicht die Kritik zu beachten, welche Lotze2 der Arbeit Pfl\u00fcger\u2019s gewidmet hat.\nII. Verschiedene Tli\u00e4tigkeiteii des Gehirns.\nUm die Beziehungen kennen zu lernen, in welchen verschiedene Theile des Gehirns zu den seelischen Th\u00e4tigkeiten stehen, hat man Thieren mehr oder weniger Hirntheile weggenommen oder in der einen oder anderen Art l\u00e4dirt und hierauf sowohl deren spontanes als auch auf verschiedene Einwirkungen erfolgendes Verhalten beobachtet, daneben auch die Erscheinungen in Betracht gezogen, welche sich bei Menschen kund gaben, deren Hirnbildung durch Entwickelung oder Krankheit irgend welcher Art defect war. Indess ist es nicht leicht, unantastbare Schl\u00fcsse aus derartigen Beobachtungen zu ziehen. Bei Thieren sind die Erscheinungen wegen unsicherer Kundgebung ihrer Seelenth\u00e4tigkeiten oft mehrdeutig und beim Menschen besitzen die abnormen anatomischen Verh\u00e4ltnisse nur sehr selten die nothwendige Einfachheit. Spuren dieses Verfahrens reichen bis in das Alterthum hinauf und vereinzelte, mehr oder weniger ausgedehnte Pr\u00fcfungen, zum Theil mit beachtenswerthen Resultaten und Bemerkungen finden sich in den Schriften der hervorragenden Anatomen und Aerzte des 17. und 18. Jahrhunderts. Die inhaltreichern Arbeiten beginnen jedoch erst in diesem Jahrhundert und zwar mit Rolando und Flourens3. Auf das Verdienst der Genannten\n1\tA. Heinzmann, Ueber die Wirkung sehr allm\u00e4liger Aenderungen thermischer Reize auf die Empfindungsnerven. Arch. f. d. ges. Physiol. YI. S. 222.1S72.\n2\tLotze, G\u00f6ttinger gelehrte Anzeigen. 1853. St\u00fcck 174\u2014177. S. 1748\u20141759.\n3\tLuigi Rolando, Saggio sopra la vera struttura del cervello dell\u2019 uomo e degli animali e sopra le f\u00fcnzioni del sistema nervoso. Sassari 1809. Diese \u00e4lteste nur aus","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"96 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nund die F\u00f6rderer dieser Angelegenheit in unserer Zeit komme ich in der nun folgenden speciellen Darstellung zu sprechen. Die einzelnen Versuche auf diesem Gebiete haben bald einen, bald mehrere Hirn-theile zu gleicher Zeit zum Gegenstand der Untersuchung gew\u00e4hlt. Ich f\u00fchre dieselben einzeln vor und gebe am Ende dieses Abschnitts eine Uebersicht der daraus sich ergebenden Ableitungen.\n\u00ce. Verl\u00e4ngertes Mark.\nNachdem die allgemeine Prostration, welche sich unmittelbar nach der Operation bei einem Frosche, nach Abtragung s\u00e4mmtlicher vor dem verl\u00e4ngerten Mark liegenden Hirntheile, inch des kleinen Gehirns, einstellt, vor\u00fcber ist, bewegt sich das erhaltene Pr\u00e4parat nicht mehr spontan. Kommen, was aber sehr selten geschieht Bewegungen vor, so ergeben sie sich bei n\u00e4herem Nachforschen als Folgen \u00e4usserer Reize. Das Thier nimmt aber bald eine Stellung an, welche seiner nat\u00fcrlichen Haltung im ruhenden unverletzten Zustand gleichkommt. Auf den R\u00fccken gelegt macht es Anstrengungen, die Bauchlage zu gewinnen, jedoch meist ohne Erfolg. Auf Reize, welche die sensiblen Gliedernerven treffen, entstehen je nach der St\u00e4rke jener Bewegungen, die entweder nicht wesentlich verschieden sind von denen, welche ein nur noch mit dem R\u00fcckenmark versehenes Thier zeigt, oder sie gestalten sich in so fern zusammengesetzter, als sie sich in Form von Kriechbewegungen oder kleinen Spr\u00fcngen, zusammensetzen b Goltz 2 und Andere l\u00e4ugnen die letzteren ; nach ihnen hat der nur noch mit R\u00fcckenmark und verl\u00e4ngertem Mark versehene Frosch jede F\u00e4higkeit zu kriechen oder springen verloren. Ich komme beim Kleinhirn auf diesen Widerspruch zur\u00fcck. Fr\u00f6sche der beschriebenen Art im Wasser angeregt, schwimmen noch,\n9S Seiten bestehende Ausgabe ist sehr selten geworden. Zur Zeit ihres Erscheinens hat sie sehr wenig Beachtung gefunden. Nach dem Bekanntwerden der Arbeiten von Flourens in den M\u00e9moires de l\u2019acad\u00e9mie royale des sciences de l\u2019institut aus den Jahren 1822 u. 1823, welche sp\u00e4ter 1824 in erster und 1842 in zweiter Ausgabe unter dem Titel: \u201eRecherches exp\u00e9rimentales sur les propri\u00e9t\u00e9s et les fonctions du syst\u00e8me nerveux\u201c herausgekommen sind, erhoben sich bez\u00fcglich einzelner darin enthaltener Angaben mehre Stimmen zu Gunsten der Priorit\u00e4t Rolando\u2019s. Um die Physiologen zu bef\u00e4higen, sich ein eigenes Urtheil \u00fcber die Anspr\u00fcche von Rolando und Flourens zu bilden, gab Magendie im III. Bd. seines Journals 1825. p. 95 eine franz\u00f6sische Uebersetzung des Hauptinhaltes der Schrift von Rolando. Die letztere erschien \u00fcbrigens 1828 in zweiter, vermehrter Ausgabe, welche auffallender Weise wenigstens bei uns in Deutschland ebenfalls nicht h\u00e4ufig zu haben ist.\n1\tA. Desmoulins, Anatomie des syst\u00e8mes nerveux des animaux \u00e0 vert\u00e8bres. II. partie. 1825. p. 560; Renzi, Saggio di fisiologia sperimentale sui centri nervosi della vita psichica nelle quattro classi degli animali vertebrati. Annali universali di medicina etc. dal R. Griffini. Vol. 186. p. 179 ff. 1863.\n2\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre von den Functionen der Nervencentren des Frosches. S. 76. Berlin 1869.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Verhalten der Thiere mit R\u00fcckenmark und verl\u00e4ngertem Mark.\n97\nund wenn auch die Bewegung nicht so vollkommen und andauernd ist als bei solchen, welche noch andere Hirntheile besitzen, so unterscheiden sie sich doch dadurch wesentlich von solchen, die nur noch das R\u00fcckenmark haben. Zur Befriedigung des Athmungsbediirfnisses heben sie die untergetauchte Schnauze aus dem Wasser K Setzt man sie in Wasser, welches man nicht allzu langsam 1 2 allm\u00e4lig auf 28\u2014 30\u00b0 R. erw\u00e4rmt, so machen sie Versuche zum Entfliehen; zu einem wirklichen Entrinnen kommt es jedoch nicht. Auch \u00fcber Warmbl\u00fcter, welche in \u00e4hnlicher Weise operirt waren, liegen Beobachtungen vor. Ihre Bewegungen sind zwar wegen des raschen Untergangs der Thiere in Folge der Blutung nicht so oft und bequem als bei Kaltbl\u00fctern untersucht worden, aber es ist doch bereits so viel gesehen worden, dass man annehmen darf, es finde keine wesentliche Differenz statt. Desmoulins, welcher die Entfernung der nicht zum verl\u00e4ngerten Mark geh\u00f6renden Theile, inclusive des Kleinhirns, so ausf\u00fchrte, dass dabei der macroscopische Ursprung des Trigeminus erhalten blieb, giebt an, dass die Thiere noch jeder Art von Empfindung mit Ausnahme der Gesichtswahrnehmungen f\u00e4hig gewesen seien. Genauere Angaben dar\u00fcber, wie er sich davon \u00fcberzeugt habe, fehlen jedoch. Nur f\u00fcr die Existenz der Empfindung des Schmerzes f\u00fchrt er das Schreien der Thiere nach heftigen Reizen an. Bez\u00fcglich der Bewegungen behauptet er, dass dieselben gegen\u00fcber Reizen noch so ausgef\u00fchrt worden seien, als w\u00e4ren die Thiere intact gewesen. Die beiden zuletzt genannten Merkmale werden auch von anderen Forschern als Eigenschaften von S\u00e4ugethieren, welche nur noch das R\u00fcckenmark und verl\u00e4ngerte Mark besassen, angegeben3. Bez\u00fcglich der Ortsbewegungen k\u00f6nnten die Angaben klarer sein. Ich habe den vorstehenden Ausdruck deshalb gew\u00e4hlt, weil Desmoulins sagt, die Bewegungen seien nicht mehr gest\u00f6rt, als sie es nach der alleinigen Entfernung des Kleinhirns gewesen sein w\u00fcrden. Ich bemerke dies, weil damit eine Erfahrung von Fermer4 nicht zu stimmen scheint, dass Kaninchen, bei welchen ein Schnitt dicht hinter den Vierh\u00fcgeln das Gehirn trennte, jeder Erhebung und Ortsbewegung unf\u00e4hig gewesen seien. Auch Flourens, Brown - S\u00e9quard sprechen nur von Bewegungen, nicht aber Ortsbewegungen, welche solche Thiere nach starken Reizen ausf\u00fchren. Zahlreicher sind die Versuche, durch ge-\n1\tDieses Merkmal m\u00fcsste jedoch noch einmal sorgf\u00e4ltiger gepr\u00fcft werden.\n2\tSiehe oben S. 94.\n3\tFlourens, Recherches exp\u00e9rimentales etc. 2 de \u00e9dit. p. 183.219. Paris 1842. Brown-S\u00e9quard, Compt. rend. XXIX. p. 672. 1849.\n4\tFerrier, Die Functionen des Gehirns. Uebers. v. Obersteiner. S.84. Braunschweig 1879.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"98 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nwisse am verl\u00e4ngerten Mark angebrachte L\u00e4sionen unsere Einsichten in die Functionen desselben zu bereichern. Renzi behauptet, dass Verletzungen des tuberculum acusticum betr\u00e4chtliche St\u00f6rungen des Geh\u00f6rs und eine Verwundung des spatium opticum 1 einen gewissen Grad von Amblyopie hervorrufe und zwar auf der der Verletzung entgegengesetzten Seite2 3. Ja, er glaubt durch Versuche Anzeichen davon erhalten zu haben, dass auch die s\u00e4mmtlichen \u00fcbrigen Sinnesempfindungen durch Verletzung des verl\u00e4ngerten Marks St\u00f6rungen erleiden. Ausser den Einfl\u00fcssen auf die Sinneswahrnehmungen verzeichnen die Mittheilungen \u00fcber Versuche der beschriebenen Art noch solche auf die Bewegungen. Schon Rolando 3 beobachtete convulsivische, auf viele K\u00f6rpermuskeln sich erstreckende Bewegungen und sprach mit R\u00fccksicht auf die negativen Erfolge \u00e4hnlicher am Grosshirn ausgef\u00fchrter Reizungen das verl\u00e4ngerte Mark als den Hirntheil an, in welchem der Mechanismus gelegen sei, mittelst dessen das Grosshirn etc. ihre Erregungen den Nerven mittheilen. Die sp\u00e4tere Physiologie hat die von dem verl\u00e4ngerten Mark aus erzeugbaren Bewegungsformen sorgf\u00e4ltiger studirt. Zun\u00e4chst hat sie Untersuchungen \u00fcber die allgemeinen epileptiformen Bewegungen angestellt. Von ihnen steht fest, dass der Heerd ihrer Erzeugung in keinen andern Theil des centralen Nervensystems zu legen ist, als in die Verbindung des verl\u00e4ngerten Marks mit der Br\u00fccke. So dr\u00fcckt man sich vielleicht zur Zeit am besten aus. Da, wie wir sogleich n\u00e4her sehen werden, ihr Sitz nicht da zu suchen ist, wo das verl\u00e4ngerte Mark noch nicht mit der Br\u00fccke verkn\u00fcpft ist, so ist es nicht ganz correct, sie dem verl\u00e4ngerten Mark allein zuzuschreiben, da aber andererseits in die Br\u00fcckenregion die Theile des verl\u00e4ngerten Marks eingeh en, so kann der oft gebrauchte Ausdruck, die Br\u00fccke sei der Ausgangspunkt der epileptiformen Kr\u00e4mpfe, auch nicht ganz gerechtfertigt werden. Der beste Beweis f\u00fcr die Bedeutung der fraglichen Gegend f\u00fcr die allgemeinen K\u00f6rperconvulsionen liegt in den Beobachtungen von Tenner und Kussmaul 4, dass die epileptischen Anf\u00e4lle, welche man bei Kaninchen durch Compression s\u00e4mmtlicher Hirnschlagadern hervorrufen kann, noch entstehen, wenn man das Gehirn bis zu der Br\u00fccke abgetragen, sich aber nicht zeigen, wenn man dem\n1\tSpatium opticum nennt Renzi die Stelle des verl\u00e4ngerten Marks, welche von der hinteren Vereinigungsstelle der Lobi optici bis zur Insertion der mittleren Kleinhirnschenkel reicht.\n2\tRenzi 1. c. Vol. 187. p. 328. 1864.\n3\tRolando, Saggio etc. p. 65. 1809.\n4\tA. Kussmaul u A. Tenner, Untersuchungen \u00fcber Ursprung und Wesen der falls\u00fcchtigen Zuckungen bei der Verblutung, sowie der Fallsucht \u00fcberhaupt. Molesch. Unters. III. S. 1.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Krampfcentrum.\n99\nR\u00fcckenmark durch Aortenunterbindung den Blutzufluss abschneidet. Hierzu kommen die Erfahrungen1, dass leichte, mit einer Nadel ausgef\u00fchrte Verletzungen, welche man vom oberen Ende der ala cinerea bis zum locus coeruleus hinauf lateral von den funiculi teretes aus bis ungef\u00e4hr auf ein Drittel der Dicke des Marks anbringt, die Kr\u00e4mpfe erzeugen, wenn auch in den einzelnen Versuchen in etwas abweichenden Formen. Sind die einseitigen Verletzungen etwas bedeutender 2 3 4 5, so treten Zwangsbewegungen auf, wovon hernach. Die M\u00f6glichkeit, epileptiforme Kr\u00e4mpfe auf die angegebene Art zu erzeugen, h\u00f6rt auf, sobald man vor dem Versuch das verl\u00e4ngerte Mark g\u00e4nzlich am hinteren Rande der tubercula acustica abgetrennt hat, sie besteht dagegen, falls man die quere Trennung des Gehirns vor dem angegebenen Punkte vornimmt. Die beiden letzten Bemerkungen rechtfertigen den obigen Ausdruck \u00fcber den eigentlichen Sitz der epileptiformen Kr\u00e4mpfe in dieser Gegend des Cerebrospinalorgans. In neuerer Zeit hat Heubel 3 an Fr\u00f6schen bei Dr\u00fccken, welche er auf die hintere Fl\u00e4che des calamus scriptorius anbrachte, tonische und klonische Kr\u00e4mpfe in verschiedener Form beschrieben und diese Stelle, welche nach ihm bis ca. 1,5 mm. unter die Spitze des calamus scriptorius ragen soll, nach dem Vorgang von Nothnagel bei S\u00e4ugethieren, das Krampf centrum des Frosches genannt. Die Erscheinungen bleiben sich im Wesentlichen gleich, sei es, dass man die Versuche bei unverletztem Gehirn oder nach Abtragung verschiedener Theile desselben, selbst bis inclusive des Cerebellums anstellt. Oberhalb und unterhalb dieses Ortes kann man durch das genannte Mittel jene Krampfformen nicht hervorrufen. Diese Stelle ist nach Untersuchungen von Roeber 4 und Heubel 5 ausser durch Dr\u00fccke etc. auch durch Gifte, insbesondere durch Picrotoxin anzuregen, und h\u00f6chst wahrscheinlich ist bei S\u00e4ugethieren ein Gleiches der Fall durch electrische Reize, welche das Grosshirn unter gewissen Bedingungen treffen6. Der Mittheilung werth sind noch die Bewegungserschei-\n1\tNothnagel, Die Entstehung allgemeiner Convulsionen vom Pons und von der Medulla oblongata aus. Arch. f. pathol. Anat. IV. S. 1. 1868.\n2\tIch will hiermit nicht sicher behaupten, dass dies die alleinige Bedingung ist, unter welcher die Zwangsbewegungen auftreten ; es hat mir vor\u00fcbergehend nur so scheinen wollen, als sei dies eine der wesentlichsten Bedingungen. Die Frage, wann entstehen epileptiforme Kr\u00e4mpfe, wann Zwangsbewegungen, ist noch nicht gen\u00fcgend untersucht.\n3\tE. Heubel, Das Krampfcentrum des Frosches. Arch. f. d. ges. Physiol. IX. S. 263. 1874.\n4\tRoeber, Ueber d. physiologischen Wirkungen des Picrotoxins. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1869. S. 38.\n5\tHeubel 1. c. S. 298.\n6\tAlbertoni, Sui centri cerebrali di movimenti. Lo sperimentale. XXXVJI. p. 136. 1876; Braun, Beitr\u00e4ge zur Frage \u00fcber die electrische Erregbarkeit des Gross-\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u G.\nnungen bei einseitiger Verletzung des verl\u00e4ngerten Marks, welche in eigentk\u00fcmlichen, sogenannten Zwangsstellungen und Zwangs-bewegungen bestehen. Zu jenen geh\u00f6ren gewisse Stellungen der Augen, des Kopfes und der Wirbels\u00e4ule. Die ersteren werden h\u00e4ufig bei der Physiologie des Kleinhirns erw\u00e4hnt, und ich werde bei dieser noch einmal auf sie zur\u00fcckkommen. Hier habe ich zu constatiren, dass ihr Vorkommen zweifellos bei einseitigen Verletzungen des verl\u00e4ngerten Marks feststeht. Einigermassen in die Tiefe gehende, quer gerichtete, einseitige Verletzungen von der Spitze des Calamus an aufw\u00e4rts bis zum tuberculum acusticum verstellen zu gleicher Zeit das Auge der verletzten Seite nach unten und vorn, das der anderen nach hinten und oben.* 1 Man kann diese Stellungen verschwinden machen, wenn man auf der anderen Seite des verl\u00e4ngerten Marks eine symmetrisch gelegene Stelle in gleicher Ausdehnung verletzt. Einseitige leichte, oberfl\u00e4chliche Verletzungen des corpus restiforme und des Bodens des vierten Ventrikels geben Nystagmus. Aehnliche Verletzungen am oberen Ende des R\u00fcckenmarks angebracht, haben die beschriebenen Erfolge nicht. Es ist zwar eine bestimmte Form zitternder Augenbewegung bei Ataxie gesehen und unter dem Namen eines ataktischen Nystagmus beschrieben 2 ; es w\u00e4re aber m\u00f6glich, dass die graue Degeneration in ihren anatomisch nicht so leicht erkennbaren Anf\u00e4ngen sich bereits bis zum verl\u00e4ngerten Mark erstreckt h\u00e4tte und \u00fcbersehen worden w\u00e4re. Ob diese abnormen Augenstellungen stets verkn\u00fcpft mit den sogleich zu beschreibenden anderen Bewegungsst\u00f6rungen Vorkommen oder auch getrennt von denselben erscheinen k\u00f6nnen, ist noch nicht besonders untersucht worden. In gleicher Weise haben sie auch noch keine solche Zergliederung erfahren, dass man in ihre Entstehung eine einigermassen befriedigende Einsicht h\u00e4tte. Die eigen-th\u00fcmlichen Stellungen3 der \u00fcbrigen K\u00f6rpertheile, denen man oft nach einseitiger Verletzung des verl\u00e4ngerten Marks begegnet, be-\nhirns. Meine Beitr\u00e4ge VII. S. 136; Hitzig, Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. S. 271. Berlin 1874.\n1\tMagendie, Le\u00e7ons sur les fonctions et les maladies du syst\u00e8me nerveux. I. p. 296 ff. Paris 1841 ; Philipeaux et Vulpian, Essai sur l\u2019origine de plusieurs paires des nerfs cr\u00e2niens p. 52. 53. Paris 1853; Bernard, Le\u00e7ons sur la physiologie et la pathologie du syst\u00e8me nerveux. I. p. 1. Paris 1858; Curschmann, Beitr\u00e4ge zur Physiologie der Kleinhirnschenkel. S. 34. 35. Giessen 1868 ; Schwahn, Ueber das Schielen nach Verletzung in der Umgebung des kleinen Gehirns. Meine Beitr\u00e4ge. VIII. S. 149 ; Duret, Note sur la physiologie pathologique etc. Gaz. m\u00e9d. d. Paris. 1877. Nr. 51.\np. 621.\n2\tFriedreich, Ueber Ataxie. Arch. f. pathol. Anat. LXX. 1877.\n3\tDieselben sind wohl bei reinen Verletzungen des verl\u00e4ngerten Marks in Verbindung mit den Augenstellungen zuerst von Magendie gesehen worden.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Zwangsstellungen und Zwangsbewegungen nach Verletzung d. verlang. Marks. 101\nstehen in Biegungen des Kopfes und der Wirbels\u00e4ule mit der Con-vexit\u00e4t nach der verletzten oder gesunden Seite hin, je nachdem man am spinalen Anfang des verl\u00e4ngerten Markes, oder am vorderen Ende des Calamus und h\u00f6her hinauf den Schnitt ausgef\u00fchrt hat. Nach Schiff 1 sind diese Stellungen sehr oft mit mehr oder weniger deutlichen Kreisbewegungen, im ersten Falle nach der gesunden, im zweiten nach der verletzten Seite hin verbunden. Diese Beobachtungen sind vorzugsweise an Kaninchen gemacht. Auch an Fr\u00f6schen kann man sie sehen, und von Kreis- oder Man\u00e8gebewegungen wird bei ihnen, wenn auch mehr gelegentlich, berichtet. K\u00fchne1 2 3 und Vogt 3 sahen sie bei ihren Besch\u00e4ftigungen mit dem Diabetes und den Athembewegungen der Fr\u00f6sche. Von diesen Kreisbewegungen sind die Drehungen um die L\u00e4ngsaxe, die sogenannten Rollbewegungen der Thiere zu unterscheiden, welche gleichfalls bei einseitigen Verletzungen des verl\u00e4ngerten Markes beobachtet worden sind 4. Sie treten am sichersten auf, wenn man den oben genannten Theil sehr hoch oben, in der Gegend des tuberculum acusticum, einseitig verletzt, und sind nach der verletzten Seite hin gerichtet.5 6 Man erh\u00e4lt sie aber auch am reinen corpus restiforme, wenn man nur den Schnitt geh\u00f6rig vertieft. Ob diese verschiedenen Zwangsstellungen und Zwangsbewegungen auch bei Thieren Vorkommen, welchen man vorher s\u00e4mmtliche Hirntheile bis zum verl\u00e4ngerten Mark hin abgetragen hat, dar\u00fcber liegen nur wenige Erfahrungen vor. Aus dem Umstand aber, dass das Krampfcentrum seine Eigenschaft auch an solchen Thieren noch bewahrt und Flourens 6 gezeigt hat, dass die von anderen Hirntheilen aus zu erzeugenden Zwangsbewegungen gleichfalls die Anwesenheit des Grosshirns nicht bed\u00fcrfen, ist mit Wahrscheinlichkeit zu schliessen, dass wir diese Frage bejahen m\u00fcssen. Ich bin im Besitz einiger an Fr\u00f6schen gemachten Erfahrungen, welche mit dieser Erwartung \u00fcbereinstimmen. Als ich einen Frosch, dessen verl\u00e4ngertes Mark dicht hinter dem Cerebellum auf beiden Seiten in verschiedener H\u00f6he durchschnitten war, in ein Wasserbad von ca. 28\u00b0 R. setzte, machte derselbe unvollkommene Drehbewegungen. Auch sah ich dergleichen bei solchen, deren Cerebellum mit Schonung der Verbindungsstellen desselben mit dem\n1\tSchiff, Lehrbuch d. Physiol, d. Menschen. I. S. 314 ff. Lahr 1858\u201459.\n2\tK\u00fchne, Ueber k\u00fcnstlichen Diabetes bei Fr\u00f6schen. S. 32. G\u00f6ttingen 1856.\n3\tG. Vogt, Ueber die Respirationsbewegungen der Fr\u00f6sche. Inaug.-Diss. S. 17. Giessen I860.\n4\tBrown-S\u00e9quard, Experimental researches, p. 21. New-York 1853.\n5\tCurschmann, Beitr\u00e4ge etc. S. 33 ff. Giessen 1868.\n6\tFlourens, Nouvelles exp\u00e9riences sur l\u2019ind\u00e9pendance respective des fonctions c\u00e9r\u00e9brales. Compt. rend. XLII. p. 673.1861.","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102 Eckhaed, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nverl\u00e4ngerten Mark abgetragen worden war, wenn ich eine dieser Stellen verletzte.\n2. Kleinhirn.\nDie Vergleichung der Th\u00e4tigkeit von Thieren der eben beschriebenen Art mit solchen, die ausserdem noch das kleine Gehirn besitzen, ist nicht ganz befriedigend auszuf\u00fchren und verlangt besondere Vorsicht im Ausdruck. Abgesehen davon, dass bei verschiedenen Wir-belthieren die Bedeutung des kleinen Gehirns mit grosser Wahrscheinlichkeit eine verschiedene ist, wie vielleicht schon durch das wechselnde Volum desselben bei verschiedenen Thieren angedeutet wird und somit bei der Beschreibung stets diesem Umstand Rechnung zu tragen ist, sind wir zur Zeit nicht f\u00e4hig, eine scharfe Grenze zwischen diesem Hirntheil, der Br\u00fccke und dem verl\u00e4ngerten Mark zu ziehen, so dass die Gefahr vorhanden ist, dem einen oder anderen dieser Theile eine Eigenschaft beizulegen, die ihm eigentlich gar nicht zukommt. Es ist leicht m\u00f6glich, dass wir mit dem Fortschritt unserer Kenntnisse \u00fcber die Hirnfunctionen einsehen lernen, dass die jetzt gebr\u00e4uchlichen Abgrenzungen und Ausdr\u00fccke f\u00fcr die von der descriptiven Anatomie unterschiedenen Gehirnabtheilungen sich wenig oder gar nicht f\u00fcr die Darstellung der Hirnfunctionen eignen.\nF\u00fcr Fr\u00f6sche mit R\u00fcckenmark, verl\u00e4ngertem Mark und Kleinhirn sind keine Thatsachen bekannt, die bei einer Discussion der Frage ernstlich in Betracht kommen, ob das Cerebellum dieser Thiere Seelenth\u00e4tigkeiten entwickele. Es ist zwar richtig, dass ein Frosch der eben erw\u00e4hnten Art in Wasser, das allm\u00e4hlich bis zu 25\u201428o R. erw\u00e4rmt wird, oder in einem Kochsalzbade deutlichere Fliehbewegungen mit besserem Erfolge ausf\u00fchrt, auch sicherer aus der R\u00fccken- in die Bauchlage kommt und dass man di\u00f6se Aeusse-rungen als Zeichen bestehender Empfindungen ansehen kann, die in diesem Falle deutlicher w\u00e4ren, als wenn mit dem R\u00fcckenmark nur noch das verl\u00e4ngerte Mark verbunden w\u00e4re. Allein es w\u00e4re auch m\u00f6glich, dass der zur Ausf\u00fchrung von jenen Bewegungen noth-wendige motorische Mechanismus hier besser als dort erhalten, ohne dass der Zustand der Empfindung vollkommener w\u00e4re. Mittel zur Entscheidung zwischen diesen beiden M\u00f6glichkeiten fehlen. Aber selbst Diejenigen, welche es vorziehen, jene Bewegungen als Zeichen f\u00fcr einen vollkommeneren Empfindungszustand anzusehen, w\u00fcrden zweifelhaft dar\u00fcber sein m\u00fcssen, ob er der Anwesenheit des kleinen Gehirns oder einer vollkommeneren Erhaltung der Fortsetzungen des verl\u00e4ngerten Marks zuzuschreiben ist. F\u00fcr das Cerebellum der h\u00f6he-","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Kleinhirns f\u00fcr die Empfindung.\n103\nren Wirbeltkiere sind mehrfache Versuche gemacht worden, ihm einen besonderen Antkeil am Seelenleben, insbesondere den Empfindungen zuzuschreiben. Es wird oft angegeben, dass schon Petit Dies zufolge besonderer Versuche gethan habe. Diese Angabe beruht auf einem Irrthum. Petit hat nach den von ihm angestellten Versuchen die Frage offen gelassen[. Sp\u00e4ter ist zu wiederholten Malen in verschiedenen Formen der Versuch gemacht worden, dem Kleinhirn die genannte Eigenschaft zuzuertkeilen. Giroux und Fo-ville- waren nicht abgeneigt, zufolge der Empfindungsst\u00f6rungen, welche sie bei Kranken beobachteten, von denen die Section pathologische Entartung des kleinen Gehirns nach wies, das letztere als einen Empfindungskeerd zu betrachten. Es haben aber in der damaligen Zeit die Sectionsbefunde noch nicht die kritische W\u00fcrdigung erfahren, die man ihnen heute angedeihen l\u00e4sst und insbesondere ist nicht beachtet worden, dass sich bei Erkrankungen des centralen Nervensystems die Wirkungen oft weiter erstrecken, als die beobachtbare Ver\u00e4nderung vermutken l\u00e4sst. Aber davon abgesehen, l\u00e4sst sich aus der St\u00f6rung im gew\u00f6hnlichen Hergang bei der Empfindung weder aus beobachteten Verletzungen des kleinen Gehirns, noch bei absichtlich an Tkieren gemachten Eingriffen in dasselbe, schliessen, dass es sich hier um ein besonderes Moment bei der Entstehung der Empfindung handle; auf eine blosse Unterbrechung sensibler Leitungsbahnen k\u00f6nnte ebenso geschlossen werden. Indess machen die von Foville1 2 3 gemachten Angaben, die sich \u00fcbrigens bloss allgemein auf die Empfindung durch die Hautnerven bezogen, nicht den Eindruck sorgsamer Pr\u00fcfung und kann der Physiologe der Gegenwart sie nicht einmal benutzen, um die Gegenwart empfindender Elemente \u00fcberhaupt im kleinen Gehirn darzutkun, um so mehr, als keiner der neuern Experimentatoren, so lange er sich von der Verbindungsstelle des kleinen Gehirns mit der Br\u00fccke und dem verl\u00e4ngerten Mark fern hielt, Schmerzenszeichen bei Operationen am Cerebellum in unzweideutiger Weise gesehen hat. Andere Forscher haben\n1\tLettres d\u2019un m\u00e9decin des h\u00f4pitaux du roy \u00e0 un autre m\u00e9decin. In Namur 1710 anonym publient, p. 20. Die mehr citirte als consultirte Schrift: Pourtour du Petit: Recueil d\u2019observations d\u2019anatomie et de physiologie pour servira la th\u00e9orie des l\u00e9sions de la t\u00eate par contrecoup. Paris 1766, ist ein von der Acad, der Chirurgie bei Gelegenheit einer Preisfrage \u00fcber den contre-coup gemachter Auszug aus den Schriften verschiedener Mediciner, in welchem sich auch ein magerer Bericht \u00fcber den Inhalt der Lettres des Petit findet.\n2\tArtikel Enc\u00e9phale in Andral\u2019s etc. Dictionnaire de m\u00e9decine et de chirurgie pratiques. Paris 1831.\n3\tFoville et Pinel Grandchamp, Recherches sur le si\u00e8ge de diff\u00e9rentes fonctions du syst\u00e8me nerveux.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\ndas letztere in Beziehung zu den Gesichts- und Geh\u00f6rwahrnehmungen oder dem Muskelsinn gebracht. Renzi 1 behauptet nach Versuchen an S\u00e4ugethieren, sich davon \u00fcberzeugt zu haben, dass durch Verletzung des Cerebellums der Gesichts- und Geh\u00f6rsinn Sch\u00e4digungen erleiden. Auch f\u00fcr den Menschen1 2 3 wird angegeben, dass nach cere-bellaren Verletzungen Amaurose beobachtet worden sei und Lussana a will dieselbe bei Thieren best\u00e4tigt haben. Man kann glauben, durch den macroscopisehen Zusammenhang der corpora restiformia und die von Clarke und Meynert behauptete Verbindung des Geh\u00f6rnerven mit dem kleinen Gehirn jene Behauptung unterst\u00fctzt zu sehen ; aber dieser Glaube wankt, wenn man einerseits Berichte von betr\u00e4chtlicher Zerst\u00f6rung, ja g\u00e4nzlichem Mangel des Kleinhirns mit Erhaltung aller wesentlichen Sinnesfunctionen liest und Experimentatoren4 erz\u00e4hlen h\u00f6rt, dass nach Abtragung des kleinen Gehirns bei Thieren die Sinnesperceptionen nicht gest\u00f6rt waren, andererseits daran denkt, dass f\u00fcr die Sinneswahrnehmungen andere Theile des Gehirns als wesentliche Theile erkannt worden sind. Oft besprochen ist die Lehre, dass das kleine Gehirn Sitz des Muskelsinnes5 sei. Die Begr\u00fcndung, welche Carpenter derselben gegeben, kann ich wohl als nicht ausreichend \u00fcbergehen ; wer sie kennen zu lernen w\u00fcnscht, sehe sie im citirten Original nach. Lussana und Morganti, welche ihr bekanntlich anh\u00e4ngen, berufen sich auf die hernach anzugebenden Bewegungsst\u00f6rungen, welche man bei Thieren nach Verletzung des Cerebellums sieht, und welche sie gem\u00e4ss der von ihnen gemachten Erfahrung, dass Kranke, bei denen die Section cerebellare Entartung nachwies, angaben, dass ihre Bewegungsst\u00f6rungen von dem Gef\u00fchl herr\u00fchre, dass ihnen der Boden unter den F\u00fcssen zu fliehen scheine, auf den Verlust des Muskelsinns beziehen. Ich habe nie Gelegenheit gehabt, solche Kranke zu pr\u00fcfen, muss indess bekennen, \u00abdass wenn ich mich von der ausreichenden Intelligenz solcher Personen \u00fcberzeugen k\u00f6nnte und die Sache so f\u00e4nde, wie angegeben wird, ich in\n1\tRenzi, Saggio di fisologia sperimentale etc. Annali di medic. Vol. 187. p. 75 ff.\n1864.\n2\tBrown-Skquard, Remarques sur la physiologie du cervelet. Journ. d. 1. physiol. V. p. 484. 486.\n3\tLussana, Ebendaselbst VI. p. 173.1863.\n4\tFlourens, Recherches exp\u00e9rimentales. 2. \u00e9dit. p. 141.\n5\tLussana e Morganti, Osservazioni fisio-patologiche sul sistema nervoso. Gazetta medica Ital.-Lombardia 1851\u20141853; Dieselben, Observations physico-pathologiques sur le syst\u00e8me nerveux. I. Milan 1353; Carpenter, Principles of the human physiology. 4. \u00e9d. p. 756. 1853; Dunn, An Essay on physiological psychology. 1858. p. 4. 31 ; Lussana, Le\u00e7ons sur les fonctions du cervelet. Journ. d. 1. physiol. V. p.418.1862; Derselbe, Alcunilezionifisiologiche del cerveletto etc. Gaz.med.Ital -Lombard. 1863. p. 176. 201. 209.","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Kleinhirns f\u00fcr Empfindung und Bewegung.\n105\ndieser Art des Beweises einen schwer wiegenden Grund f\u00fcr die erw\u00e4hnte Lehre erblicken w\u00fcrde h\n, Die bekannte Angabe von Gall, dass das kleine Gehirn in inniger Beziehung zur Zeugung und den dabei vorkommenden Gef\u00fchlen und Empfindungen stehe, verdient keine ernste Erw\u00e4gung mehr, da sie seiner Zeit gen\u00fcgend widerlegt worden ist1 2, obschon von Zeit zu Zeit es noch vorkommt, dass ein Krankheitsfall zu Gunsten jener Lehre ausgebeutet wird.3 4\nIch komme zu der Stellung des kleinen Gehirns zu den Bewegungserscheinungen. F\u00fcr den Frosch hat Goltz 4 die Angabe gemacht, dass das kleine Gehirn dieses Thieres einen Theil des Organs der Fortbewegung enthalte; nach der Wegnahme desselben sei jener unf\u00e4hig, zu h\u00fcpfen und zu kriechen5 6, vorausgesetzt, dass man vorher alle vor dem Kleinhirn liegende Hirntheile entfernt habe; bei Anwesenheit' der letzteren hebe die alleinige Wegnahme des Cerebellums die erw\u00e4hnte F\u00e4higkeit nicht auf. Dieser Ansicht scheinen \u00e4ltere Erfahrungen von Desmoulins 6 gegen\u00fcber zu stehen, nach welchen die Abtragung des Cerebellums die Fr\u00f6sche zum Schwimmen durchaus nicht unf\u00e4hig machte; doch ist dies nur scheinbar, denn in den Versuchen von Desmoulins waren augenscheinlich die vor dem Cerebellum liegenden Hirntheile nicht abgetragen, und Goltz hat nicht behauptet, dass das kleine Gehirn ausschliessliches Organ der Fortbewegung sei. Ich selbst habe bei Fr\u00f6schen, deren Gehirn bis dicht hinter die Zweih\u00fcgel abgetragen war, bei Spaltung des Cerebellums in der Mitte und bei partieller Wegnahme desselben so vorsichtig, dass die Verbindungsstelle desselben mit dem verl\u00e4ngerten Mark und ihre n\u00e4chste Nachbarschaft nicht gedr\u00fcckt wurden, keinen merklichen Einfluss auf die noch bestehenden Bewegungen gesehen ; ich sah die Thiere bei Anregungen ganz regelm\u00e4ssige Kriechbewegungen nach Art der Kr\u00f6ten machen. Kam ich in jene hinein oder dr\u00fcckte sie merklich, dann sah ich allerdings den von Goltz angegebenen Erfolg. Ich bin daher zweifelhaft, ob wir den Sachverhalt richtig ausdr\u00fccken, wenn wir die Ausdrucksweise jenes Physiologen w\u00e4hlen. Man erscheint vielleicht am unbefangensten,\n1\tUeber einen Angriff dieser Lehre von Seiten Brown-Sequard\u2019s und eine Erwiderung durch Lussana sehe man Journ. d. 1. Physiol. V. p. 4S4 u. VI. p. 169.\n2\tEine der heute noch lesenswerthen Widerlegungen hat Lelut im II. Bd. p. 175 der von Baillarger etc. herausgegeb. Ann. m\u00e9d.- psychologiques publient.\n3\tLussana et Lemoigne, Fisiologia dei centri nervosi. IL p. 190. Padova 1871.\n4\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre von den Functionen d. Nervencentren d. Frosches. S. 76. Berlin 1869.\n5\tS oben S. 96.\n6\tDesmoulins, Anatomie des syst\u00e8mes nerveux. IL p. 581. 1825.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nwenn man sagt, dass an der Verbindungsstelle des kleinen Gehirns und verl\u00e4ngerten Marks sich ein wichtiges Glied f\u00fcr die Ortsbewegung finde. Renzi 1 wagt es nicht, aus einigen an dem kleinen Frosch-cerebellum angestellten Versuchen irgend einen Schluss zu ziehen. Wenn Onimus 2 bei einseitiger Verletzung des Froschcerebellums Zwangsstellungen und Zwangsbewegungen nach der verletzten Seite hin angibt, so ist, da solche bei einer Verletzung des verl\u00e4ngerten Markes bekannt sind, erst noch der Verdacht auszuschliessen, seine Versuche seien unrein gewesen. Zahlreich fliessen die Angaben \u00fcber die motorische Bedeutung des Cerebellums der V\u00f6gel und der S\u00e4uge-thiere. Um den mir in diesem Buche gestatteten Raum nicht zu \u00fcberschreiten darf ich in der Geschichte der Beobachtungen \u00fcber das kleine Gehirn nicht allzuweit zur\u00fcckgreifen. Etwas willk\u00fchrlick fange ich mit Petit an und bemerke, dass dieser Arzt bei seinen Versuchen, die \u00fcbrigens nur aus dem Bed\u00fcrfnis entsprangen, sich \u00fcber die bei verschiedenen Gehirnverletzungen beobachteten Krankheitserscheinungen beim Menschen durch Experimente an Thieren aufzukl\u00e4ren, Zwangsstellungen und Zwangsbewegungen nach der kranken Seite hin, nach Verletzungen des kleinen Gehirns beobachtete. Die ersten Beobachtungen \u00fcber Bewegungen dieser Art nach Gehirnverletzungen sind also \u00e4lter, als Viele glauben.3 Die PETiUschen Schnitte drangen bei Hunden bis zur Racine du p\u00e9doncule vor. Andere Experimentatoren des 18. Jahrhunderts, wie Zinn4, Lorry5 und Saucerotte6 haben keine wesentlich neuen Erscheinungen beobachtet; sie erw\u00e4hnen Convulsionen und Drehbewegungen. Bei dem letzteren findet sich zum ersten Male als Folge der Kleinhirnverletzung Nystagmus angegeben. Haller7 schloss aus den Convulsionen, dass die Nerven der willk\u00fcrlichen Muskeln aus dem kleinen Gehirn ebenso wie aus dem grossen ihren Ursprung n\u00e4hmen. Die Versuche unseres Jahrhunderts nehmen mit Rolando ihren Anfang. Aus Experimenten, welche er an S\u00e4ugethieren und V\u00f6geln anstellte, zog er den Schluss, dass das Cerebellum die Quelle aller willk\u00fcrlichen Bewegungen sei; es folgte ihm dies aus den L\u00e4hmungserscheinungen, welche er bei\n1\tRenzi, Saggio di fisiologia sperimentale etc. Annali univers, di medic. Vol. 186. p. 178.\n2\tOnimus, Recherches exp\u00e9rimentales etc. Journ. d. l\u2019anat. et d. 1. physiol. 1870. p. 633.669.\n3\tPetit, Lettres d\u2019un m\u00e9decin \u00e0 un m\u00e9decin de ses amis. p. 20. Namur 1710.\n4\tJ. G. Zinn, Exp\u00e9rimenta quaedam circa corpus callosum etc. Gottingae 1749.\n5\tLorry, Sur les mouvements du cerveau etc. M\u00e9moires de math\u00e9matique et de physique pr\u00e9sent\u00e9s \u00e0 l'acad\u00e9mie Royale des sciences etc. III. p. 344. 1760.\n6\tSaucerotte, M\u00e9moire sur les contre-coups. Prix de l\u2019acad\u00e9mie de chirurgie. Neue Ausgabe. IV. p. 219. 1819. Die Arbeit wurde 1769 gekr\u00f6nt.\n7\tA. de Haller, M\u00e9moires sur la nature sensible etc. I. p. 209. 1756.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Kleinhirns f\u00fcr die Bewegungen.\n107\nseinen Versuchen \u00f6fters beobachtet zu haben glaubte.1 Es scheint als ob Rolando zu den erw\u00e4hnten Versuchen und ihrer Deutung durch die von ihm lieb gewonnene Idee gef\u00fchrt worden sei, dass sich das vielbl\u00e4ttrige Cerebellum einer galvanischen S\u00e4ule vergleichen lasse, mit welcher bei ihm es in Uebereinstimmung war, dass, wenn er einen Pol auf das Kleinhirn, den anderen an einen beliebigen K\u00f6r-pertheil setzte, heftige Bewegungen entstanden. Lange Zeit ruhten nun die Arbeiten \u00fcber die motorische Bedeutung des Cerebellums bis in den 20er Jahren unseres Jahrhunderts Floueens sie von Neuem anfachte. Seit jener Zeit hat sich das Material \u00fcber diesen Hirntheil so sehr geh\u00e4uft, ist aber dabei so wenig \u00fcbereinstimmend, dass man fast w\u00fcnschen m\u00f6chte, es w\u00e4re nicht vorhanden. Ich will versuchen, es in seinen haupts\u00e4chlichsten Z\u00fcgen darzustellen. Die von Floueens2 an V\u00f6geln und kleineren S\u00e4ugethieren ausgef\u00fchrten Versuche bestanden zum Theil darin, dass er das Cerebellum schichtenweise abtrug, zum Theil darin, dass er dasselbe durch Stiche und Schnitte verschiedenartig verletzte. Er sah als Erfolg verschiedenartige Bewegungsst\u00f6rungen, welche er aber nicht als L\u00e4hmungen, wie Rolando auffasste, sondern sie dem Mangel eines die Bewegungen ordnenden Princips zuschrieb, welches durch die Kleinhirnverletzungen in Wegfall gekommen w\u00e4re. Der Grad der Disharmonie der Bewegungen h\u00e4ngt von der Gr\u00f6sse der Verletzungen ab. Alterationen der Sinne und untergeordnete Convulsionen sind nach ihm keine Folgen cerebellarer Verletzungen.3 Diese Versuche wurden in der n\u00e4chsten Zeit von Foville, Fodeea, Magendie, Heetwig, Seeees, Desmoulins und Bouillaud wiederholt. Einer Geschichte der Physiologie des Cerebellums f\u00e4llt es anheim, die Angaben dieser Forscher im Einzelnen darzustellen; hier beschr\u00e4nke ich mich darauf, aufzuz\u00e4hlen, welche weitere Erscheinungen ausser den von Floueens angegebenen, die \u00fcbrigens immer der Hauptsache nach best\u00e4tigt werden, damals noch gesehen worden sind. Fodeea4 erw\u00e4hnt L\u00e4hmungserscheinungen bei dem Vordringen der Verletzungen bis in die Stiele des Cerebellums. Seeees5 und Magendie6 gedenken der Drehbewe-\n1\tRolando, Saggio sopra lavera struttura del cervello etc. p. 44.63. Sassari 1809.\n2\tFlourens, Recherches exp\u00e9rimentales sur les propri\u00e9t\u00e9s et les fonctions du syst\u00e8me nerveux dans les animaux vert\u00e9br\u00e9s. Die erste Ausgabe erschien 1824, die zweite 1842.\n3\tp. 140 der zweiten Ausgabe.\n4\tFodera, Recherches exp\u00e9rimentales sur le syst\u00e8me nerveux. Magendie\u2019s Journal. III. p. 191. 1823.\n5\tSerres, Magendie\u2019s Journal. III. p. 114. 1823; reproducirt und erweitert in dessen Anatomie compar\u00e9e etc. IL p. 613. 1826.\n6\tMagendie, M\u00e9moire sur les fonctions de quelques parties etc. Dessen Journ. IY. p. 399. 1824.","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\ngungen nm die L\u00e4ngsachse des Thieres die, nach der kranken Seite hin gerichtet; wahrgenommen werden, wenn man den Br\u00fcckenschenkel oder eine Hemisph\u00e4re tief verletze. Die \u00e4hnliche Uber hundert Jahre \u00e4ltere Beobachtung ihres Landsmannes Petit scheinen sie nicht gekannt zu haben. Lafargue und Longet lassen nach derselben Verletzung die Rollbewegungen nach der gesunden Seite hin erfolgen. Schiff 1 stimmt mit Magendie und erkl\u00e4rt die Angabe jener Forscher durch die Behauptung, dass, wenn man den Schnitt durch einen Seitentheil des kleinen Gehirns selbst f\u00fchre, die Rollbewegungen die Richtung nach der nicht verletzten Seite hin n\u00e4hmen. Magendie und Hertwig1 2 beschreiben den bei einseitiger Verletzung des kleinen Gehirns auftretenden Strabismus, das Auge der verletzten Seite deorsum, das andere sursum distortus. Von dem von Saucerotte im vorigen Jahrhundert angegebenen Nystagmus scheinen sie ebenfalls keine Kenntniss gehabt zu haben. Magendie und Desmoulins3 sprechen von R\u00fcckw\u00e4rtsbewegungen, welche S\u00e4u-gethiere und V\u00f6gel nach einigermassen schweren Verletzungen, wie namentlich der Wegnahme der oberen und mittleren Partie des kleinen Gehirns, zeigen. Sie theilen weder die Auffassung von Rolando noch die von Flourens; sind aber unsicher in ihrer Ausdrucksweise \u00fcber die Kraft, welche die von ihnen beobachtete Erscheinung hervor-rufen soll: bald scheint ihnen das kleine Gehirn eine vorw\u00e4rts treibende Kraft zu entwickeln, die gegen\u00fcber einer anderswo sich findenden, r\u00fcckw\u00e4rts treibenden nach der Verletzung nicht mehr wirksam sei, bald scheint ihnen in demselben eine nach hinten treibende Kraft entwickelt zu werden. Die sp\u00e4teren Arbeiten \u00fcber das Cerebellum enthalten keine wesentlich neue Erscheinung, welche bei dem Expe-rimentiren an diesem Hirntheile noch zu Tage getreten w\u00e4re; es werden entweder einzelne der bekannten weiter verfolgt, oder Versuche einer anderen Auffassung des Bekannten gemacht. Ich hebe aus diesem Material noch folgende Punkte hervor. Der oben erw\u00e4hnte Strabismus kann eine andere Form annehmen, wenn das Thier Anstrengungen macht, seinen Kopf aus der Zwangsstellung herauszubringen, in welche er durch die Operation versetzt worden ist.4 Er ist auch beobachtet worden bei Verletzung der vorderen\n1\tSchiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. Muskel- und Nervenphy-siologie. S. 353. Lahr 1858 \u2014 59.\n2\tHertwig, Exp\u00e9rimenta quaedam de effectibus laesionum in partibus encephali etc. Hiss, inaug. Berol. 1826.\n3\tDesmoulins et Magendie, Anatomie des syst\u00e8mes nerveux etc. IL p. 582. 583. 1825.\n4\tGratiolet, Sur les mouvements de rotation etc. Moniteur d. sciences m\u00e9d. 1860. IL No. 139. p. 1106. No. 142. p. 1133.","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Kleinhirns f\u00fcr die Bewegungen.\n109\nKleinkirnschenkel1 lind scheint je nach der Art der Verletzung des kleinen Gehirns verschieden auszufallen, vorausgesetzt, dass bei den hierauf bez\u00fcglichen Thatsachen dem Umstand Rechnung getragen ist, dass die Augenstellungen sich mit den Kopfstellungen \u00e4ndern, was mir nicht der Fall zu sein scheint.'2 Die R\u00fcckw\u00e4rtsbewegung wird zwar nicht geleugnet, aber als eine im Ganzen seltener eintretende Erscheinung bezeichnet.3 4 5 Renzi 4 machte den Versuch, die auf Verletzung des Cerebellum so verschiedenartig eintretenden Bewegungsst\u00f6rungen auf die Verwundung bestimmter Theile jenes zu beziehen, und gab seine Resultate in einer Tabellenform. Weiter ist zu bemerken, dass viele der Bearbeiter der Physiologie des Cerebellums darauf aufmerksam machen, dass, wenn die Verwundungen leicht sind, und nicht durch starke Blutergiessungen weitere Zerst\u00f6rungen angerichtet werden, alle Erscheinungen wieder mehr oder weniger, fr\u00fcher oder sp\u00e4ter verschwinden, was anzudeuten scheint, dass man jene als Reizerscheinungen aufzufassen habe. Eine, wie es mir scheint sehr wichtige, aber vielfach in Vergessenheit gerathene Beobachtung hat Flourens 5 noch in sp\u00e4teren Jahren gemacht. Er zeigte dass die Zwangsbewegungen, welche man durch die mechanische Verletzung verschiedener Hirntheile erh\u00e4lt, so wie die Disharmonie der Bewegungen nach einer solchen des kleinen Gehirns auch beobachtet werden, wenn man vorher das Grosshirn, den Sitz der spontanen willk\u00fcrlichen Bewegungen, entfernt hat. Ich kann die Richtigkeit dieser Angabe, insofern sie sich auf die Zwangsbewegungen bezieht, best\u00e4tigen, und komme auf die Bedeutung dieser Beobachtung zur\u00fcck.\nMan hat zum \u00f6fteren die Erscheinungen, welche man an Menschen mit irgendwie defectem Kleinhirn beobachtet, mit den Ergebnissen der Experimente an Tkieren verglichen, und bei der Besprechung des Einflusses des Cerebellums auf die Sinne habe ich oben schon Einiges angef\u00fchrt. Im Ganzen ist dadurch, mit Ausnahme einiger weniger F\u00e4lle, unsere Einsicht in die Functionen des kleinen Gehirns wenig oder gar nicht gef\u00f6rdert worden. Die pathologischen Ent-\n1\tVulpi an et Philipe aux, Note sur quelques exp\u00e9riences faites dans le but de d\u00e9terminer l\u2019origine profonde des nerfs de l\u2019oeil. Gaz. m\u00e9d. d. Paris. 1854. No. 30. p.466.\n2\tLeven et Ollivier, Recherches sur la physiologie etc. du cervelet. Archives g\u00e9n\u00e9rales de m\u00e9decine. Nov. et Dec. 1862.\n3\tLafargue, Essai sur la valeur des localisations etc. Th\u00e8se inaug. p. 15. Paris 1838. Yergl. auch Renzi , welcher in der nachstehend citirten Arbeit. Yol. 190. p. 303 den Strabismus gerade umgekehrt, wie Hertwig u. A. angibt.\n4\tRenzi, Saggio di fisiologia etc. Annali universali di medicina. Yol. 187. p. 59. 60.1864.\n5\tFlourens, Nouvelles exp\u00e9riences sur l\u2019ind\u00e9pendance respective des fonctions c\u00e9r\u00e9brales. Compt. rend. XLII. p. 673.1861.","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nartungen bezogen sich entweder mit Sicherheit nicht auf das Cerebellum allein, oder es konnte doch etwas der Art geargwohnt werden. In F\u00e4llen wo sie m\u00f6glichst rein auftraten, wurde Manches beobachtet, was den Erfahrungen an Thieren entsprach, bisweilen sah man aber auch keine erhebliche St\u00f6rung.1 Aehnlich verh\u00e4lt es sich mit den F\u00e4llen traumatischer Verletzungen und der unilateralen und partiellen Atrophie.2 3 4 In dem exquisitesten von Andral beschriebenen Fall, in welchem eine Hemisph\u00e4re vollkommen mangelte und sich nur durch einen kleinen H\u00f6cker ersetzt fand, war Strabismus und ein nicht ganz sicherer Gang vorhanden, doch scheint letzterer nicht die St\u00f6rung gezeigt zu haben, wie man es nach Wegnahme von eben so viel Kleinhirn bei einem Thiere beobachtet. Indess muss bemerkt werden, dass sich diese zwei Objecte nicht mit einander vergleichen lassen. Beim Thier finden ohne Zweifel Reizungen statt, welche bei der unilateralen Atrophie jedenfalls bedeutend in den Hintergrund treten. Besondere Beobachtung verdient der von Combette 3 beobachtete und dem physiologischen Publikum durch Longet 4 bekannt gewordene Fall der Alexandrine Lab rosse. Beschr\u00e4nkte Intelligenz, willk\u00fcrliche Bewegungen ausf\u00fchrbar, nur verfiel sie bisweilen in epileptische Kr\u00e4mpfe, alle Sinnesorgane functionirten, der Masturbation ergeben. In sp\u00e4terer Zeit konnte sie nicht mehr gehen, bediente sich aber noch ihrer H\u00e4nde. An Stelle des kleinen Gehirns eine gelatin\u00f6se Membran, welche mit dem verl\u00e4ngerten Mark durch zwei ebenso beschaffene Stiele zusammenhing. Gegen letztere hin fanden sich zwei weisse K\u00f6rperchen von der Gr\u00f6sse einer Erbse; eine eigentliche Br\u00fccke war nicht vorhanden , aber es schien kein Substanzverlust zu bestehen. Longet scheint diesen Fall f\u00fcr geeignet zu halten, an jeder bis dahin ausgesprochenen Function des kleinen Gehirns zu zweifeln. So weit m\u00f6chte ich nicht gehen. Dass dieses Organ mit den Sinnesfunctionen nichts Wesentliches zu schaffen habe und auch nicht eine wesentliche Bedingung zur Entfaltung des Geschlechtslebens in sich schliesse, kann aus diesem Fall gefolgert werden, aber dass es in gar keiner Beziehung zu den Bewegungen, insbesondere den Ortsbewegungen stehe, folgt mit Bestimmtheit nicht\n1\tEine gute Zusammenstellung der von Morgagni bis zum Jahre 1S61 bekannt gewordenen wichtigem F\u00e4lle findet man bei Bourillon, Sur la physiolog. du cervelet. Paris 1861.\n2\tTurnen, De l\u2019atrophie partielle ou unilaterale du cervelet. Paris 1856; Schr\u00f6der van der Kolk , Selected monographes published by the new Sydenham society. 1861. p. 179.\n3\tCombette, Revue m\u00e9dicale II. p. 57. 1831. Abgebildet bei Cruveilhier, Anatomie pathologique du corps humain. I. Paris 1829. Planche V. XV. livraison.\n4\tLonget, Anatomie et physiologie du syst\u00e8me nerveux. I. p. 764.1842.","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Kleinhirns f\u00fcr die Bewegungen.\n111\naus ihm. Man kann annehmen, dass es sich hier nicht um einen urspr\u00fcnglichen Defect, sondern um eine fr\u00fch eingetretene und fortschreitende Degeneration, die mit g\u00e4nzlicher Zerst\u00f6rung des kleinen Gehirns endigte, handelt. Man k\u00f6nnte dann unter der Annahme, dass die Ortsbewegungen zum kleinen Gehirn in Beziehung stehen, begreiflich finden, wie das Kind wohl noch gehen lernte, obschon sein Gang immer etwas Unsicheres behielt, sp\u00e4ter aber diese F\u00e4higkeit vollkommen einb\u00fcsste. Auch w\u00e4re im Anschluss an am Grosshirn gemachte Erfahrungen m\u00f6glich, dass die vom kleinen Gehirn ausgehenden, mit dem Fortschreiten der Krankheit verschwindenden Einfl\u00fcsse auf die Bewegung von anderen Hirntheilen her ersetzt worden w\u00e4ren. Einen \u00e4hnlichen Fall hat Bouillaud beschrieben. Bei einem Erwachsenen war das gesammte Kleinhirn in eine braune purulente Masse verwandelt; w\u00e4hrend des Lebens konnte er zwar gehen, aber wankend und unsicher.1 Um die Angaben \u00fcber die das Kleinhirn betreffenden Thatsachen m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig zu geben, ist noch zu bemerken, dass Ferrier angibt, bei electrischer Erregung des Kleinhirns sehr verschiedener Thiere, ver\u00e4nderte Augenstellungen in sehr verschiedenen Formen, ja nach Reizung verschiedener Hirntheile, ausserdem auch noch Bewegungen des Kopfes und der Glieder gesehen zu haben.2 Diese Versicherungen d\u00fcrfen nicht so ohne Weiteres f\u00fcr Wahrheiten genommen werden. Da die mechanischen Eingriffe Strabismus geben, aber nur dann, wie gleich noch angef\u00fchrt werden soll, wenn man Theile des verl\u00e4ngerten Marks trifft und am Kleinhirn sich so lange unwirksam erweisen, als man sicher sein kann, dass das verl\u00e4ngerte Mark nicht l\u00e4dirt ist, so m\u00fcssen die Angaben von Ferrier unter Zuhilfenahme des strompr\u00fcfenden Froschschenkels wiederholt werden, um die Gewissheit zu erlangen, dass sich keine Stromantkeile dahin verbreitet haben, wohin man sie nicht gew\u00fcnscht hat. Von anderer Seite her sind bereits die angedeuteten M\u00e4ngel der FERRiER\u2019scken Versuche ger\u00fcgt worden.\nIch habe im Vorigen .eine Uebersieht derjenigen Erscheinungen gegeben, welche \u00fcberhaupt von den Beobachtern, die sich mit der Aufhellung der Functionen des kleinen Gehirns besch\u00e4ftigt haben, behauptet worden sind. Geht man die einzelnen Arbeiten sorgf\u00e4ltiger durch, so fallen mancherlei Widerspr\u00fcche, Ungenauigkeiten und unzul\u00e4ngliche Begr\u00fcndung der einzelnen Behauptungen sehr unangenehm auf, und es ist unm\u00f6glich, dass die Physiologie des Kleinhirns in\n1\tErw\u00e4hnt bei Ferrier, Die Functionen des Gehirns. Uebersetzt von Obersteiner. Braunschweig 1879. S. 99.\n2\tEbendaselbst S. 108 ff.","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112 Eckhard, R\u00fcckenmark und Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\ndiesem Stadium verbleibe. Die folgenden Bemerkungen sind dazu bestimmt zu zeigen, nach welchen Richtungen hin gr\u00f6ssere Pr\u00e4cision anzustreben ist. Thatsache ist es, dass die einseitige Verletzung des verl\u00e4ngerten Marks je nach dem Grade der ersteren Nystagmus oder Schielen in der Art gibt, dass das Auge der verletzten Seite nach vorn und unten, das der anderen nach hinten und oben steht.1 Da \u00e4hnliche Verletzungen des obersten R\u00fcckenmarkstheiles Nichts der Art geben, so ist anzunehmen, dass an den wirksamen Stellen des verl\u00e4ngerten Marks eine eigenthtimliche, die Augenbewegung beherrschende Vorrichtung von einer gewissen Ausdehnung liegt. Welcher Natur dieselbe ist, wie weit und wohin sie sich erstreckt und ob sie namentlich sich bis ins kleine Gehirn fortsetzt, oder ob sie der Art ist, dass man sagen muss, sie hat anderw\u00e4rts, das R\u00fcckenmark ausgenommen, ihre Hauptentwickelung und erstreckt sich nur ins verl\u00e4ngerte Mark herunter, das sind Alles noch zu l\u00f6sende Fragen. Wenn man nun aber bei einer Verletzung des kleinen Gehirns dieselbe Beobachtung macht, so hat man ohne Weiteres kein Recht, die Ursache der Erscheinung in diesem Hirntheil zu suchen. Es wird vielmehr sorgsam zu untersuchen sein, ob nicht durch Druck, Bluterguss oder eine unbeachtet gebliebene Fortsetzung der Verletzung in das verl\u00e4ngerte Mark hinein, oder in solche Theile, die sich besser und richtiger als zu diesem und nicht zum Cerebellum geh\u00f6rig betrachten lassen, der Strabismus erhalten worden ist. Bei der Unkenntniss, in welcher wir uns zur Zeit noch \u00fcber die innere Organisation und Zusammenf\u00fcgung der Hirntheile, die wir bisher meist nur nach Oberfl\u00e4chenverh\u00e4ltnissen und vielleicht ganz bedeutungslosen Eigenschaften abgrenzen, befinden, wird es oft recht schwer, ja unm\u00f6glich sein, in der herk\u00f6mmlichen Sprachweise die Ausdehnung einer angebrachten Verletzung anzugeben. Hiernach glaube ich auch, dass es besser sein wird, die Folgen gewisser Hirnverletzungen so auszudr\u00fccken, dass wir die Art der Verwundung ausf\u00fchrlicher beschreiben, als dass wir sie durch irgend welchen kurz gew\u00e4hlten Ausdruck auf einen macro-scopischen Theil der descriptiven Anatomie so ohne Weiteres beziehen. Von der erw\u00e4hnten Form des Strabismus ist nun durch Curschmann2 und Schwahn dargethan worden, dass weder Verletzungen der Hemisph\u00e4ren theile des kleinen Gehirns noch verschiedenartige Verwundungen der Stiele desselben, der Art, dass das verl\u00e4ngerte Mark und die Br\u00fccke weder durch Zerrung oder Druck, noch auf sonst eine\n1\tSchwahn, Ueber das Schielen nach Verletzungen in d. Umgegend des kleinen Gehirns. Meine Beitr\u00e4ge VIII. S. 149.\n2\tCurschmann, Beitr\u00e4ge zur Physiologie der Kleinhirnschenkel. Giessen 1868.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"Bedeutung des Kleinhirns f\u00fcr die Bewegungen.\n113\nWeise Schaden litten, niemals der genannte Strabismus zum Vorschein kam. Wenn Hitzig 1 angibt, dass er beim Zerschneiden des Flockenstiels, oder beim Druck auf die Flocke, oder durch Reizung mit der Anode eines schwachen electrischen Stromes den erw\u00e4hnten Strabismus sah, so scheinen mir diese und \u00e4hnliche Angaben dieses Forschers auf eine Reizung der vorher erw\u00e4hnten Theile bezogen werden zu m\u00fcssen. Es ist vorher erw\u00e4hnt worden, dass mehrere Forscher bei Verletzungen des kleinen Gehirns einen anderen Strabismus beobachtet haben. Nach dem, was ich bei den in meinem Laboratorium gef\u00fchrten Untersuchungen von Curschmann und Schwahn gesehen habe, darf ich allerdings kaum an der Existenz eines solchen zweifeln, aber ich kann kaum glauben, dass es sich auch hier um eine \u00e4chte Wirkung des kleinen Gehirns der macroscopischen Anatomie ohne weitere Verst\u00e4ndigung dar\u00fcber, handelt. So viel scheint \u00fcbrigens aus den bisherigen Untersuchungen hervorzugehen, dass die Gehirnstellen, von denen aus diese andere Art des Schielens erhalten wird, weiter nach vorn liegen, dass sie aber noch einer sorgf\u00e4ltigeren Untersuchung bed\u00fcrfen.'1 2 Dieselben Bemerkungen, welche ich Uber den Strabismus machte, kann man fast w\u00f6rtlich auf die Zwangsbewegungen \u00fcbertragen. Ich habe mich mit Curschmann3 nie \u00fcberzeugen k\u00f6nnen, dass eine Verwundung der Stiele des kleinen Gehirns, welche sich fern h\u00e4lt von den Verbindungen desselben mit dem verl\u00e4ngerten Mark etc., Zwangsbewegung gebe. Es entstehen h\u00f6chstens Zwangslagen auf die verletzte Seite. Um aber zu dieser Ueberzeu-gung zu gelangen ist es freilich nothwendig, dass man auch die unabsichtlich ausgef\u00fchrten Zerrungen, Blutungen, sorgf\u00e4ltig vermeide. Dagegen giebt jede tiefer gehende Verwundung in n\u00e4chster N\u00e4he des Tuberculum acusticum constant die Drehung um die L\u00e4ngsaxe von der gesunden zur verletzten Seite. Ich f\u00fcr meinen Theil habe daher starken Verdacht, dass die reinen Verletzungen der Hemisph\u00e4ren des Cerebellums auch keine Drehbewegungen hervorrufen und halte daf\u00fcr, dass bisher f\u00fcr das kleine Gehirn der S\u00e4ugethiere experimentell nur die Thatsache feststeht, dass die Verwundungen seiner Hemisph\u00e4ren-theile je nach ihrer Ausdehnung eine gr\u00f6ssere oder geringere Unsicherheit in der Stellung und Bewegung erzeugen, die ihren h\u00f6chsten Grad in der Seitenzwanglage bei ausgiebigen reinen Verletzungen seiner Stiele findet. Indess ist dies nur Ausdruck meiner gegen-\n1\tHitzig, Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. S. 266. Berlin 1874.\n2\tSchiff, Lehrbuch der Muskel-und Nervenphysiologie. I. S. 354; Schwahn 1. c. VIII. S. 159. 160.\n3\tCurschmann, Klinisches und Experimentelles zur Pathologie der Kleinhirnschenkel. Deutsch. Arch. f. klin. Med. XII. S. 356.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\n8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nw\u00e4rtigen individuellen Ueberzeugung, dies schliesst nicht aus, dass andere Forscher durch ein eingehendes Studium der mitgetheilten Arbeiten anderer Ansicht sind und dass ich selbst mich in Zukunft noch von der Richtigkeit anderer Angaben \u00fcberzeugen werde.\n3. Zweih\u00fcgel, Sehh\u00fcgel.\nUm die Bedeutung der Zweih\u00fcgel, die auch Sehlappen heissen, und des thalamus opticus, den man auch den lobus ventriculi tertii nennt, aufzuhellen, hat man theils an Thieren experimentirt, denen nur das Grosshirn abgetragen war, theils an solchen, denen man auch noch die Thalami genommen, theils an solchen, denen man diese Theile einzeln verletzte. Bekanntlich schloss Flourens aus Versuchen an verschiedenen Wirbelthieren, dass die Spontaneit\u00e4t der willk\u00fcrlichen Bewegung und das Princip der Sinnesperceptionen, wie er sich ausdr\u00fcckte, nur durch das Grosshirn vermittelt w\u00fcrden; keiner der Hirntheile, die hinter demselben liegen, sollte irgend welchen Antheil an diesen Functionen haben1. Indess ist es irrig, wenn man Flourens f\u00fcr den ersten Entdecker der Thatsache ausgiebt, dass mit der Entfernung des Grosshirns die Spontaneit\u00e4t der Bewegungen aufh\u00f6re und ein schlaf\u00e4hnlicher Zustand mit einer Abnahme der Sinnesth\u00e4tigkeit eintrete; schon Rolando hat im Wesentlichen diese Erscheinungen gesehen und gew\u00fcrdigt2. Bez\u00fcglich der Behauptung von Flourens, dass das des Grosshirns beraubte Thier die Sinnesperceptionen verloren habe, w\u00fcnscht man bei ihm mehr Klarheit. Veranlasst durch Bemerkungen 3 der Commission, die \u00fcber seine ersten Arbeiten zu Gericht sass, erkl\u00e4rt er zwar: \u201eL\u2019animal, qui a perdu ses lobes c\u00e9r\u00e9braux n\u2019a pas perdu sa sensibilit\u00e9; il la conserve tout enti\u00e8re; il n\u2019a perdu que la perception de ses sensations, il n\u2019a perdu que l\u2019intelligence\u201c, aber dass seine Begriffe der Sensibilit\u00e4t und Perception der Kl\u00e4rung bedurften, geht daraus hervor, dass er in der Vorrede zu derselben Ausgabe erkl\u00e4rt, dass ein Thier mit der Abtragung der Grosshirnhemisph\u00e4ren sein Gesicht, mit der der Vierh\u00fcgel die Contraction der Iris und damit den Sinn des Gesichtes verliere. Die Nachfolger von Flourens haben uns aus dieser Unklarheit herausgeholfen; sie haben sich nicht an das Wort, sondern an Erscheinungen gehalten und haben gezeigt, dass ein Thier, welchem nur das Grosshirn ge-\n1\tFlourens , Recherches experimentales sur les propri\u00e9t\u00e9s et les fonctions du syst\u00e8me nerveux. IL p. 36. 1842.\n2\tSaggio sopra la vera struttura del cervello etc. p. 38. 39. 58. Sassari 1809.\n3\tIn der zweiten Ausgabe des Werkes von Flourens abgedruckt. S. 78.","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"Verhalten der Thiere ohne Grosshirn.\n115\nnommen, wenn es durch Reize aus seiner Lethargie geweckt wird, noch ein Benehmen zeigt, aus welchem man mit Sicherheit schliessen kann, dass es Sinneseindr\u00fccke erhalten hat und diese noch ver-werthet. Bei Fr\u00f6schen ohne Grosshirn sahen Desmoulins und Magendie \\ wie jene eine f\u00fcr den Durchgang ihres K\u00f6rpers hinl\u00e4nglich grosse Spalte, welche in einem vor ihnen befindlichen Hinderniss angebracht war, bei ihrer Flucht w\u00e4hlten. Von \u00e4hnlichen, \u00fcberzeugenden Versuchen berichtet Renzi1 2 und in neuerer Zeit Goltz3. Die Erfahrung4 5 6, dass solche Fr\u00f6sche sich nicht nach den Fliegen Umsehen, welche man in ihren Beh\u00e4lter bringt, erlaubt keinen sichern Schluss auf die Natur eines etwa noch restirenden Gesichtssinnes. Das Thier kann sich so benehmen, weil es entweder zwar die In-secten sieht, sie aber nicht erkennt und unterscheidet, oder auch, weil es kein Nahrungsbed\u00fcrfniss mehr empfindet. Versuche \u00fcber das Fortbestehen des Geschmacks-, Geruchs- und Geh\u00f6rsinnes haben bei diesen Thieren keine entscheidenden Resultate gegeben, es sei denn, dass man der Angabe Renzi\u2019s Vertrauen schenkt, dass Fr\u00f6sche auf Detonationen hin die Augen bewegt haben sollen. Bez\u00fcglich anderer sinnlicher Wahrnehmungen ist zu bemerken, dass das von Flourens erw\u00e4hnte sich Drehen auf den Bauch aus der R\u00fcckenlage von vielen Forschern gesehen worden ist ; Renzi aber gibt an, dass, wenn man die R\u00fcckenlage sehr vorsichtig ausf\u00fchre, der Frosch gegen 4/2 Stunde lang diese beibehalte, was ich best\u00e4tigen kann. H\u00e4lt man den hirnlosen Frosch l\u00e4ngere Zeit in jener Lage und zieht dann die H\u00e4nde behutsam zur\u00fcck, so bleibt er in der That aussergew\u00f6hnlich lange so liegen. Heubel 5 geht sogar so weit zu behaupten, dass auch vollkommen gesunde Fr\u00f6sche nach dem angegebenen Verfahren die R\u00fcckenlage Stunden lang inne behielten. Ist dem so, dann ist diese Eigenschaft f\u00fcr die Beurtheilung der Bedeutung des Grosshirns im Vergleich mit anderen Hirntheilen nur unter gewissen Voraussetzungen brauchbar. Indess scheint hieraus kein Nachtheil f\u00fcr die etwa zu ziehende Schlussfolgerung zu entstehen, da Goltz 6 dargethan hat, dass Fr\u00f6sche ohne Grosshirn auf schiefen Ebenen durch ent-\n1\tDesmoulins et Magendie, Anatomie des syst\u00e8mes nerveux etc. IL p. 629.\n2\tRenzi, Saggio di fisiologia etc. Annali univers, di medicina. Vol. 186. p. 141.\n3\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre von den Functionen d. Nervencentren d. Frosches. Berlin 1869.\n4\tVulpian, Le\u00e7ons sur la physiologie etc. R\u00e9dig\u00e9es par E. Bremonde. p. 681. Paris 1865.\n5\tE. Heubel, Ueber die Abh\u00e4ngigkeit des wachen Gehirnzustandes etc. Arch. f. d. ges. Physiol. XIV..S. 158.\n6\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre von den Functionen d. Nervencentren d. Frosches. S. 70 ff. Berlin. 1869.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nsprechende Bewegungen sich vor dem Fallen zu sch\u00fctzen suchen und unter selbst erschwerten Umst\u00e4nden zur Befriedigung ihres Athmungs-bed\u00fcrfnisses, vorher untergetaucht, an die Oberfl\u00e4che des Wassers in die H\u00f6he steigen. Von V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren, insbesondere Meerschweinchen, erz\u00e4hlt Renzi Z\u00fcge, aus denen zu entnehmen, dass sie nach der Hinwegnahm e des Grosshirns noch sahen und h\u00f6rten. Warf man die V\u00f6gel in die Luft, so kamen sie auf dem Boden in einer Weise an, als h\u00e4tten sie mit dem Gesicht die Entfernung desselben abgemessen; f\u00fcr gew\u00f6hnlich die Augen geschlossen, \u00f6ffneten sie dieselben bei starken T\u00f6nen. Bei schmerzhaften Reizen schrieen die Thiere, eine Beobachtung, die auch von anderen Seiten vor Renzi gemacht worden ist. Sie erkannten aber weder ihre Nahrung, noch feindliche Bewegungen und erschreckende Ger\u00e4usche. Aehnliche Erfahrungen machte Lussana.1 Renzi dr\u00fcckt diese Ergebnisse dahin aus, dass er sagt, mit der Wegnahme des Grosshirns verlieren die Thiere ihre Intelligenz und daher auch die intellectuelle Perception der Gesichts- und Geh\u00f6rempfindungen. Bemerkenswerth ist, dass bei Tauben von Voit beobachtet worden ist, dass einige Wochen nach der Abtragung der Hemisph\u00e4ren jener schlaf\u00e4hnliche Zustand wieder zu verschwinden anf\u00e4ngt; sie \u00f6ffnen die Augen, spazieren umher, ja fliegen von freien St\u00fccken wieder auf, ihre Sinnestb\u00e4tig-keiten vervollkommnen sich, und sie sind bisweilen nur dadurch von vollkommen gesunden zu unterscheiden, dass sie nicht von selbst fressen. Es ist wahrscheinlich, dass diese Zust\u00e4nde mit der Neubildung von Hirnmasse Zusammenh\u00e4ngen, da man solche in einem Fall unzweifelhaft gesehen hat.2 Bez\u00fcglich der nach Exstirpation des Grosshirns \u00fcbrig bleibenden Bewegungen sind noch einige Bemerkungen nothwendig. Je sorgf\u00e4ltiger alle Reize von einem solchen Thiere fern gehalten werden, desto sicherer behauptet es die einmal nach der Operation eingenommene Stellung. Goltz setzte Fr\u00f6sche auf ein auf die Unterlage gezeichnetes Kreuz und fand, dass die Thiere Tage lang ihre Lage zu demselben nicht ge\u00e4ndert hatten. Bringt man sie dagegen in Wasser, so schwimmen sie noch eine gewisse Zeit, wie mehre Beobachter gesehen und ich selbst best\u00e4tigen kann. Desmoulins und Magendie, welche, so viel ich weiss, die ersten waren, die diese Beobachtung machten, schlossen daraus, dass bei diesen Thieren die Spontaneit\u00e4t der Bewegungen nicht an das Grosshirn gekn\u00fcpft sei. Man k\u00f6nnte zufolge der Beobachtung\n1\tLussana, Monografia del vertigine. p. 72.\n2\tVoit, Beobachtungen nach Abtragung der Hemisph\u00e4ren des Grosshirns bei Tauben. Sitzgsber. d. bayr. Acad. Math.-phys. CI. 13. Juni 1868.","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"Verhalten der Thiere ohne Grosshirn.\n117\nVulpian\u2019s, dass solche Thiere im Wasser sehr regelm\u00e4ssig schwimmen und, wenn sie an die Wand des Wassergef\u00e4sses an-stossen, Versuche, bisweilen sogar mit Erfolg, machen, an derselben in die H\u00f6he zu klettern, in dieser Annahme best\u00e4rkt werden, aber diese Andeutung wird sehr bedenklich, wenn man die weitere That-sache erw\u00e4gt, dass, wenn man einmal unsere Thiere unter Wasser zur Ruhe gebracht hat, sie ohne weitere Anregung in dieser beharren. Ich stelle diesen Versuch, auf welchen zuerst Onimus 1 aufmerksam gemacht hat, in der Weise an, dass ich den hemisph\u00e4renlosen, bereits zur Ruhe gekommenen Frosch auf eine Unterlage setze, welche an dem sehr langsam sinkenden Gewicht eines Uhrwerks angebracht ist, und letzteres, nachdem jener einige Zeit in Ruhe verharrt hat, in ein Gef\u00e4ss mit Wasser sinken lasse. Das Thier taucht langsam unter, ebenso entfernt sich dann die Unterlage, und jenes bleibt schwebend im Wasser h\u00e4ngen, bis eine Ersch\u00fctterung oder irgend ein anderer Reiz es zum Schwimmen anregt. Wenn man indess an den oben erw\u00e4hnten Versuch Heubel\u2019s denkt, so fragt man sich, ob der Process des freien Willens selbst so weit analysirt sei, dass man mit Sicherheit sagen kann, ob ein der Hemisph\u00e4ren beraubter Frosch sich bez\u00fcglich der Entstehung seiner Bewegungen von dem vollkommen gesunden wesentlich oder nur graduell unterscheide. Es macht den Eindruck, als ob im hemisph\u00e4renlosen Frosch die Anregung zur Bewegung nur rascher erlischt, als im anderen, und dass er daher, um in einer solchen zu verbleiben, der \u00f6fteren Anregung bedarf, der andere aber, wenn sorgsam vor einer Zustands\u00e4nderung bewahrt, sich \u00e4hnlich dem ersteren verhalten kann. Man ersieht aus den bisherigen Mittheilungen, dass Fr\u00f6sche der vorausgesetzten Art an dem Mechanismus ihrer allgemeinen K\u00f6rperbewegungen Nichts ein-geb\u00fcsst haben, aber auch solche, die sich auf andere, willk\u00fchrlich zu bewegende Theile beziehen, sind erhalten, und es l\u00e4sst sich von ihnen nachweisen, dass sie an die Existenz von zwischen dem verl\u00e4ngerten Mark und dem Grosshirn liegenden Hirntheilen gebunden sind. Schon Paton beobachtete, dass Fr\u00f6sche, denen die Grosshirnhemisph\u00e4ren genommen waren, quaken, wTenn man die Haut des R\u00fcckens in der Interscapularregion ber\u00fchrt1 2. Goltz hat diesen Versuch, wahrscheinlich ohne die Notiz von Paton zu kennen, zum Gegenstand eines besonderen Studiums gemacht; die Reizung der\n1\tOnimus, Recherches exp\u00e9rimentales etc. Journ. d. l\u2019anat. et. d. 1. physiol. 1S70. p. G33. 636. 652.\n2\tPaton, On the perceptive power of the spinal chord etc. Edinburgh med. and surg. journal. LXV. p. 251. 1. April 1846.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nR\u00fcckenhaut ist nach diesem Forscher das Wesentlichste. Vulpian macht, unabh\u00e4ngig von den \u00fcbrigen Physiologen, eine \u00e4hnliche Angabe. Die Bewegungen der S\u00e4ugethiere und V\u00f6gel anlangend, so ist ebenwohl nicht bekannt, dass der Bewegungsmechanismus mit der Wegnahme des Grosshirns wesentliche St\u00f6rungen erleidet; sie laufen, schwimmen, fliegen, wenn irgendwie passend dazu angeregt.\nMan muss fragen, in wie weit sich bei jenen Resten der Sinnes-th\u00e4tigkeiten und den Bewegungen im Einzelnen Sehh\u00fcgel und Zweih\u00fcgel, resp. Vierh\u00fcgel, betheiligen. Renzi stellte Versuche bei Fr\u00f6schen an, um sich \u00fcber die Hirntheile zu belehren, welche die erw\u00e4hnten Gesichtswahrnehmungen vermitteln und kam zu dem Resultate, dass, wenn er die thalami optici in ihrem vorderen Theile, jedoch mit Schonung der an ihren \u00e4usseren Fl\u00e4chen herziehenden tractus optici durchschnitt, die Thiere sich ganz so verhielten, als wenn ihnen nur das Grosshirn entfernt worden w\u00e4re1, dass, wenn er aber die W\u00e4nde der bekanntlich hohlen lobi optici auf beiden Seiten entfernte, die Thiere bei allen Bewegungen gegen die Objecte anstiessen2 3. Nach Goltz verlieren Fr\u00f6sche ohne Grosshirn, thalami optici und Zweih\u00fcgel die F\u00e4higkeit, bei Reizung ihrer R\u00fcckenhaut reflectorisch zu quaken und auf schiefen Ebenen mit fortw\u00e4hrend wachsendem Neigungswinkel ihr Gleichgewicht durch Klettern zu behaupten ; aber es ist nicht bestimmt worden, welcher Antheil dabei auf einen jeden der beiden genannten Hirntheile und die Fortsetzungen des R\u00fcckenmarks kommt, mit denen jene Theile verbunden sind. Pr\u00fcfungen, die ich selbst an Thieren mit abgetragenen thalami vorgenommen habe, ergaben ein Vorwalten mehr kriechender als springender Bewegungen und nur unvollkommene Aequilibrirungsversuche auf der schiefen Ebene. Ich setze dabei voraus, dass die Trennung genau in den schr\u00e4gen Linien geschieht, welche die thalami optici von den lobi optici trennen. Ich lasse unentschieden, ob der Erfolg bloss durch den eigentlichen lobus opticus oder durch die Entfernung der Unterlage, auf der er aufsitzt, bedingt wird. Diese Angabe scheint der von Goltz 3 zu widersprechen, dass er die F\u00e4higkeit von Fr\u00f6schen mit abgetragenem Grosshirn zum Klettern in die Zweih\u00fcgel verlegt, es hat aber derselbe, so viel ich sehe, die thalami und lobi optici nicht getrennt untersucht. Es wird zwar angegeben, dass m\u00f6glichst vollkommene Abtragungen der lobi optici selbst bei Er-\n1\tRenziI. c. Vol. 186. p. 160.\n2\tEbendaselbst p. 169.\n3\tGoltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre von den Functionen d. Nervencentren d. Frosches. S. 73. 74. Berlin 1869.","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"Verhalten von Fr\u00f6schen ohne Grosshirn und Sehh\u00fcgel.\n119\nhaltung aller \u00fcbrigen Hirntheile die Aequilibration unm\u00f6glich machen sollen. Dies w\u00fcrde andeuten, dass beim Frosch die Sehh\u00fcgel gar keinen Einfluss auf jene Function h\u00e4tten. Ich m\u00f6chte aber sehr bezweifeln, dass die Wegnahme der Zweih\u00fcgel ohne Besch\u00e4digung der unter ihnen herziehenden Theile ausf\u00fchrbar ist. Im Augenblick, wo ich dies niederschreibe, kommt mir ein Bedenken, das eine neue Pr\u00fcfung nothwendig macht. Es ist oben angegeben worden, dass man einen Frosch ohne Grosshirn um so l\u00e4nger in der R\u00fcckenlage erhalten kann, je sp\u00e4ter man die ihn in seine Lage zwingenden H\u00e4nde leise von ihm l\u00e4sst, und dass man ihn im Wasser ohne zu schwimmen um so sicherer zur Ruhe bringt, je langsamer man ihn einsenkt. Man kann nun ebenso vermuthen, dass die Aequilibrirungs-versuche um so schlechter ausgef\u00fchrt werden, je langsamer man innerhalb gewisser Grenzen den Neigungswinkel der schiefen Ebene wachsen l\u00e4sst. Diese Vermutliung ist zu pr\u00fcfen und, falls sie sich best\u00e4tigt, kann auf die Abh\u00e4ngigkeit der Aequilibrirung von gewissen Hirntlieilen erst dann geschlossen werden, wenn in den zu vergleichenden Versuchen die schiefe Ebene mit gleicher Schnelligkeit erhoben worden ist, Ebenso bleibt es unentschieden, ob die Kletterversuche deshalb ausgef\u00fchrt werden, weil in thalamus und lobus opticus nur wichtige Elemente f\u00fcr den Tastsinn und das Muskelgef\u00fchl entwickelt sind, oder ob dieser an anderen Stellen des Pr\u00e4parates seinen Sitz hat und in jenen ein besonderer Bewegungsmechanismus f\u00fcr das Klettern entwickelt ist, oder ob Beides zugleich statt-flndet. Dass, besondere motorische Einrichtungen in jenen Theilen liegen und daraus mit Wahrscheinlichkeit auf ein die Ausf\u00fchrung der Aequilibrirungsversuche beg\u00fcnstigendes Moment geschlossen werden kann, folgt aus den Erfahrungen, dass Verletzungen der genannten Theile Zwangsstellungen und Zwangsbewegungen geben. Es treten dieselben nach vorg\u00e4ngiger Abtragung des Grosshirns ebenso, als bei Anwesenheit desselben ein, was beweist, dass dieselben nicht durch eine Collision der spontanen willk\u00fchrlichen Innervation mit irgend welchen anderen Kr\u00e4ften zu Stande kommen. Voraus bemerke ich, dass die Angabe \\ nach der blossen Abtragung einer Hemisph\u00e4re des Frosches trete Zwangsbewegung ein, nicht correct ist. Diese tritt nur dann ein, wenn man bei jener Operation durch Zug, Druck oder sonstwie eine Wirkung auf den lobus ventriculi tertii aus\u00fcbt. Nicht jede Verletzung, die man blindlings an dem in Rede stehenden Hirntheil anbringt, gibt Zwangsbewegung. So lange man sich ein-\n1 Onimus, Recherches exp\u00e9rimentales etc. Journ. d. l\u2019anat. et d. 1. physiol. 1870. p. 631.644.","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nseitig an den vorderen Theil h\u00e4lt, bekommt man nur eine Biegung des Thieres nach der verletzten Seite, welche nach einiger Zeit wieder verschwindet. Erst wenn man einseitig in der hinteren Gegend, etwa von der hinteren Umrandung der von oben in den dritten Ventrikel f\u00fchrenden Oeffnung eine Verletzung macht, treten Zwangsbewegungen ein, doch muss man auch hier noch darauf gefasst sein, nur Biegungen nach der verletzten Seite hin zu bekommen. Es h\u00e4ngt dies von nicht n\u00e4her anzugebenden Eigent\u00fcmlichkeiten der Verletzung ab. Jene Bewegungen fallen in den einzelnen F\u00e4llen sehr verschieden aus. Bald sind es Man\u00e8gebewegungen mit dem Centrum der Bewegung auf der verletzten Seite, bald sind es Halbmesserdrehungen, wobei der Drehpunkt im oder in der N\u00e4he des verletzten Hinterbeines liegt, bald sind es Gemische beider Bewegungsarten, bald f\u00e4ngt die Bewegung mit einer Man\u00e8gebewegung an und geht nach und nach in eine mehr oder weniger vollkommene Halbmesserdrehung \u00fcber; bald haben alle diese Bewegungen einen mehr h\u00fcpfenden, bald einen mehr kriechenden Charakter nach Art der Bewegung der Kr\u00f6ten. Sie alle verschwinden nach einiger Zeit und k\u00f6nnen dann durch Reizung des Thieres wieder auf kurze Zeit angefacht werden. Wie bereits angemerkt, sind sie sowohl an Thieren, denen das Grosshirn abgetragen worden ist, als auch an solchen, welche dies noch besitzen, darstellbar. Hat man einem Frosch das Grosshirn, ausserdem noch einen lobus ventriculi tertii abgetragen und macht man, nachdem die etwa der letzten Operation folgenden Zwangsbewegungen verschwunden sind, eine Verletzung an einer wirksamen Stelle des anderen gleichnamigen Lappens, so bekommt man die eine oder andere der vorher beschriebenen Formen der Zwangsbewegungen mit dem Centrum auf der zuletzt verletzten Seite. Verletzt man an einem Frosche ohne Grosshirn m\u00f6glichst gleichm\u00e4ssig und gleichzeitig zwei symmetrisch gelegene Zwangsbewegungen erzeugende Stellen, so resultirt daraus bisweilen eine Zwangsbewegung nach vorn, die aber, weil dieser Forderung factisch sehr schwer zu gen\u00fcgen ist, nicht h\u00e4ufig zur Beobachtung kommt. Sind die beiderseitigen Verletzungen nicht gleichwerthig, so entsteht Zwangsbewe-gung nach einer Seite, die sich aber meistens nicht vorausbestimmen l\u00e4sst, da man es nicht immer trifft, das Uebergewicht auf die Seite zu legen, f\u00fcr die man es beabsichtigt. Es bleibt auch hierbei unentschieden, ob das wirksame Moment in einer Verletzung des eigentlichen lobus opticus oder in einer des mit ihm verkn\u00fcpften Hirnschenkels zu suchen ist. Diese Theile scheinen mir hier zu klein, um sicher im Experiment von einander gehalten werden zu k\u00f6nnen.","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"Einfluss der Seh- und Zweih\u00fcgel auf die Bewegung des Frosches. 121\nAus diesen Angaben, die auf eigner Beobachtung beruhen und mit denen von Renzi 1 in den Tbeilen \u00fcbereinstimmen, die einen Vergleich zulassen, folgt \u00fcber die Zwangsbewegungen ausser Dem, was schon mehrmals \u00fcber ihre Unabh\u00e4ngigkeit von einem etwaigen Zusammenhang mit den spontanen, willk\u00fcbrlichen Bewegungen gesagt worden ist, dass sie Bewegungen eines complicirten Mechanismus sind, den man f\u00fcr kurze Zeit durch die mechanische Verletzung zu seiner Th\u00e4tigkeit anreizt. Es ist daher auch jeder Ausdruck \u00fcber die Entstehungsweise derselben, welcher dieser Folgerung nicht Rechnung tr\u00e4gt, incorrect; insbesondere ist die Anwendung des Wortes Abtragung eines thalamus zu vermeiden, da nicht der dadurch entstehende einseitige Mangel desselben, sondern die damit verkn\u00fcpfte Reizung die n\u00e4chste Ursache ist1 2 3. Ueber den Einfluss der Zweih\u00fcgel auf die Bewegupg beim Frosch kann Folgendes gesagt werden. Wenn man das Gehirn quer hinter diesen Gebilden auf beiden Seiten gleich-m\u00e4ssig trennt, so zeigen die Bewegungen, zu denen man die Thiere anregt, einen auffallenden Mangel an Harmonie und erinnern an die Erscheinungen, welche man bei S\u00e4ugethieren nach Verletzung des kleinen Gehirns beschrieben hat; die auf Reize folgenden Bewegungen werden plump und unbeholfen ausgef\u00fchrt. Diesen Mangel schreiben Cayrade3 und Goltz der Abwesenheit der Zweih\u00fcgel zu, offenbar nicht mit befriedigendem Grund, da beide Forscher nicht vorher besonders den Erfolg untersucht, welchen eine alleinige Abtragung der thalami optici mit sich bringt und damit im Einzelnen den Effect der Zweih\u00fcgelabtragung verglichen haben. Mechanische Verletzungen der \u00e4usseren Partieen der Zweih\u00fcgel haben, etwa eine geringe Schw\u00e4che und Langsamkeit ausgenommen, keine Bewegungsst\u00f6rungen zur Folge, wenn man absieht von denen, welche aus der dadurch entstehenden Blindheit hervorgehen. Tiefer gehende Verletzungen, von denen es aber zweifelhaft ist, ob sie sich nicht weiter als auf die eigentlichen Zweih\u00fcgel erstrecken, geben K\u00f6rperbiegungen und Zwangsbewegungen, bald die ersteren, bald mit den letzteren verbunden. Die bisherigen Angaben bed\u00fcrfen aber einer nochmaligen Revision und weiterer Pr\u00fcfungen. Am h\u00e4ufigsten sind die Bewegungen mehr oder weniger reine Man\u00e8gebewegungen mit dem Centrum der Bewegung auf der der verletzten Seite4 entgegengesetzten, es\n1\tRenzi 1. c. Yol. 186. p. 164.\n2\tYergl. hierzu den Schluss dieses Capitels.\n3\tCayrade, Les localisations des mouvements r\u00e9flexes. Journ. d. l\u2019anat. et d. 1. physiol. 186S. p. 346.\n4\tSiehe, ausser bei Flourens : Baudelot, Recherches exp\u00e9rimentales sur l\u2019enc\u00e9phale de la grenouille. Ann. d. sciences natur. 5. s\u00e9rie. Zool.etPalaeont.III. p. 5.1865.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nkommen aber auch solche nach der verletzten vor l, insbesondere, wie es scheint, nach Verletzungen der mehr nach hinten gelegenen Theile der Vierh\u00fcgel. Im Wasser gehen diese Zwangsbewegungen oft oder stets, was gleichfalls n\u00e4her zu untersuchen, in Drehungen um die L\u00e4ngsaxe \u00fcber. Die Zwangsbiegungen sind nach der verletzten Seite gerichtet. Renzi ist der Ansicht, dass die Innervationsheerde in den thalami optici und die in den lobi optici insofern wesentlich von einander verschieden w\u00e4ren, als die ersteren nur den im Grosshirn entwickelten auf die Intelligenz Bezug habenden motorischen Vorg\u00e4ngen dienten, w\u00e4hrend die letzteren in Beziehung zu den Seiten der Sinnesth\u00e4tigkeiten st\u00fcnden, f\u00fcr welche die lobi optici als die wichtigsten Organe anzusehen sind. Es bleibe dahin gestellt, ob dies der richtige Ausdruck f\u00fcr die etwaigen Unterschiede der Beziehungen zur Motilit\u00e4t zwischen thalamus und lobus opticus ist; ich habe bei der Mittheilung dieser Ansicht den Zweck gehabt, sp\u00e4tere Forscher, welche Untersuchungen \u00fcber die Zweih\u00fcgel anstellen, zu veranlassen, ihren Versuchen mit R\u00fccksicht darauf entsprechende Formen zu geben. Oft entstehen nach scheinbar denselben Verletzungen der Zweih\u00fcgel in dem einen Fall exquisite Zwangsbewegungen, in dem andern keine Spur davon, sondern nur eine Biegung des K\u00f6rpers, oder die Zwangsbewegungen ermangeln der Pr\u00e4cision, h\u00f6ren bald auf und k\u00f6nnen durch Hautreize gar nicht oder kaum wiederangefacht werden. Ich glaube, dass dies in Zusammenhang zu bringen ist mit der grossen Prostration, welche eine mechanische Reizung der Zweih\u00fcgelgegend, insbesondere eine g\u00e4nzliche quere Trennung durch dieselben, bekanntlich erzeugt, wie dies oben bei Besprechung der sog. Hemmungsmechanismen beschrieben worden ist. Bei erneuten Untersuchungen \u00fcber die Zwangsbewegungen, die in dieser Gegend zu erhalten sind, wird es daher angezeigt sein, dass man sich vorher genau mit der Lagerung jener prostri-renden Elemente bekannt macht und derselben Rechnung tr\u00e4gt.\nDie bisher \u00fcber den Sehh\u00fcgel der S\u00e4ugethiere bekannt gewordenen Erfahrungen scheinen demselben auch hier eine vielseitige Rolle bei den Gehirnth\u00e4tigkeiten zuzuweisen. Zun\u00e4chst liegen Erfahrungen \u00fcber Beziehungen desselben zum Gesichtssinne vor. Mehrere Physiologen haben geglaubt, hierher die Beobachtungen ziehen zu m\u00fcssen, welche \u00fcber den Einfluss des Sehh\u00fcgels auf die Irisbewegung von verschiedenen Forschern bekannt geworden sind. Klar ist jedoch, dass, obschon mit gewissen Qualit\u00e4ten des\n1 Renzi 1. c. Vol. 186. p. 172.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"Sehh\u00fcgel der S\u00e4ugethiere.\n123\nSehens entsprechende Bewegungen der Iris verkn\u00fcpft sind, doch nicht umgekehrt aus dem Bestehen, oder dem Verlust der letzteren mit Sicherheit auf jene geschlossen werden kann, da bei vollkommener Integrit\u00e4t der brechenden Augenmedien es Erblindungsformen mit erhaltenen reflectorischen Irisbewegungen gibt. Wir nehmen indess von den wesentlichen Angaben \u00fcber diesen Punkt Notiz. Longet 1 2 gab an, dass er nach Zerst\u00f6rungen der thalami optici die Iris auf Lichteindr\u00fccke noch reagiren sah und dass er bei directer Reizung jener keine Oscillationen der Pupille beobachtet habe. Andere, wie namentlich Renzi 2 fanden, dass diese Angabe f\u00fcr den vorderen Theil des Sehhiigels allerdings richtig ist, h\u00f6chstens man nur eine vor\u00fcbergehende Erweiterung sieht, dass jedoch eine vollst\u00e4ndige Abtragung des hinteren Theils des Sehh\u00fcgels eine dauernde Pupillenerweiterung auf der anderen Seite gibt. Man findet diese Erfolge begreiflich, wenn man bedenkt, dass der Sehnerv sich \u00fcber die Oberfl\u00e4che des hinteren Theils des Sehh\u00fcgels ausbreitet, und eine jede Durchtrennung des Opticus Erweiterung der Pupille in Folge des Wegfalls des durch die Lichtreizung des Opticus erregten Oculomotorius veranlasst. Hiervon abgesehen, sind aber auch sattsam Erfahrungen vorhanden, welche eine innigere Beziehung des Sehh\u00fcgels zu den Vorg\u00e4ngen beim Sehen darthun. Schon Rolando, sp\u00e4ter Panizza und Lussana, und Andere sprechen von Blindheit auf dem der Verletzung des Sehh\u00fcgels entgegengesetzten Auge, zum Theil ausdr\u00fccklich nach solchen Stellen der vorderen Partie desselben, dass der Effect nicht auf eine Trennung des macroscopischen Verlaufes des tractus opticus bezogen werden kann.3 Von neueren Forschern ist es namentlich Renzi 4, welcher auf diesen Punkt bez\u00fcgliche Experimente angestellt hat. Er trug bei V\u00f6geln und Meerschweinchen die oberen Schichten der vorderen H\u00e4lfte des Sehhiigels ab, oder verwundete denselben in anderer Weise ausgiebig, und \u00fcberzeugte sich, dass die Thiere vor das entgegengesetzte Auge gelegten Hindernissen nicht auswichen, oder vor denselben stehen blieben, oder in die Luft geworfen, die Gegenst\u00e4nde sahen, auf welche sie sich setzten, wovon das Gegentheil geschah, sobald man vor dem anderen Auge diese Pr\u00fcfungsmittel f\u00fcr bestehenden Gesichtssinn anwandte. Bei der Mittheilung dieser Experimente gibt er oft an, dass er Sehh\u00fcgel mit Schonung des Tractus verletzt habe. Aehnliche Erfahrungen sind von anderer Seite, z. B. durch\n1\tLonget, Anat. et Physiol, etc. I. p. 500.\n2\tRenzi 1. c. Yol. 189. p. 419 ff.\n3\tPanizza, Osservazioni sul nervo ottico. 1855. p. 9. Giorn. dell\u2019 J. R. Istituto di scienze etc. di Milano VII.\n4\tRenzi 1. c. Yol. 186. p. 530. Yol. 189. p. 429.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124 Eckhard, R\u00fcckenmark n. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nNothnagel und Ferrier gemacht worden. Auch vom Menschen sind F\u00e4lle verschiedener Sehst\u00f6rungen bis zur Erblindung nach verschiedenen Desorganisationen des Sehh\u00fcgels bekannt geworden. Besonders lehrreich ist ein von Hughling Jackson beschriebener Fall, bei welchem der rechte Thalamus in seiner hinteren Abtheilung erweicht und das Pulvinar zerst\u00f6rt war. In der vorderen H\u00e4lfte des Thalamus, dem Hirnschenkel und der weissen Substanz der Hemisph\u00e4re konnten keine krankhaften Ver\u00e4nderungen gefunden werden. W\u00e4hrend des Lebens hatte man linksseitige. Hemiopie beider Augen beobachtet. Uebrigens lehren alle Erfahrungen dieser Art nichts mehr, als dass die Sehh\u00fcgel wichtige Glieder f\u00fcr das Zustandekommen der Gesichtsempfindungen enthalten, etwa wie die tractus optici auch solche bergen. Auch bei den Versuchen, Erfahrungen am Menschen, wie die von Jackson gemachte, zu zergliedern, treten nur Vorstellungen \u00fcber Leitungsverh\u00e4ltnisse, unter Anwendung mehr oder weniger begr\u00fcndeter Schemen, wie z. B. das von Charcot gegebene, hervor.' In Verbindung aber mit der Erfahrung, dass bei S\u00e4uge-thieren und V\u00f6geln nach der alleinigen Entfernung der Grosshirnhemisph\u00e4ren die Thiere noch sehen und \u00e4hnlich wie Fr\u00f6sche auch ihre Gesichtswahrnehmungen bis zu einem gewissen Grade verwerthen, indem sie Hindernissen ausweichen, oder solche pl\u00f6tzlich in ihren Weg gestellt, vor denselben stehen bleiben, den Bewegungen einer Lichtflamme folgen, etc. machen sie wahrscheinlich, dass in den Sehh\u00fcgeln die Gesichtswahrnehmungen bis zu einer gewissen Vollendung entstehen. Ueber die relative Bedeutung der Sehh\u00fcgel und der Grosshirnhemisph\u00e4ren f\u00fcr die Gesichtswahrnehmungen ist die Darstellung der Functionen der Hirnrinde zu vergleichen. In \u00e4hnlicher Weise sind die Sehh\u00fcgel auch noch zu anderen Sinneswahrnehmungen in Beziehung gebracht worden, oder es sind Gr\u00fcnde vorhanden, zu ver-muthen, dass zuk\u00fcnftige Experimente einen solchen Zusammenhang darthun werden. Das vorhandene Material spricht aber nicht so \u00fcberzeugend als das in Bezug auf den Gesichtssinn erw\u00e4hnte. Auf der einen Seite sind von verschiedenen Seiten f\u00fcr V\u00f6gel und S\u00e4ugethiere Erfahrungen beigebracht worden, dass nach der Entfernung der Sehh\u00fcgel gewisse Antheile von Geh\u00f6r-, Geruchs-, Geschmacks- und Gef\u00fchlswahrnehmungen Zur\u00fcckbleiben.1 2 Auf der anderen Seite ist eine Anzahl F\u00e4lle von Erkrankungen des Sehh\u00fcgels bekannt geworden, bei denen sich Affectionen der Geh\u00f6r- und Tastempfindungen w\u00e4h-\n1\tFerrier, Die Functionen des Gehirns. Uebersetzt von Obersteiner. S. 273. Braunschweig 1879.\n2\tVergl. insbes. Renzi in seiner bereits mehrfach angef\u00fchrten Untersuchung.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"Sehh\u00fcgel der S\u00e4ugethiere.\n125\nrend des Lebens gezeigt hatten.1 Aber derartige Erfahrungen geben allerlei Bedenklichkeiten Raum, insbesondere ist nicht befriedigend zu entscheiden, wie weit der pathologische Eingriff reichte, er kann sich weit \u00fcber das macroscopisch, selbst microscopisch wahrnehmbare Gebiet hinaus erstrecken. Von Experimenten an Thieren sind mir nur einige \u00fcber die an und f\u00fcr sich schon unsichere Tastempfindlichkeit bekannt und diese stimmen in ihren Resultaten nicht \u00fcberein. Nothnagel 2 will nach mechanischer Zerst\u00f6rung der Sehh\u00fcgel dieselben Reactionen auf Hautreize, wie zuvor gesehen haben. Fermer3 gibt an, dass, obschon er nach Zerst\u00f6rung der nach aussen vom Sehh\u00fcgel liegenden Fasermassen die Tastempfindlichkeit herabgesetzt fand, er sie doch erst nach Zerst\u00f6rung des Sehh\u00fcgels vollst\u00e4ndig verschwinden sah. Ueber diesen unsichern Punkt haben also umsichtige Versuche erst noch Aufkl\u00e4rung zu bringen; die an Fr\u00f6schen gemachten Erfahrungen machen Ferrier\u2019s Angabe unwahrscheinlich. Endlich ist noch von der Stellung des Sehh\u00fcgels zu den Bewegungen zu sprechen. Von positiven Erfolgen einer electrischen Erregung der Sehh\u00fcgel ist meines Wissens nichts bekannt geworden. Die mechanischen Eingriffe in die Substanz dieses Hirntheils sind in verschiedenen H\u00e4nden von sehr verschiedenen Erscheinungen begleitet gewesen und haben daher auch zu differenten Meinungen \u00fcber die Beziehung des Sehh\u00fcgels zur Locomotion gef\u00fchrt. Nach Dem, was ich selbst gesehen habe, begreife ich dies. Je nach der Lage, Ausdehnung etc. des mechanischen Angriffs sieht man verschiedenartige Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen und je nachdem dem einen Forscher diese, dem anderen eine andere Form desselben am h\u00e4ufigsten unter die H\u00e4nde gekommen, ist der Einfluss des Sehh\u00fcgels auf die Bewegung anders dargestellt worden. Es w\u00e4re eine ganz verdienstliche Arbeit, die angedeuteten Verschiedenheiten noch einmal gr\u00fcndlich durchzuarbeiten. Aeltere Beobachter, wie Saucerotte4 und sp\u00e4ter Serres 5 geben an bei Schnitten durch die Sehh\u00fcgel L\u00e4hmung der vorderen und grosse Beweglichkeit der hinteren Glieder gesehen zu haben und hatten die Meinung, dass der Sehh\u00fcgel das Centrum f\u00fcr die Bewegung der vorderen Extremit\u00e4ten sei. Longet sah bei Kaninchen nach Verletzung nur eines Sehh\u00fcgels Man\u00e8gebewegung in der Art, wie nach einseitiger\n1\tLuys, Recherches sur le syst\u00e8me nerveux, p. 538. Crichton-Browne, West Riding Asylum Reports. Y.\n2\tNothnagel, Experimentelle Untersuchungen etc. Arch. f. pathol. Anat. LXII.\np. 201.\n3\tFermer 1. c. p. 270.\n4\tSaucerotte, M\u00e9moire sur les contre-coups etc. Prix de l\u2019academie de chir. 1Y. p. 310.\n5\tSerres, Anatomie compar\u00e9e du cerveau. II. p. 690.","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nVerletzung des Pedunculus cerebri, also von der verletzten nach der dieser entgegengesetzten Seite. Er glaubte dieselbe erzeugt durch eine L\u00e4hmung beider Gliederarten der entgegengesetzten Seite. Schiff !, welcher sich ausf\u00fchrlicher als seine Vorg\u00e4nger mit diesem Gegenstand besch\u00e4ftigte, hat diese Angabe in mehren Punkten modifient und erweitert. Die Erscheinung, wie sie Longet beschrieben, sagt derselbe, findet nur dann statt, wenn man den Sehhtigel im hinteren Drittel durchschneidet, man sieht die Man\u00e8gebewegung aber nach der anderen, also verletzten Seite ausgef\u00fchrt werden, falls der Schnitt in die vorderen Theile des Sehh\u00fcgels dringt. Eine Hemiplegie der gesunden Seite l\u00e4ugnet er. Um die Erscheinung zu erl\u00e4utern, macht er darauf aufmerksam, dass die wie angegeben operirten Thiere unter starker Biegung des Halses und Kopfes ihre Vorderbeine st\u00e4rker nach der gesunden Seite deviiren, als die hinteren und dass in Folge davon, so oft sie durch einen Antrieb ihres Willens sich bewegen wollen, durch jene abnorme Deviation eine Drehung im genannten Sinne entsteht. Den Grund der erw\u00e4hnten Abweichungen nach der genannten Seite hin findet er in der Annahme, dass in einem Sehhitgel sich alle diejenigen Fasern der Vorderbeine3 zusammen vereinigt finden 1 2, welche bei einer Seitw\u00e4rtswendung des Thieres auf beiden Seiten in die dazu n\u00f6thige harmonische Th\u00e4tigkeit gerathen und das Thier in Folge der L\u00e4hmung derselben auf der Seite des Schnittes zwingen, den Ortsbewegungen eine Richtung nach der gesunden Seite zu geben. Man sieht, dass, obschon er den Ausdruck Zwangsbewegung tadelt, seine Analyse ihn doch auf einen Zwang zur\u00fcckfuhrt. Auch nach vorg\u00e4ngiger Abtragung der Hemisph\u00e4ren inch der Corpora striata gelingen die Versuche nach Schiff deshalb, weil hier durch Reflex die noch vorhandenen cerebralen Bewegungsorgane angeregt werden. Diesen Er\u00f6rterungen macht Schiff noch den Zusatz, dass kurz nach der Durchschneidung das Thier w\u00e4hrend einiger Secunden erst eine Drehung nach der verletzten Seite mache und erkl\u00e4rt dies durch eine directe Reizung der centralen Bewegungsorgane derselben Seite, welche nachher gel\u00e4hmt w\u00e4ren, so dass die der anderen Seite in alleinige Wirksamkeit treten w\u00fcrden. Nothnagel hat den gr\u00f6ssten Theil, insbesondere auch den letzten von Schiff\u2019s Angaben, insofern sie sich auf die Thatsachen beziehen, best\u00e4tigt.\n1\tSchiff, Lehrbuch der Muskel- und Nervenphysiologie. S. 342 ff. 1858\u201459.\n2\tLe. S. 347.\n3\tWenn ich Schiff nicht missverstehe, so w\u00fcrde seine Meinung mit der Sauce-rotte\u2019s das gemein haben, dass die Sehh\u00fcgel nur Bewegungscentren f\u00fcr die Vorder -f\u00fcsse enthalten.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"Sehh\u00fcgel der S\u00e4ugethiere.\n127\nDagegen h\u00e4lt es Renzi 1 bez\u00fcglich des Sinnes der Drehung mit Longet, obschon er in vielen Versuchen einmal die Drehung in der von Schiff angegebenen Richtung gesehen hat. Den Grund dieser auseinander gehenden Angaben weiss ich nicht zu errathen. Ob Renzi die von Schiff angegebenen Versuchsbedingungen nicht innegehalten hat? Neben diesen mechanischen Eingriffen in die Seh-httgel sind nun noch die Folgen aufzuz\u00e4hlen, welche ihre g\u00e4nzliche Entfernung oder totale Zerst\u00f6rung herbeif\u00fchrt. Hier\u00fcber sind Versuche von Renzi und Nothnagel vorhanden. Von denen des ersteren w\u00e4hle ich diejenigen aus, in denen vorher das Grosshirn entfernt worden war, da sie erkennen lassen, welche Th\u00e4tigkeiten in Wegfall mit der Wegnahme der Thalami kommen, die nach Entfernung des Grosshirns noch bestanden. Bei V\u00f6geln1 2 sah er Unf\u00e4higkeit zu stehen, laufen, fliegen und Gegenst\u00e4nde mit den F\u00fcssen zu umklammern. Ohne\u2019\u00e4ussere Anregung lagen sie auf dem Bauch, die eine oder andere Seite ausgestreckt, in die Luft geworfen schlugen sie zwar mit den Fl\u00fcgeln und zeigten somit, dass sie nicht vollst\u00e4ndig paralytisch waren, aber sie konnten den Flug in keiner Weise re-giren. Uebrigens h\u00f6rten die Thiere noch und schrieen, wenn man sie ergriff. Aehnliche Erfahrungen berichtet er, wenigstens bez\u00fcglich der Motilit\u00e4t, von Kaninchen.3 Nothnagel zerst\u00f6rte bei Kaninchen beide Sehh\u00fcgel vollst\u00e4ndig ohne zuvor das Grosshirn abzutragen.4 Er versichert, hierauf den Kaninchen Nichts angesehen zu haben, sie sollen alle Bewegungen wie im Normalzust\u00e4nde ausgef\u00fchrt und weder eine Deviation der Beine, Kr\u00fcmmung der Wirbels\u00e4ule oder abnorme Haltung des Kopfes gezeigt haben. Sie unterschieden sich von Thieren mit intactem Gehirne nur dadurch, dass sie die ihnen nach vorn gezogenen Vorderbeine in dieser Position verharren Hessen und nicht spontan, wie gesunde Thiere es thun, zur\u00fcckzogen. Auch die Zerst\u00f6rung nur eines Sehh\u00fcgels ohne vorg\u00e4ngige Exstirpation des Grosshirns bewirkte keine wahrnehmbare Motilit\u00e4tsst\u00f6rung, nur das zuletzt erw\u00e4hnte Ph\u00e4nomen zeigte sich am Vorderbein der entgegengesetzten Seite. Angesichts dieser Angabe, die sich noch durch einige wenige, jedoch nicht besonders zuverl\u00e4ssige oder keine neue Gesichtspunkte bietende vermehren Hessen, ist es unm\u00f6glich, die Bedeutung des Sehh\u00fcgels f\u00fcr die Motilit\u00e4t schon jetzt festzustellen. W\u00e4hrend die zuletzt erw\u00e4hnten Versuche \u00fcber die bei-\n1\tRenzi 1. c. Yol. 189. p. 441.\n2\tEbendaselbst Yol. 186. p. 543.\n3\tEbendaselbst Yol. 189. p. 435. 436.\n4\tNothnagel 1. c. EXIL p. 203.","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nderseitige Zerst\u00f6rung der Sebbiigel ohne vorg\u00e4ngige Entfernung des Grosshirns gegen jede Beziehung derselben zur Motilit\u00e4t zu sprechen scheinen, weisen ihnen andererseits die einseitigen Durchschneidungen und beiderseitigen Entfernungen nach Abtragung des Grosshirns in der erw\u00e4hnten Beziehung eine bedeutende Rolle zu. Vorausgesetzt dass die s\u00e4mmtlichen, hierher geh\u00f6rigen Thatsachen in jeder Beziehung unantastbar sind, w\u00fcrde es darauf ankommen, eine verst\u00e4ndige Erkl\u00e4rung f\u00fcr diesen augenscheinlichen Widerspruch zu finden. Ich glaube aber hier abbrechen zu m\u00fcssen ; bevor zu einem solchen Vers\u00f6hnungsversuch geschritten wird, mag der Thatbestand noch kritischer festgestellt werden, zumal sich bei der Lectiire der angezogenen Arbeiten hier und da Bedenken aufdr\u00e4ngen. Es w\u00fcrde jedoch zu weit f\u00fchren, auf dieselben hierorts einzugehen.\nVierh\u00fcgel. Mit der Physiologie derselben ist es nicht wesentlich besser als mit der des Sehhitgels bestellt. Die Experimente an den Vierh\u00fcgeln sind im Ganzen schwieriger, als am Sehhitgel auszuf\u00fchren. Legt man jene vor der an ihnen auszuf\u00fchrenden Operation nicht bloss, so werden die Versuche unsicher, sucht man sie vorher zu entbl\u00f6ssen, um genau zu sehen, was man mit ihnen vornimmt, so hat man meist mit so viel Blutung zu k\u00e4mpfen, dass einem oft das Vertrauen zu den Versuchen unter den H\u00e4nden entschwindet. Die so instructiven Versuche, das Verhalten eines Thieres vor und nach der Quertheilung des Gehirns ante und post corpora quadri-gemina mit einander zu vergleichen, wie sie oben als an Fr\u00f6schen ausgef\u00fchrt erz\u00e4hlt wurden, sind bei S\u00e4ugethieren und V\u00f6geln bisher noch nicht methodisch ausgebeutet worden. Ich habe zwar S. 97 Versuche von Desmoulins und Anderen erw\u00e4hnt, in denen das Gehirn hinter den Vierh\u00fcgeln quer durchschnitten war, aber aus ihnen sind keine positiven Eigenschaften f\u00fcr die Bedeutung d\u00ear Vierh\u00fcgel und der nachbarlichen Gehirngegend bei den Warmbl\u00fctern zu entnehmen, da die sich unter diesen Umst\u00e4nden darbietenden Erscheinungen nicht in Parallele gestellt worden sind mit denen, welche ein Thier derselben Art zeigt, wenn man die Trennung vor den Vierh\u00fcgeln ausf\u00fchrt, auch sind die Bewegungserscheinungen viel zu unzul\u00e4nglich beschrieben. Vulplvn 1 gibt von Kaninchen an, denen er Grosshirn, corpora striata und thalami optici abgetragen hatte, dass sie bei Reizen einige Schritte ausgef\u00fchrt und nicht das kurze Geschrei h\u00e4tten h\u00f6ren lassen, welchem man unter gleichen Umst\u00e4nden bei denselben Thieren begegnet, wenn man am vorderen Ende des ver-\n1 V\u00fclpian, Le\u00e7ons sur la physiologie etc. p. 542. Paris 1866.","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"Vierh\u00fcgel der S\u00e4ugethiere.\n129\nl\u00e4ngerten Marks durchgeschnitten hat, sondern ein verl\u00e4ngertes, sich bisweilen wiederholendes, welches mehr den Eindruck eines sich \u00e4ussernden Schmerzgef\u00fchles mache. Bez\u00fcglich der Bewegungen berichtet er ein Gleiches von einem Kaninchen, welches von Hirntheilen nur noch das verl\u00e4ngerte Mark, das Kleinhirn und die Br\u00fccke be-sass. Auch dies konnte noch, wenn \u00e4usserlich angeregt, gehen.1 Tauben in gleicher Weise operirt, erhielten sich noch aufrecht.2 3 Bei ersterem Thiere verschwand die F\u00e4higkeit, sich auf den Beinen zu halten und Ortsbewegungen auszuf\u00fchren, mit tief gehenden Verletzungen der Br\u00fccke, woraus zu schliessen, dass bei S\u00e4ugethieren das Verm\u00f6gen des aufrechten Standes und der Ortsbewegung zu einem guten Theile in dem Pons localisirt ist. Da aber in diesen verschiedene andere Hirntheile eintreten, so ist auch hiermit nicht viel gesagt. Diese Angaben stimmen mit den von Desmoulins gemachten \u00fcberein. Fermer, dessen Versuch gleichfalls schon oben erw\u00e4hnt worden ist, muss daher wohl bei der Theilung des Gehirns dicht hinter den Vierh\u00fcgeln in die Br\u00fccke gerathen sein. Aus den beiden neben einander gestellten Versuchen Vulpian\u2019s, die sich auf Querschnitte dicht vor und dicht hinter den Corpora quadrigemina beziehen, w\u00fcrde folgen, dass in der Vierh\u00fcgelgegend kein wesentlich neues Moment f\u00fcr den aufrechten Stand und die Locomotion hinzu k\u00e4me. Indess sind dies nur zwei vereinzelte Versuche, die f\u00fcr einen definitiven Schluss nicht ausreichend sind. Andere dieser Art sind nicht zu meiner Kenntniss gelangt.\nZahlreicher sind die Eingriffe in die Vierh\u00fcgelgegend bei unverletztem Gehirn. Die besseren Versuche deuten nun Beziehungen der Vierh\u00fcgel zu dem Sinne des Gesichtes und vielleicht auch zu den willk\u00fcrlichen K\u00f6rperbewegungen an. Flourens 3 trug bei V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren einseitig ein corpus bigeminum ab, und Renzi 4 verwundete es einseitig in verschiedenem Grade bei V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren. Aus den Erfolgen, welche in vollkommner, oder vor\u00fcbergehender Blindheit bestanden, je nachdem totale Exstirpation oder nur partielle Verletzung stattgefunden hatte, schlossen beide Forscher, dass ein corpus bigeminum Centrum der sensitiven Gesichtspercep-tion, diesen Ausdruck in dem S. 114 angegebenen Sinn genommen, f\u00fcr das entgegengesetzte Auge sei. Es ist mir indess nie recht klar geworden, wie nach Renzi die Trennung des thalamus in seinem vorderen\n1\tV\u00fcLPIANl. C. p. 531. *\n2\tEbendaselbst p. 538.\n3\tFlourens, Recherches experiment, etc. 2. \u00e9dit. p. 142.144.\n4\tRenzi 1. c. Yol. 186. p. 546. Yol. 190. p. 10.\nHandbuch der Physiologie. Bd. Ha.\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nTheile mit Erhaltung des traetus opticus einerseits und der Vierh\u00fcgel andererseits denselben Erfolg soll haben k\u00f6nnen.1 2 Entweder steht dieses Factum nicht fest, oder es m\u00fcssen besondere Unterstellungen, die sp\u00e4ter zu pr\u00fcfen sind, \u00fcber den Verlauf der den Gesichtsempfindungen dienenden Wege gemacht werden; der Ueber-gang eines Theiles der Fasern des traetus opticus in die Sehhtigel, und eines anderen Theils in die Vierh\u00fcgel w\u00fcrde allein nicht ausreichen, vollkommene Blindheit eines Auges sowohl nach der Durchschneidung des thalamus, als auch nach der Exstirpation des lobus opticus zu erl\u00e4utern. Auch die f\u00fcr die V\u00f6gel gemachte Angabe, dass hier der traetus sich nur zu den Vierh\u00fcgeln begebe, w\u00fcrde nicht beide erw\u00e4hnte Angaben erl\u00e4utern. Vielfach sind die Angaben \u00fcber Bewegungsst\u00f6rungen bei Verletzungen und Abtragungen der lobi optici. Schon Rolando 2 erz\u00e4hlt von den Unregelm\u00e4ssigkeiten der Bewegungen, welche Thiere mit verletzten Vierh\u00fcgeln, bisweilen Betrunkenen gleich, zeigen ; \u00e4hnliche Angaben werden sp\u00e4ter von Serres 3 gemacht. Flourens4 erw\u00e4hnt nach Versuchen an V\u00f6geln und S\u00e4uge-thieren Drehungen um die L\u00e4ngsaxe nach der verletzten Seite, Renzi 5 bei V\u00f6geln solche nach der entgegengesetzten. Von St\u00f6rungen des Gleichgewichts und der Locomotion berichten aus neuerer Zeit unter Anderen Me. Kendrick6 und Ferrier.7 Der letztere sah auch bei electrischer Erregung der Vierh\u00fcgel Bewegungen in mancherlei Muskeln. F\u00fcr sie gilt, was ich oben von \u00e4hnlichen Angaben \u00fcber den Erfolg electrischer Reizungen des Kleinhirns gesagt habe. Die Drehungen der Thiere haben einige Beobachter, wie Flourens, Longet, Lussana von der einseitigen Blindheit, andere, wie Renzi, von nur lateraler Paralyse abgeleitet; noch andere, \u00e4hnlich den \u00fcbrigen von verschiedenen Gehirntheilen aus darstellbaren Zwangsbewegungen, von der directen Erregung gewisser motorischer Mechanismen. Die erstere Deutung, auf die ich hier, weil sie nahe liegt, ein wenig einzugehen habe, wurde auf die Behauptung hin bevorzugt, dass man bei einseitig k\u00fcnstlich blind gemachten Thieren mit unverletztem Gehirn \u00e4hnliche Bewegungen gesehen habe. Man kann indess erwidern, dass oberfl\u00e4chliche Verletzungen, welche einen Vierhiigel treffen und\n1\tSiehe oben S. 123. Vergl. bei Renzi, Vol. 186. p. 539 mit p. 551.\n2\tRolando, Saggio etc. p. 36. 37. Sassari 1809.\n3\tSerres, Anatomie compar\u00e9e du cerveau. IL p. 647.1826.\n4\tFlourens, Recherches exp\u00e9riment. etc. 2. \u00e9dit. p. 43. 144. Paris 1842.\n5\tRenzi 1. c. Vol. 186. p. 553.\n6\tMc Kendrick, Experiments on the brain of Pigeons. Trans. Roy. Soc. Edinb.\n1873.\n7\tFerrier 1. c. p. 84.","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"Verletzung der Vierh\u00fcgel. Reizung der Streifenh\u00fcgel.\n131\ndas entgegengesetzte Auge blind machen, keine Drehbewegungen erzeugen und dass diese erst dann, durchaus aber nicht immer, entstehen, wenn man mehr in die Tiefe vordringt. Wenn in der Beobachtung keine Ungenauigkeit vorgefallen ist, w\u00fcrde sich mit jener Annahme auch das Factum nicht gut vertragen, dass die Drehung bald nach der einen, bald nach der anderen Seite hin gerichtet ist; es sei denn, dass die k\u00fcnstlich blind gemachten Thiere diese Unregelm\u00e4ssigkeit gleichfalls zeigten. Da der innere Zusammenhang der in der Vierh\u00fcgelgegend verkn\u00fcpften Theile, \u00e4hnlich wie in der Kleinhirngegend, nicht bekannt ist, so hat man noch keine gen\u00fcgenden Versuche dar\u00fcber anstellen k\u00f6nnen, auf welche einzelnen Theile die beschriebenen Erscheinungen zu beziehen sind. Weil bei oberfl\u00e4chlichen Verletzungen und der Abtragung d\u00fcnner Schichten die Bewegungsst\u00f6rungen fehlen oder nur in geringem Grade auftreten, so haben Longet und Andere jene auf eine Verletzung der Hirnschenkel beziehen wollen. F\u00fcr diese ist aber an dem fraglichen Ort eben so wenig eine genaue Vorstellung vorhanden, wie f\u00fcr das Wort Vierh\u00fcgel, und wir m\u00fcssen uns auch hier bis auf Zeiten besserer Einsicht mit dem Ausdruck Vierh\u00fcgelgegend begn\u00fcgen.\n4. Streifenh\u00fcgel.\nDie Erfolge verschiedener experimenteller Pr\u00fcfungen, welche man an diesem Hirntheil vorgenommen hat, lauten noch nicht so \u00fcbereinstimmend und sind auch noch nicht s\u00e4mmtlich so kritisch durchgearbeitet, dass sich ein ganz festes Bild von der Bedeutung dieses Hirntheils entwerfen liesse. Die Erfolge elect rischer Reizungen desselben gibt Ferrier dahin an, dass starke Str\u00f6me auf ein corpus Striatum applicirt, Pleurothotonus ergeben und dabei die Flexoren die Extensoren \u00fcberwiegen.1 Diesen Angaben widerspricht Gliky nach Versuchen, denen ich beigewohnt und deren Richtigkeit ich best\u00e4tigen kann. Auf Querschnitten durch das Kaninchengehirn, welche die m\u00f6glichst isolirte Reizung der eigentlichen Substanz des corpus Striatum einerseits und der dasselbe umgebenden weissen Fasermassen andererseits erlaubten, konnte man sich \u00fcberzeugen, dass im ersten Falle keine Bewegungen entstanden, im anderen dagegen, je nach der Oertlichkeit des Reizes, Bewegungen in einzelnen Muskelgruppen hervorgerufen werden konnten.2 Man kann zwar sagen, Gliky\u2019s Str\u00f6me seien nicht stark genug gewesen, da aber\n1\tFerrier , Experimental researches in cerebral physiology and pathol. Med. reports of the West Riding lunatic, asylum. III. p. 95 u. a. anderen Orten.\n2\tW. Gliky, Ueber die Wege etc. Meine Beitr\u00e4ge. VII. S. 177.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nmit der Zunahme der St\u00e4rke dieser jede isolirte Reizung- unter diesen Verh\u00e4ltnissen illusorisch wird, so ist es zum mindesten nicht f\u00fcr gen\u00fcgend erwiesen zu achten, dass das corpus striatum electrisch erregbar sei. Als Erfolg einer mechanischen und chemischen Reizung erw\u00e4hnt Nothnagel 1 die beiden folgenden Erscheinungen. Sticht man bis zu einer nicht n\u00e4her anzugebenden Tiefe mit einer Nadel in einen Punkt des nucleus caudatus (corpus striatum), welcher nahe dem freien, dem Ventrikel zugekehrten Rande etwa in der Mitte der L\u00e4nge des genannten Theils liegt, ein, oder injicirt man in diesen Ort eine kleine Menge concentrirter Chroms\u00e4ure, so beginnt das Thier, Kaninchen, nach kurzer Ruhe, ohne \u00e4usseren Reiz zu h\u00fcpfen und hastige laufende Bewegungen nach vorn oder in Man\u00e8gen zu machen, die sich wiederholen, bis endlich das Thier nach k\u00fcrzerer oder l\u00e4ngerer Zeit apathisch und ganz ersch\u00f6pft am Boden liegt. Nothnagel hat dieser Stelle den Namen des nodus cursorius gegeben. Trifft der Chroms\u00e4uretropfen ausser dem Laufknoten noch eine umgebende gr\u00f6ssere Partie des nucleus caudatus, dann beobachtet man die angegebenen Erscheinungen nicht, sondern eine Motilit\u00e4tsst\u00f6rung, die sich in einer eigenthiimlichen Deviation der Beine kund giebt. Lebt das Thier hinl\u00e4nglich lange, so kann es sich von der Paralyse erholen. Carville und Duret 2 konnten diesen Laufknoten nicht best\u00e4tigen. Auf alle F\u00e4lle ist die Erscheinung ausserordentlich schwer und unsicher darstellbar. Ich habe mir mit Dr. Schwahn viele M\u00fche gegeben, sie zu sehen. Ohne jemals etwas Befriedigendes gesehen zu haben, standen wir von der Fortsetzung der Versuche ab, da wir uns sagen mussten, dass wir die Versuche so gut gemacht hatten, als es die Beschreibung und Zeichnung Nothnagel\u2019s verlangt. Es bedarf daher diese Angabe einer neuen Bearbeitung. Dieselbe erinnert an eine \u00e4ltere, \u00e4hnliche Beobachtung von Magendie, von welcher sie aber wesentlich in dieser Darstellung dadurch unterschieden werden muss, dass Magendie die seine als Folge des Wegfalls der corpora striata, Nothnagel die von ihm beschriebene als Reizungsph\u00e4nomen ansieht. Jener gab an 1 2 3, dass nach der beiderseitigen Abtragung der corpora striata in ihrer gesammten grauen Masse eine zwangsartige Bewegung nach vorn erfolge und erl\u00e4uterte sich dieselbe durch die Annahme eines vorw\u00e4rts treibenden Princips im Cerebellum und eines r\u00fcckw\u00e4rts treibenden in jenen K\u00f6rpern, so dass\n1\tNothnagel, Experimentelle Untersuchungen \u00fcber d. Functionen d. Gehirns. Arch. f. pathol. Anat. LVII. S. 184. 209.\n2\tCarville et Duret, Sur les fonctions des h\u00e9misph\u00e8res c\u00e9r\u00e9braux.\n3\tMagendie, Journal de physiologie. III. p. 376.1823.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"Reizung und Exstirpation des Streifenh\u00fcgels.\n133\neines dieser beiden Gebilde, ohne durch das andere contrebalancirt zu sein, seine Wirkung ungest\u00f6rt entfalte. Lafargue sah, als er diese Versuche wiederholte, die rapide Vorw\u00e4rtsbewegung nur bisweilen und fasst sie als die eines gereizten blinden Thieres auf, weil er sie bei Thieren, die er ohne Verletzung des Streifenh\u00fcgels blendete, mehrmals sah. Longet 1 hat sie nie deutlich beobachtet, auch wenn er das Thier reizte. Schiff - berichtet dagegen, dass er sie jedesmal dann eintreten sah, wenn er das Thier reizte und hebt es als eines der ausgesprochensten Resultate der Operation hervor, dass sich das Thier ohne Reiz ganz passiv verh\u00e4lt. Er vermuthet, dass Magendie seine Thiere irgendwie sensibel reizte. Von diesem Punkte abgesehen, sind aber, dies ist anzumerken, Schiff\u2019s Versuche von denen Magendie\u2019s dadurch noch verschieden, dass in den ersteren die Grosshirnlappen vorher abgetragen waren.1 2 3 Bei nur einseitiger Abtragung des Streifenh\u00fcgels will Magendie eine gewisse Unruhe, Schiff nichts Auffallendes gesehen haben. Diesen Exstirpationsversuchen fr\u00fcherer Zeit sind nun noch die neueren von Fournie und Ferrier zuzuf\u00fcgen. Von den Versuchen Carville\u2019s und Duret\u2019s, in welchen die Streifenh\u00fcgel so durchschnitten wurden, dass sowohl die Fasern, welche von den Windungen herabkommen, als auch diejenigen, welche die Verbindungen der Ganglien mit den Hirnschenkelfasern vermitteln, getrennt wurden, glaube ich absehen zu m\u00fcssen, da ich Ferrier\u2019s Meinung nicht theilen kann, es sei eine solche Operation der g\u00e4nzlichen Zerst\u00f6rung eines Streifenh\u00fcgels gleichwer-thig4 ; sie wird sich zur Zeit nicht widerspruchslos beweisen lassen. Fournie erzeugte Verletzungen des intraventricul\u00e4ren Theils des corpus striatum durch Injection einer mit Anilin blaugef\u00e4rbten concen-trirten Chlorzinkl\u00f6sung mittelst einer PRAVAz\u2019schen Spritze und zwar w\u00e4hrend der Chloroformnarcose der Thiere (Hunde). Wie schon von mehreren Seiten hervorgehoben worden ist, macht diese Methode nicht den Eindruck der Zuverl\u00e4ssigkeit. Die Ausdehnung der gef\u00e4rbten Stelle giebt sicherlich nicht die Ausdehnung der Wirkung an. Diese wird durch Imbibition und Resorption weiter reichen, als die mit blossem Auge sichtbare F\u00e4rbung. Daf\u00fcr sprechen auch die allm\u00e4hlich sich auf immer mehr Theile erstreckenden Wirkungen, sowie der Eintritt von Erscheinungen, von denen die mechanischen Verletzungen des Streifenh\u00fcgels niemals eine Andeutung ergaben,\n1\tLonget, Anatomie et physiologie du syst. nerv. I. p. 515. 1842.\n2\tSchiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. S. 338 ff. 1858\u20141859.\n3\tEbendaselbst S. 339.\n4\tFerrier, Die Functionen des Gehirns. Uebers. v. Obersteiner. S. 280.1879.","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"134 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nwie z. B. Erbrechen, anhaltendes Bellen etc. Man ist daher auch ausser Stande, mit Sicherheit die der reinen Wirkung auf die Streifenh\u00fcgel folgenden Erscheinungen scharf aus den nicht dahin geh\u00f6rigen herauszulesen. Ferrier hat den nucleus caudatus nur mechanisch verletzt. Ich halte daf\u00fcr, dass zur Zeit diese Methode noch die beste ist, nur verlangt sie Vorsicht, Wiederholung und kritische W\u00fcrdigung der gemachten Verletzungen und der beobachteten Erscheinungen. Die blosse Versicherung, man habe Dies gethan und Jenes beobachtet ist nicht hinreichend, um den Glauben an jene zu befestigen. Wegen der innigen Lagenbeziehung des corpus striatum zu anderen Theilen sind meiner Meinung nach noch mehr als bisher geschehen die Versuche in der Richtung zu variiren, dass man sch\u00e4rfer erkennt, was dem einen oder anderen Theile zukommt. Es will mir scheinen, als ob aus dieser Ueberlegung die vorher erw\u00e4hnte Versuchsform Schiff\u2019s hervorgegangen w\u00e4re, vor dem Eingriffe auf die Streifenh\u00fcgel erst die Grosshirnlappen zu entfernen und als ob man deshalb vermuthungsweise auch sagen k\u00f6nnte, es k\u00e4me daher der Unterschied zwischen seinen und Maciendie\u2019s Experimenten. Wir h\u00e4tten dann in beiden F\u00e4llen jene lebhafte Bewegung nach vorn einmal als Folge \u00e4usserer Reize, das andere Mal als hervorgegangen aus dem Versuche, sich spontan zu bewegen, welcher nur nicht mehr in normaler Weise gelang. Aber dies sind nur Vermuthungen, denen ich weiter keinen als den Werth beilege, klar zu machen, was ich meine. Um nun auf die Resultate Ferrier\u2019s 1 m kommen, so gehen sie dahin, dass sie dem nucleus caudatus zwar im Allgemeinen motorische Functionen zusprechen, aber bei verschiedenen Thieren in verschiedenem Grade. Beim Menschen und Affen soll die vollst\u00e4ndige Zerst\u00f6rung des Streifenh\u00fcgels dauernde, beim Hunde vor\u00fcbergehende Paralyse der gegen\u00fcberliegenden Seite geben. Das Kaninchen soll nach derselben Verletzung gleichfalls Parese der contralateralen Glieder zeigen, sich jedoch noch auf den F\u00fcssen erhalten und auf Reize fortspringen k\u00f6nnen. Ferrier sieht den Streifenh\u00fcgel als einen Hirntheil an, der zu den willk\u00fchrlich motorischen Bewegungen in \u00e4hnlicher Beziehung stehe, wie die sogenannten motorischen Centren der Gehirnrinde zu eben denselben; bei verschiedenen Thiergattungen aber sei die Bedeutung beider Arten von Centren f\u00fcr die Bewegung eine verschiedene. Augenscheinlich bedarf es nach dieser Darstellung noch erneuter Versuche, um die Physiologie des Streifenh\u00fcgels vollst\u00e4ndig aufzukl\u00e4ren. Ueber den als Lin sen kern bekannten Theil des cor-\n1 Ferrier, Die Functionen etc. S. 279 ff.","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"Linsenkern.\n135\npus striatum bat meines Wissens bis jetzt nur Nothnagel 1 Versuche angestellt. Diesen zufolge giebt jede mechanische Verletzung des Linsenkerns, gleichg\u00fcltig an welcher Stelle, eine motorische L\u00e4hmung. Stets findet man, dass sich eine eigenth\u00fcmliche Deviation der Beine \u2014 der entgegengesetzten der Mittellinie zugekehrt, der gleichseitigen nach ausw\u00e4rts \u2014 entwickelt. Diese Erscheinungen kommen nach Nothnagel auch nach anderen Hirnl\u00e4sionen vor; mithin scheint es, als ob in dieser Beziehung von einer specifischen Function des Linsenkerns kaum die Rede sein k\u00f6nne. Verletzungen der Mitte oder des vorderen Theiles des Linsenkerns f\u00fcgen zu der gedachten L\u00e4hmung noch eine Verkr\u00fcmmung der Wirbels\u00e4ule, die Concavit\u00e4t nach der der verletzten Seite entgegengesetzten, hinzu. Ob der Beweis gen\u00fcgend gef\u00fchrt ist, dass es sich hier um eine L\u00e4hmung und keine Reizung handle, bleibe dahingestellt; das allm\u00e4hliche Verschwinden der Erscheinungen ist, falls es sich um L\u00e4hmung handelt, noch n\u00e4her zu erl\u00e4utern. Von nur einigermassen begr\u00fcndeten Beziehungen der beiden Bestandtheile des corpus striatum zu den Empfindungen ist bislang nichts bekannt geworden.\nEs wird n\u00fctzlich sein, den vorausgegangenen Mittheilungen \u00fcber das Thats\u00e4chliche, welches von den verschiedenen Theilen des Gehirns ausgemittelt worden ist, noch einige Betrachtungen hinzuzuf\u00fcgen, theils um Missverst\u00e4ndnisse, die sich leicht einschleichen k\u00f6nnen, zu vermeiden, theils die Thatsachen und ihre Bedeutung noch einmal in einer condensirteren Form zu \u00fcberblicken. In unserer Darstellung kam stets eine erste Gruppe von Erfahrungen vor, welche das Verhalten von Thieren enthielten, denen man mehr oder weniger Hirn-theile abgetragen, andere gelassen hatte. Man hat sich daran gew\u00f6hnt, zu sagen, der Complex von Th\u00e4tigkeiten, welcher noch besteht, dr\u00fcckt die Function der noch restirenden, der der ausgefallenen, die der abgetragenen Hirntheile aus. Ob diese Gewohnheit ausreichend begr\u00fcndet ist? Wohl mag der erste Theil des Schlusses nicht falsch sein, aber er kann m\u00f6glicher Weise die Bedeutung der belassenen Theile unvollst\u00e4ndig ausdr\u00fccken, da denkbar ist, dass ihnen in Verbindung mit den abgetragenen Th\u00e4tigkeiten zukommen, welche sie einzeln ausser Stande sind, zu vollziehen und wobei sie keineswegs zu Dienern herabzusinken brauchen. Nicht minder ist m\u00f6glich, dass Das, was wir als Functionen der entfernten Theile ansehen, zum Theil aus der Verkn\u00fcpfung mit den noch vorhandenen resultirt. Doch hier\u00fcber verm\u00f6gen wir zur Zeit nicht zu entscheiden und wir k\u00f6nnen\n1 Nothnagel, Experimentelle Untersuchungen des Gehirns. Arch. f. pathol. Anat.LVII.S. 184.206.","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nunsere Gewohnheit bis auf Weiteres beibehalten. An den verschiedenartigen Pr\u00e4paraten aber beobachteten wir verschiedene motorische Eigenschaften und ausser denselben eigenth\u00fcmliche Zeichen, die den Eindruck hervorrufen konnten, als seien sie Aeusserungen eines seelischen Princips. Beiden Eigenthtimlichkeiten begegneten wir auch bei der zweiten Art der Versuche, die in L\u00e4sionen verschiedener Hirniheile bestanden. Die ersteren noch einmal zusammengestellt, und dabei nur diejenigen betont, \u00fcber welche gar keine, oder nur unbedeutende Differenzen bestehen, so hat sich ergeben: S\u00e4ugethiere mit bis zur Insertion des Cerebellums hin verl\u00e4ngertem Mark, stossen auf Reize einen kurzen Schrei aus, solche mit bis Br\u00fccke und Vierh\u00fcgeln hin inch erhaltener Cerebrospinalaxe lassen unter denselben Umst\u00e4nden einen l\u00e4ngeren Schrei h\u00f6ren und wiederholen ihn zuweilen. Fr\u00f6sche mit inch des Cerebellums verl\u00e4ngertem Mark streben stets mit Erfolg aus der R\u00fcckenlage in die Bauchlage und entfliehen langsam bis zu gegen 28 0 R. erw\u00e4rmtem Wasser, wozu der nur noch mit R\u00fcckenmark versehene Frosch keinen Versuch macht. Fr\u00f6sche, deren Hirn vor den Thalami quer getrennt ist, entgehen sicher durch entsprechende Bewegungen unsicheren Gleichgewichtslagen auf schiefen Ebenen. Weniger sicher thun sie dies, wenn ein Schnitt die Thalami von den Lobi optici trennte und gar nicht mehr, falls die Trennung hinter den letzteren vorgenommen wird. Weiterhin kommen sie, unter Wasser getaucht, selbst unter sehr verwickelten Verh\u00e4ltnissen, an die freie Wasseroberfl\u00e4che, um Athem zu sch\u00f6pfen. S\u00e4ugethiere, V\u00f6gel und Fr\u00f6sche haben noch Gesichtswahrnehmungen, wenn das Grosshirn abgetragen wird und verlieren sie bei Zerst\u00f6rung der Seh-und Vierh\u00fcgel. Minder sicher, wenn auch durch mehre Versuche angedeutet, ist die Existenz anderer Sinneswahrnehmungen bei gleicher Verst\u00fcmmelung. Es fragt sich, wie weit ist der Eindruck, den wir durch solche Zeichen von noch bestehendem Seelenleben bei Thieren mit verschiedenartig verst\u00fcmmeltem Gehirn erhalten, zu einer wissenschaftlichen Ueberzeugung umzugestalten'? F\u00fcr Thiere, denen nur die Grosshirnhemisph\u00e4ren abgetragen worden sind, werden wir in der Thatsache, dass sie noch sehen und ihre Bewegungen augenscheinlich nach diesen Wahrnehmungen einrichten, kaum leugnen, dass sie noch Seelenth\u00e4tigkeiten entwickeln; da wir von solchem Benehmen ohne die letzteren keine gen\u00fcgende Vorstellung haben. Um die Existenz von Seelenth\u00e4tigkeiten solcher physiologischer Objecte darzu-thun brauchte man demnach keinen weiteren Beweis. Doch ist\u2019s nicht \u00fcberfl\u00fcssig, zu bemerken, dass in den Versuchen, die unsere Pr\u00e4parate machen, unsichern Gleichgewichtslagen zu entgehen, sich","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckblick auf die Functionen der verschiedenen Hirntheile.\n137\ngleichfalls das Vorhandensein von Seelenth\u00e4tigkeiten noch ausspricht. Wenn der grosshirnlose Frosch auf einer schiefen Ebene erhoben wird, so sehen wir ihn dabei so sehr zweckentsprechende Bewegungen und diese so andauernd machen, dass f\u00fcr unsere Vorstellung von der Entstehung derselben die gegenw\u00e4rtigen Begriffe der Reflexbewegungen nicht ausreichen, und wir m\u00fcssen schliessen, dass das Thier eine Art Vorstellung von seiner unsichern Lage habe. Ueber die Versuche zum Athem-holen solcher Thiere als die Existenz von Seelenth\u00e4tigkeiten beweisend, kann gestritten werden. Diese sichern Reste seelischer Th\u00e4tigkeit werden in den Gegenden der Seh- und Zweih\u00fcgel ausge\u00fcbt; denn nach einem Querschnitt hinter den letzteren schwinden sie. Wie steht es aber mit den etwaigen Seelenth\u00e4tigkeiten solcher Pr\u00e4parate, welche nur noch aus der Br\u00fcckengegend, dem Cerebellum und dem verl\u00e4ngerten Mark bestehen? Zur Zeit l\u00e4sst sich keine andere Antwort geben, als die, dass die Reactionen solcher auf Seelenth\u00e4tigkeiten unsicher sind und mit \u00fcberzeugender Bestimmtheit weder in dem einen noch anderen Sinn sprechen. Solche Thiere stossen zwar auf Reize einen kurzen Schrei aus, verhalten sich Temperaturen gegen\u00fcber eigen-th\u00fcmlich, nehmen stets die Bauchlage ein u. dgl. Aber die s\u00e4mmt-lichen da vorkommenden Bewegungen sind sehr einfacher Natur und von so wenig Umst\u00e4nden begleitet, die ausreichende Anhaltspunkte f\u00fcr das Bestehen von Seelenth\u00e4tigkeiten liefern k\u00f6nnten. Besonders beachtenswertk f\u00fcr die Meinung, dass bereits im verl\u00e4ngerten Mark die Bildung der Seelenth\u00e4tigkeit beginne, sind die beiden letzten der eben genannten Erscheinungen, da diese Bewegungen durch Empfindungen hervorgerufen scheinen; aber bei einigem Zwang kann man sogar auch bei ihnen die Seelenth\u00e4tigkeiten wegdisputiren. Es bleibt allerdings daher mehr dem Geschmack des Einzelnen \u00fcberlassen, wie er sich zu dieser Angelegenheit stellen will, und es scheint mir von keinem besonderen Nutzen zu sein, zu Gunsten der einen oder anderen Meinung Erw\u00e4gungen vorzuf\u00fchren, bei denen der W\u00e4rme und Poesie der Darstellung eine gr\u00f6ssere Bedeutung als der ruhigen Reflexion zuf\u00e4llt. Was die dem Gehirn eigenth\u00fcmlichen Bewegungsmechanismen anlangt, selbstverst\u00e4ndlich hier nur diejenigen in Betracht gezogen, welche auf die willk\u00fchrlichen Bewegungen Bezug haben, so sind diese auf dem Raume vom untersten Ende des verl\u00e4ngerten Marks bis inch der Thalami angebracht. Dieselben sind durch die folgenden Eigenschaften charakterisirt. Einer spontanen Anregung sind dieselben nicht f\u00e4hig, sie lassen sich aber anregen durch die Reizung peripherer Nerven und durch directen Eingriff. Je vollst\u00e4ndiger sie noch vorhanden sind, desto unzweifelhaftere Spuren","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 4. Cap. Andere Functionen d. R. u. G.\nvon Sinnesth\u00e4tigkeiten sind auch noch bemerkbar. In wieweit sich diese Verkn\u00fcpfung lockern l\u00e4sst, wissen wir zur Zeit nicht. Es w\u00e4re jedenfalls interessant, zu versuchen, ob es gelingen m\u00f6chte durch centrale Verletzung etwa den Frosch der Reste seines Gesichts und der Vorstellungen von seiner K\u00f6rperlage zu berauben mit wesentlicher Beibehaltung seines Verm\u00f6gens der Sprungbewegung. Wie sich aus den mitgetheilten Versuchen ergibt, sind bei allen Wirbelthieren im Grossen und Ganzen die Mechanismen, welche der Ortsbewegung dienen, vorzugsweise im vorderen Theile der genannten Gegend, also in der der Vierh\u00fcgel, diejenigen zur Erhaltung des aufrechten nat\u00fcrlichen Standes und des Gleichgewichtes in der Gegend der Br\u00fccke, des Kleinhirns und verl\u00e4ngerten Marks localisirt. Scharfe Grenzlinien scheinen kaum zwischen beiden Abschnitten zu bestehen und bei den verschiedenen Thieren scheinen Verschiedenheiten vorhanden zu sein. Bei Anwesenheit beider Abtheilungen machen die Thiere noch Ortsbewegungen, ist die hintere nur noch allein vorhanden, so kommt es zu solchen nicht, es treten dann nur Gliederbewegungen auf, die in vielen F\u00e4llen complicirter und von l\u00e4ngerer Dauer, als die durch das R\u00fcckenmark vermittelten Reflexe sind. Greift man die motorischen Centren direct mechanisch an, so sind die Erfolge andere, als wenn man das R\u00fcckenmark direct erregt. Vor allen Dingen sind die sogenannten Zwangsbewegungen bei einseitigem Eingriff in jene dem Gehirn so eigenth\u00fcmlich, dass eine einseitige Verletzung des R\u00fcckenmarks nie zu derartigen Bewegungen f\u00fchrt. Beim Gehirn aber treten sie vom verl\u00e4ngerten Mark an, wie es scheint ohne Unterbrechung bis zu den Sehh\u00fcgeln in der einen oder anderen Form auf. Sehr oft gelingt es, dieselben, nachdem sie central angeregt, verschwunden sind, durch peripherische Erregungen wieder auf kurze Zeit hervorzurufen. Es mag sein, dass in einzelnen F\u00e4llen Einfl\u00fcsse vom Grosshirn mit dabei im Spiel sind, da sie aber nach vorg\u00e4ngiger Abtragung des Grosshirns in derselben Weise hervorgerufen werden k\u00f6nnen, so ist wohl die Annahme nat\u00fcrlicher, dass sie einer eigent\u00fcmlichen Erregung der motorischen Mechanismen selbst ihren Ursprung verdanken. Die Entstehung durch peripherische Ursachen w\u00e4re dann so aufzufassen, dass dieselben nicht mehr den in-tegren motorischen Mechanismus zu seiner normalen Th\u00e4tigkeit, sondern den anatomisch und physiologisch gest\u00f6rten anregen. Offenbar m\u00fcssen aber jene Mechanismen in einer ganz besonderen Form angeregt werden; denn nicht jede beliebige Erregung erzeugt sie; es k\u00f6nnen auch andere Effecte, wie das oben ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert worden ist, auftreten. Zur\u00fcckweisen l\u00e4sst sich dabei die Annahme aller-","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"R\u00fcckblick auf die Functionen der verschiedenen Hirntheile.\n139\ndings nicht, dass dabei auch den etwa noch bestehenden Empfindungen dienende Vorrichtungen mit im Spiele seien. So gibt Hitzig 1 von den Zwangsbewegungen die Erkl\u00e4rung, wenigstens f\u00fcr die durch Verletzung von Theilen des Kleinhirns entstehenden, dass er meint, die Zwangsbewegung sei eine willk\u00fchrliehe zur Aufrechthaltung des scheinbar gest\u00f6rten Gleichgewichts, indem durch die Operation das Thier den Eindruck bekomme, als l\u00e4ge es auf der unverletzten Seite und mache nun eine Bewegung, das scheinbar gest\u00f6rte Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Man kann zwar an dem Ausdruck willk\u00fckrlick Anstoss nehmen, weil die Zwangsbewegungen auch nach Abtragung der Hemisph\u00e4ren darstellbar sind, aber es gen\u00fcgt, damit die Vorstellung zu verbinden, die wir uns von den Bewegungen machen, die der grosshirnlose Frosch bei der Kenntniss seiner unsichern Lage bei seinen Kletterversuchen ausf\u00fchrt. Es kommen aber auch Zwangsbewegungen bei der Verletzung des verl\u00e4ngerten Marks vor, wo keine Beweise vorliegen, dass noch Vorstellungen durch diesen Theil erzeugt werden k\u00f6nnen. Auf alle F\u00e4lle sind unsere Einsichten in diese motorischen Mechanismen zur Zeit nicht der Rede werth. Wir wissen von ihnen nur, wo sie im Allgemeinen gelegen sind und k\u00f6nnen uns vorstellen, wie sie vom Willen benutzt werden k\u00f6nnen, die ausserordentlich complicirten Locomotionsbewe-gungen etc. auf eine leichte Art hervorzubringen, aber, wie im einzelnen Fall aus der Mannigfaltigkeit derselben mit derselben Leichtigkeit eine einzelne wieder herausgegriffen werden kann und wie sogar innerhalb dieses Wirrsals von Verkettungen die Bewegung eines einzelnen Muskels ohne die geringste M\u00fche erm\u00f6glicht ist, \u00fcbersteigt unsere Begriffe.\nEs f\u00e4llt vielleicht auf, dass ich in diesem Kapitel so viele Versuche zweifelhaften Resultates und ausgepr\u00e4gten Widerspruchs vorgef\u00fchrt habe. Dies geschah in der Absicht, um dem Leser die Richtungen vollst\u00e4ndig vorzuf\u00fchren, in denen die Bearbeitung dieses unklaren Gebietes angestrebt worden ist. Wir Physiologen bedauern zwar, dass wir zur Zeit noch nichts Besseres geben k\u00f6nnen, aber wir verzagen nicht. Wir entnehmen daraus Veranlassung zu neuem Eifer, um so mehr, als wir wissen, dass es von jeher der Gang in-ductiver Forschung war, durch Unklarheit und Verwirrung hindurch sich zur Klarheit emporzuarbeiten. Auf keinem Gebiete der Naturforschung war es je anders. Der Hirnphysiologie ist eine ganz besonders schwere Aufgabe geworden. H\u00f6chste Zartheit, Verg\u00e4nglich-\n1 Hitzig-. Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. S. 269. 1874.","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nkeit und Complicirtheit sind die Eigenschaften des Mechanismus, den wir auf kl\u00e4ren sollen; kein Wunder, dass es so langsam vorw\u00e4rts geht. Nur der Unkundige und Unverst\u00e4ndige kann es tadeln, dass es nicht anders ist.\nF\u00dcNFTES CAPITEL.\nDas Cerebrospinalorgan als Leitnngsorgan der Innervationsvorg\u00e4nge.\nEinleitung.\nWenn von diesem Gegenstand die Rede ist, so haben wir in der Regel nur die Topographie der Wege im Sinne, auf welchen sich irgendwo erregte Innervationsvorg\u00e4nge bewegen und unwillkiihrlich verbindet sich damit die Vorstellung, als schritten jene innerhalb des R\u00fcckenmarks und Gehirns \u00fcberall gleichm\u00e4ssig, wie in einem isotropen Mittel fort. Diese Vorstellung ist jedoch irrig; die Physiologie weiss, dass eine solche Gleichm\u00e4ssigkeit der Verbreitung der Innervationsvorg\u00e4nge nur auf gewissen Strecken bestehen kann ; sie kennt eine Reihe von Thatsachen, aus denen hervorgeht, dass im Verlaufe der Innervationswege stellenweise sich Einrichtungen vorfinden m\u00fcssen, in denen jene Gleichm\u00e4ssigkeit unterbrochen ist. Wohl mangelt es uns zur Zeit noch an einer vollst\u00e4ndigen Einsicht in die Natur derselben, aber die Beweise der Existenz derselben sind zu erbringen. In der allgemeinen Physiologie der Ganglienzelle sind dieselben bereits kurz angedeutet worden ; hier sind sie noch etwas n\u00e4her zu besprechen.\nDer eine derselben ist in der zeitlichen Verz\u00f6gerung gegeben, welche die Fortschreitung des Innervationsvorganges w\u00e4hrend seines Verlaufes durch Gehirn und R\u00fcckenmark erleidet, verglichen mit der Schnelligkeit desselben in den peripherischen Nerven. So sagen es wenigstens diejenigen Versuche aus, zu denen man wegen der umsichtigen und kritischen Art, mit der sie angestellt worden sind, das meiste Vertrauen haben kann und welche am wenigsten mit anderen neurologischen Erfahrungen in Widerspruch kommen. Um die Fortpflanzungsgeschwindigkeit in den sensiblen Bahnen des R\u00fcckenmarks des Menschen zu bestimmen, mass Exner 1\n1 Sigm. Exner, lieber die pers\u00f6nliche Gleichung. Arch. f. d. ges. Physiol. VIL S. 632. 1873.","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"Verz\u00f6gerung der Leitung im R\u00fcckenmark.\n141\neinerseits die Zeit, welche verfloss vom Moment eines Reizes, welcher eine Zehe des linken Fusses traf, bis zu einer willkiihrlichen Bewegung, welche die rechte Hand ausf\u00fchrte, sobald der Reiz zum Bewusstsein kam, andererseits die analoge Zeit, welche verging von dem Moment, in welchem derselbe Reiz einen Finger der linken Hand traf, bis zu derselben Bewegung mit der rechten Hand. Die Differenz beider Reactionszeiten konnte nach Abzug Dessen, was auf die l\u00e4ngere sensitive Bahn der Beinnerven kommt, nur begr\u00fcndet sein in der gr\u00f6sseren Wegstrecke, welche der sensible Innervationsvorgang im ersteren Falle innerhalb des R\u00fcckenmarks zu durchlaufen hatte, da die s\u00e4mmtlichen \u00fcbrigen Umst\u00e4nde in beiden Versuchsarten dieselben waren. Unter Zuhilfenahme der gemessenen Entfernung zwischen Lenden- und Halsanschwellung hat Exner f\u00fcr die sensible Leitung im R\u00fcckenmark eine Geschwindigkeit von ca. 8 Metern in der Secunde' abgeleitet. F\u00fcr den Menschen hat Exner bei Gelegenheit dieser Untersuchung auch die motorische Leitung im R\u00fcckenmark auf ihren zeitlichen Verlauf gepr\u00fcft. Nach zwei verschiedenen, daselbst nachzusehenden Methoden fand er 11\u201412 und 14\u201415 Meter Fortpflanzungsgeschwindigkeit in der Secunde mit m\u00f6glichen Fehlern von einigen Metern. Auch am Frosch hat Verf.1 experi-mentirt. Er kommt dabei bez\u00fcglich der motorischen Leitung zu dem Resultat, dass im Grosshirn erzeugte Innervationsvorg\u00e4nge in diesem, dem Mittelhirn und dem verl\u00e4ngerten Mark st\u00e4rkere Verz\u00f6gerungen als im R\u00fcckenmark erleiden, dieselben in letzterem aber immerhin noch merkbar genug sind, um als eine Eigenschaft des R\u00fcckenmarks gegen\u00fcber den motorischen Nerven hervorgehoben zu werden. Die Abnahme der Verz\u00f6gerung soll ausserdem am Mittelhirn und am Austritt der Nerven am R\u00fcckenmark schneller, als an anderen Stellen geschehen. Ich glaube, dass die am Frosch gewonnenen Resultate in ihrem ganzen Umfang mit einiger Vorsicht aufzunehmen sind. Herr Exner ist nicht immer positiv genug und die Erfahrung, dass die electrischen Erregungen des Grosshirns ihm nur manchmal Bewegungen 2 ergeben haben, kann Zweifel erregen, ob in diesen F\u00e4llen die Innervationsvorg\u00e4nge wirklich die Wegl\u00e4ngen durchlaufen haben, welche in Rechnung gezogen worden sind. Absolute Werthe f\u00fcr die\n1\tSigm. Exner, Ueb. Reflexzeit u. R\u00fcckenmarksleitung. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII. S. 532.1874.\n2\tIch weiss recht gut, dass O. Langendorff : Ueber die electr. Erregbarkeit d. Grosshirnhemisph. d. Frosches. Centralbl. f. d. med. Wiss. S. 945. 1876 angibt, eine motorische Zone am parietalen Theile des Froschhirns aufgefunden zu haben; ich selbst aber habe mich nicht befriedigend von der Richtigkeit dieser Angabe \u00fcberzeugen k\u00f6nnen.","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142 Eckhard, R\u00fcckenmark n. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nFortpflanzungszeit der motorischen Leitung im R\u00fcckenmark des Frosches hat Cyon 1 gegeben. Er hat das R\u00fcckenmark direct erregt und dabei den sehr geringen Werth von 1\u20143 Metern in der Secunde gefunden. Ist den Angaben Burckhardt\u2019s 1 2, der \u00fcbrigens die motorische Leitung im R\u00fcckenmark des Menschen nicht wesentlich andere als Exner, n\u00e4mlich zu 8\u201414 Meter in der Secunde fand, Vertrauen zu schenken, so w\u00fcrden sich die den Tasteindr\u00fccken entsprechenden Innervationsvorg\u00e4nge schneller, als solche, welche der Fortpflanzung der Schmerzeindr\u00fccke dienen, bewegen. F\u00fcr die ersteren gibt er 27 \u2014 50, f\u00fcr die letzteren nur 8\u201414 Meter Geschwindigkeit f\u00fcr die Secunde. Sehr verschieden von diesen massigen Werthen sind die Angaben von Bloch3 f\u00fcr die sensible Leitung im R\u00fcckenmark des Menschen von 194 Meter in der Secunde. Ob diese bedeutende Abweichung in einigen unbewiesenen Annahmen liegt, die der Verf. macht, oder einen anderen Grund hat, mag uner\u00f6rtert bleiben. LTn-gew\u00f6hnliche Verz\u00f6gerungen des Fortschreitens sensibler Innervationsvorg\u00e4nge sind bei Menschen und Thieren bei Erkrankungen der hinteren Str\u00e4nge, oder absichtlichen Verletzungen derselben bekannt geworden. Auch bei diesen Gelegenheiten hat man wahrgenommen, dass bisweilen die Eindr\u00fccke des Schmerzes merklich sp\u00e4ter als die der Ber\u00fchrung zum Bewusstsein kommen.4 5 Dass \u00fcbrigens die Tragweite der aus Beobachtungen dieser Art gezogenen Schl\u00fcsse durch unsere Unkenntniss von der wahren L\u00e4nge der Nervenwege innerhalb des R\u00fcckenmarks sehr beeintr\u00e4chtigt wird, habe ich schon oben S. 21 angemerkt.\nDie zweite Erfahrung, aus welcher hervorgeht, dass die Fortbewegung der Innervationsvorg\u00e4nge in Gehirn und R\u00fcckenmark, wenigstens der motorischen, nicht genau so wie in den peripherischen Nerven geschieht, besteht, wie oben bereits erw\u00e4hnt, in der zuerst von du Bois-Reymond 5 gemachten Beobachtung, dass die directe Erregung des R\u00fcckenmarks mit Inductionsstr\u00f6men einen Muskelton von geringerer Schwingungszahl giebt, als man nach der Zahl der ersteren erwarten m\u00fcsste, wenn es sich im R\u00fcckenmark um die reine Erregung der unge\u00e4nderten Fortsetzungen der peripherischen, motorischen Nerven handelte, da bekanntlich diese bei electrischer Reizung durch\n1\tCyon, Ueber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit d. Erregung im R\u00fcckenmark. Bull, de Tacad. etc. de St. Petersb. XIX. p. 344. 187.\n2\tG. Burckhardt, Die physiologische Diagnostik d. Nervenkrankheiten. Leipzig 1875.\n3\tA. Bloch, Exp\u00e9riences sur la vitesse du courant nerveux sensitif de l\u2019homme. Archiv, d. physiol, norm, etpathol. 1875. S. 583.\n4\tE. Leyden, Klinik der R\u00fcckenmarkskrankheiten. I. p. 145.\n5\tdu Bois-Reymond, Monatsberichte der Berliner Akad. 31. M\u00e4rz 1859.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"Verz\u00f6gerung der Leitung. Muskelton bei Erregung des Gehirns und Marks. 143\nInductionsstr\u00f6me einen Muskelton geben, dessen H\u00f6be der Zabi der Inductionsst\u00f6sse entspricht. F\u00fcr die willk\u00fchrlich tetanisirten Muskeln ist sp\u00e4ter von Helmholtz 1 die Schwingungszahl 19 gefunden worden, obschon dem h\u00f6rbaren Muskelton die doppelte Schwingungszahl zukommt. Als derselbe ferner bei Kaninchen und Fr\u00f6schen das R\u00fcckenmark durch einen 120 Schwingungen gebenden Inductions-apparat erregte und mitschwingende Federn zweckm\u00e4ssig anlegte, schwangen diese deutlich mit, wenn sie auf 16\u201418 Schwingungen eingestellt wurden. Diese Erfahrungen sagen aus, dass die willk\u00fchrlich erregten Muskelnerven in dieselben Erregungszust\u00e4nde verfallen, wie die, welche durch electrische Tetanisirung des R\u00fcckenmarks erzeugt werden und zugleich, dass in den Centraltheilen man es nicht mit Nervenwegen von so einfacher Natur zu thun hat, wie in den peripherischen Nerven. Es lohnte sich wohl der M\u00fche die Methoden \u00fcber diesen Gegenstand feiner auszubilden, das R\u00fcckenmark an verschiedenen Stellen zu erregen und daraus R\u00fcckschl\u00fcsse auf den physischen Bau des ersteren zu versuchen. Ebenso w\u00e4re es noch interessant zu erfahren, ob das Cerebrospinalorgan auch umgekehrt die F\u00e4higkeit hat, niedere Schwingungszahlen k\u00fcnstlicher Erregungen in h\u00f6here zu verwandeln, obschon dies wenig wahrscheinlich ist. \u2014 Indem wir uns nun der Betrachtung der Topographie der Ner-venwege innerhalb des Gehirns und R\u00fcckenmarks zuwenden, ist zu bemerken, dass unsere Kenntnisse \u00fcber diesen Gegenstand noch ausserordentlich mangelhaft sind. Die meiste Aufmerksamkeit hat man bisher der Erforschung der Lage der willk\u00fchrlich motorischen und bewusst sensiblen Bahnen zugewandt; erst in der neueren Zeit hat man auch die der Gef \u00e4ss- und anderer Nerven in Betracht gezogen ; in den \u00e4lteren Arbeiten finden sich kaum Andeutungen \u00fcber die letzteren.\nMethoden.\nMit Hilfe des Micros cops ist ausserordentlich wenig \u00fcber die Lagerung der Innervationswege zu erfahren. Ohne vorbereitende experimentelle Erfahrung deckt es weder den Verlauf einer motorischen noch sensibeln oder anderen Nervenfaser auf; denn bis jetzt ist kein verl\u00e4sslicher microscopischer Unterschied der verschiedenen Nervenfasergattungen ausserhalb oder innerhalb der Centralorgane bekannt. Selbst f\u00fcr den Fall, dass man es mit jenem unternimmt, die ausserhalb jener durch irgend eine Erfahrung ihrer physiologi-\n1 Helmholtz, Ueber den Muskelton. Verhandl. d. naturh. Vereins zu Heidelberg. IV. S. 89. 1868.","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nsehen Natur nach gekennzeichnete Nervenfaser innerhalb des Marks zu verfolgen, wird der Verlauf derselben immer nur auf kurze Strecken erschlossen. In einzelnen F\u00e4llen aber kann ein solches Bruchst\u00fcck von hohem Werth sein, und die Physiologie wird sich dieses obschon hier mangelhaften Hilfsmittels nicht begeben.1 Die experimentelle Pr\u00fcfung bedient sich entweder der Durchschneidung, zu welcher auch die beim Menschen nach gewissen Hirn- und R\u00fcckenmarksverletzungen beobachteten L\u00e4hmungserscheinungen zu rechnen sind, oder der Methode der Reizung. So unverf\u00e4nglich diese beiden Verfahrungs-arten scheinen, so viel Vorsicht verlangt ihre Anwendung. Hirn und R\u00fcckenmark sind nicht einfach neben einander gelegte Innervationswege und der Erfolg an ihnen vorgenommener Trennungen und Reizungen muss mit Sachkenntniss interpretirt werden. Insbesondere sind die nach Durchschneidungen fortbestehenden Bewegungen oder anscheinlichen Zeichen von Empfindungen wegen der Reflexph\u00e4nomene mit M\u00fche auszudeuten und oft l\u00e4sst sich gar kein Entscheid dar\u00fcber treffen, ob es sich dabei um durch das bewusste Gehirn vermittelte Erscheinungen oder um einen Reflex handelt. Viele der \u00e4lteren Versuche, die einer scharfen Kritik nicht unterzogen worden sind, haben wenn nicht allen, so doch den gr\u00f6ssten Theil ihres angeblichen Werthes eingeb\u00fcsst. Freilich w\u00e4chst die Kritik auch erst mit der Einsicht in die Natur eines Gegenstandes und es haben viele Versuche, denen wir heute die Beweisf\u00e4higkeit f\u00fcr eine gewisse Lehre absprechen m\u00fcssen, immerhin dazu beigetragen, die ersten Anf\u00e4nge zu gewinnen. Auch bei der Bestimmung der Lage der der Innervation der Gef\u00e4sse dienenden Wege ist die empfohlene Strenge am Ort. Die Gef\u00e4ssnervencentren sind zerstreut, sie sind von den verschiedensten Seiten her reflectorisch erregbar, sie sind unter sich verkn\u00fcpft, sie sind von verschiedener Wirkungsweise. Die Beurtkei-lung, was die Folgen eines Durchschneidungsversuches des R\u00fcckenmarks an dem Gef\u00e4sssysteme in Bezug auf die Lagerung von Ge-f\u00e4ssinnervationswegen aussagt, ist also auch hier vorsichtig zu erw\u00e4gen. Auch die Methode der Reizung hat in der hier vorliegenden Anwendung ihre T\u00fccken. Es ist ein erstes Erforderniss, allzeit die Regeln lebendig pr\u00e4sent zu haben, welche die Physiologie f\u00fcr die electrischen Reizmethoden durch harte Erfahrungen nach und nach kennen gelernt hat und weiterhin daran zu denken, dass man es beim R\u00fcckenmark und Gehirn mit k\u00f6rperlichen Leitern zu thun hat, bei denen es nur durch besondere Vorsichtsmassregeln gelingt,\n1 Yergl. hierzu die letzten Abschnitte dieses Capitels.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"Directe Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks.\n145\ndie wirksamen Stromfractionen auf die Bahnen einzuengen, die man pr\u00fcfen will. Andere Reizmethoden verlangen aus anderen, sich von selbst verstehenden R\u00fccksichten, dass man die Eilfertigkeit meide. Vor allen Dingen aber ist zu bedenken, dass in der Nervenphysio-logie eine Lehre existirt, nach welcher Hirn und R\u00fcckenmark, allerdings mit gewissen Einschr\u00e4nkungen, durch direct auf diese einwirkende, k\u00fcnstliche Reize nicht erregbar sein sollen. Es ist hier der Ort, von dem jetzigen Stand derselben Kenntniss zu nehmen.\nErregbarkeit des Gehirns und R\u00fcckenmarks durch directe\nReize.\nEin Theil dieses Punktes f\u00e4llt dem Bearbeiter des Artikels Grosshirnrinde in unserem Buche zu. Hier muss das Wesentlichste des \u2022 auf das R\u00fcckenmark sich beziehenden Theiles dieser Lehre eine Stelle finden. Ich bemerke, dass von der Zeit an, wo die experimentellen Arbeiten \u00fcber das R\u00fcckenmark anfingen, bis in die 40 er Jahre dieses Jahrhunderts hinein, die Physiologen in ihren Arbeiten \u00fcber das R\u00fcckenmark sich so benehmen, als sei die directe Erregbarkeit der R\u00fcckenmarkssubstanz eine nicht zu bezweifelnde Sache, obschon sie Veranlassung hatten, eine besondere Pr\u00fcfung dar\u00fcber vorzunehmen, da ihnen nicht unbekannt sein konnte, dass bereits Aristoteles und der ihnen n\u00e4her liegende Humboldt dem Gehirn eine directe Erregbarkeit absprachen, w\u00e4hrend Beobachter aus der Zeit Haller\u2019s ihm diese Eigenschaft zuertheilten. Im Jahre 1841 behauptete zuerst van Deen 1 die Nichterregbarkeit der R\u00fcckenmarkssubstanz durch k\u00fcnstliche Reize, die Physiologen der damaligen Zeit schienen diesen Angaben jedoch keinen Glauben beizumessen.1 2 3 Nur Schiff 3 schloss sich, wenn auch mit gewissen Modificationen, dieser Lehre schon fr\u00fch an. Nach diesem Physiologen sind die hinteren grauen Str\u00e4nge und diejenigen Bestandtheile der hinteren weissen, welche nicht directe Fortsetzungen der Nervenwurzeln darstellen, allerdings f\u00e4hig, die den Empfindungen dienenden Innervationsvorg\u00e4nge fortzupflanzen, es k\u00f6nnen aber die letzteren nicht durch unsere gew\u00f6hnlichen, k\u00fcnstlichen Reizmittel direct in ihnen\n1\tIch citire hierzu nur : J. van Deen, Ueber d. Gef\u00fchllosigkeit d. R\u00fcckenmarks f\u00fcr fremde Einfl\u00fcsse. Molesch. Unters. VI. S. 297. 1859; Ueber die Unempfindlichkeit der Cerebrospinalcentra f\u00fcr electrische Reize. Ebendas. VIL S. 280. 1800. In beiden Abhandlungen finden sich die fr\u00fcheren Publicationen van Deen\u2019s zusammengestellt.\n2\tVergl. Bischoff in seinem Jahresberichte der Physiologie f\u00fcr 1843 im Arch, f. Anat. u. Physiol. S. 122. 1844.\n3\tAn mehreren Orten seit 1853, besonders in seinem Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. S. 238. 286. 1858\u201459.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nerregt werden. Diese Bestandtheile des R\u00fcckenmarks werden als \u00e4sthesodische Substanz bezeichnet. F\u00fcr die vorderen grauen Str\u00e4nge und diejenigen Strecken der weissen vorderen Str\u00e4nge, welche nicht directe Fortsetzungen der vorderen Wurzeln sind, macht er eine analoge Angabe bez\u00fcglich der Bewegung und nennt diese Substanz die kin eso dis che. Seit jener Zeit, insbesondere seit der letzten Publication von van Deen ist dieser Gegenstand von einer Anzahl j\u00fcngerer Forscher vorgenommen worden, aber man kann kaum sagen, dass eine Uebereinstimmung erzielt w\u00e4re. Wenn in wissenschaftlichen Dingen durch Stimmenmehrheit zu entscheiden w\u00e4re, so w\u00fcrde die Partei van Deen in der Majorit\u00e4t sein. Da ich die Literatur1 2 3 \u00fcber diesen Gegenstand unten m\u00f6glichst vollst\u00e4ndig verzeichnet habe, so wird ein genaueres Eingehen auf die Arbeiten im einzelnen kaum n\u00f6thig sein ; ich f\u00fcge nur noch einige Bemerkungen hinzu. Die fragliche Lehre ist urspr\u00fcnglich nur in Bezug auf die willktihrlich motorischen und bewusst sensiblen Innervationsvorg\u00e4nge aufgestellt worden. Wenn in einzelnen Arbeiten andere Innervationen Vorkommen, so z\u00e4hlen diese streng genommen bei der Pr\u00fcfung jener auf ihre Richtigkeit nicht mit. Es liegen hier\u00fcber einige Angaben von Budge 2 und Dittmar 3 vor. Zufolge der Untersuchungen des ersteren gab bei S\u00e4ugethieren die electrische Erregung der\n1\tA. Chauveau, De l\u2019excitabilit\u00e9 de la moelle \u00e9pini\u00e8re etc. Journ. d. 1. physiol. IV. p. 29. 338. 369. 1861 ; Vulpian , Le\u00e7ons sur la physiologie g\u00e9n\u00e9rale et compar\u00e9e du syst\u00e8me nerveux, parBremonde. Paris 1866. Le\u00e7on XVI. Nur die graue Substanz des R\u00fcckenmarks ist der Einwirkung k\u00fcnstlicher Reize nicht mit Erfolg zug\u00e4nglich ; Sanders , Geleidingsbahnen in het ruggemerg voor de gevoelsindrukken. Groningen 1866. Findet bei Fr\u00f6schen, Tauben, Kaninchen etc. mit Chauveau, dass die Longitudinalfasern der Hinterstr\u00e4nge unerregbar sind; P. Guttmann, Ueber die Empfindlichkeit des Gehirns und R\u00fcckenmarks f\u00fcr mechanische, chemische und electrische Reize. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1866. S. 134. Selbst nach der Einverleibung von Strychnin zeigt sich das Mark noch nicht erregbar durch mechanische und electrische Reize; H. Engelken u. A. Fick, Ueber die Empfindlichkeit des R\u00fcckenmarks gegen electrische Reize. Arch.f. Anat. u.Physiol. 1867. S. 198. Gegen van Deen; S. Mayer, Ueber die Unempfindlichkeit der vord. R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge. Arch. f. d. ges. Physiol. I. S. 166. 1868. Gegen Engelken, indem er meint, es handle sich in dessen Versuchen um reflectirte Bewegungen; A. Fick, Ueber die Reizbarkeit der vorderen R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge. Arch. f. d. ges. Physiol. II. S. 414. 1869 ; Aladoff, Ueber die Erregbarkeit einiger Partien des R\u00fcckenmarks. Bull, de l\u2019acad. imp. des scienc. de St. Petersb. VII. 1869; Huizinga, Die Unerregbarkeit der vorderen R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge. Arch, f. d. ges. Physiol. III. S. 81. 1870. F\u00fcr van Deen; Mumm, Ueber die Reizbarkeit der vord. R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge. Berl. kl. Wochenschr. 1870. S. 8. Desgleichen; Wolski, Zur Frage \u00fcber die Unempfindlichkeit des R\u00fcckenmarks gegen \u00e4ussere Reize. Arch, f. d. ges. Physiol. Bd. V. S. 290. 1872. Desgleichen; Giannuzzi, Contribuzione alla conoscenza dell\u2019 eccitabilit\u00e0 etc. Ricerche eseguite nel gabinetto di fisiologia etc. di Siena 1872. p. 8. Schliesst sich mehr an Vulpian an.\n2\tJ. Budge, Ueber die Reizbarkeit der vorderen R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge. Arch. f. d. ges. Physiol. II. S. 511. 1869.\n3\tC. Dittmar, Ein neuer Beweis f\u00fcr die Reizbarkeit der centripetalen Fasern des R\u00fcckenmarks. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. der Wiss. 4. M\u00e4rz 1870.","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"Directe Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks.\n147\nY orderstr\u00e4nge Contractionen in der Blase; diese fehlten, wenn man die Vorderstr\u00e4nge eine Strecke ab trug und oberhalb dieser Stelle reizte. Dittmar trennte das quer durchschnittene R\u00fcckenmark der L\u00e4nge nach in zwei Theile; der eine derselben umfasste vorzugsweise die Hinterstr\u00e4nge, der andere den Rest. Nachdem er die vorderen Wurzeln des letzteren durchschnitten, reizte er denselben isolirt. Ein strompr\u00fcfender Froschschenkel sicherte die Annahme, dass sich merkbare Stromschleifen nicht zu anderen Theilen hin abzweigten. Man beobachtete dabei Drucksteigerung in der Carotis und der Verf. schliesst, dass direct erregbare centripetalleitende Elemente im R\u00fcckenmark liegen, durch welche reflectoriseh von der medulla oblongata aus die Gef\u00e4sse erregt werden. Was nun van Deen\u2019s Lehre in ihrer urspr\u00fcnglichen Fassung anlangt, So ist nach den Erfahrungen, welche wir mittlerweile \u00fcber die Reizbarkeit des Gehirns gemacht haben, es, wie Schiff angibt, ganz gut denkbar, dass gewisse Theile des Marks gar keinen sichtbaren Erfolg bei directer Reizung geben, w\u00e4hrend andere es thun. Die Pr\u00fcfung st\u00f6sst aber hier auf viel gr\u00f6ssere Schwierigkeiten, als beim Gehirn; diese liegen in der Anwesenheit der an der ganzen L\u00e4nge des R\u00fcckenmarks im Ganzen in geringen Entfernungen von einander angebrachten beiden Nervenwurzelarten, so dass es nicht f\u00fcr Jedermann leicht \u00fcberzeugend darzuthun ist, dass die Reize eine sensible und motorische Wurzel nicht treffen und dadurch Reflexe oder directe Bewegungen hervorrufen. Die Gegner der Lehre van Deen\u2019s bestehen nun aber gerade oft auf der Anwendung st\u00e4rkerer Reize, f\u00fcr welche die angegebene Gefahr entsprechend gr\u00f6sser wird. Uebrigens sind auch die Thatsachen, welche in der Lehre von den Hemmungsmechanismen der Reflexe mitgetheilt worden sind, sowie diejenigen, welche hernach \u00fcber Hyper\u00e4sthesie und Hyperkinesie noch besprochen werden, Momente, welche die aus den Versuchen zu ziehenden Schl\u00fcsse unsicher machen. Es ist auffallend, dass noch Niemand die Versuche auf das untere St\u00fcck des R\u00fcckenmarks des Frosches angewandt hat, welches bekanntlich von einer gewissen Stelle an unf\u00e4hig ist, Reflexbewegungen auszul\u00f6sen und doch noch lang genug, um nach Durchschneidung aller Nervenwurzeln bis etwa auf die letzte und vorletzte vorwurfsfrei gereizt werden zu k\u00f6nnen. Nach den oben erw\u00e4hnten Versuchen von A. Fick und Dittmar scheint man gegenw\u00e4rtig nicht abgeneigt, die Lehre van Deen\u2019s aufzugeben ; insbesondere sich auch nicht daran zu stossen, dass die directe Erregung der Vorderstr\u00e4nge nicht immer oder gar nicht solche Zuckungen giebt, wie die Reizung peripherischer Nerven, sondern solche, bei denen verschiedene Mus-\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nkelgruppen ungleichzeitig sich bewegen. Ob man sich dieser Ansicht schon jetzt ganz vertrauensvoll hingeben darf, scheint mir nach Dem, was ich gelegentlich gesehen habe, fraglich. Mag das Resultat der weiteren Untersuchung \u00fcber die directe Erregbarkeit des R\u00fcckenmarks und Gehirns ausfallen, wie es will, so viel geht aus den bisherigen Versuchen hervor, dass die Methode, durch directe Reizung der Substanz des R\u00fcckenmarks die Anordnung der Nervenwege in diesem zu ermitteln, zur Zeit kein grosses Vertrauen verdient, dagegen kann die Reizung derjenigen singul\u00e4ren Punkte des Gehirns, die bei ihrer Reizung unab\u00e4nderlich dasselbe Resultat erzeugen, unter gewissen Voraussetzungen dazu dienen, \u00fcber die Anordnung der motorischen Nervenwege innerhalb des Cerebrospinalorgans einigen Aufschluss zu geben und komme ich am passenden Ort auf diese Untersuchungsmethode des N\u00e4heren noch zu sprechen.\nI. Verlauf der motorisclien und sensiblen Innervationswege\niin R\u00fcckenmark.\nIch kehre zur Frage zur\u00fcck: Was ist \u00fcber die Topographie der willk\u00fcrlich motorischen und sensiblen Nervenwege innerhalb des Cerebrospinalorgans mit gr\u00f6sserer oder geringerer Sicherheit bekannt? Dass das R\u00fcckenmark und kein anderer Theil des K\u00f6rpers es ist, durch welchen die Wege der sensiblen und motorischen Innervationsvorg\u00e4nge f\u00fchren, hat zuerst Galen 1 bewiesen. Er durchschnitt boi jungen Schweinen das R\u00fcckenmark der Quere nach und beobachtete Verlust der Motilit\u00e4t und Sensibilit\u00e4t in den Theilen, die ihre Nerven unterhalb der Schnittstelle vom R\u00fcckenmark erhalten. Von der Anordnung der Wege, auf welchen die jenen Eigenschaften zu Grunde liegenden Vorg\u00e4nge sich fortpflanzen, gab er nur das eine Merkmal an, dass die auf eine K\u00f6rperseite sich beziehenden in der correspon-direnden R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte verbleiben. Er schloss dies daraus, dass die quere Durchschneidung einer Seitenh\u00e4lfte des Marks Empfindung und Bewegung derselben Seite unterhalb des Schnittes aufhebe, dass dagegen eine Spaltung des R\u00fcckenmarks in der L\u00e4ngsmittellinie beide Eigenschaften auf beiden Seiten bestehen lasse. Nach ihm ist dieser Gegenstand durch mehre Jahrhunderte hindurch unbearbeitet geblieben, selbst das Zeitalter Haller\u2019s hat den GALEN\u2019schen Angaben Nichts von Belang zugef\u00fcgt. Erst das gegenw\u00e4rtige Jahrhundert nahm ihn wieder auf, jedoch nicht in der Weise, dass es an die von\n1 Galen edit. K\u00fchn, De locis affectis lib. IV. cap. VII; de administr. anat. lib. VIII. cap. VI. VIII. IX.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"Innervationswege im R\u00fcckenmark.\n149\nGalen gemachte Angabe \u00fcber den Verlauf der genannten Nerven-wege auf derselben Seite, diese etwa pr\u00fcfend, ankn\u00fcpfte, sondern so, dass man zun\u00e4chst eine ganz andere Frage erhob, n\u00e4mlich die, ob die motorischen und sensiblen Nervenwege innerhalb des Marks mehr oder weniger getrennt oder mit einander gemischt verlaufen. Die ersten Ideen dar\u00fcber, dass in verschiedenen R\u00fcckenmarkspartieen sich verschiedene neurologische Vorg\u00e4nge getrennt bewegen, finden sich bei Walker.1 Auf ihm eigent\u00fcmliche, rein theoretische Betrachtungen \u00fcber den Zusammenhang der verschiedenen Hirn- und R\u00fcckenmarkstheile hin, hielt er die Vorderstr\u00e4nge f\u00fcr sensibel, die Hinterstr\u00e4nge f\u00fcr motorisch. Ein Fortschritt ist bei Bell bemerkbar. Durch eine \u00e4hnliche Ueberschlagungsweise wie Walker kommt er zu der Annahme, dass die vordere Abtheilung des R\u00fcckenmarks, welche er als Fortsetzung des Cerebrums ansieht, motorisch, dagegen die hintere, welche ihm Fortsetzung des Cerebellums ist, sensibel sei. Um diese Hypothese zu pr\u00fcfen, untersucht er die respectiven Abtheilungen des Marks und die beiden Wurzelarten der Spinalnerven.. Seine Versuche geben ihm aber kein entscheidendes Resultat, indem er nur beobachtet, wie eine Verletzung der vorderen Portion des R\u00fcckenmarks mehr Bewegungen, als eine solche der hinteren und eine Durchschneidung der vorderen Wurzeln Bewegung, die der hinteren keine solche giebt, und wobei ihm die Bedeutung der letzteren f\u00fcr die Sensibilit\u00e4t entgeht. Das nach Bell benannte Gesetz brachte der Hauptsache nach erst Magendie ins Klare, und mit ihm beginnt auch ein ausgiebigeres Experimentiren am R\u00fcckenmark selbst.2 Doch wollte weder in seinen H\u00e4nden, noch in denen von Schoeps, Bel-lingeri, Rolando, Calmeil etc. die Lehre von der Topographie der Innervations Vorg\u00e4nge in dem R\u00fcckenmark eine recht feste Gestaltung annehmen.3 Erst mit dem Anf\u00e4nge der vierziger Jahre lauten die Angaben \u00fcber einige wenige Punkte des fraglichen Verlaufs tiber-\n1\tAlexander Walker, New anatomy and physiology of the brain in particular and of the nervous system in general. Arch, of Universal science. III. for July 1809 und sp\u00e4ter, 1815 , in einem Artikel in Thomson\u2019s Annals of philosophy for July a. August 1815. Article VI.\n2\tMan sehe hier\u00fcber: Documents and Dates of modern discoveries in the nervous system. London 1839, worin die auf diesen Gegenstand bez\u00fcglichen Arbeiten Bell\u2019s und Magendie\u2019s abgedruckt und in Bezug auf Priorit\u00e4t gew\u00fcrdigt sind.\n3\tWer sich f\u00fcr [diese \u00e4ltere Literatur interessirt, sehe die folgenden Arbeiten nach: Magendie, Jouru. de physiol, experiment. III. p. 153. 1823 und Le\u00e7ons sur les fonctions et les malad, du syst. nerv. II. p. 153. 1839 ; Bellingeri, De medulla spinali nervisque ex ea prodeuntib. etc. Turin 1823 ; Schoeps, Meckel\u2019s Arch. 1827 ; Rolando, Sperimente sui fascicoli del midollo spinale. Torino 1828 ; Calmeil, Recherch. sur la structure etc. Journ. de Progr\u00e8s. NI. p. 77. 1828 ; Backer, Comment, ad quest, phys. Utrecht 1830; Seubert, Comment, d. funct. radie, ant. etc. Badae 1833; Joh. Muller, Handb. d. Phys. d. Menschen. 4. Aufl. I. 1844. S. 688.","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\neinstimmender, obschon auch noch von da an mancherlei Differenzen Vorkommen.1 Ich stelle nunmehr diese S\u00e4tze im Einzelnen so auf, wie sie sich zur Zeit, ohne grossen Widerspruch zu erfahren, aussprechen lassen, und zeige, mit welchen Methoden sie gest\u00fctzt worden sind und wie weit sie die Kritik aushalten.\n1. In den vorderen weissen Str\u00e4ngen bewegen sich nur willk\u00fchrlich motorische Vorg\u00e4nge, und es sind keine sicheren Anhaltspunkte f\u00fcr die Meinung vorhanden, dass sich in ihnen auch sensible von unten nach oben bewegen.\nEs darf sich dabei nicht die Vorstellung einschleichen, als m\u00fcssten s\u00e4mmtliche durch das R\u00fcckenmark ziehende motorische Vorg\u00e4nge durch diese Str\u00e4nge gehen, auch die nicht, als n\u00e4hmen jene Vorg\u00e4nge auf der ganzen Ausdehnung ihres Verlaufes nur in den weissen Vorderstr\u00e4ngen Platz und folgten darin geraden, von oben nach unten ziehenden Bahnen, ohne jemals davon abzuirren und endlich auch nicht die, als sei in diesem Satze die volle Bedeutung besagter Str\u00e4nge f\u00fcr die Leitung von Innervationsvorg\u00e4ngen \u00fcberhaupt ausgesprochen. In diesem Sinne sprechen die zur Zeit bekannten That-sachen nicht. Augenscheinlich sagt dieser Satz \u00fcber die Topographie der motorischen Wege innerhalb des R\u00fcckenmarks sehr wenig aus, da man nach ihm den Verlauf der letzteren nicht Schritt f\u00fcr Schritt verfolgen kann. Indess werden sp\u00e4tere Er\u00f6rterungen diesen Mangel, so weit die jetzigen Einsichten reichen, decken. Die Erfahrungen, auf welchen jener Satz ruht, sind von ungleichem Werth, in ihrer Gesammtheit aber stehen sie f\u00fcr die Richtigkeit desselben ein. Von den Durchschneidungsversuchen sind die beiden Formen von Belang, von denen die eine darin besteht, dass man das R\u00fcckenmark von hinten her bis auf Br\u00fccken durchschneidet, welche nur a'us Theilen der vorderen weissen Str\u00e4nge bestehen, die andere darin, dass nur Theile der vorderen weissen Str\u00e4nge getrennt werden. Da im ersteren Falle noch willk\u00fchrliche Bewegungen \u00fcbrig bleiben und im zweiten deutliche St\u00f6rungen solcher beobachtet werden, so ist damit die Bedeutung der vorderen weissen Str\u00e4nge f\u00fcr die Bewegung \u00fcberhaupt bewiesen. Beide Versuchsarten sind nicht in der mehr zusagenden, strengen Form auszuf\u00fchren, dass man bei der einen Art stets die gesammten vorderen weissen Str\u00e4nge so intact lasse, wie sie die\n1 Zum Beweis vergl. man : Longet. Anat. et physiol, du syst. nerv. I. p. 273. Paris 1842; Stilling, Untersuch, \u00fcb. d. Funct. d. R\u00fcckenm. Leipzig 1842 ; Roser\u2019s und Wunderlich\u2019s Archiv. I. S. 103.1842 ; Valentin, De funct. nerv. p. 134. 1839. Repert. f\u00fcr Anat. u. Physiol. VI. S. 310 ; Budge, Untersuch, \u00fcb. d. Nervensyst. Frankfurt 1841.","page":150},{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"Weisse Vorderstr\u00e4nge.\n151\nAnatomie schematisch beschreibt, und bei der anderen sie in derselben Abgrenzung durchschneide ; in dieser Weise sind sie Unm\u00f6glichkeiten. Mit der erw\u00e4hnten Beschr\u00e4nkung sind sie von verschiedenen Physiologen ausgef\u00fchrt worden. Falls man jedoch in der Literatur nach guten, oder wenigstens doch gut gemeinten Beispielen sucht, ist bei der Auswahl insofern Vorsicht geboten, als alle diejenigen Versuche, in denen das R\u00fcckenmark von hinten so weit eingeschnitten worden ist, dass noch Bewegungen \u00fcbrig bleiben, ohne den Beweis zu f\u00fchren, dass der intacte R\u00fcckenmarkstheil wirklich nur den vorderen Str\u00e4ngen angeh\u00f6rt, unbrauchbar sind. Diese, welche nur andeuten, dass in den vorderen T h e i 1 e n des R\u00fcckenmarks Wege f\u00fcr willk\u00fcrlich motorische Processe lagern, m\u00fcssen als unbrauchbare Beweismittel f\u00fcr unseren Satz ausgeschlossen werden, van Deen l, Schiff2 u. A. durchschnitten bei Fr\u00f6schen von hinten her das ganze Mark bis auf Br\u00fccken von weissen Vorderstr\u00e4ngen; sie sahen nachmals noch einige willk\u00fchrliche Bewegungen in abw\u00e4rts vom Schnitt gelegenen Theilen bestehen. Es ist kein ausreichender Grund vorhanden, diese Angaben zu bezweifeln, auf alle F\u00e4lle aber ist es ausserordentlich schwer, in jeder Beziehung befriedigende, demonstrative Versuche vorzulegen.3 Stilling gelangen fr\u00fcher bei S\u00e4uge-thieren diese Versuche nicht. Derartige negative Erfahrungen beweisen indessen Nichts gegen den in Rede stehenden Lehrsatz, da m\u00f6glicherweise die restirenden Theile der vorderen Str\u00e4nge durch Druck oder andere Umst\u00e4nde zeitweise leitungsunf\u00e4hig gemacht sein konnten, oder f\u00fcr die gel\u00e4hmt erscheinenden Theile in der restirenden Br\u00fccke sich gerade keine motorischen Fasern mehr vorfanden. Auch ist zu bemerken, dass Stilling den erw\u00e4hnten Versuch nicht gegen die obige Fassung der Bedeutung der weissen Vorderstr\u00e4nge geltend gemacht; hat er doch sp\u00e4ter selbst einen Theil der motorischen Wurzelf\u00e4den der Spinalnerven in der L\u00e4ngsrichtung nahe kommende Schr\u00e4gfasern noch vor ihrem Eintritt in die graue Substanz verfolgt; sein Experiment h\u00e4ngt mit einer Vorstellung zusammen, auf die hernach zur\u00fcckzukommen ist. Ein Versuch Volkmann\u2019s4, der indess nicht reiner Durchschneidungsversuch ist, kann hier noch angef\u00fchrt werden. Bei einem im Winterschlafe befindlichen Igel trug er auf 3 Mm. L\u00e4nge von hinten her so viel R\u00fcckenmarkssubstanz\n1\tvan Deen, Trait\u00e9s et d\u00e9couvertes sur la physiologie de la moelle \u00e9pini\u00e8re, p. 69. Leyde 1841.\n2\tM. Schiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. S. 280, 1858\u201459.\n3\tC. Eigenbrodt, Ueber d. Leitungsgesetze i. R\u00fcckenmark. S. 26. Giessen 1849.\n4\tVolkmann, Artikel Nervenphysiologie in Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch d. Physiologie. S 522.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nab, dass nur noch ein Theil der weissen Vorderstr\u00e4nge \u00fcbrig blieb. Eine hierauf an dem verl\u00e4ngerten Mark ausgef\u00fchrte electrische Reizung gab Zuckungen in Muskeln von Tkeilen unterhalb der operirten Stelle, welche keine Nerven von dem oberen Theile des Markes bezogen. Da es sich indess f\u00fcr uns zun\u00e4chst um willk\u00fc hr liehe motorische Vorg\u00e4nge handelt, so geh\u00f6rt der Versuch streng genommen nicht hierher. Dass bei einer vorsichtigen Durchschneidung der vorderen Str\u00e4nge jemals von neueren Forschern Schmerzens\u00e4usserungen beobachtet worden w\u00e4ren, ist mir nicht bekannt. Das Gegentheil aber wird oft ausdr\u00fccklich erw\u00e4hnt.1 Wenn F\u00e4lle Vorkommen, und es giebt deren, wie hernach dargestellt werden wird, dass nach der Durchschneidung der Vorderstr\u00e4nge wenig oder gar keine Bewegungsst\u00f6rungen gesehen werden, so beweist dies nur, dass an der Stelle des Schnittes keine namhafte Zahl motorischer Elemente mehr f\u00fcr die bez\u00fcglichen Muskeln gelegen war. An die Durchschneidungsversuche schliessen sich reine Reizversuche an. Abgesehen davon, dass aus den Erfolgen derselben nur auf die Lagerung motorischer Vorg\u00e4nge \u00fcberhaupt, nicht aber speciell auf die willk\u00fchrlicher geschlossen werden kann, sind dieselben der Anfechtung ausgesetzt, dass viele der in der Literatur verzeichneten Versuche nicht von dem Verdacht gereinigt seien, dass man reflectirte Bewegungen f\u00fcr direct erzeugte motorische Vorg\u00e4nge genommen habe, zumal da die Erregbarkeit der R\u00fcckenmarkssubstanz durch directe Reize bekanntlich bestritten wird. Auch stammen sie aus Zeiten, in denen all die Vorsichtsmassregeln, die bei electrischer Reizung zu nehmen sind, noch nicht so gr\u00fcndlich wie heute bekannt und er\u00f6rtert waren. Man muss diese Bemerkungen beachten ; indess lohnt es sich, einen Blick auf die vorhandenen Angaben zu werfen. Falls sie mit den \u00fcber die Folgen der Durch-schneidung gemachten stimmen, m\u00f6gen sie bis auf Weiteres zur Unterst\u00fctzung dieser dienen, k\u00f6nnen aber niemals als strenge Beweise f\u00fcr unseren Satz gelten. Mit Uebergehung der \u00e4lteren Versuche dieser Art m\u00f6gen hier nur einige derjenigen erw\u00e4hnt werden, bei welchen die Reize auf Durchschnittsfl\u00e4chen des R\u00fcckenmarks angewendet werden, eine Methode, die besonders von Longet, K\u00fcrschner, Stilling und Eigenbrodt ge\u00fcbt worden ist und wegen der M\u00f6glichkeit* die Reize etwas sch\u00e4rfer abzugrenzen, bessere Resultate, als die Reizung der Oberfl\u00e4che des R\u00fcckenmarks zu geben scheint. Die genannten Forscher haben ihre Versuche theils an Fr\u00f6schen, theils an S\u00e4ugethieren angestellt. Bei den ersteren sind wegen der geringen\n1 z. B. T\u00fcrck, Ergebnisse phys. Untersuch. Sitzgsber. d. Wiener Acad. Math.-naturw. Cl. VI. S. 428.1851.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"Weisse Vorderstr\u00e4nge.\n153\nAusdehnung des Querschnittes und der geringen Abgrenzung beider Substanzarten auf der frischen Fl\u00e4che desselben die Versuche schwieriger, als bei den letzteren anzustellen. Die genannten Autoren melden zun\u00e4chst \u00fcbereinstimmend, dass bei einer jeden scharf auf den oberen Querschnitt der vorderen weissen Str\u00e4nge beschr\u00e4nkten mechanischen Reizung jedwede Reaction fehlt, aus welcher sie im Vergleich mit den Schmerzenszeichen und den sie begleitenden complicirten Bewegungen, welche eine analoge Reizung des cerebralen Endes der durchschnittenen, weissen Hinterstr\u00e4nge giebt, den Schluss ziehen, dass in den vorderen weissen Str\u00e4ngen keine sensibelen Vorg\u00e4nge sich aufw\u00e4rts fortbewegen. Mechanische Reizungen an den weissen Vorderstr\u00e4ngen des caudalen St\u00fcckes des durchschnittenen R\u00fcckenmarks ergaben in manchen F\u00e4llen keine Bewegungen, in anderen aber kamen sie vor, wie namentlich Longet 1 und K\u00fcrschner2 versichern; dagegen geben schwache galvanische Erregungen der genannten Theile viel \u00f6fter Zuckungen in abw\u00e4rts vom Schnitte gelegenen Theilen. Um den Einwand zu beschwichtigen, es k\u00f6nnten diese Bewegungen reflectorisch vermittelte sein, beruft man sich darauf, dass an Querschnitten des R\u00fcckenmarks sich eine solche erfolgreiche mechanische Reizung der weissen Vorderstr\u00e4nge auch dann noch ausf\u00fchren lasse, wenn ein Vorversuch das vollkommene Verschwinden der vorher bestandenen reflectorischen Bewegungen dargethan habe.3 Diese Reizversuche sagen nun zwar aus, dass direct erregbare motorische Bahnen in den vorderen Str\u00e4ngen verlaufen, aber nicht, dass dieselben auch vom Willen benutzt werden. Da aber die Durchschneidungsversuche f\u00fcr die den willkiihrlichen Bewegungen dienenden Wege ebensowohl auf die vorderen Str\u00e4nge hingewiesen haben, so k\u00f6nnen diese Reizversuche als St\u00fctzen f\u00fcr den Satz angesehen werden, der zu beweisen war. So lange die Existenz und Lage der kinesodischen Stellen des R\u00fcckenmarks noch eine offne Frage ist, haben diese Versuche etwas Unbefriedigendes; obschon man sich recht gut vorstellen kann, dass es einzelne Stellen des R\u00fcckenmarks giebt, wo die motorischen Wurzeln in den weissen Vorderstr\u00e4ngen einen l\u00e4ngeren Verlauf haben, ehe sie in kinesodische Substanz eintreten. Durch diese Mittheilungen mag nun zwar der positive Theil unseres Satzes f\u00fcr erwiesen gelten, nicht aber so der negative. Die beiden bereits gemachten Angaben, dass vorsichtige\n1\tLonget, Anatomie et physiologie du syst\u00e8me nerveux. I. p. 274. Paris 1842.\n2\tK\u00fcrschner in der Uebersetzung von M. Hall\u2019s Abhandlg. \u00fcb. d. Nervensvstem. S. 197. Marburg 1840.\n3\tDieser Versuch ist zuerst von K\u00fcrschner angegeben worden, sp\u00e4ter bat ihn Eigenbrodt mit Erfolg wiederholt ; K\u00fcrschner 1. c. S. 201 ; Eigenbrodt 1. c. S. 29.","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nDurchschneidung der Vorderstr\u00e4nge keine Schmerzen hervorruft und eine galvanische Reizung des cephalen St\u00fcckes des vorderen Stranges eines quer getheilten R\u00fcckenmarks eben wohl keine Schmerzens\u00e4us-serungen erzeugt, k\u00f6nnen nicht f\u00fcr diejenigen \u00fcberzeugend sein, welche van Deen\u2019s Lehre von der directen Unerregbarkeit der R\u00fcckenmarkssubstanz huldigen oder wenigstens noch die Berechtigung der Discussion dar\u00fcber anerkennen, um so weniger, als \u00e4ltere Beobachter, wie Rolando, Calmeil, Non at den vorderen R\u00fcckenmarksstr\u00e4ngen Innervationswege f\u00fcr sensible Vorg\u00e4nge zuerkennen. Es kommt hinzu, dass selbst ein neuerer Forscher, Brown-S\u00e9quard 1, den genannten Str\u00e4ngen einige wenige sensible Fasern zuerkennt. Derselbe behauptet, dass nach der Durchschneidung des gesammten Marks mit Ausnahme der Vorderstr\u00e4nge immer noch eine Spur von Sensibilit\u00e4t zur\u00fcckbleibe. Da aus seinen begleitenden Worten hervorgeht, dass er m\u00f6glichst darauf geachtet, bei den bez\u00fcglichen Versuchen keine graue Substanz sitzen zu lassen, in welcher m\u00f6glicher Weise sich noch sensible Elemente h\u00e4tten befinden k\u00f6nnen, so kann die Angabe wahr sein. Bei der gewohnten Art, die weissen Str\u00e4nge in der Tiefe abzugrenzen, kommt ihr aber nicht eine solche Bedeutung zu, dass Satz 1 dadurch bedenklich in Frage gestellt w\u00e4re.\n2. In den hinteren weissen Str\u00e4ngen sind Empfindungswege vorhanden, an sicheren Zeichen daf\u00fcr, dass sich daseihst auch der will-k\u00fchrlichen Motilit\u00e4t dienende Bahnen f\u00e4nden, fehlt es.\nAuch die Fassung dieses Satzes schliesst nicht die Vorstellung in sich, dass die Empfindungsvorg\u00e4nge auf ihrem Wege bis zum Gehirn lediglich auf die weissen Hinterstr\u00e4nge beschr\u00e4nkt seien; und es gelten f\u00fcr sie dieselben Vorsicht empfehlenden Bemerkungen, die ich \u00fcber die Vorderstr\u00e4nge machte. Verschiedene Experimentatoren haben bei der Durchschneidung dieser Str\u00e4nge deutliche Schmerzens-\u00e4usserungen wahrgenommen. Ebenso ergaben ihnen Reize verschiedener Art, auf die cerebralen Durchschnittsfl\u00e4chen der weissen hinteren Str\u00e4nge oder auf aus diesen gebildete Lappen applicirt, Zeichen, die wir gew\u00f6hnlich f\u00fcr Ausdruck des Schmerzes halten.1 2 Dabei muss allerdings zugegeben werden, dass nicht alle Forscher ein und dieselbe Reaction, welche auf eine Reizung der hinteren R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge folgt,' als Zeichen von empfundenem Gef\u00fchl interpretiren.\n1\tBrown-S\u00e9quard, Expos\u00e9 critique etc. Journ. d. 1. physiol. I. p. 1 < 9.\n2\tLonget, Anatomie et physiologie du syst\u00e8me nerveux. I. p. 274; Eigenbrodt 1. c. S. 32; Schiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. 1. S. 23(.249; Longet wandte galvanische, Eigenbrodt und Schiff mechanische Reize an.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"Weisse Hinterssr\u00e4nge.\n155\nMan kann das R\u00fcckenmark bis auf die hinteren Str\u00e4nge durchschnei-den ohne dass das Thier seines Gef\u00fchls verlustig geht.1 Da sich Jedermann von der Richtigkeit dieser Erfahrungen \u00fcberzeugen kann, so kann nicht leicht ein Zweifel dar\u00fcber aufkommen, dass in den hinteren Str\u00e4ngen sensible Bahnen enthalten sind. Wenn einzelne Beobachter melden, dass die Durchschneidung der hinteren Str\u00e4nge manchmal schmerzlos gewesen sei, oder dass Durchschneidung und Entartung der Hinterstr\u00e4nge keinen nachtheiligen Einfluss auf das Gef\u00fchl gehabt habe, was sich doch als Folgerung aus unserem Satz zu ergeben scheint, so spricht das nicht gegen jenen Satz. Es konnte ein solches Thier einen geringeren Grad von Empfindlichkeit besitzen, wie ja auch ein und dieselbe Reizung eines peripherischen Nerven bei dem einen Individuum heftiges Schreien, bei einem anderen Nichts der Art hervorruft, oder es war zuf\u00e4llig die Summe der getroffenen, direct erregbaren sensiblen Elemente gering. Erlitt das Gef\u00fchl nach dem Schnitt keine wesentliche Einbusse, so kann dies durch die Annahme gedeutet werden, dass die sensiblen Fasern der auf ihre Empfindung gepr\u00fcften Stellen ihre empfangenen Erregungen nicht auf Wegen fortpflanzten, welche durch die Wunde des R\u00fcckenmarks zogen, denn wir behaupten nicht, dass die einmal in die hinteren Str\u00e4nge eingetretenen sensiblen Wege nun auch darin bis zum Gehirn verbleiben. Man hat die Leitungseigenschaften der hinteren weissen Str\u00e4nge nach zwei Richtungen hin einzuengen versucht. Nach der einen ist man geneigt, sie nur f\u00e4hig zu halten, Tasteindr\u00fccke zu leiten, indem man behauptet, dass Thiere, denen man die gesammte graue Masse und alle weissen R\u00fcckenmarkstheile mit Ausnahme der hinteren weissen Str\u00e4nge durchschnitten, nur noch das Verm\u00f6gen be-s\u00e4ssen, Tasteindr\u00fccke aufzunehmen. Die Unf\u00e4higkeit Schmerzeindr\u00fccke aufzunehmen, also mit Analgesie behaftet zu sein, schreibt man dabei der Abwesenheit der grauen Substanz zu.2 Doch ist dieser Punkt noch nicht allgemein anerkannt.3 Nach der anderen wird behauptet, die weissen Hinterstr\u00e4nge betheiligten sich bei der Leitung von Empfindungsvorg\u00e4ngen nur in so weit als sie dem Durchgang der sensiblen Nerven wurzeln dienten, jene pflanzten sich vielmehr nur durch die graue Substanz fort. Es r\u00fchrt diese Meinung von Stilling her, sie ist aber stark von Schiff bestritten worden. Beide Angaben bed\u00fcrfen erneuter Pr\u00fcfung.\nWeniger leicht ist es, die Abwesenheit motorischer Bahnen\n1\tSchiff, Lehrbuch etc. I. S. 252.\n2\tEbendaselbst I S. 252.\n3\tVulpian, Le\u00e7ons sur la physiol, g\u00e9n\u00e9rale etc. p. 17. Paris 1866.","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"156 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nin denselben Theilen zu erweisen. Die Erfahrung zeigt, dass bei der Reizung der centralen Durchschnittsfl\u00e4che mehr oder minder heftige Bewegungen entstehen. Da sie meist den Eindruck machen, als seien sie Folge des Schmerzes, so k\u00f6nnte man sich dabei beruhigen, und alle Bewegungen, die man bei Manipulationen an den hinteren Str\u00e4ngen etwa bekommt, ohne Weiteres als durch Schmerz erzeugte betrachten. Das w\u00fcrde jedoch kein \u00fcberzeugender Beweis daf\u00fcr sein, dass in den hinteren Str\u00e4ngen jedes motorische Element fehlt. Mehr Vertrauen k\u00f6nnte man auf die von Longet, K\u00fcrschner und Eigen-brodt 1 angegebene Versuchsform legen, der zufolge bei der Anwendung ganz schwacher galvanischer und mechanischer Reize, welche den Durchschnitt der weissen Hinterstr\u00e4nge des unterhalb des Schnittes gelegenen Riickenmarkstheiles treffen, man keine Zuckungen erh\u00e4lt. Aber dieser Versuch hat keine recht \u00fcberzeugende Kraft, da ein negativer Erfolg der Reizung nur bei schwachen galvanischen Reizen auftritt und man jenen auf diesen Umstand schieben k\u00f6nnte. Ausserdem sind durch Stilling und Andere Erfahrungen bekannt, welche beweisen, dass nach der Durchschneidung einer vorderen H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarks noch willkiihrliche Bewegungen zur Beobachtung kommen k\u00f6nnen, von denen angenommen werden kann, ihre Wege l\u00e4gen in den hinteren, weissen Str\u00e4ngen. Am \u00fcberzeugendsten w\u00fcrden Versuche sein, welche bei einer reinen Durchschneidung der Hinterstr\u00e4nge, in welcher H\u00f6he man sie auch ausf\u00fchrte, keine Bewegungsst\u00f6rungen erg\u00e4ben. Gute Beobachter1 2 geben dies Resultat, jedoch nur f\u00fcr den jedesmal von ihnen gew\u00e4hlten Ort, an, obschon auch gegentheilige Angaben verzeichnet sind. Da die letzteren sich durch ungenaue Abgrenzung der Hinterstr\u00e4nge und Druck auf tiefer liegende motorische Wege erkl\u00e4ren lassen, so kann aus Allem was \u00fcber die j Hinterstr\u00e4nge angegeben worden ist, die gr\u00f6sste Wahrscheinlichkeit \u2019 abgeleitet werden, dass sie keine motorischen Elemente in sich schliessen.\n3. In den weissen Seitenstr\u00e4ngen, wie sie in der descriptiven i Anatomie abgegrenzt zu werden pflegen, bewegen sich motorische und sensible Vorg\u00e4nge.\nWegen des Mangels einer scharfen Abgrenzung derselben von den Vorder- und Hinterstr\u00e4ngen ist man hier bei den Pr\u00fcfungen vielen Unsicherheiten unterworfen. Die vorderen und hinteren Str\u00e4nge finden sich hier unter g\u00fcnstigeren Umst\u00e4nden, als jene, n\u00e4mlich in der\n1\tEigenbrodt 1. c. S. 35.\n2\tz. B. T\u00fcrck, Sitzgsber. d. Wien. Acad. Math.-naturw. Cl. VI. S. 428. 185t.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"Weisse Hinter- und Seitenstr\u00e4nge.\n157\nBeziehung, dass sie wenigstens gegen die Medianfissuren hin scharfe Begrenzungen darbieten. Daher gehen denn f\u00fcr diese R\u00fcckenmarksabtheilungen die Ansichten sehr auseinander. Indess l\u00e4ugnet keiner der Forscher, die sich jemals mit den Leitungsvorg\u00e4ngen mehr denn vor\u00fcbergehend besch\u00e4ftigt haben, die Anwesenheit motorischer Bahnen in ihnen. Streit besteht nur \u00fcber das ob und wieviel sensible in ihnen liegen. Hervorragende Forscher, wie namentlich Longet und Stilling, gestehen jenen gar keinen Gehalt an sensiblen Bahnen zu, andere, wie Schiff \\ sprechen sich zweifelhaft dar\u00fcber aus und noch andere, wie z. B. T\u00fcrck 1 2 3, sahen die heftigsten Schmerzen bei der Durchschneidung der Seitenstr\u00e4nge. Hervorzuheben aber ist, dass nach dem letzteren Forscher nach der Durchschneidung keine An\u00e4sthesie oder Abnahme des Gef\u00fchls auf derselben Seite, sondern im Gegentheil Hyper\u00e4sthesie zur Beobachtung kommen soll; doch bleibt es nach seinen Angaben unbestimmt, ob sich diese auf die bewussten Empfindungen oder nur auf die Hervorrufung von Reflexph\u00e4nomenen bezieht. Von besonderer Bedeutung f\u00fcr die Leitungsverh\u00e4ltnisse in den Seitenstr\u00e4ngen ist eine durch Ludwig angeregte, von Woroschiloff 3 ausgef\u00fchrte Arbeit, gleich beachtenswerth im Interesse der Methodik und ihrer Resultate. Durch ein im Original nachzusehendes Verfahren ist die Art der Trennuug der R\u00fcckenmarkstheile mit viel gr\u00f6sserer Sicherheit, als in allen anderen derartigen Versuchen ausgef\u00fchrt, und ausserdem erm\u00f6glicht sie dadurch, dass sie vergr\u00f6sserte photographische Abbildungen gibt von den Querschnitten, die an der weitgreifendsten Stelle der Verwundung angelegt wurden, f\u00fcr jeden sp\u00e4tem Arbeiter auf diesem Gebiet eine sofort klare von allen Zweifeln freie Einsicht \u00fcber die defecten und integren Bestandtheile des Marks an den fraglichen Stellen. Soweit uns dieselbe hier interessirt, stellt sie in erster Linie fest, dass beim Kaninchen in der Gegend des letzten Brustwirbels in den Seiteustr\u00e4ngen willk\u00fchrlich motorische und sensible Bahnen verlaufen, und zwar in solcher Menge, dass nach Trennung der weissen Hinter- und Vorderstr\u00e4nge beider Seiten, sowie der gesammten grauen Substanz die willktihrlichen motorischen Bewegungen der hinteren Extremit\u00e4ten, sowie deren empfindende Eigenschaften nahezu so erhalten bleiben, wie sie sich am gesunden Thiere \u00e4ussern. Durch diese Beobachtung der hervorragenden Bedeutung\n1\tSchiff, Lehrbuch etc. S. 241.\n2\tT\u00fcrck, Ergebnisse phys. Untersuch. Sitzgsber. d. Wien. Acad. Math.-naturw. Cl. VL S. 427. 428.\n3\tWoroschiloff. Der Verlauf der motorischen und sensiblen Bahnen durch das Lendenmark des Kaninchens. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-physik. Cl. XXVI. S. 248. 1874.","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nder weissen Seitenstr\u00e4nge ist keineswegs unser erster Satz \u00fcber die weissen Vorderstr\u00e4nge gef\u00e4hrdet; denn diese Beobachtung bezieht sich nur auf einen Schnitt im letzten Brustwirbel. Bei dem Versuche, die Lagerung der motorischen und sensiblen Wege in den Seitenstr\u00e4ngen genauer zu ermitteln, ergab sich, dass die den coordi-nirten Bewegungen dienenden, wie dem Laufen und Springen, also willktthrlicher Motilit\u00e4t vorstehenden vorzugsweise im mittleren Drittel liegen, womit indess nicht ausgeschlossen ist, dass auch in anderen Theilen desselben Stranges sich noch solche finden k\u00f6nnen. Noch ist auf die von Woroscihiloff bei dieser Gelegenheit aufgefundene Thatsache aufmerksam zu machen, dass man aus dem Seitenstrang in verschiedenen Richtungen gr\u00f6ssere St\u00fccke ausschneiden kann, ohne dass die sensiblen und motorischen Leitungen f\u00fcr das Hinterbein wesentlich leiden, trotzdem, dass man die sensible und motorische Bedeutung des ausgeschnittenen St\u00fcckes durch Trennung anderer Theile des Seitenstrangs erweisen kann. Best\u00e4tigt sich dies Verhalten, welches, um bei unserer inductiven Methode \u00fcberzeugend zu sein, der Wiederholung bedarf, so w\u00fcrde dasselbe darauf hindeuten, dass innerhalb des Marks eine unterbrochene Leitungsbahn'durch eine andere vertreten werden kann. Mancherlei Erscheinungen k\u00f6nnten darin ihre Erkl\u00e4rung finden, wie z. B. auch die, dass, obschon unbestrittene Versuche die Bedeutung der vorderen Str\u00e4nge f\u00fcr die Motilit\u00e4t dar-thun, man diese bei Erhaltung der Seitenstr\u00e4nge unter Umst\u00e4nden ohne wesentliche Motilit\u00e4tsst\u00f6rung durchschneiden kann ; Gerlach\u2019s Nervennetze k\u00f6nnen uns die Existenz solcher vicarirenden Vorrichtungen wahrscheinlich finden lassen.\n4. Es sind ausreichende Gr\u00fcnde f\u00fcr die Vorstellung vorhanden, dass der Lauf der willk\u00fchrlich motorischen und sensiblen Bahnen an die drei Str\u00e4nge nicht in der Art gekn\u00fcpft sei, dass ein Erregungs-vorgang, einmal in eine bestimmte Strangform eingetreten, nun darin auch auf dem k\u00fcrzesten Wege bis zu seinem Ziele verliefe.\nDie Thatsachen, welche die Gr\u00fcnde f\u00fcr diese negative Behauptung abgeben, f\u00fchren zugleich zu der mehr oder minder klaren Einsicht in einen Theil der verschlungenen Wege, welche die Innervationsvorg\u00e4nge im R\u00fcckenmark nehmen. So unvollkommen noch die Resultate der microscopischen Forschung \u00fcber den Faserverlauf im R\u00fcckenmark im Einzelnen sein m\u00f6gen, die vorher gethane Behauptung geht aus ihnen hervor. F\u00fcr die Nervenwurzeln ist dargethan, dass keine einzige ihrer Fasern einen Verlauf nimmt, aus welchem mit Wahrscheinlichkeit angenommen werden k\u00f6nnte, dass bei ihrer Verkn\u00fcpfung","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungen durch andere Theile des Marks.\n159\nmit einem weissen Strang sie sofort in diesem ^in m\u00f6glichst gerader Bahn f\u00fcr immer in die H\u00f6he z\u00f6ge; sie ziehen entweder direct nach der grauen Substanz oder nehmen nach in den weissen Str\u00e4ngen ab- oder aufsteigendem Verlauf solche Umbiegungen an, dass es h\u00f6chst unwahrscheinlich ist, dass sie den urspr\u00fcnglichen in den weissen Str\u00e4ngen angenommenen Verlauf beibehalten. Hieran schliessen sich zweitens die Erfahrungen \u00fcber die Fortpflanzung von der Empfindung und den willk\u00fchrlichen Bewegungen dienenden Innervationsvorg\u00e4ngen durch die graue Substanz und \u00fcberhaupt durch den beide R\u00fcckenmarksh\u00e4lften verbindenden Theil. Die Versuche, welche \u00fcber die Leitungsf\u00e4higkeit derselben angestellt worden sind, haben zwar nicht zu \u00fcbereinstimmenden Ergebnissen und wenn theilweise zu solchen, doch nicht zu gleicher Deutung gef\u00fchrt; die sorgf\u00e4ltigsten Versuche aber und die umsichtigsten Reflexionen, welche \u00fcber diesen Gegenstand bekannt geworden sind, lassen keinen Zweifel dar\u00fcber, dass sich durch die graue Substanz Innervationsvorg\u00e4nge der erw\u00e4hnten Art fortpflanzen. Ist dem aber so, dann ist Satz 4 bewiesen. Die Versuchsformen, welche man zur Pr\u00fcfung der genannten Leitungsf\u00e4higkeit der erw\u00e4hnten Theile erdacht hat, bestehen theils in an der Substanz des R\u00fcckenmarks ausgef\u00fchrten Reizversuchen, theils in Durchschneidungen einer vorderen oder hinteren H\u00e4lfte des gesamm-ten R\u00fcckenmarks, theils in solchen einer Seitenh\u00e4lfte oder beider Seitenh\u00e4lften in ungleichen H\u00f6hen, theils in L\u00e4ngstheilungen, theils in Reizungen der sogenannten motorischen Centren des Gehirns, nach verschiedenen vorg\u00e4ngigen Schnitten durch das R\u00fcckenmark.\nDie directen Reizversuche haben die gr\u00f6ssten Uebelst\u00e4nde. Am frischen R\u00fcckenmark des Frosches sind die Grenzen beider Substanzarten wegen wenig scharfer Abgrenzung, zum mindesten f\u00fcr das unbewaffnete Auge, schwer zu erkennen; bei S\u00e4ugethieren bereitet das aus der Schnittfl\u00e4che hervorquellende Blut ebenfalls der scharfen Unterscheidung Schwierigkeiten. Ausserdem sind bei den ersteren Tkieren die Zeichen hervorgerufener Empfindungen tr\u00fcgerisch. Sucht man bei S\u00e4ugethieren die Versuche so sorgf\u00e4ltig auszuf\u00fchren, als es die Umst\u00e4nde erlauben, so sind die Ergebnisse doch der Art, dass man zu dem Glauben immer wieder hingedr\u00e4ngt wird, dass zum mindesten Theile der hinteren grauen H\u00f6rner empfindlich sind. Ich spreche dies zufolge eigner und der Pr\u00fcfungen anderer Physiologen aus.1 Nach Versuchen von Stilling soll die gelatin\u00f6se Substanz des Hinterhorns auf mechanische Reizung sich besonders\n1 Stilling, Roser u. Wunderlich\u2019s Archiv. IV. S. 107. 109; Eigenbrodt, Ueber die Leitungsgesetze im R\u00fcckenmark. S. 39.","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nempfindlich erweisen. Dies ist in Uebereinstimmung mit dem oben angegebenen Verlauf der hinteren Nervenwurzeln.\nWas die Versuche an Thieren betrifft, denen man die vordere oder hintere R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte durchschnitten hat, so d\u00fcrften sie am wenigsten geeignet sein, Schl\u00fcsse auf die Leitungsf\u00e4higkeit der grauen Substanz zu erlauben. Es besteht keine nat\u00fcrliche Grenze zwischen vorderer und hinterer R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte, so dass Durchschneidungen dieser Art sehr unsicher auszuf\u00fchren sind, ausserdem herrscht \u00fcber die Vertheilung der sensibeln und motorischen Bahnen innerhalb der weissen Seitenstr\u00e4nge noch nicht volle Klarheit, so dass man nicht \u00fcberzeugend einsieht, ob die \u00fcbrig bleibenden Innervationsvorg\u00e4nge die graue Substanz oder vom Schnitt verschonte Reste der Seitenstr\u00e4nge durchsetzen. Nur der Umstand, dass die neueren histologischen Untersuchungen zu der Ansicht dr\u00e4ngen, dass die hinteren Wurzeln der Spinalnerven nicht zu den Seitenstr\u00e4ngen ziehen, ohne die graue Substanz vorher durchsetzt zu haben, macht die Ergebnisse dieser Durchschneidungsart des R\u00fcckenmarks beach-tenswerth. Es ist dieselbe zuerst von yan Deen angestellt worden, sp\u00e4ter haben sie auch Stilling, Eigenbrodt und Andere bei Fr\u00f6schen und S\u00e4ugethieren ausgef\u00fchrt. Volle Uebereinstimmung findet in den Angaben dieser Forscher nicht statt. Ich hebe jedoch hervor, dass Eigenbrodt und zum Theil auch yan Deen in sp\u00e4teren Versuchen bei Fr\u00f6schen gesehen haben, wie nach der Durchschneidung der hinteren R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte in der Gegend des dritten Wirbels auf Reizung der hinteren Extremit\u00e4ten solche Bewegungen in den vorderen auftraten, die nicht leicht anders als willk\u00fchrliche in Folge entstandener bewusster Gef\u00fchlseindr\u00fccke zu deuten waren, und ebenso, wie bei vorsichtig ausgef\u00fchrter Durchschneidung der vorderen H\u00e4lfte des Marks an demselben Orte noch willk\u00fchrliche Bewegungen in den hinteren Extremit\u00e4ten auftraten. Nimmt man hierzu die Erfahrungen \u00fcber die Lagerung der motorischen und sensitiven Bahnen in den weissen Str\u00e4ngen, so machen sie wahrscheinlich, dass in beiden F\u00e4llen die restirenden Innervationsvorg\u00e4nge durch die graue Substanz resp. von oben und unten hinter dem Schnitte weggesetzt haben. Eine strenge Kritik aber zu Gunsten der Lehre von der Leitung der grauen Substanz bestehen diese Versuche nicht.\nVon gr\u00f6sserem Werthe sind die Beobachtungen, die man bei Durchschneidung einer seitlichen H\u00e4lfte oder beider H\u00e4lften in verschiedener H\u00f6he oder der L\u00e4nge nach zwischen den H\u00e4lften des R\u00fcckenmarks gemacht hat. Auch diese verschiedenen Versuchsformen sind zuerst von yan Deen ausgef\u00fchrt worden, freilich eben wohl","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungen durch andere Theile des R\u00fcckenmarks.\n161\nnur an Fr\u00f6schen, bei denen die Beurtheilung des Versuchsergebnisses, \u00e4hnlich wie bei der vorigen Versuchsart, Unsicherheiten unterliegt. Sie sind viele Mal wiederholt und auch auf S\u00e4ugethiere ausgedehnt worden. Kurz nach dem Erscheinen von van Deen\u2019s Arbeiten sehen wir Stilling , Volkaiann und Eigenbrodt, in den f\u00fcnfziger Jahren und sp\u00e4ter Brown-S\u00e9quard, T\u00fcrck, Chauveau, v. Bezold und van Kempen mit dieser Angelegenheit besch\u00e4ftigt. Beide Male lauten die Berichte \u00fcber die Folgen der erw\u00e4hnten Trennungsarten des R\u00fcckenmarks nicht \u00fcbereinstimmend. Obschon ich nun im Folgenden die vorhandenen Differenzen unpartheiisch auseinandersetzen werde, so ziemt es sich doch, die Zuneigung zu denjenigen Angaben hervortreten zu lassen, bei denen Vorsicht in der Ausf\u00fchrung der Versuche und Umsicht bei der W\u00fcrdigung derselben besonders bemerkbar sind. Ich habe schon bei der bisherigen Darstellung der Leitungsbahnen im R\u00fcckenmark, ohne es ausdr\u00fccklich zu bemerken, durchblicken lassen, dass es angezeigt sei, die bei einer Thiergattung gewonnenen Resultate nicht so ohne Weiteres auf eine andere zu \u00fcbertragen. Hier betone ich dies, weil bei den nunmehr darzustellenden Versuchen dieser Umstand besonders zu beachten ist, um die Verschiedenheiten der Ansichten nur einigermassen begreiflich zu finden. Ich nehme zuerst die an Fr\u00f6schen angestellten Versuche vor. Beobachter, wie Eigenbrodt und v. Bezold, welche zahlreiche und umsichtige halbseitige Durchschneidungen am R\u00fcckenmark des Frosches angestellt haben, kommen in der Angabe \u00fcberein, dass hohe, am unteren Ende des calamus scriptorius und ein wenig darunter ausgef\u00fchrte Schnitte keinen wesentlichen Einfluss auf die willk\u00fchr-lichen Bewegungen beider Seiten des Thieres aus\u00fcben. R\u00fcckt der Schnitt dem Abgang der Nerven f\u00fcr ein Glied n\u00e4her und n\u00e4her, so fangen allm\u00e4hlich die willk\u00fchrlichen Bewegungen desselben an, weniger oder mehr gest\u00f6rt zu werden, w\u00e4hrend alle \u00fcbrigen Glieder keine wesentliche Einbusse ihrer willk\u00fchrlichen Bewegungen erleiden. Dieses Resultat haben die Versuche von Eigenbrodt und von v. Bezold ergeben, und die \u00e4lteren Angaben von van Deen und Stilling stimmen im Wesentlichen damit \u00fcberein. Volkmann, der indess seine Versuche noch nicht so sehr variirte, als die sp\u00e4teren Forscher, betonte vorzugsweise eine L\u00e4hmung, welche auf der Seite des Schnittes entsteht. Wahrscheinlich kam er dem Ursprung der Nerven besonders nahe. Hieraus folgt, dass beim Frosch in jeder H\u00e4lfte des Marks f\u00fcr die Muskulatur je eines Gliedes ein directer und ein auf die andere Seite hin\u00fcberf\u00fchrender Weg existiren muss, auf welchen die willk\u00fchrlichen Erregungen ziehen; denn nur unter dieser An-\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nn\u00e4hme ist begreiflich, wie bei den erw\u00e4hnten Schnitten auf beiden Seiten die willk\u00fchrliche Bewegung fortbestehen kann. Hier\u00fcber sind einige verst\u00e4ndigende Bemerkungen notbwendig, da gerade v. Bezold aus vielen derartigen von ihm angestellten Versuchen schliesst, dass keine Kreuzung der motorischen Nervenwege im R\u00fcckenmark des Frosches vorkomme. Dieser Physiologe schliesst so1: Da die halbe Trennung des Marks am unteren Ende des calamus scriptorius die Bewegung unver\u00e4ndert auf beiden Seiten bestehen l\u00e4sst, so kann keine Kreuzung im R\u00fcckenmark Vorkommen; denn w\u00e4re diese vorhanden, so m\u00fcsste man Schw\u00e4chung der Bewegung auf der entgegengesetzten Seite sehen. Um nun die trotz der durch seine Voraussetzung entfernten Kreuzung auf der operirten Seite ungeschw\u00e4cht fortbestehende Bewegung zu erl\u00e4utern, verf\u00e4llt er, da ihm die R\u00fcckenmarkspsyche Pfl\u00fcger\u2019s und Auerbach\u2019s nicht zusagt, auf die Annahme, dass die Muskelnerven der operirten Seite in der N\u00e4he ihres macroscopischen Zusammenhangs mit dem R\u00fcckenmark aus Ganglienzellen in diesem entspr\u00e4ngen, welche durch sogenannte Commissurenfasern mit Ganglienzellen der anderen Seite Zusammenh\u00e4ngen, so dass vom Willen auf diese und jene zugleich gewirkt werden k\u00f6nne. Dies stellt aber in der That eine Kreuzung von Nervenwegen dar, da von der anderen Seite sich dasselbe sagen l\u00e4sst. Ich erkl\u00e4re hier ausdr\u00fccklich, dass, wenn ich von einer Kreuzung von Nervenwegen im Cerebrospinalorgan rede, ich darunter nichts Anderes verstehe, als einen Uebertritt von Innervationswegen durch die Sagittalebene und mich jedes Ausdrucks \u00fcber den Bau dieses Weges enthalte. Ich habe diese Bemerkungen machen zu m\u00fcssen geglaubt, damit es nicht scheint, als h\u00e4tte ich aus v. Bezold\u2019s Versuchen Etwas erschlossen, was ihr Urheber gerade bestreiten wollte. \u2014 Ausserdem lehren die in Rede stehenden Versuche \u00fcber die Topographie der willk\u00fchrlich motorischen Bahnen, dass diejenigen, welche die Medianebene des R\u00fcckenmarks passiren, erst kurz oberhalb der motorischen Wurzeln dies thun, in denen sie aus dem R\u00fcckenmark austreten. In der Hand van Kempen\u2019s sind die Versuche einer einseitigen Quertheilung des Marks bez\u00fcglich der motorischen Wirkungen etwas anders ausgefallen und somit ist auch seine Ansicht \u00fcber die physiologische Constitution des R\u00fcckenmarks eine andere, als die eben ausgesprochene.2\nW\u00e4hrend bei Fr\u00f6schen die motorischen Erfolge einseitig ausgef\u00fchrter Querschnitte des R\u00fcckenmarks aus sehr verschiedenen\n1\tv. Bezold 1. c. S. 17 u. 18.'\n2\tvan Kempen, Exp\u00e9riences physiologiques sur la transmission de la sensibilit\u00e9 et du mouvement dans la moelle \u00e9pini\u00e8re, p. 22 et 25. Bruxelles 1859.","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungen durch andere Theile des R\u00fcckenmarks.\n163\nH\u00f6hen vorliegen, sind bei V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren die analogen Erfahrungen beschr\u00e4nkter, indem zumeist nur die Erfolge f\u00fcr einige wenige Schnitte vorliegen und man sich daraus kein einigermassen befriedigendes Bild \u00fcber die Lagerung der motorischen Wege des R\u00fcckenmarks auf eine namhafte L\u00e4nge machen kann. Viele der hierher geh\u00f6rigen Versuche leiden an der Unvollst\u00e4ndigkeit, dass nicht ausdr\u00fccklich und Vertrauen erweckend \u00fcber den anatomischen Befund des Schnittes am get\u00f6dteten Thiere berichtet wird. Hemi-sectionen des Halsmarkes mit scharfer Beschreibung ihres Einflusses auf die Motilit\u00e4t sind selten ausgef\u00fchrt worden. Brown-S\u00e9quard machte sie bei Meerschweinchen in der Gegend des dritten, van Kempen bei Kaninchen und Hunden in der Gegend des f\u00fcnften und sechsten Halswirbels, v. Bezold bei Tauben \u00fcber dem Abgang der Wurzeln des plexus brachialis. Der erstere 1 spricht von vollst\u00e4ndiger Paralyse auf der Seite des Schnittes, van Kempen 2 von L\u00e4hmung auf beiden Seiten, auf der operirten jedoch in h\u00f6herem Grade, v. Bezold 3 giebt f\u00fcr seine Tauben Vernichtung der will-k\u00fchrlichen Bewegungen der operirten und vollkommene Integrit\u00e4t der gesunden Seite an. Die leichter auszuf\u00fchrenden halbseitigen R\u00fcckenmarksdurchschneidungen im unteren Theil des Marks sind h\u00e4ufiger ausgef\u00fchrt worden. Aber selbst hier wird von verschiedenen Resultaten berichtet. In der Gegend des R\u00fcckens ausgef\u00fchrt, sahen einige Beobachter (Stilling, Eigenbrodt) noch einige Bewegung in der hinteren Gliedmasse derselben Seite bestehen; in der Gegend des Lendenmarks den Schnitt angebracht, sah Eigenbrodt vollst\u00e4ndige Paralyse der hinteren Extremit\u00e4t derselben und unvollst\u00e4ndige der der anderen Seite auftreten,4 Aehnlich sah es van Kempen.5 F\u00fcgen wir diesen Erfahrungen endlich noch zwei instructive F\u00e4lle von R\u00fcckenmarksdurchschneidungen beim Menschen hinzu. Der eine Fall ist von W. M\u00fcller 6 beschrieben. Der Schnitt trennt unterhalb des dritten Dorsalnerven die ganze linke R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte und greift hinten ein wenig nach rechts \u00fcber. Die linke untere Extremit\u00e4t und die linken Bauchmuskeln gel\u00e4hmt, die rechte untere Extremit\u00e4t frei beweglich. Der andere von Weiss 7 beschriebene Fall w\u00fcrde noch instruktiver sein, da hier die Trennung zwischen Atlas\n1\tBrown-S\u00e9quard, Compt. rend. d. 1. soc. d. biologie II. p. 33. 1850.\n2\tvan Kempen, Exp\u00e9riences physiologiques etc. Bruxelles 1859. p. 30 ff.\n3\tv. Bezold, Ueber die gekreuzten Wirkungen des R\u00fcckenmarks. S. 21.\n4\tEioenbrodt, Leitungsgesetze. S. 55.\n5\tvan Kempen 1. c. S. 34.\n6\tW. M\u00fcller, Beitr\u00e4ge zur pathologischen Anatomie u. Physiologie d. menschlichen R\u00fcckenmarks. 1871.\n7\tR. Weiss, Langenbeck\u2019s Arch. f. klin. Chir. XXL S. 226.\n11","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164 Eckhakd, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nund Sch\u00e4del ausgef\u00fchrt worden war, wenn die Schnittwunde sich h\u00e4tte genauer beschreiben lassen. Da aber s\u00e4mmtliche die Motilit\u00e4t nicht betreffenden Erscheinungen mit denen des vorigen Falles stimmen, so kann kaum die Voraussetzung falsch sein, dass wir es auch in ihm mit completer Hemisection des Marks zu thun haben. Hier nun war auch vollst\u00e4ndige L\u00e4hmung der ganzen verletzten Seite vorhanden ; auf der gesunden nur im Arm theilweise L\u00e4hmung, die sich gr\u00f6sstentheils nach 24 Stunden gehoben hatte. Nunmehr ist noch anzugeben, welchen Erfolg die Hemisectionen f\u00fcr die Wege der bewussten Empfindung haben. Versuche an Fr\u00f6schen haben ihr Missliches, da die Zeichen f\u00fcr bestehende Empfindungen zu unsicher sind. Aeusserungen empfundenen Schmerzes durch die Stimme sind bei diesem Thiere selten, und w\u00e4ren sie h\u00e4ufiger, so k\u00f6nnte es ange-zweifelt werden, ob sie als g\u00fctige Zeugen f\u00fcr bestehende Empfindung zu betrachten w\u00e4ren. Gew\u00f6hnlich zieht man die Form der auf Reize entstehenden Bewegungen in Betracht, indem man der Ansicht ist, dass, falls diese Ausdruck bewusster Empfindungen seien, sie compli-cirter w\u00e4ren, l\u00e4nger andauerten und den Zweck verriethen, sich dem Schmerze zu entziehen, als in dem Fall, wo sie reine Reflexbewegungen seien. Es mag F\u00e4lle gehen, in denen der Unterschied beider Bewegungsformen so gross ist, dass ihn jedermann leicht auffasst und ihn als Zeichen etwa bestehender Empfindungen gelten l\u00e4sst. Dagegen wird es zahlreiche F\u00e4lle geben, bei denen die Deutung der Subjectivit\u00e4t des Forschers anheimf\u00e4llt. Immerhin ist es gut, sich die bisherigen Versuche anzusehen; vielleicht erweisen sie sich doch in Verbindung mit anderen Erfahrungen werthvoll; ich w\u00e4hle dabei die am sorgf\u00e4ltigsten angestellten aus. Nach Eigenbrodt besteht nach einem hoch oben in der Gegend des zweiten und dritten Wirbels am Froschr\u00fcckenmark einseitig angelegten Querschnitt das Gef\u00fchl auf der operirten Seite in den abw\u00e4rts vom Schnitt gelegenen Theilen noch fort, tiefer angelegte Schnitte ergeben mehr oder minder grosse Beeintr\u00e4chtigung des Gef\u00fchls, van Deen und Stilling hatten bereits vor Eigenbrodt \u00e4hnliche Erfahrungen gemacht, aber man sucht bei ihnen vergebens nach ausreichenden Gr\u00fcnden daf\u00fcr, dass es sich hier um bewusste Empfindungen handle, van Kempen schliesst aus dem Verhalten, welches Fr\u00f6sche, denen das Halsmark ebenso hoch einseitig durchschnitten worden war, zeigen, dass auf der operirten Seite das Gef\u00fchl in sehr augenscheinlicher Weise fortdaure, w\u00e4hrend es auf der entgegengesetzten Seite eine Schw\u00e4chung erfahren habe. Auch bei tiefer angelegten halbseitigen Durchschneidungen am R\u00fcckenmark des Frosches sahen Eigenbrodt und van Kempen","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungen durch andere Theile des R\u00fcckenmarks.\n165\nnoch die bewussten Empfindungen auf der operirten Seite fortbesteben; der letztere Physiologe l\u00e4sst auch hier das Gef\u00fchl auf der nicht operirten Seite andauern. Von etwas gr\u00f6sserem Belang sind die Erfahrungen, welche einseitige R\u00fcckenmarksdurchschneidungen bei V\u00f6geln und S\u00e4ugethieren ergeben haben, da bei diesen die Zeichen fortbestehender Empfindungen etwas weniger tr\u00fcgerisch sind. Seit Stilling, Budge und Eigenbrodt zuerst bei Katzen und Hunden das Gef\u00fchl auf der Seite des Schnittes unterhalb desselben fort-bestehen sahen, ist diese Beobachtung zum Oefteren gemacht worden. T\u00fcrck, Brown-S\u00e9quard \\ Schiff, y. Bezold, yan Kempen sind die Forscher, in deren Schriften sich dieselbe so oft findet, dass an ihrer Richtigkeit kein Zweifel mehr sein kann. Dem hier zu machenden Zusatz \u00fcber die Ver\u00e4nderungen, welche das Gef\u00fchl nach einseitiger Hemisection des Marks auf beiden Seiten zeigt, werde ich hernach eine besondere Besprechung widmen. Da der Mensch die beste Auskunft \u00fcber das Vorhandensein oder Fehlen von Empfindungen geben kann, so sind die Erfahrungen \u00fcber die Empfindungen in den S. 163 erw\u00e4hnten beiden F\u00e4llen unbezahlbar. In dem von M\u00fcller beschriebenen Fall, der von einer befriedigenden Autopsie begleitet ist, bestand das Gef\u00fchl auf der Seite, wenn auch ver\u00e4ndert, fort, auf welcher die Hemisection des Marks bestand. Die andere Seite war vollkommen gef\u00fchllos; ob dies dadurch bedingt war, dass beim Menschen vollst\u00e4ndige Kreuzung aller Gef\u00fchlswege im Mark besteht, oder dadurch, dass auf der anderen Seite auch der Hinterstrang noch durchschnitten war, bleibt vorerst eine offene Frage.\nAusser der einseitigen Hemisection des R\u00fcckenmarkes hat man ferner beide seitliche H\u00e4lften desselben in verschiedenen H\u00f6hen dergestalt durchschnitten, dass das zwischen beiden Schnitten liegende St\u00fcck von gr\u00f6sserer oder geringerer L\u00e4nge war. Auch diese Art des Versuchs ist zuerst von van Deen ausgef\u00fchrt worden. Valentin, Stilling, Volkmann und Eigenbrodt haben sie wiederholt. Die Erfolge dieser Operation h\u00e4ngen wesentlich von der Entfernung ab, in welcher beide Schnitte von einander angelegt werden. Ist sie klein, so wird bei keiner Thierart irgend eine merkbare Spur von willk\u00fchrlicker Bewegung und Empfindung mehr beobachtet; ist die verbindende Br\u00fccke l\u00e4nger, so k\u00f6nnen Reste jener Th\u00e4tigkeiten zur Beobachtung kommen. Im allgemeinen sind jedoch Versuche dieser Art noch an zu wenig Stellen des R\u00fcckenmarks ausgef\u00fchrt, so dass\n1 Meines Wissens zuerst in den Compt. rend. d. 1. soc. d. biologie. I. p. 192. 1850 und sp\u00e4ter in zahlreichen Abhandlungen. Die Schriften der anderen Forscher sind schon gelegentlich verzeichnet.","page":165},{"file":"p0166.txt","language":"de","ocr_de":"1 fj() Eckhard, Ii\u00fcckonrnark u. Gebirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\naus ihnen \u00fcber den Verlauf einzelner Nervenwege noch nicht Viel, namentlich nicht \u00fcber die wahre Natur der noch bestehenden Erscheinungen, geschlossen werden kann. \u2014 Weiter hat man noch versucht, das R\u00fcckenmark in der Medianlinie in zwei gleiche laterale Theile zu theilen, also schon einen von Galen angestellten Versuch zu wiederholen. v. Bezold \\ welcher derartige Versuche bei Fr\u00f6schen ausf\u00fchrte, behauptet, dass L\u00e4ngsschnitte durch die Mittellinie des Marks in beliebigen H\u00f6hen und in beliebiger Ausdehnung in Nichts die Bewegungen und deren Harmonie st\u00f6ren, van Kempen stimmt f\u00fcr L\u00e4ngstheilungen in der Lumbodorsalregion derselben Thiere bez\u00fcglich der Bewegung mit v. Bezold \u00fcberein, die bewusste Empfindung aber l\u00e4sst er eine Abnahme erleiden. Bei Verl\u00e4ngerungen des Medianschnittes bis zum Ursprung des verl\u00e4ngerten Marks sah y. Bezold die gesammte willk\u00fchrliche Bewegung und die bewusste Empfindung verschwinden. Auch an S\u00e4ugethieren hat van Kempen1 2 L\u00e4ngstheilungen versucht. Solche, in der H\u00f6he des *5.\u20146. Halswirbels ausgef\u00fchrt, ergaben unvollkommene L\u00e4hmung in beiden hinteren Extremit\u00e4ten. Brown - S\u00e9quard lehrt, dass bei S\u00e4ugethieren durch einen Longitudinalschnitt in der Medianebene das Gef\u00fchl beider Seiten innerhalb der Gebiete der Nerven verloren gehe, welche von dorther ihren Ursprung nehmen.3 4\nEndlich sind noch die Erfahrungen anzuf\u00fchren \u00fcber die Erfolge der Reizung der sogenannten motorischen Centren des Grosshirns nach vorausgegangenen Hemisectionen des R\u00fcckenmarks. Aus ihnen hat sich nach von Balighian 4 ausgef\u00fchrten Versuchen ergeben, dass nach einer Hemisection im Epistropheus bei Reizung des Grosshirns in den Vorderbeinen der gesunden Seite keine Bewegungen mehr erhalten werden k\u00f6nnen. Ein gleiches Resultat wird erhalten, wenn man in den n\u00e4chsten Wirbeln noch oberhalb des plexus* brachialis durchschneidet, dabei jedoch die Vorsicht gebraucht, dass man vorher diejenigen Nerven durchschneidet, welche auf der Seite des Schnittes oberhalb desselben vom Mark zu Muskeln gehen, welche zur Bewegung der vorderen Extremit\u00e4t mit beitragen helfen. Diese Versuche versprechen in ihrer Ausdehnung auf den Hund, bei welchem die motorischen Centren eine sch\u00e4rfere Localisation haben und auch die Bewegungen der hinteren Extremit\u00e4t in Betracht gezogen werden\n1\tv. Bezold, Ueber die gekreuzten Wirkungen des R\u00fcckenmarks. S. 13.\n2\tvan Kempen 1. c. S. 32.\n3\tz. B. Compt. rend. 6. Oct. 1857.\n4\tJ. Balighian, Beitr\u00e4ge zur Lehre von der Kreuzung der motorischen Innervationswege im Cerebrospinalsystem. Eckhard\u2019s Beitr\u00e4ge z. Anat. u. Physiol. VIII. S. 193.","page":166},{"file":"p0167.txt","language":"de","ocr_de":"Leitungen durch andere Theile des R\u00fcckenmarks.\n167\nk\u00f6nnen, bez\u00fcglich des Zugs der motorischen Nervenwege durch das R\u00fcckenmark noch manchen Aufschluss. Ihr Werth wird zur Zeit jedoch noch dadurch eingeschr\u00e4nkt, dass der Beweis nicht hat gef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, es handle sich um solche Wege, welche die vom Willen eingeleiteten Erregungen betreten, sowie auch nicht daf\u00fcr, dass ausser von den motorischen Centren nicht auch noch von andern Stellen aus dieselben Muskeln willk\u00fchrlich bewegt werden k\u00f6nnen.\nObschon bei der Vorf\u00fchrung der Versuche von S. 158 bis hierher gelegentlich eine Bemerkung \u00fcber den einen oder anderen sich daraus ergebenden Schluss gemacht worden ist, so wird es doch gut sein, noch einmal kurz und vollst\u00e4ndig zusammenzustellen, was sich aus ihnen im Anschluss an Satz 4 ergibt, a) F\u00fcr den Menschen steht fest, dass bis hoch in das Halsmark hinein eine Kreuzung willk\u00fchrlich motorischer Innervationswege innerhalb des R\u00fcckenmarks nicht besteht. Dagegen ziehen die Wege, welche den von der Haut des Stammes und der Extremit\u00e4ten aus erzeugbaren Empfindungen dienen, jedenfalls theilweise auf der entgegengesetzten Seite innerhalb des R\u00fcckenmarks in die H\u00f6he. Mehr l\u00e4sst sich in Anbetracht der oben mitgetheilten Erfahrungen zur Zeit nicht sagen. F\u00fcr S\u00e4ugethiere und V\u00f6gel scheint dieselbe motorische Anordnung zu bestehen; denn mehre gute Beobachter haben bez\u00fcglich der motorischen Wege durch verschiedene Versuchsformen keine Andeutung von Kreuzungen dieser Wege innerhalb des Marks erhalten. Allerdings stimmen nicht alle Beobachter in diesem Punkte \u00fcberein und mag man der Vorsicht halber sich nicht allzu positiv ausdr\u00fccken. F\u00fcr den Lauf der Empfindungswege sind zahlreiche Erfahrungen \u00fcber zum mindesten theilweise bestehende Kreuzung vorhanden, wobei jedoch daran zu erinnern ist, dass \u00fcber die Anwesenheit bewusster Empfindungen bei Thieren zur Zeit kein absoluter Beweis zu f\u00fchren ist. Dagegen ist bei Fr\u00f6schen der Verlauf der Innervationswege im Mark ein anderer. Hier f\u00fchren vom Gehirn her motorische Bahnen zu einem Gliede auf beiden Seiten und es gibt also bei diesem Thiere solche, welche die Sagittalebene des R\u00fcckenmarks durchziehen. Ein Gleiches kann f\u00fcr die Empfindungswege angenommen werden, wenn man den strengsten Anforderungen f\u00fcr den Nachweis von Empfindungen entsagt, b) Die motorischen Innervationswege nach den Muskeln hin scheinen nicht so festliegende Bahnen zu sein, dass eine zu einem bestimmten Muskel hin f\u00fchrende unter allen Umst\u00e4nden benutzt werden m\u00fcsste, sondern es scheint eine gewisse Latitude zu bestehen, innerhalb derer bald hier, bald da die Bewegung je nach","page":167},{"file":"p0168.txt","language":"de","ocr_de":"168 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nUmst\u00e4nden vorschreitet. Dies deuten nicht allein die Versuche Wo-roschiloff\u2019s \u00fcber den Seitenstrang, sondern auch die Erfolge hoher halbseitiger R\u00fcckenmarksdurchschneidungen beim Frosche an. Unzweifelhaft hat bei dem letzteren jede H\u00e4lfte Bedeutung f\u00fcr die Bewegung, dennoch \u00e4ndert die Trennung einer H\u00e4lfte in der Gegend des Atlas Nichts an ihr. F\u00fcr die Empfindungswege gilt wahrscheinlich ein Gleiches, c) Den ganzen Verlauf aber beider Arten von Innervationswegen innerhalb des R\u00fcckenmarks kann man zur Zeit nicht aufzeichnen. Man kann nur noch von den Empfindungsvorg\u00e4ngen sagen, dass sie sich nicht auf die weissen Str\u00e4nge beschr\u00e4nken, sondern auch die graue Substanz ber\u00fchren. Das durch das Microscop nachgewiesene Eindringen der hinteren Nervenwurzeln in jene, die Empfindlichkeit der cerebralen Durchschnittsfl\u00e4che der hinteren grauen H\u00f6rner, das Hin\u00fcbertreten der Empfindungsbahnen aus einer R\u00fcckenmarksh\u00e4lfte in die andere unter Ber\u00fccksichtigung des Umstandes, dass die vordere weisse Commissur nur in Beziehung zu den vorderen Wurzeln und vorderen Str\u00e4ngen steht, bieten die hervorragendsten Anhaltspunkte. Auf weiter gehende Angaben \u00fcber einzelne Punkte des Verlaufs der beiden Innervationswege, um die es sich hier handelt, mag ich mich wegen ihrer unsichern Begr\u00fcndungsart nicht einlassen.1 2 Sie anzuf\u00fchren, ohne die Art, wie man sie zu begr\u00fcnden sucht, zu w\u00fcrdigen, w\u00fcrde nicht befriedigen, eine eingehende Kritik aber mehr Raum verlangen, als mir angewiesen ist.\nHyper\u00e4sthesie und An\u00e4sthesie nach R\u00fcckenmarks Verletzungen.\nBei der Gelegenheit, mittelst Durchschneidungsversuche sich \u00fcber die Topographie der Leitungsbahnen im R\u00fcckenmark zu unterrichten, stiess zuerst Fodera 2 auf die Thatsache, dass er nach Durchschneidung des hintersten Theiles des Marks eine Steigerung der Ge-f\u00fchlsreactionen beobachtete. Gleiche oder auch auf eine Erh\u00f6hung von Reactionen in der Sph\u00e4re der Motilit\u00e4t sich beziehende Wahrnehmungen sind dann von Schiff, v. Bezold, Brown-S\u00e9quard, Setschenow, T\u00fcrck, W. M\u00fcller, Woroschiloff und vielen praktischen Aerzten bei verschiedenartigen Verletzungen und Erkrankungen des R\u00fcckenmarks beobachtet und beschrieben worden. Auch sind Erfahrungen der umgekehrten Art, eine Abnahme der Gef\u00fchlserscheinungen, bekannt geworden. Um den wesentlichsten In-\n1\tWer das Bed\u00fcrfniss empfindet, solche und die Art ihrer Begr\u00fcndung kennen zu lernen, der lese Schiff, Lehrbuch der Physiol. I. S. 237 ff.\n2\tFodera, Recherches exp\u00e9riment. sur le syst. nerv. Magendie\u2019s Journ. de phy-siolog. III. p. 191.200. 1823.","page":168},{"file":"p0169.txt","language":"de","ocr_de":"Hyper\u00e4sthesie und An\u00e4sthesie.\n169\nhalt dieser Lehre von der Hyper\u00e4sthesie, Hyperkinesie und An\u00e4sthesie auseinander zu setzen, gehe ich von Erfahrungen am Menschen aus, da hier Uber die fraglichen Zust\u00e4nde die beste Auskunft zu erhalten ist. Aus leicht begreiflichen Gr\u00fcnden w\u00e4hle ich zur Autopsie gekommene, traumatische R\u00fcckenmarksverletzungen aus. Der S. 163 erw\u00e4hnte von W. M\u00fcller beschriebene Fall wies auf der verletzten Seite Hyperalgesie und auf der anderen An\u00e4sthesie nach. Auf der ersteren wurden intensivere Reize, wie Druck, Stoss, K\u00e4lte, als stechender Schmerz sehr lebhaft empfunden, die andere Seite war gegen dieselben Reize unempfindlich. Oberfl\u00e4chliche Ber\u00fchrungen wurden auf beiden Seiten nicht wahrgenommen. In wieweit dies damit zusammenh\u00e4ngt, dass der Schnitt noch den Hinterstrang der anderen Seite traf1, oder eine andere Ursache hatte, wird durch zuk\u00fcnftige Versuche aufzukl\u00e4ren sein. Von irgend einer bestehenden\u2019 Hyperkinesie wird Nichts berichtet. Im Frankfurter Fall fand sich dies Alles ebenso; nur werden hier noch die beiden Zus\u00e4tze gemacht, dass auf der verletzten Seite leiser Druck und Streicheln auch als Schmerz empfunden worden seien und dass auf der nicht verletzten Seite erh\u00f6hte Reflexbewegung auff\u00e4llig gewesen sei. Ob und wie im Laufe der Zeit nach der Verletzung diese Erscheinungen sich ge\u00e4ndert haben, ist nicht recht klar, die Hyper\u00e4sthesie hat in dem einen l\u00e4ngere Zeit beobachteten Fall zwar nachgelassen, aber da der Kranke dem Tode entgegenging, so ist kein rechter Verlass auf den Gang dieser Erscheinung. Vollkommene halbseitige R\u00fcckenmarksdurchschneidungen haben bei S\u00e4ugethieren \u00e4hnliche Resultate ergeben.2 Auf der verletzten Seite zeigen sich Re-actionen, unter denen sich oft solche finden wie z. B. Schreien, aus denen sich gleichfalls auf eine reine Hyper\u00e4sthesie in der Form von Hyperalgesie schliessen l\u00e4sst, aber auch solche, wie z. B. erh\u00f6hte Beweglichkeit, \u00fcber welche man streiten kann, ob es Bewegungen in Folge eines empfundenen erh\u00f6hten Schmerzes oder des Reflexes seien. Die Mehrzahl der Forscher, die sich mit diesem Gegenstand besch\u00e4ftigt haben, sieht jene Reactionen als Ausdruck erh\u00f6hter Empfindlichkeit an, Andere, wie namentlich Chauveau3, vertheidigen\n1\tSiehe oben S. 155.\n2\tL. T\u00fcrck, lieber den Zustand der Sensibilit\u00e4t nach tbeilweiser Trennung des R\u00fcckenmarks. Ztscbr. d. k. k. Ges. d. Aerztezu Wien. I. S. 189. 192. 7. Jahrg. 1851 ; Brown-S\u00e9quard, Experimental and clinical researches on the physiol, etc. Richmond 1855 ; Gaz. m\u00e9d. d. Paris. Juillet 1855 und an vielen anderen Stellen, deren s\u00e4mmtliche Anf\u00fchrung \u00fcberfl\u00fcssige L\u00e4nge sein w\u00fcrde Ueber Priorit\u00e4tsanspr\u00fcche siehe Schiff\u2019s Lehrbuch etc. I. S. 240; v. Bezold, Ueber die gekreuzten Wirkungen des R\u00fcckenmarks. S. 50.\n3\tCompt. rend. 1857.","page":169},{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"170 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\ndie letztere Ansicht. In Anbetracht, dass im Grossen und Ganzen die Leitungsf\u00e4higkeit des menschlichen R\u00fcckenmarks mit der des Marks bei S\u00e4ugethieren zu stimmen scheint, ist die erstere Deutung wahrscheinlich die richtige. Diese Hyper\u00e4sthesie, wenn auch schon kurze Zeit nach dem Schnitt vorhanden, erreicht ihren H\u00f6hepunkt erst nach Verlauf von einigen Stunden, h\u00e4lt sich dann eine Zeit lang auf bestimmter H\u00f6he und nimmt sp\u00e4ter wieder ab.1 Ueber die Eigenschaften der der Verletzung entgegengesetzten Seite gehen die Aussagen auseinander. Brown-S\u00e9quard gibt f\u00fcr sie An\u00e4sthesie an und T\u00fcrck2 best\u00e4tigt sie. Schiff3 ertkeilt ihr nur eine Abstumpfung gegen Druck zu unter Beibehaltung der Tastempfindlichkeit und v. Bezold erw\u00e4hnt nur das Fortbestehen des Ortssinnes besonders.4 In wieweit diese letzten Erscheinungen ihre Parallele beim Menschen haben, l\u00e4sst sich zur Zeit nicht entscheiden. Die oben erw\u00e4hnten F\u00e4lle scheinen einen Parallelismus nach dieser Seite hin zu verneinen, aber es ist zu bedenken, dass in dem einen Fall die Durchschneidung in den hinteren Strang der anderen Seite hin\u00fcbergriff und im anderen kein genauer Bericht \u00fcber die Ausdehnung der R\u00fcckenmarkswunde vorliegt. Bei Fr\u00f6schen sah T\u00fcrck5 6 auf der Seite der halbseitigen Trennung gleichfalls hyper\u00e4sthetische Erscheinungen; dieselben wurden daraus erschlossen, dass der in verd\u00fcnnte S\u00e4ure getauchte Schenkel nach der Operation in viel k\u00fcrzerer Zeit herausgezogen wurde, als zuvor. Setschenow g sah neben der Hyper\u00e4sthesie auf der verletzten Seite Verminderung der Sensibilit\u00e4t auf der anderen. Eine der Hemisection vorausgegangene L\u00e4ngstheilung des Marks in der Mittellinie soll das angegebene Resultat nicht \u00e4ndern. Ob es sich bei diesem Tkiere um bewusste Empfindungen handelt, bleibt unklar und daher ebenso, ob diese Erscheinungen mit den analogen am Menschen zum Theil zu identificiren sind. Vollkommen sind sie auf keinen Fall damit identisch und weichen sie auch von den bei S\u00e4ugethieren beobachteten ab, weil n\u00e4mlich die gr\u00f6ssere Beweglichkeit der Tkiere auf der Seite des Schnittes unterhalb desselben weder beim Mensch noch den S\u00e4ugethieren beobachtet ist. Auch bei anderen Arten von R\u00fcckenmarksl\u00e4sionen sind \u00fcber\u00e4sthetische Ersckei-\n1\tSchiff, Lehrbuch der Phys. I. S. 258.\n2\tL. T\u00fcrck, Ergebnisse physiologischer Untersuchungen. Sitzgsber. d. Wiener Acad. Math, naturw. Cl. VI. S. 427. 430. 1351.\n3\tSchiff 1. c. S. 260.\n4\tv. Bezold 1. c. S. 51.\n5\tT\u00fcrck, Ztschr. d. k. k. Ges. d. Aerzte in Wien. I. S. 189. 7. Jahrg. 1851.\n6\tSetschenow u. Pasch\u00fctin, Neue Versuche am Hirn und R\u00fcckenmark des Frosches. S. 9 ff. 1865.","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Hyper\u00e4sthesie und An\u00e4sthesie.\n171\nnimgen zu Tage getreten. Fodera, Schiff 1 und Brown-S\u00e9quard 1 2 3 4 sahen sie nach Verletzung eines und beider Hinter- und T\u00fcrck 3 nach der der Seitenstr\u00e4nge, Woroschiloff 4 hat die bekannten Erfahrungen um einige neue vermehrt. Er schnitt bei Kaninchen das Lendenmark an seinem oberen Theil bis auf den Seitenstrang einer Seite durch. Dann fand er die hintere Extremit\u00e4t der gesunden Seite unter-, die der anderen \u00fcberempfindlich. Die Gr\u00f6sse der Empfindlichkeit wird bestimmt nach der Gr\u00f6sse der Reize, welche auf die Hinterpfoten der beiden Seiten anzuwenden waren, um Bewegungen in den Vorderpfoten zu erzielen. Diese Erfahrung ist identisch mit dem vorher erw\u00e4hnten Erfolg der lateralen Hemisection, wenn man T\u00fcrck\u2019s Erfahrung in Betracht zieht, dass schon die Durchschneidung des Seitenstrangs auf der Seite des Schnitts in abw\u00e4rts von diesem gelegenen Theilen Hyper\u00e4sthesie gibt und wenn man die Bewegungen des Vorderk\u00f6rpers als Folge bewusster Gef\u00fchlseindr\u00fccke ansieht. Aber selbst wenn man Letzeres unterl\u00e4sst, ist\u2019s doch erlaubt, von einer Hyper\u00e4sthesie etc. centripetalleitender Nerven zu sprechen. Zog er nach Durchschneidung eines Seitenstranges die Bewegung der Hinterbeine auf diese treffende Hautreize in Betracht, so erhielt er auf schwache Dr\u00fccke der gesunden Seite starke Bewegung im entsprechenden Hinterbein, auf starke Dr\u00fccke der verletzten Seite schwache Bewegung im correspondirenden Hinterbein und starke im anderen. Diese Eigenth\u00fcmlichkeiten der Bewegungen der Hinterbeine traten auch bei der vorigen Versuchsart auf. Diese reflecto-risehe Hyperkinesie im Hinterbein der gesunden Seite ist das Analogon zu einer von Weiss am Menschen gemachten Beobachtung.5 Woroschiloff merkt noch an, dass die Hyper\u00e4sthesie, welche man durch Verletzung eines Seitenstranges erzeugt hat, man durch eine gleiche Verletzung des anderen wieder heben kann.6 Dies will so ohne Weiteres nicht stimmen mit einer Angabe von Brown-S\u00e9quard, gem\u00e4ss welcher bei Fr\u00f6schen und S\u00e4ugethieren nach der Durchschneidung beider Hinterstr\u00e4nge auf beiden Seiten sich Hyper\u00e4sthesie einstellt; besondere Versuche haben dies noch ins Klare zu stellen. Um diese Erscheinungen zu zergliedern, ist in erster Linie\n1\tSchiff in den Berner Schriften von 1853.\n2\tBrown-S\u00e9quard, Nouvelles recherches sur la phys. de la moelle \u00e9pini\u00e8re. Dessen Journ. I. p. 139. 1858.\n3\tL. T\u00fcrck, Ergebnisse physiol. Untersuchungen etc. Sitzgsber. d. Wiener Acad. Math.-physik. Cl. VI\u00ab S. 427. 1851.\n4\tWoroschiloff. Der Verlauf der motorischen und sensibeln Bahnen etc. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-physik. Cl. XXVI. p. 248. 1874.\n5\tSiehe oben S. 169.\n6\tWoroschiloff 1. c. S. 287.","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nfestzuhalten, dass die Formen, in denen sie auftreten, nicht bei allen Thierklassen dieselben sind und auch schwerlich die Erl\u00e4uterungen, welche man f\u00fcr ein bestimmtes Thier versucht, f\u00fcr jedes andere gelten. F\u00fcr die am Frosche bekannten Erfahrungen suchte zuerst Set-schenow eine Erkl\u00e4rung zu geben.1 Dieselbe beruht der Hauptsache nach auf dessen Theorie der Hemmungsmeehanismen. Sie ist aber nur f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Erscheinungen am Frosch angelegt und passt daher nicht auf die davon verschiedenen beim Menschen und den S\u00e4ugethieren. Beim Frosch ist, wie oben erw\u00e4hnt, bei lateraler Hemisection die Extremit\u00e4t unterhalb des Schnittes derselben Seite auf Reize, welche sie treffen, \u00fcberbeweglich, die andere analoge unter denselben Umst\u00e4nden unter der Norm beweglich. Den letzteren Theil der Erscheinung erl\u00e4utert Setschenow durch die Annahme, es wirke auf die cerebrale Durchschnittsfl\u00e4che ein Reiz, welcher eine centripetale Nervenerregung hervorrufe, die ihrerseits innerhalb des Gehirns die von ihm angenommenen Hemmungsmechanismen errege, welche schliesslich die Entstehung der Reflexe auf der gesunden Seite beschr\u00e4nken. Die Reflexverst\u00e4rkung auf der verletzten Seite deutet er sich gleichfalls durch einen schwachen, auf die caudale Schnittfl\u00e4che wirkenden Reiz, selbst nicht ausreichend, Bewegung hervorzurufen, aber doch die Erregbarkeit erh\u00f6hend. Welches hei der l\u00e4ngeren Dauer der hyper\u00e4sthetischen Erscheinungen der Reiz sei, hat er nicht gen\u00fcgend ausmitteln k\u00f6nnen. Dass bei diesem Thier die Hyper\u00e4sthesie mit dem Gehirn einen Zusammenhang habe, scheint kaum wahrscheinlich, da nach vollst\u00e4ndiger Trennung des Marks vom Gehirn beide Seiten in nahezu gleichem Grade hyper\u00e4sthetisch werden. Mit vollkommener Sicherheit aber l\u00e4sst sich nicht behaupten, dass die nach halbseitiger Marktrennung abw\u00e4rts vom Schnitte auftretende Hyper\u00e4sthesie nicht zum Theif durch eine gr\u00f6ssere bewusste Empfindlichkeit mit bedingt werde. Wie bereits angedeutet, erschliessen diese Erl\u00e4uterungen aber nicht das Verst\u00e4ndnis weder der klaren Hyperalgesie beim Menschen, noch der Ueber-und Unterempfindlichkeit bei S\u00e4ugethieren. Im ersteren Fall handelt es sich bestimmt, im zweiten mit gr\u00f6sster Wahrscheinlichkeit um bewusste Empfindungen. Ausserdem sind die Motilit\u00e4ts-verh\u00e4ltnisse auf der Seite des Schnittes unterhalb desselben andere als beim Frosch. Woroschiloff hat, um diese und die vorher erw\u00e4hnten anderen Eigent\u00fcmlichkeiten verst\u00e4ndlich zu finden, centri-\n1 Es ist zwar schon vor Setschenow durch T\u00fcrck eine Theorie der Hyper\u00e4sthesie versucht worden, sie scheint mir aber nicht ausreichend klar und einleuchtend. Vergl. Zeitschr. d. k. k. Ges. d. Aerzte in Wien I. S. 197. 7. Jahrg. 1851.","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische und sensible Nervenwege im Gehirn.\n173\npetalleitende Hemmungsnervenfasern in den Seitenstr\u00e4ngen angenommen, welche, an der Peripherie erregt, im Gehirn die Uebertragungen auf die bewegenden Fasern erschweren und wenn durchschnitten, dieselben erleichtern. Da der Empfindungszustand hier gemessen wird durch die Gr\u00f6sse der Bewegungen in den Vorderbeinen, so konnte die Wirkung der centripetalleitenden Hemmungsfasern auf das Gehirn nicht durch eine Bezugnahme auf die beim Menschen stattfindende Hyperalgesie ausgedr\u00fcckt werden, was zu geschehen hat, wenn man diese durch dieselbe Hypothese erl\u00e4utern will. H\u00e4lt diese jede zuk\u00fcnftige Pr\u00fcfung aus, so w\u00fcrden wir dadurch die Eigenschaften der R\u00fcckenmarksstr\u00e4nge um eine weitere vermehren und, um deren volle Bedeutung zu w\u00fcrdigen, w\u00fcrde man in Zukunft nicht allein von der Topographie der uns bisher gel\u00e4ufigen Innervationswege, sondern auch noch von denen, auf welchen die eben erw\u00e4hnten, die Empfindungen hemmenden und die oben bei den Hemmungsmechanismen 1 angedeuteten, die Bewegungen beschr\u00e4nkenden sich bewegen, zu reden haben. Dadurch w\u00fcrden den Hinter- und Vorderstr\u00e4ngen mehr Functionen zukommen, als man gew\u00f6hnlich bisher von denselben darstellt.\nII. Verlauf der motorischen und sensiblen Nervenwege innerhalb des Gehirns.\nHier\u00fcber sind zur Zeit ausserordentlich wenige Thatsachen bekannt. Es kann wohl hier und da ein Bruchst\u00fcck davon verzeichnet und mit einem anderen verkn\u00fcpft werden, aber wir sind noch weiter als beim R\u00fcckenmark davon entfernt, ein nur einigermassen befriedigendes Bild von den wirklich bestehenden Verh\u00e4ltnissen zu entwerfen. Was zun\u00e4chst die Lagerung der motorischen Wege anlangt, so sind es vorzugsweise zwei M\u00e4ngel, welche die klare Einsicht versperren und einer Erw\u00e4hnung bed\u00fcrfen, damit man in der Unterhaltung \u00fcber diesen Gegenstand den gebrauchten Worten nicht einen sch\u00e4rferen Sinn unterlege, als den wirklich gewonnenen Erfahrungen entspricht. Der erste betrifft die Unklarheit, in welcher wir uns \u00fcber die Art der Entstehung der motorischen Erregung innerhalb des Gehirns befinden. Man muss die M\u00f6glichkeit zugeben, dass irgend ein Weg daselbst f\u00fcr die Erzeugung der Motilit\u00e4t Bedeutung haben kann, ohne dass sich auf ihm ein bereits in allen Beziehungen fer-\n1 Siehe oben S. 37.","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\ntiger motorischer Innervations Vorgang bewegt. W\u00fcrden wir, um dies an einem Beispiel klar zu machen, nicht auch beim R\u00fcckenmark, wenn wir bei Reizung einer hinteren Wurzel, ohne vorher Kenntniss von der Sensibilit\u00e4t derselben zu haben, Bewegung erhalten, glauben k\u00f6nnen, diese selbst stelle einen motorischen Weg dar? Der zweite ist in dem Umstand gegeben, dass innerhalb des Gehirns f\u00fcr die Motilit\u00e4t bedeutsame Wege zu verschiedenen Hirnpunkten f\u00fchren, wo sie verschiedene eigenthiimliche Anregungen erfahren, wir aber nicht wissen, bis zu welchem Grade wir es rechtfertigen k\u00f6nnen, wenn wir jene seelisch-motorische, oder reflectomotorische nennen. Unter Ber\u00fccksichtigung dieser beiden Umst\u00e4nde empfiehlt es sich, wenn man von motorischen Innervationswegen innerhalb des Gehirns spricht, den Defecten unserer jetzigen Kenntniss Rechnung tragend, dabei nur an f\u00fcr die Motilit\u00e4t wichtige Wege im Allgemeinen zu denken und nicht den scharfen Sinn damit zu verbinden, den wir sonst diesem Ausdruck beilegen. Nach dieser Verst\u00e4ndigung ist nun zuerst darauf aufmerksam zu machen, dass es innerhalb des Gehirns f\u00fcr einen und denselben Muskel sehr verschiedene Wege gibt. Man illustrirt sich dies am besten, wenn man daran denkt, wie der Frosch nach Abtragung des Gehirns unmittelbar vor dem Cerebellum seine K\u00f6rpermuskeln so innervirt, dass, auf den R\u00fccken gelegt, er in die Bauchlage kommt, nach Abtragung des Grosshirns dagegen so, dass er noch klettert und springt, endlich bei Integrit\u00e4t seines gesammten Gehirns jede beliebige Bewegung ausf\u00fchrt. Zur Motilit\u00e4t bez\u00fcgliche Wege reichen also jedenfalls bis zu diesen Punkten; ihre Zahl wird in Wirklichkeit aber viel gr\u00f6sser sein. Jede einzelne Bahn von je einem Muskel bis zu diesen verschiedenen Punkten zu traeiren ist eine Unm\u00f6glichkeit. Aber selbst n\u00e4her liegende, ver-h\u00e4ltnissm\u00e4ssig einfachere Fragen k\u00f6nnen noch nicht beantwortet werden. Niemand vermag z. B. zu sagen, ob die von den drei genannten und anderen Punkten aus f\u00fchrenden Wege irgend wo in einen einzigen hinein m\u00fcnden, oder ob einem jeden von Anfang bis zu Ende ein besonderes Wegsystem entspricht, oder ob der von einer Erregungsstelle ausgehende Weg \u00fcber eine oder mehre andere f\u00fchrt, obschon uns das letztere als das nat\u00fcrlichere vorkommt, da die anderen m\u00f6glichen Anordnungen uns als \u00fcberfl\u00fcssige Weganlagen erscheinen. Ebenso wenig reichen die vorliegenden Versuche aus, einen Vergleich der angedeuteten verschiedenen Wege bei verschiedenen Thieren und insbesondere beim Menschen zu versuchen. Zu Einzelheiten \u00fcbergehend und uns nur an die an Menschen und S\u00e4ugethieren gemachten Erfahrungen haltend, w\u00e4re aufmerksam zu machen:","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische und sensible Nervenwege im Gehirn.\n175\n1. Auf die Thatsache der Kreuzung.\nF\u00fcr die durch die motorischen Kopfnerven vermittelten Innervationswege wird dieselbe angedeutet durch die Angabe der Histo-logen \u00fcber die intracerebrale Kreuzung einiger Gehirnnerven. Man versichert, dass die Trochlear es und Hypoglossi die besten Bilder lieferten. Es ist jedoch nicht zu verschweigen, dass hier erneute Untersuchungen n\u00f6thig sind. Schroeder van der Kolk l\u00e4ugnet eine Kreuzung der Trochleares, peripher von ihren Kernen gelegen, und Ekner sah bei Beizung des Trochleariskerns auf einer Seite keine entsprechende Bewegung am Auge der anderen.1 Dagegen sind physiologische Erfahrungen vorhanden, aus denen ohne Zweifel eine Kreuzung der motorischen Innervationswege der Kopfnerven folgt, insbesondere wenn man der Vorsicht wegen sich der Eingangs gemachten Bemerkungen erinnert. So giebt Beizung des sogenannten Facialiscentrums Zuckung im Facialisgebiete der anderen Seite. Bei rechts im Hirn gelegenen L\u00e4hmungsursachen kommen L\u00e4hmungserscheinungen im linken Facialis und linken Hypoglossus vor. Einseitige Verletzungen des verl\u00e4ngerten Marks geben Verstellungen beider Augen u. dgl. m. Die Orte der Kreuzung dieser Innervationen sind noch durch besondere Versuche aufzuhellen. F\u00fcr die Kreuzung der durch B\u00fcckenmarksnerven vermittelten Innervationsvorg\u00e4nge geben die Erfolge der Hirnreizungen und Hirnl\u00e4sionen, welche stets auf der der Seite des Eingriffs entgegengesetzten auftreten, hinl\u00e4ngliches Zeugniss f\u00fcr diejenigen Gesch\u00f6pfe, f\u00fcr welche nach S. 163 keine Kreuzung willk\u00fchrlich motorischer Nervenwege innerhalb des Marks existirt. Auch werden die folgenden Mittheilungen hierf\u00fcr noch Belege geben.\n2. Auf die Erfahrungen, dass ein grosser Theil dieser Kreuzungen, wenn nicht alle, in der Br\u00fccke und dem verl\u00e4ngerten Mark geschieht.\nGliky2 sah die gekreuzten Wirkungen, welche er durch Beizungen der Grosshirnhemisph\u00e4re erhielt, fortbestehen, nachdem er alle Commissurentheile bis zu dem hinteren Vierh\u00fcgelpaar hin in der Mittellinie des Gehirns getrennt hatte und Balighian3 zeigte, wie die f\u00fcr die vorderen Extremit\u00e4ten bestimmten motorischen Innervationswege sich auf einer Strecke kreuzen, die schon in der Gegend der Br\u00fccke anf\u00e4ngt, sich im ganzen Verlauf des verl\u00e4ngerten Marks\n1\tBr\u00fccke, Vorlesungen \u00fcber Physiologie. IL S. 80. 2. Aufi. 1876.\n2\tW. Gliky, Ueber die Wege, auf denen die durch electrische Reizung etc. Meine Beitr\u00e4ge. VIII. S. 177. 185. 1875.\n3\tJ. Balighian, Beitr\u00e4ge zur Lehre von der Kreuzung der motorischen Innervationswege im Cerebrospinalsystem. Meine Beitr\u00e4ge VIII. S. 193.","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nfortsetzt und wahrscheinlich in der H\u00f6he des Atlas ihr Ende findet. So erhielt derselbe nach rechtsseitiger Hemisection des verl\u00e4ngerten Marks am hinteren Br\u00fcckenrande bei rechtsseitiger Reizung des Grosshirns noch Bewegungen im linken Vorderfuss, w\u00e4hrend nach einer halbseitigen Trennung des Marks rechts in der H\u00f6he des Epistropheus von der linken Grosshirnhemisph\u00e4re aus in der rechten vorderen Extremit\u00e4t keine Bewegung mehr zu erzeugen war. Bei Hemisectionen an Orten zwischen diesen beiden Stellen war das Resultat dem des ersten Versuchs gleich. Ich habe diese Versuche vorangestellt, nicht weil ich der Meinung bin, dass durch sie \u00fcberhaupt zum ersten Male der Ort der Kreuzung f\u00fcr die motorischen R\u00fcckenmarksnerven festgelegt w\u00e4re, sondern weil ich die ihnen zu Grunde liegende Methode f\u00fcr diejenige halte, durch welche man am einfachsten \u00fcberzeugend jenen naehweisen kann. Ich weiss recht gut, dass die folgenden, \u00e4lteren Erfahrungen in demselben Sinn sprechen, wenn auch nicht mit gleicher Sicherheit. Bekannt sind die Angaben der macroscopischen und microscopischen Anatomie \u00fcber Kreuzungen im oberen Theil des verl\u00e4ngerten Marks und der Br\u00fccke und zwar in Regionen, bis wohin man anscheinend motorische Elemente verfolgt hat. Es ist ferner auf die L\u00e4hmungen hingewiesen worden, welche bei Hemisectionen des verl\u00e4ngerten Marks 1 auf der Seite des Schnittes auftreten im Vergleich mit denen, welche bei Hirnl\u00e4sionen auf der entgegengesetzten Seite sieh finden. Endlich hat man auch bei Reizungen des verl\u00e4ngerten Marks in der N\u00e4he des Pons unter anderen Bewegungen solche auf der der gereizten entgegengesetzten Seite beobachtet.2 3 Ueber weitere Einzelheiten der erw\u00e4hnten Kreuzung macht Schiff 3 noch Angaben, welche an Ort und Stelle nachzusehen sind.\n3. Dass ein Theil der motorischen Wege innerhalb des Gehirns in den Grosshirnschenkeln und der inneren Kapsel liegt.\nNach Versuchen von Gliky4 kann man an durch das Gehirn von Kaninchen gelegten Frontalschnitten, die man in verschiedenen Ebenen aulegt, durch Reizung der weissen Fasermassen, welche die innere Kapsel, den Stabkranz oder den Fuss des Hirnstieles blosslegen, Gliedermuskeln der entgegengesetzten Seite anregen. Dabei ist es bemerkenswerth, dass die electriscke Erregung, welche hierbei\n1\tM. Schiff, Lehrbuch der Physiologie des Menschen. I. Muskel- und Nerven-physiologie. S. 314. Lahr 1858\u201459.\n2\tBudge, Untersuch, \u00fcber das Nervensystem. I. S. 21 ; M. Schiff 1. c. S. 319.\n3\tM. Schiff 1. c. S. 320.\n4\tGliky 1. c. S. 183 ff.","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische und sensible Nervenwege im Gehirn.\n177\nimmer in Anwendung kam, falls sie den Durchschnitt des corpus striatum traf, sich unwirksam erwies, was gegen\u00fcber einer gegen-theiligen Annahme zu betonen ist.1 2 Es scheint also, dass die durch k\u00fcnstliche Reize erregbaren Bahnen der motorischen Innervationswege das corpus striatum vermeiden. Versuche, in welchen die Pr\u00fcfung auf Motilit\u00e4t durch Beobachtung etwa bestehender L\u00e4hmungen geschah, f\u00fchrten zu demselben Resultat, wenigstens in seinem ersten Theil. Veyssi\u00e8re 2 verletzte bei Hunden die Theile, welche Gliky in seinen Versuchen electrisch reizte, und sah mehr oder weniger deutliche Hemiplegie. Oft verschwand dieselbe wieder, was aber bei der unvollkommenen Trennung der motorischen Wege an jenen Orten nicht Wunder nimmt. Erfahrungen am Menschen sind diesem experimentellen Ergebniss nicht entgegen, aber nur die F\u00e4lle sind mit den beschriebenen Versuchen zu vergleichen, in denen es sich bei der Bestimmung des Krankheitssitzes nicht allgemein um die regio optico-striata, sondern ausschliesslich um die angedeuteten Theile handelt. Die bei der Besprechung des Verlaufs der Empfindungswege citirten Schriften geben hinl\u00e4ngliche Belege daf\u00fcr, dass sich diese Angelegenheit beim Menschen wesentlich so wie bei den S\u00e4ugethieren verh\u00e4lt.\n4. jDass die bisherigen Versuche eine bestimmte motorische Bahn in ihrem Verlaufe auf eine l\u00e4ngere Strecke genau anzugeben nur einige wenige Thatsachen zur Kenntniss gebracht haben.\nEs liegt bei dem Stande unserer jetzigen Kenntnisse nicht aus dem Bereiche der M\u00f6glichkeit, diese L\u00fccke auszuf\u00fcllen. Ein gut localisirtes Centrum der Grosshirnrinde ausw\u00e4hlend, w\u00fcrde sich nach der von Balighian gebrauchten Methode die Topographie des Weges ausmitteln lassen, auf welchem sich die von jenem aus erregbaren Innervationsvorg\u00e4nge bis zu den bestimmten Muskeln bewegen. Zur Zeit ist aber dieser Weg noch nicht betreten. Einen anderen Weg, welcher aber in seiner Ausf\u00fchrung zeitraubender, vielleicht auch nicht so sicher, als der eben angegebene ist, hat T\u00fcrck gezeigt.3 Dieser sagt, dass wenn bei Krankheitsheerden im Gehirn und R\u00fcckenmark die Leitung in den Nervenwegen l\u00e4ngere Zeit unterbleibt, sich in diesen K\u00f6rnchenzellen in bedeutender Zahl entwickeln, so dass man\n1\tBurdon-Sanderson, Notiz \u00fcber die electrische Reizung des Corpus striatum. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1874. S. 548.\n2\tRaphael Veyssi\u00e8re, Recherches cliniq. et exp\u00e9riment. sur l\u2019h\u00e9mianesth\u00e9sie, p. 73. Paris 1874. Der experimentelle Theil dieser Arbeit ist auch publicirt in den Archives de Physiologie. Mars \u2014Mai 1874.\n3\tL. T\u00fcrck, Ueber secund\u00e4re Erkrankung einzelner R\u00fcckenmarksstr\u00e4ngfe. Stzgsber. d. Wiener Acad. Math.-naturw. Cl. VI. S. 2SS. 1851 ; XI. S. 93.1853.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t12","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\num jene kennen zu lernen, nur n\u00f6tkig habe, nach Feststellung der Krankheitserscheinungen w\u00e4hrend des Lebens nach dem Tode die entsprechenden Reihen von K\u00f6rnchenzellen aufzusuchen. Die sp\u00e4teren Arbeiten auf diesem Gebiete haben T\u00fcrck\u2019s Angabe best\u00e4tigt und die Methode desselben, durch die Bemerkung, dass geringere Grade der Degenerationsprocesse durch Einwirkung der Chroms\u00e4ure und ihrer Salze sichtbar gemacht werden k\u00f6nnen etc., vervollkommnet.1 Unser Autor giebt nun an, auf die bezeichnete Art mehre Bahnen festgestellt zu haben. Eine erste, von ihm Pyramidenstrangbahn genannt, zieht vom Grosshirnschenkel abw\u00e4rts auf derselben Seite durch die Br\u00fccke, die gleichnamige Pyramide, in der decussatio pyramidum des verl\u00e4ngerten Markes auf die andere Seite in die hintere H\u00e4lfte des Seitenstranges. Er gesteht derselben centrifugale Leitung zu, nimmt aber Anstand, sie mit voller Sicherheit f\u00fcr eine willk\u00fchrlich motorische anzusprechen, denn er fand sie zwar bei manchen Hemiple-gieen mit K\u00f6rnchenzellen besetzt, aber in anderen F\u00e4llen auch die letzteren ohne vorausgegangene Hemiplegie und wiederum diese ohne besonders hervortretende K\u00f6rnchenzellenbildung in der genannten Bahn.'2 Eine zweite belegt er mit dem Namen der H\u00fclsen-Vorder-strangbahn. Dieselbe geht gleichfalls vom Grosshirnschenkel aus, zieht durch die gleichnamige Br\u00fcckenh\u00e4lfte, geht keine Kreuzung im verl\u00e4ngerten Mark ein, sondern setzt sich in dem innern Abschnitt des vorderen R\u00fcckenmarksstranges derselben Seite fort und f\u00fchrt erst im R\u00fcckenmark durch die vordere Commissur auf die andere Seite. Da dieselbe bei Hemiplegieen zugleich mit der vorigen Bahn mit K\u00f6rnchenzellen besetzt gefunden werden kann, so ist zu vermu-then, meint T\u00fcrck, dass auch sie der Fortpflanzung motorischer Impulse diene. Auch f\u00fcr sie kommt es vor, dass man Hemiplegieen ohne K\u00f6rnchenzellen auf ihr begegnet. Bekanntlich sind dies die Vorg\u00e4nge der sogenannten absteigenden, secund\u00e4ren Degeneration.3 Ich selbst habe diese Untersuchungsmethode nicht in der Ausdehnung ge\u00fcbt, dass ich sagen kann, wie gross die Sicherheit ist, mit der man sich auf ihre Resultate verlassen kann. Da Nerven-wege offenbar unbrauchbar sein k\u00f6nnen, noch ehe sich K\u00f6rnchenzellen auf ihnen entwickeln und andererseits K\u00f6rnchenzellen ohne nennens-wertke Hemiplegie Vorkommen k\u00f6nnen, so wird man wenigstens vorsichtig bei den aus ihr zu ziehenden Schlussfolgerungen sein m\u00fcssen.\n1\tLeyden, .KRnik der R\u00fcckenmarkskrankheiten. IL S. 301 ; W. M\u00fcller, Beitr\u00e4ge zur pathologischen Anatomie und Physiologie. S. 9. 1871.\n2\tT\u00fcrck, Sitzgsb. d. Wiener Acad. VI. S. 304. 309.\n3\tMan vergl. hierzu noch: Bouchard, D\u00e9g\u00e9nerations secondaires. Archives de m\u00e9decine, p. 7. 447. 568. 1866.","page":178},{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische und sensible Nervenwege im Gehirn.\n179\nWenn man diese Angaben mit den Resultaten vergleicht, welche durch verschiedene Experimente \u00fcber die Lagerung motorischer Elemente an einzelnen Hirnstellen, gem\u00e4ss den vorhergemachten Angaben, gewonnen worden sind, so findet man, dass man dabei auf keinen wesentlichen Widerspruch st\u00f6sst. Man erh\u00e4lt bei Kaninchen Bewegungen in der vorderen Extremit\u00e4t der entgegengesetzten Seite bei Reizung des das corpus striatum nach aussen umgebenden Markstreifens und des medialen Theiles des Fusses des Hirnschenkels, dagegen nicht bei Reizung des corpus striatum ; die Kreuzungen sind gem\u00e4ss den Ergebnissen der Experimente in die Br\u00fccke und das verl\u00e4ngerte Mark etwa bis in die H\u00f6he des Atlas zu verlegen. T\u00fcrck fand beim Menschen die K\u00f6rnchenzellen auf nahezu denselben Wegen, wobei hervorzuheben, dass in F\u00e4llen, bei welchen der Krankheitsherd seinen Sitz in dem Marklager der Grosshirnhemisph\u00e4ren hatte, dabei das corpus striatum frei1 davon war. Nur bez\u00fcglich zweier Punkte fehlt die Uebereinstimmung in den Resultaten der beiden Untersuchungsmethoden. T\u00fcrck kennt keine Kreuzungen motorischer Bahnen in der Br\u00fccke und verlegt einen Theil jener in das R\u00fcckenmark. Es w\u00e4re indess m\u00f6glich, dass beim Menschen die Lagerung der motorischen Wege etwas abwiche von der beim Kaninchen. Zu empfehlen w\u00e4re, dass bei einem Thiere beide Untersuchungsmethoden zu gleicher Zeit in Anwendung k\u00e4men.\nDie Lehre von der Lagerung der Empfindungswege innerhalb des Gehirns ist gleichfalls noch in ihrer Kindheit. Da bei Thieren unsere Schl\u00fcsse \u00fcber bei ihnen bestehende Empfindungen noch unsicherer als die \u00fcber willk\u00fchrlich motorische Bewegungen sind, so ist hier aus Experimenten nur auf den Verlauf von centripetal leitenden Wegen im Allgemeinen zu schliessen. Gew\u00f6hnlich pflegt man dies bei Versuchen nicht auszudr\u00fccken, allein es ist w\u00fcn-schenswerth, dies nicht zu vergessen. Das System s\u00e4mmtlicher in dem Gehirn angelegter Empfindungswege erscheint uns bei einer Uebersicht \u00fcber die hier einschl\u00e4gigen Thatsachen viel verwickelter zu sein, als das f\u00fcr die Motilit\u00e4t bestimmte. Nicht genug, dass wir auch hier die Beobachtung machen, wie nach verschiedenen Verst\u00fcmmelungen des Gehirns in den Resten desselben Empfindungen mit noch mehr oder minder Klarheit ausgearbeitet werden, oder doch beachtenswerthe Zeichen Vorkommen, dass dem so sei und\n1 Damit ist auch die mehrfach gemeldete Erfahrung in Uebereinstimmung, dass Verletzungen der eigentlichen Kerne des nucleus caudatus und des Linsenkern keine secund\u00e4re Degeneration erzeugen, z. B. Paul Berger in den Archives de Physiologie. 1874. p. 411; T\u00fcrck, Sitzgsber. d. Wiener Acad. Math.-naturw. Cl. XI. S. 100. 1853.\n12*","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg als Leitgsorg.\nworaus, wie vorher f\u00fcr die motorischen Wege, zu schliessen, dass die Empfindungsbahnen bis zu diesen verschiedenen Orten reichen und unter sich wenigstens f\u00fcr gewisse Strecken verschieden sein m\u00fcssen; nicht, sage ich, genug dieses Umstandes, es kommen hier noch andere Erfahrungen in Betracht, welche augenscheinlich noch f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit das Verst\u00e4ndniss erschweren werden. Hierher geh\u00f6ren einmal die, wenn auch noch nicht ganz sicher gestellten, so doch auf Grund von einander unabh\u00e4ngiger Pr\u00fcfungen und Erfahrungen gemachten Angaben, dass Empfindungsst\u00f6rungen, namentlich im Gebiete der h\u00f6heren Sinne, nach Verletzungen von solchen Hirnstellen Vorkommen, bis wohin die Anatomie auch noch nicht einmal andeutungsweise die Bahnen der Sinnesnerven verfolgt hat. Auf diesen Punkt will ich indess nicht n\u00e4her eingehen. Dann aber z\u00e4hlt hierher die ganze Reihe der unter dem Namen der partiellen Empfindungsl\u00e4hmungen bekannten Erscheinungen. Bekannt ist der Daltonismus des Auges und die Mangelhaftigkeit oder das g\u00e4nzliche Fehlen einzelner Geruchs- und Geschmacksempfindungen. F\u00fcr gew\u00f6hnlich bezieht man indess jenen Ausdruck nur auf analoge Erscheinungen in der Sph\u00e4re der sensiblen Hautnerven. Wenn ein Hautnerv in seiner Continuit\u00e4t getrennt wird, so geht das bez\u00fcgliche Hautst\u00fcck einer ganzen Anzahl von Empfindungsqualit\u00e4ten verlustig; die Empfindungen des Schmerzes, des Druckes, des Ortes, der Temperatur gehen ihm verloren. Die diesen zu Grunde liegenden Nervenerregungen haben sich s\u00e4mmtlich vorher in der einen, nunmehr durchschnittenen Nervenbahn fortgepflanzt. Ob daf\u00fcr eben so viele verschiedene Nervenfaserarten vorhanden sind, oder der Erregungsvorgang in einer und derselben Nervenfaser je nach Art der Erregung verschieden ausf\u00e4llt, mag hier ununtersucht bleiben und nur bemerkt werden, dass viele Physiologen mit R\u00fccksicht auf mancherlei Erfahrungen wahrscheinlich finden, dass das letztere der Fall sei. Nun ist bekannt \\ dass diese verschiedenen Empfinduugen, nebst dem sogenannten Muskelsinn bis zu einem gewissen Grade unabh\u00e4ngig von einander sind, so dass eine Partie der Haut des Menschen bei Erkrankungen der Cerebrospinalaxe die eine oder andere Empfindungsqualit\u00e4t einb\u00fcssen kann, w\u00e4hrend ihr andere verbleiben. So wird berichtet, dass in der Aether- und Chloroformnarkose etc. Schmerzlosigkeit bestehen kann, w\u00e4hrend das Verm\u00f6gen, Ber\u00fchrun-\n1 Landry, Recherches physiol, et pathol. sur les sensat. tact. Arch. m\u00e9d. 1852 ; B. Puchelt, Ueber partielle Empfindungsl\u00e4hmungen. Heidelb. med. Annal. X. S. 485. 1845; C. Eigenbrodt, Ueber die Diagnose der partiellen Empfindungsl\u00e4hmung. Arch, f. pathol. Anat. XXIII. S. 571. 1862; H. Rendu, Des anesth\u00e9sies spontan\u00e9es, p. 13. Paris 1875. Weitere Literatur \u00fcber diesen Gegenstand findet man bei dem Letzteren.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische und sensible Nervenwege im Gehirn.\n181\ngen zu empfinden, geblieben ist. In anderen F\u00e4llen war der Tastsinn geschwunden, w\u00e4hrend der W\u00e4rmesinn fortbestand, oder umgekehrt. So sind die Ausdr\u00fccke Analgesie, Thermoan\u00e4sthesie etc. bis zu Gubler\u2019s Pall\u00e4sthesie entstanden. Bisweilen k\u00f6nnen auch zwei dieser An\u00e4sthesieen zu gleicher Zeit sich einstellen. Isolirter Verlust des W\u00e4rmesinns und Muskelsinns sind am seltensten, so sehr, dass das Vorkommen der reinen Musculo-an\u00e4sthesie noch heute von vielen erfahrenen Klinikern bestritten wird; h\u00e4ufiger kommt sie zugleich mit Contact-an\u00e4sthesie gemeinschaftlich vor. Indess sind doch mehre F\u00e4lle ausschliesslicher An\u00e4sthesie des Muskelsinnes bei Erhaltung der cutanen Empfindlichkeit bekannt geworden.1 2 Wegen dieser Dissociationen nun der durch die Empfindungsnerven vermittelten Empfindungsqualit\u00e4ten muss uns aber die Gesammtheit der denselben dienenden Wege sehr verwickelt erscheinen. Zwar sind manche der hierher geh\u00f6rigen Erfahrungen bei R\u00fcckenmarkskranken gesammelt, und es kann daher m\u00f6glicher Weise schon im R\u00fcckenmark eine Complication der Wege f\u00fcr die verschiedenen durch die Hautnerven vermittelten Empfindungsqualit\u00e4ten stattfinden. Diese Meinung wird besonders von Brown-S\u00e9quard 2 unter Hinweis auf mancherlei Erfahrungen vertreten. Dieser Forscher nimmt an, dass bereits im R\u00fcckenmark die Leitungsbahnen f\u00fcr die Tast-, Kitzel-, Schmerz- und Temperaturempfindungen gesondert w\u00e4ren und s\u00e4mmt-lich im Mark eine Kreuzung erlitten ; f\u00fcr die Bahnen des Muskelsinnes jedoch finde hier keine Kreuzung statt. F\u00fcr diese Ansicht sprechen auch die oben S. 155 mitgetheilten Angaben Schiff\u2019s, denen zufolge wenigstens die Leitungswege f\u00fcr die Tast- und Sch merze mp f indun g en verschieden sein w\u00fcrden. Aber es sind doch auch viele F\u00e4lle bekannt geworden, welche eine cerebrale Ursache hatten und da ferner jede bewusste Empfindung erst im Gehirn ihren Abschluss findet, so muss, wenn auch das erstere statthat, im Gehirn sich die gleiche Verwickelung vorfinden. Mit R\u00fccksicht auf diese Bemerkungen ist leicht einzusehen, dass die Beobachtungen an Thieren eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringe Rolle spielen werden bei dem Fortschreiten unserer Kenntnisse \u00fcber die sensiblen Leitungswege innerhalb des Gehirns, wenn sie auch hier und da uns einen Anhaltspunkt geben\n1\tReynold\u2019s A syst, of med. Croyden, Gaz. m\u00e9d. d. Paris 1871. Zum Theil von Rendu 1. c. p. 24 mitgetheilt. Sectionsresultate solcher F\u00e4lle kenne ich nicht. Versuche \u00fcber die Seite des Muskelsinns, die wir Druck- oder Kraftsinn nennep, sind jedoch nicht angestellt worden.\n2\tBrown-S\u00e9quard , Nouvelles recherches sur le trajet des diverses esp\u00e8ces de conducteurs d\u2019impressions sensitives dans la moelle epini\u00e8re. Arch. d. physiol. 1868. p. 610. 716.","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nund bei der Bestimmung der Lagerung von centripetalen Bahnen im Allgemeinen uns dienlich sein k\u00f6nnen. Was \u00fcber die Innervationswege der h\u00f6heren Sinnesnerven ausgemittelt worden ist, kann ich wohl hier \u00fcbergehen, da Dasselbe in der Physiologie der Sinnesorgane vorgetragen wird; es bleibt also nur das Wenige anzugeben \u00fcbrig, was \u00fcber die Lagerung der durch die sensiblen Nerven der Haut, der Schleimh\u00e4ute etc. vermittelten Innervationsvorg\u00e4nge ermittelt worden ist. Aus der Darstellung \u00fcber die im R\u00fcckenmark gelegenen Leitungswege ist bekannt, dass sich die von der Haut herkommenden sensiblen Nervenwege schon innerhalb des Markes kreuzen. Ob auch hier die Kreuzung der Hautnerven des Kopfes zu suchen ist, und ob sich innerhalb des eigentlichen Gehirns gar keine Kreuzung sensibler Wege mehr vorfindet, hier\u00fcber ist nichts Sicheres bekannt. Als einen wichtigen Ort, auf welchem wenigstens ein sehr grosser Theil der Empfindungswege liegt, bezeichnen pathologische Erfahrungen am Menschen und Experimente an Thieren dieselben Theile, welche oben S. 176 etc. als ebenso wichtig f\u00fcr die motorische Leitung angegeben wurden, wenigstens im Allgemeinen. Schon E. H. Weber 1 hatte aus den zu seiner Zeit bekannten Erfahrungen, welche insbesondere von Andral zusammengestellt waren, geschlossen, dass die Seh- und Streifenh\u00fcgel, sowie deren n\u00e4chste Umgebung wichtige Glieder f\u00fcr die Empfindung beherbergen m\u00fcssen. Es zog sich durch seine Darstellung mehr oder minder klar die Idee durch, als k\u00e4men jene Hirnganglien als Centren der Empfindung und Bewegung in Betracht. Seit jener Zeit1 2 hat man die Beobachtungen \u00fcber diese Gegend fortgesetzt und versucht, den Sitz der die Erscheinungen w\u00e4hrend des Lebens hervorrufenden Krankheitsherde genauer zu bestimmen und die Zugeh\u00f6rigkeiten beider festzusetzen. Map \u00fcbersieht noch nicht Viel, aber einige Einsicht ist doch gewonnen worden. Die erw\u00e4hnten Krankheitsherde haben ihren Sitz entweder in den weissen Fasermassen des Grosshirnschenkels, der capsula interna und des Fusses der corona radiata, oder in den grauen Gehirnganglien, oder endlich, was am h\u00e4ufigsten vorkommt, in beiden Arten von Hirn-theilen zuglei eh. Ver\u00e4nderungen in der ersten Gruppe dieser Theile verursachen jederzeit Hemian\u00e4sthesie, solche, die sich ausschliesslich\n1\tE.H. Weber, Tastsinn und Gemeingef\u00fchl. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch der Physiologie. III. S. 510. 517. 1846.\n2\tL. T\u00fcrck, lieber die Beziehungen gewisser Krankheitsherde des grossen Gehirns zur An\u00e4sthesie. Sitzgsber. d. Wiener Acad. Math, -naturw. Cl. XXXVI. S. 191. 1859; Charcot, Le\u00e7ons sur les maladies du syst. nerv. p. 275. 1872\u201473; Magnan, De l\u2019h\u00e9mianesth\u00e9sie. Gaz. hebd. 1873 ; Virenque, Sur l\u2019h\u00e9mianesth\u00e9sie. Paris 1874; R. Veyssi\u00e8re, Recherches exp\u00e9rim. etc. Sur l\u2019h\u00e9mianesth\u00e9sie. Paris 1874; Rendu, Des anesth\u00e9sies spontan\u00e9es. Paris 1875.","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische und sensible Nervenwege im Gehirn.\n183\nim corpus striatum etc. vorfinden, geben nur selten ausgesprochene, meist unyollkommne, vor\u00fcbergehende Gef\u00fchllosigkeit, welche indess um so merklicher und dauernder wird, je mehr sie in die genannten weissen Fasermassen \u00fcbergreifen.1 Damit sind Experimente von Veyssi\u00e8re in Uebereinstimmung, welcher bei Hunden nach reiner Verletzung der capsula interna die centripetalen Leitungen von der entgegengesetzten Seite-des K\u00f6rpers her mehr oder weniger andauernd beeintr\u00e4chtigt sah. Die Neuzeit legt daher den Ton mehr auf die die Gehirnganglien umgebenden weissen Markmassen, als auf jene selbst und dr\u00fcckt diese Stelle mehr zur Bedeutung von Leitungsbahnen herab, wenn auch einzelne Beobachter sich nicht enthalten k\u00f6nnen, dieselbe ein Centrum zu nennen und dahin das von \u00e4lteren Physiologen an die verschiedensten Orte verwiesene sensorium commune zu legen. Hier m\u00fcssen nun auf verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig engem Raum nicht allein der gr\u00f6sste Theil der motorischen Bahnen, sondern auch die f\u00fcr die verschiedenen Empfindungsqualit\u00e4ten bestimmten Bahnen dicht bei einander liegen. Bluterg\u00fcsse etc. an diesem Ort geben eine mehr oder minder vollkommne Hemiplegie und st\u00f6ren zu gleicher Zeit, wenigstens in den meisten F\u00e4llen, s\u00e4mmtliche Modalit\u00e4ten der Tastempfindungen und diese nicht allein in der Haut der Extremit\u00e4ten etc., sondern auch in den der Pr\u00fcfung leicht zug\u00e4nglichen Schleimh\u00e4uten. In vielen F\u00e4llen, wie es scheint, wenn der Herd sich nach vorn von dem eigentlichen Hirnschenkel findet, treten auch St\u00f6rungen in der Sph\u00e4re der \u00fcbrigen Sinnesnerven auf, und da nach Magnan oft der Kranke nicht die durch Electrisiren erzeugte Mus-keleontraction empfindet, so w\u00fcrden auch die dem Muskelsinn dienenden Wege hier gelegen sein.2 Gute, einigermassen ausgedehnte Beobachtungen \u00fcber die verschiedene Lagerung der einzelnen Innervationswege an diesem Orte sind noch nicht vorhanden; nur die von Gliky gemachte Angabe ist noch zu erw\u00e4hnen, dass der mediale Theil des Hirnschenkelfusses vorzugsweise motorische Elemente beim Kaninchen zu f\u00fchren scheint. Das Wenige, was \u00fcber weitere \u00f6rtliche Anordnungen der Empfindungswege nach der Richtung der Grosshirnrinde hin bekannt ist, darzustellen, liegt ausser dem Bereiche meiner Aufgabe. \u2014 Auf l\u00e4ngere Strecken abw\u00e4rts sind jene Empfindungsbahnen ebenfalls noch nicht genauer verfolgt worden. Es hat zwar T\u00fcrck versucht, bei Krankheitsherden im R\u00fccken-\n1\tVergl. hierzu namentlich Veyssi\u00e8re, p. 85.\n2\tNach Versuchen an Thieren \u00fcber Bestehen oder Fehlen des Muskelsinnes zu entscheiden. scheint mir sehr bedenklich und ber\u00fchre ich die etwa hier anzuziehenden Versuche nicht besonders.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\nmark durch die Verfolgung der der aufsteigenden secund\u00e4ren Degeneration zukommenden K\u00f6rnchenzellen den Lauf eentripetalleitender Bahnen festzustellen, er hat aber dieselben nicht weiter, als bis zu den Keulen und dem corpus restiforme darlegen k\u00f6nnen.\nIII. Bemerkungen \u00fcber den Verlauf einiger anderer Inner-Tationswege innerhalb des R\u00fcckenmarks und Gehirns.1\nAusser den beiden besprochenen, der willk\u00fchrlich motorischen Bewegung und der bewussten Empfindung dienenden Wegen h\u00e4tte nun noch die Anordnung derjenigen in Betracht zu kommen, welche sich auf die Reflexerscheinungen, die Gef\u00e4ssnerven, die etwaigen Hemmungsnerven, die automatischen Erregungen etc. beziehen. Hier\u00fcber ist im Allgemeinen sehr wenig bekannt und was wir wissen, ist so zerstreut und bezieht sich auf so vereinzelte Thatsachen, dass ein Versuch, der die Topographie dieser Nervenwege darzustellen sucht, sehr unvollkommen ausfallen muss. Die motorischen Fasern f\u00fcr die Respirationsmuskeln liegen nach Versuchen von Schiff2 im Sei ten str\u00e4ng des R\u00fcckenmarks. Dieser sah bei Hunden nach einseitigen Durchschneidungen dieses Stranges zwischen dem ersten und vierten Cervicalnerven, dass die Thoraxh\u00e4lfte der verletzten Seite keine Respirationsbewegungen mehr machte und das von dem Bauche her blossgelegte Zwerchfell sich nur noch in der einen H\u00e4lfte zusammenzog. Ueber den n\u00e4heren Verlauf der Respirationsfasern im Mark ist Nichts ermittelt. Eine Kreuzung scheint nicht zu bestehen, da Schiff bei einseitigen Hemisectionen in der H\u00f6he des Calamus scriptorius nur die Respirationsmuskeln der verletzten Seite unth\u00e4tig werden sah. In diese Bahnen m\u00fcssen noch andere eintreten, denn nach Versuchen von Rokitansky3 4 kommen Bewegungen in den Athemmuskeln vor, wenn nach Abtrennung des Athmungseentrums und Unterhaltung k\u00fcnstlicher Respiration nach einiger Zeit Strychnin ein verleibt wird und nach Owsjannikow 4 kann man, wenn in das Athmungscentrum soweit eingegriffen worden ist, dass sich die Athembewegungen nur noch so selten folgen, dass man k\u00fcnstliche Respiration einleiten muss, bei jedem electrischen Reiz,\n1\tMan vergl. hierzu, was S. 36 bei den Hemmungsmechanismen und S. 173 bei der Hyper\u00e4sthesie mitgetheilt worden ist.\n2\tM. Schiff, Untersuchungen zur Physiologie d. Nervensystems. I. S. 202. 1855.\n3\tPr. Rokitansky, Untersuchungen \u00fcber die Athmungscentra. Strieker\u2019s med. Jahrb. 1874. S. 30.\n4\tOwsjannikow, Ueber den Unterschied in den refl. Leistungen etc. Ber. d. i^chs. Ges. d. Wiss. Math, physik. Cl. S. 461. 19. Dec. 1874.","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Andere Nervenwege im Gehirn und R\u00fcckenmark.\n185\nwelcher eine Hinterpfote trifft, stets eine Athembewegung a\u00fcsl\u00f6sen. Die Trennung der den Reflexerscheinungen dienenden Wege von den f\u00fcr die Motilit\u00e4t und die Empfindung bestimmten ist im einzelnen noch wenig gelungen. Schon am Ende der Lehre von den Reflexbewegungen ist hervorgehoben worden, dass keine ernste Anzeichen davon bekannt sind, dass ausserhalb der Centralorgane gesonderte Wege f\u00fcr die reflectorischen Erscheinungen bestehen; es m\u00fcssen also die peripherischen Bahnen einerseits ihre Wege nach dem Gehirn hin, wo willk\u00fchrliche Motilit\u00e4t und Empfindung vermittelt werden, andererseits nach den Reflexionsorganen hin haben. Ueber die Orte dieser Abzweigungen ist zumeist nur im Allgemeinen Einiges bekannt. Jedes beliebige noch Reflexerscheinungen gebende Pr\u00e4parat, welches, wenn noch mit dem Gehirn verkn\u00fcpft, willk\u00fchrliche Bewegung und Empfindung zeigt, sagt aus, innerhalb welcher Grenzen die Trennung beider Wegarten bereits stattgefunden haben muss. Durchschneidet man beispielsweise bei einem Frosch das R\u00fcckenmark in der Gegend des f\u00fcnften Wirbels, so gibt dies Pr\u00e4parat von den hinteren Extremit\u00e4ten aus und mit diesen noch die vollkommensten Reflexerscheinungen; die Fasern daf\u00fcr m\u00fcssen also bereits hier ihre volle Selbstst\u00e4ndigkeit gegen\u00fcber den f\u00fcr die willk\u00fchrliche Bewegung und die Empfindung bestimmten besitzen. Dies noch an anderen Beispielen auszuf\u00fchren, hat kein besonderes Interesse, da, wie gesagt, aus solchen Erfahrungen nichts Genaueres \u00fcber die Lagerung der bez\u00fcglichen Nervenwege folgt. Uebrigens geben auch die oben besprochenen einzelnen reflectorischen Centren im Ganzen an, wo die Selbstst\u00e4ndigkeit der Reflexbahnen zu suchen ist. Da beim Menschen die einseitige hohe Trennung des R\u00fcckenmarks die willk\u00fchrliche Bewegung der verletzten Seite auf hebt, so dienen insbesondere die Fasern der vorderen weissen Commissur nicht jener Bewegung, also vielmehr reflectorischen oder anderen Innervationsvorg\u00e4ngen. Es wird noch viel Zeit und Arbeit verlangen, bis eine vollkommene Einsicht in das Verhalten der Reflexbahnen zu den willk\u00fchrlich motorischen und Empfindungsbahnen gewonnen sein wird. Schon die Schwierigkeit, bei Thieren stets scharf zwischen beiden Th\u00e4tigkeitsreihen zu unterscheiden steht hier hindernd im Wege, es kommt aber hmzu, dass f\u00fcr einzelne motorische Vorg\u00e4nge noch andere Bahnen in Betracht kommen, welche aufgekl\u00e4rt sein wollen. Hat man das R\u00fcckenmark an der unteren Grenze des Ath-mungscentrums getrennt, so kann man durch Reizung sensibler Hautnerven noch einzelne Athemmuskeln reflectorisch anregen. Gibt es nun vielleicht f\u00fcr die letzteren ausser den willk\u00fchrlichen und reflec-.","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186 Eckhard, K\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\ntorisch erregbaren Wegen noch einen dritten, den vorher erw\u00e4hnten durch Strychnin erregbaren Weg? Es kommen Hemiplegieen vor, bei welchen Glieder, die vorher willk\u00fchrlich und reflectorisch zu erregen waren, nunmehr nur noch durch pl\u00f6tzliche heftige Seelenerregungen in Bewegungen gesetzt werden k\u00f6nnen. Entsprechen diesen drei Erregungsarten bis zu gewissen Punkten hin von einander getrennte Wege und wo liegen diese?\nNicht minder \u00e4rmlich sehen unsere Kenntnisse \u00fcber die Lagerung der Gef\u00e4ssnervenbahnen aus. Da, so viel wir jetzt wissen, alle Gef\u00e4ssnervencentren reflectorisch erregbar sind, so muss auch hier zwischen den centripetalen und centrifugalen Gef\u00e4ssnerven unterschieden werden, und da weiter gef\u00e4ssverengernde und gef\u00e4sser-weiternde Nervencentren Vorkommen, so wird die Zukunft darauf bedacht sein m\u00fcssen, die Lagerung dieser vier Gef\u00e4ssnervenarten auszumitteln. Diese Aufgabe wird aber erst dann befriedigend gel\u00f6st werden k\u00f6nnen, wenn die einzelnen Gef\u00e4ssnervencentren im Mark und Gehirn ihrer Lage und ihren Eigenschaften nach besser gekannt sein werden. Ich fasse das zur Zeit Bekannte in folgende S\u00e4tze zusammen. a) Die centrifugalen verengenden Gef\u00e4ssnerven liegen beim Kaninchen stellenweise wenigstens in den weissen Seitenstr\u00e4ngen. Dies folgt aus dem Versuche Dittmar\u2019s 1, dass nach einer Zerst\u00f6rung des gesammten Marks mit Ausnahme der weissen Seitenstr\u00e4nge in der H\u00f6he des dritten Halswirbels die Reizung des N. ischiadicus noch reflectorische Erh\u00f6hung des Blutdrucks gibt. Dass sie auf gewisse Strecken auch die graue Substanz durchziehen, findet man annehmbar durch die Voraussetzung, dass die c\u00e8ntrifugalen Gef\u00e4ssnerven mit Ganglienzellen Zusammenh\u00e4ngen, welche die reflectorischen Einwirkungen auf die Gef\u00e4ssnerven vermitteln. Ausserdem scheint ein kurz von Vulpian2 berichteter Versuch daf\u00fcr zu sprechen, dass die Gef\u00e4ssnerven an manchen Stellen in der grauen Substanz besonders dicht zusammengedr\u00e4ngt w\u00e4ren. Diesem zufolge hatte eine fast nur die graue Substanz des Dorsalmarks betreffende Verletzung auf die vasomotorischen Nerven nahezu denselben Einfluss, wie eine vollkommene Section des ganzen Marks an dieser Stelle. Indess ist dieser Versuch zu kurz berichtet, um ihm volles Vertrauen zu schenken. Das Resultat kann ein Gemenge mancherlei Wirkungen gewesen sein; es bedarf jedenfalls der Wiederholung und einer weiteren Zergliederung. Beachtenswert ist allerdings, dass eine schon\n1\tC. Dittmar, Ueber die Lage des sogenannten Gef\u00e4ssnervencentrums in der Medulla oblongata. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-pbys. Cl XXV. S. 455. 1873.\n2\tA. Vulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vaso-moteur. 1. p. 222.","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Andere Nervenwege im Gehirn und R\u00fcckenmark.\n187\n\u00e4ltere Bemerkung von v. Bezold 1 hiermit \u00fcbereinstimmt, b) Ebenso liegt ein Tbeil der centripetalleitenden Gef\u00e4ssnerven bei demselben Tbiere in dem Raume zwischen der dritten Lenden- und ersten Brust-nervenwurzel in denselben weissen Seitenstr\u00e4ngen. Dies ergibt sieb aus Versuchen von Miescher1 2 3, welcher die im N. ischiadicus gelegenen, den Blutdruck reflectoriscb erh\u00f6henden, centripetalleitenden Gef\u00e4ssnervenfasern durch jene Stelle verfolgte. Nawrocki 3 hat diese Erfahrung noch erweitert, indem er nach wies, dass die fraglichen Fasern auf der angegebenen Strecke nicht die graue Substanz durchziehen, c) Jenseits des bedeutendsten S. 77 beschriebenen Gef\u00e4ssnervencentrums, also in der Richtung nach dem Grosshirn zu, liegen noch Gef\u00e4ssnervenfasern, deren weiterer Verlauf und physiologische Beziehungen zur Zeit nicht klar aufgedeckt sind. Budge4 fand, dass Reizungen des Pedunculus cerebri bei curarisirten Thieren Zusammenziehung vieler K\u00f6rperarterien und damit Erh\u00f6hung des Blutdrucks der Carotis hervorbringen. Afanasiew5 hat diese Angaben best\u00e4tigt. Es geh\u00f6ren ferner in diese Categorie Versuche von m i r6 7, bei denen es mir in einzelnen F\u00e4llen gelang, durch Reizung der Grosshirnstielausbreitungen die Erectionsblutung hervorzurufen und durch eine solche des Kleinhirns und der Vierh\u00fcgelgegend die Ohrarterien zu verengern, d) Ueber Kreuzungen von Gef\u00e4ssnervenfasern innerhalb des Cerebrospinalorgans lauten die bisherigen Angaben noch widersprechend. Was die centripetalleitenden Fasern anlangt, so steht von ihnen fest, dass manche von ihnen von einer Seite zur anderen \u00fcbergehen. In der vorher erw\u00e4hnten Arbeit Mie-scher\u2019s finden sich hierf\u00fcr Belege. Kreuzungen der centrifugalen Gef\u00e4ssnerven hat zuerst Schiff 7 behauptet. Er gibt an, bei Durchschneidungen einer H\u00e4lfte des R\u00fcckenmarks am unteren Ende der Rautengrube eine in Folge von Gef\u00e4ssl\u00e4hmung eintretende Temperaturerh\u00f6hung am Kopf, an den Ohren, dem Vorderarm, dem Unterschenkel, den Vorder- und Hinterfussen, sowie den Zehen derselben Seite, desgleichen eine solche am Rumpf, den- Schultern, Oberarm und Oberschenkel der anderen Seite beobachtet zu haben, w\u00e4hrend\n1\tv. Bezold, Ueber die gekreuzten Wirkungen des R\u00fcckenmarks. S. 58.\n2\tF. Miescher, Zur Frage der sensiblen Leitung im R\u00fcckenmark. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math. phys. CI. 12. Dec. 1870.\n3\tNawrocki, Beitrag zur Frage d. sensiblen Leitung im R\u00fcckenmark. Daselbst XLIII. S. 585. 1871.\n4\tJ. Budge, Centralbl. f. d med. Wiss. 1864. Nr. 35; Ueber das Gef\u00e4ssnerven-centrum. Arch f. d. ges. Physiol. VI. S. 303. 1872.\n5\tAfanasiew, Ueber die physiol. Bedeutung der Pedunculi cerebri. Kiew 1869. Russisch. Ich kenne diese Arbeit nicht aus eigner Lect\u00fcre des Originals.\n6\tMeine Beitr\u00e4ge. VII. S. 78. 99.\n7\tM. Schiff, Untersuchungen zur Physiologie d. Nervensystems. I. S. 206. 1855.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188 Eckhard, R\u00fcckenmark u. Gehirn. 5. Cap. Das Cerebrospinalorg. als Leitgsorg.\ndie zuletzt genannten Theile auf der verletzten Seite k\u00e4lter waren. Die Temperaturerh\u00f6hung auf Gef\u00e4sserweiterung beziehend, sagt nun Schiff, dass die vaso-motorischen Nerven f\u00fcr den Rumpf, Oberarm und Oberschenkel sich im R\u00fcckenmark kreuzen. Fr\u00fchere Experimentatoren, wie Brown-SequARD und Bernard, hatten, in Ueberein-stimmung mit Aerzten, wie Chossat, Brodie, Dundas, welche die gel\u00e4hmten Glieder w\u00e4rmer, als die gesunden gefunden, bei hohen Hemisectionen des Marks, nur auf der operirten Seite Temperaturerh\u00f6hung gesehen, sie aber auch gleich Schiff auf Gef\u00e4sserweiterung bezogen, v. Bezold 1 hat die Versuche von Schiff wiederholt. Das Ergebniss derselben trug aber Merkmale, welche die Annahme einer Kreuzung nicht vertrugen. Es lohnt sich nicht der M\u00fche hierauf n\u00e4her einzugehen, da heute diese ganze Versuchsweise missbilligt werden kann, weil die Lehre von der Existenz besonderer W\u00e4rme-centren noch nicht definitiv abgeschlossen ist. Ich hebe nur die nach v. Bezold entscheidende Thatsache hervor, dass in den Gliederabtheilungen der entgegengesetzten Seite, in denen nach Schiff Temperaturerh\u00f6hung stattfindet, diese keine absolute, sondern nur eine relative im Vergleiche zu den analogen gel\u00e4hmten Gliederabtheilungen der verletzten Seite ist. Vulpian1 2, welcher sich auch mit diesem Gegenstand besch\u00e4ftigt hat, konnte sich nicht durchweg von der Richtigkeit der Angaben Schiff\u2019s \u00fcberzeugen. Man wird wohl thun, bei der weiteren Bearbeitung dieses Gegenstandes aus dem angegebenen Grunde das Gef\u00e4sskaliber direct zu beobachten. In neuerer Zeit.sind durch Thatsachen der Entwickelungsgeschichte, fortgesetztes Studium pathologischer Befunde und Versuche, die Degenerationen in Hirn und Mark k\u00fcnstlich herzustellen noch mancherlei Andeutungen \u00fcber die Leitungswege in den Centralorganen erhalten worden. Ich habe indess geglaubt, von den bez\u00fcglichen Angaben absehen zu d\u00fcrfen. Theils greifen sie in die Physiologie der Grosshirnrinde ein, theils tragen sie noch zu sehr das Gepr\u00e4ge der Entwickelung, so dass man besser thut, einen reifem Zustand dieser Kenntnisse abzuwarten.3\n1\tv. Bezold, Ueber die gekreuzten Wirkungen des R\u00fcckenmarks. S. 55 ff.\n2\tA. Vulpian, Le\u00e7ons sur l\u2019appareil vaso-moteur. I. p. 201.204.\n3\tCharcot, Le\u00e7ons sur les maladies d. s. n. 1874 ; P. Flechsig, Die Leitungsbahnen etc. 1876 u. Ueber System -Erkrankungen etc. 1878; Gudden, Experimentaluntersuchungen etc. Arch. f. Psychiatrie. IL S. 693 ; Mayser, Experim. Beitr\u00e4ge etc. ibid. VII. S. 539; Schieferdecker, Regeneration etc. Arch. f. pathol. Anat. LXVII. S. 542.","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"ZWEITER THEIL.\nPHYSIOLOGIE HER GROSSHIRNRINDE\nVON\nProf. Dr. SIGrM. EXNER in Wien.\nEinleitung.\nEine Physiologie der Grosshirnrinde in dem Sinne, wie es eine Physiologie des Muskels, der Niere etc. gibt, existirt heute noch kaum. Nur erste Anf\u00e4nge einer solchen haupts\u00e4chlich aus den letzten Jahrzehnten stammend liegen vor, und erwecken die Hoffnung es werde im Laufe der n\u00e4chsten Decennien gelingen auch dieses Organ in das Bereich der Forschung einzubeziehen. Wie immer in solchen F\u00e4llen ist es auch hier sehr schwer eben diese Anf\u00e4nge zu sammeln und in ein Capitel zusammenzustellen. Die Schwierigkeiten sind doppelter Art. Erstens fehlt hier das fest gesteckte Ziel, welches den Untersuchungen in jedem anderen Capitel der Physiologie ihre Richtung anweist und sie dadurch einheitlich und sich gegenseitig erg\u00e4nzend gestaltet. Seit der Begriff der Lebenskraft aus der Physiologie geschwunden, ist das Ziel jener Forschungen das Zur\u00fcckf\u00fchren der Erscheinungen auf physikalische nnd chemische Vorg\u00e4nge. Nicht so im vorliegenden Capitel. Ein Theil der Forscher verfolgt dasselbe Ziel auch f\u00fcr die Physiologie der Grosshirnrinde, indem er die sogenannten psychischen Erscheinungen bei Mensch und Thier diesem Organe zuspricht und als letztes erreichbares Ziel die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen auf mechanischer Grundlage anstrebt. Der bei weitem gr\u00f6ssere Theil jener Forscher, die sich mit psychischen Fragen besch\u00e4ftigt haben, arbeitete mit einem wesentlich anderen Ziele vor Augen. Er sieht das Gehirn nur als Vermittler zwischen K\u00f6rper und einer immateriellen Seele an, und bearbeitet","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nExner, Grosshirnrinde. Einleitung.\nalle jenen psychischen Fragen in einer wesentlich anderen Richtung, indem er jede Art mechanischer Erkl\u00e4rung zuriickweist.\nErw\u00e4gt man, dass weder die Existenz der Seele, noch die Nichtexistenz derselben erwiesen ist, so begreift man, dass es nicht leicht ist, die Resultate dieser verschiedenen Forschungsmethoden unter einen Gesichtspunkt zu bringen.\nEine zweite Schwierigkeit liegt darin, dass wir einerseits eine grosse Menge physiologischer Erscheinungen kennen, welche, wie beide Parteien anerkennen, in den Functionen des Nervensystems und nicht in der immateriellen Seele ihre Grundlage haben, andererseits kennen wir eine grosse Anzahl von Organen im Gehirn : welche Functionen, und welche Organe aber zusammengeh\u00f6ren, d. h. welche bekannten Functionen von welchen bekannten Organen geleistet werden, wissen wir nur in sp\u00e4rlichen F\u00e4llen. Es besteht eine reiche Erfahrungswissenschaft \u00fcber psychische und psychophysische Erscheinungen, und eine ebenso reiche Erfahrungswissenschaft \u00fcber die Anatomie des Grosshirns. Beide aber stehen zum grossen Theile unvermittelt nebeneinander auch f\u00fcr den Forscher, der keine Seele als Erkl\u00e4rungsbasis annimmt.\nAus dem Gesagten geht hervor, dass es nicht gut m\u00f6glich sein wird \u00fcber den uns in diesem Capitel besch\u00e4ftigenden Stoff zu sprechen, ohne in der Frage von der immateriellen Seele Stellung zu nehmen, und w\u00e4re es auch nur der Schwerf\u00e4lligkeit der Darstellung wegen, welche die gleichzeitige Ber\u00fccksichtigung beider Anschauungen mit sich bringen w\u00fcrde.\nEs wird vortheilhaft sein, den materialistischen Standpunkt zu w\u00e4hlen, d. h. jede andere als eine auf materiellen Vorg\u00e4ngen beruhende Erkl\u00e4rung zu verwerfen, wie aus folgender Betrachtung hervorgeht. Der Umstand, dass es bisher nicht gelungen ist,'die psychischen Vorg\u00e4nge materialistisch zu erkl\u00e4ren, ist kein Grund eine immaterielle Erkl\u00e4rungsbasis anzunehmen. W\u00e4re dieses Grund genug, dann m\u00fcssten auch f\u00fcr die Witterungs\u00e4nderungen, viele Krankheiten etc. immaterielle Grundlagen angenommen werden.\nFerner ist in einer Welt, in welcher an Materie gebundene Kr\u00e4fte sich mit zwingender Nothwendigkeit dem Bewusstsein aufdr\u00e4ngen, in welcher aber eine sogenannte immaterielle Kraft niemals mit Sicherheit erkannt wurde, die Annahme immaterieller Kr\u00e4fte, welche obendrein materielle Ver\u00e4nderungen im lebenden K\u00f6rper hervorrufen sollen, etwas so Auffallendes, dass es n\u00f6thig erscheint, auf der materiellen Basis f\u00fcr Erkl\u00e4rungen so lange zu verbleiben, bis nachgewiesen ist, dass immaterielle Kr\u00e4fte, wie jene Seele solche repr\u00e4sentirt, existiren.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Einteilung.\n191\nEs haben also die Vertreter der Seelentheorie die Aufgabe, die Existenz der Seele, nicht die Bek\u00e4mpfer derselben, die Nicht-Existenz der Seele zu beweisen. Endlich mag bei der Fixirung des Standpunktes die Erfahrung leiten, dass die Physiologie nie so grosse Fortschritte gemacht hat, als seit dem Moment, in welchem sie jene mechanischen Erkl\u00e4rungen als das einzige Forschungsziel anerkannt hat.\nEs f\u00e4llt nach dem Gesagten die sogenannte psychische Th\u00e4tig-keit mit in den Kreis unserer Betrachtungen (es wird sich n\u00e4mlich unten zeigen, dass dieselbe der Hirnrinde mit gr\u00f6sster Wahrscheinlichkeit zugesprochen werden muss), und dieser sollen jene Erscheinungen (psychophysische) angereiht werden, welche mit den psychischen in engem Zusammenhang stehen, obgleich f\u00fcr sie nicht einmal in dem Grade wie f\u00fcr die ersteren wahrscheinlich ist, dass sie an die Rinde des Grosshirns gebunden sind.\nDer Plan der nachfolgenden Auseinandersetzungen wird demnach folgender sein:\nA) Allgemeine Physiologie der Grosshirnrinde.\nI.\tErfahrungen und Versuche \u00fcber die physiologische Stellung der Hirnrinde.\nII.\tDie Empfindungsimpulse.\n1.\tDie Empfindungen im Allgemeinen.\n2.\tDie Intensit\u00e4t der Empfindungen (Psychophysik).\nIII.\tDie Bewegungsimpulse.\nIV.\tZeitlicher Verlauf der Empfindungs- und Bewegungs - Impulse.\nV.\tDie Aufmerksamkeit.\nVI.\tDie Affecte.\nVII.\tDer Schlaf.\nB) Specielle Physiologie der Grosshirnrinde.\nAnatomische Einleitung.\nI.\tSpecielle Physiologie\tder\tGrosshirnrinde\tder\tThiere.\nII.\tSpecielle Physiologie\tder\tGrosshirnrinde\tdes\tMenschen.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nExner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\nA. ALLGEMEINE PHYSIOLOGIE.\nERSTES CAPITEL.\nErfahrungen und Versuche \u00fcber die physiologische Stellung der Einde,\nEs dr\u00e4ngt sich zun\u00e4chst die Frage auf, wie ist man zur gangbaren Ansicht gekommen, der zufolge die Hirnrinde das Organ der h\u00f6heren geistigen Verrichtungen ist? Es scheint nicht, dass uns das Gef\u00fchl unmittelbar sagt, dass wir mit dem Kopfe denken, noch weniger, dass wir mit dem Gehirn oder mit der Gehirnrinde denken. W\u00fcrden wir, wie es wohl manchmal scheinen mag, den Ort des Denkens empfinden, so w\u00e4re die Anschauung eines Theiles der Hippokratischen Schule, dass die Seele im Blute enthalten sei \\ ebenso die Lehre von Aristoteles1 2 nicht m\u00f6glich gewesen, der zu Folge das Gehirn ein Klumpen kalter Substanz ist, bestimmt die vom Herzen aufsteigende W\u00e4rme zu d\u00e4mpfen.3\nDer erste, welcher das Gehirn als den Sitz des Bewusstseins, der Gef\u00fchle, des Denkens, kurz aller h\u00f6heren Geistesfunetionen angesehen hat, scheint Alkm\u00e4on aus Kroton gewesen zu sein, von dessen Lehren Plutarch, De placitis philosophorum. IV. 17, 1, und Theophrast, De sensu, \u00a7 25\u201426 berichtet. Alkm\u00e4on war Arzt und soll zuerst Sectionen gemacht haben. Er war nach Aristoteles\u2019 Metaphysik I. 5 ein j\u00fcngerer Zeitgenosse des Pythagoras, der im 6. Jahrhundert v. Chr. gelebt hat. Auch ein Zeitgenosse des Hippokrates, dessen Namen uns nicht erhalten ist, vertheidigt in der Schrift: De morbo sacro (Epilepsie) jene Anschauung des Alkm\u00e4on (die Schrift befindet sich unter dem Namen des Hippokrates in dessen Abhandlungen: Oeuvres d\u2019Hippokrate \u00e9d. Littr\u00e9. VI. 386 ff.). Sp\u00e4ter hat auch Plato diese Ansicht acceptirt. Dass \u00fcbrigens damals schon die richtige Ansicht vertreten war, kommt bei unserer Frage nicht in Betracht, da aus dem Umstande, dass hervorragende M\u00e4nner des Alterthums das Denken nicht in den Kopf verlegten, hinl\u00e4nglich hervorgeht, dass nicht unmittelbar empfunden wird, wo dasselbe statt hat.\n1\tSammlung Hippokratischer Schriften, De natura hominis LVI. 44.\n2\tDe historia animalium. L. II. Cap. 7.\n3\tVergl. \u00fcber die Kenntnisse der Alten in diesen Dingen : H. H\u00e4ser, Geschichte der Medicin. Jena bei H. Dufft. 1875.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Hirngewicht und K\u00f6rpergewicht.\n193\nMan muss also nach \u00e4usseren Erfahrungen suchen, welche jene Anschauungen begr\u00fcndet haben.\n1.\tEin solcher Fingerzeig musste schon den ersten Anatomen, welche gewissenhaft zergliederten, in dem Umstande ersichtlich werden, dass die Sinnesorgane in enger Verbindung mit dem Gehirn gefunden wurden, dass \u00fcberhaupt das Gehirn den Sammelplatz f\u00fcr die Nerven (deren physiologische Bedeutung allm\u00e4hlich erkannt wurde) bildet, Deshalb verlegen die Alexandriner, an ihrer Spitze der grosse Anatom Herophilus (um 300 v. Chr.), die Seele in das Gehirn, wie es scheint speciell in den vierten Ventrikel. Ebenso versetzt sp\u00e4ter Galen (geb. 131 n. Chr.) sein Ttvevua xpuyizdv in das Gehirn.\n2.\tEin zweiter Umstand, der zur Ansicht von den psychischen Functionen der Gehirnrinde f\u00fchren musste, ist in der vergleichenden Anatomie gefunden worden. Vergleicht man das Gewicht des Gehirns eines Thieres mit seinem Gesammtgewicht, so findet man dieses\numso gr\u00f6sser, je intelligenter das\nites zum K\u00f6rpergewicht.\nZeisig................1:231\nAdler...............1 : 160\nTaube...............1 :\t104\nRatte...............1 :\tS2\nGibbon..............1 :\t4S\nJunge Katze.........1 :\t39\nWinselaffe..........1: 25\nVerh\u00e4ltniss im Al lg\tem\tei\tnen\nThier ist.\t\t\t\nVerh\u00e4ltniss des\tHi\trngew\t\nThunfisch .\t.\t.\t.\t\ti\t37440\nLandschildkr\u00f6te .\t.\t\ti\t2240\nWels\t\t\t1\t1S37\nQuappe (Gadus Iota)\t\t1\t720\nElefant\t\t\t1\t500\nSalamander .\t.\t.\t\t1\t3S0\nSchaf \t\t\t1\t354\nWie die vorstehende Tabelle1 zeigt, ist jenes Verh\u00e4ltniss zwischen Gehirn- und Gesammtgewicht nur im grossen Ganzen ein Maassstab f\u00fcr die Intelligenz, im einzelnen kommen offenbar Abweichungen vor, wie z. B. dass der Elefant unter dem Salamander und dem Schafe zu stehen kommt u. dgl. m. Die Tabelle giebt gleichzeitig den Anhaltspunkt daf\u00fcr, warum von einem solchen Schema nicht zu erwarten ist, dass es in jedem Falle passt. Die Schildkr\u00f6te steht in der Tabelle offenbar nur desshalb so tief, weil ihr Panzer das K\u00f6rpergewicht wesentlich erh\u00f6ht. W\u00e4re es m\u00f6glich, denselben zu entfernen, so w\u00fcrde bei gleichbleibender Intelligenz ihre Stellung in der Tabelle bedeutend zu ihren Gunsten ge\u00e4ndert. Aehnlich ist es in anderen F\u00e4llen.\nEin wie es scheint viel stichhaltigeres Kriterium f\u00fcr den Grad\nl Tlieils nach Carus, Lehrb. d. vergleich. Zootomie. Leipzig ISIS. theils nach J. M\u00fcller, Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. I. S. S30. Coblenz 1S3S. Es Hessen sich noch viele andere W\u00e4gungen anf\u00fchren, doch gen\u00fcgen die mitgetheilten f\u00fcr den vor\u00fce-genden Zweck.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\n13","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Kinde.\nder Intelligenz hat Johannes M\u00fcller der vergleichenden Anatomie entnommen.1 W\u00e4hrend n\u00e4mlich beim Menschen die grossen Hemisph\u00e4ren eine solche Ausbildung angenommen haben, dass sie von ober her nicht nur die Stammganglien, mit denen sie verbunden sind, sondern auch Vierh\u00fcgel und Kleinhirn bedecken, werden diese Organe umsomehr bei der Betrachtung des Gehirns von Oben sichtbar, je tiefer man in die Wirbelthierreihe hinabsteigt.\nBei den intelligenteren S\u00e4ugethieren haben sich die Hinterlappen des Grosshirns schon so weit zur\u00fcckgezogen, dass das Kleinhirn zum Theil frei geworden ist, bei den Nagern ist es schon ganz frei, bei den V\u00f6geln sind auch die Vierh\u00fcgel nicht mehr vom Grosshirn bedeckt und bei den Amphibien ist dieses Zur\u00fcckziehen des Grosshirns noch weiter vorgeschritten. In demselben Maasse, in welchem die Hemisph\u00e4ren sich verkleinern, vergr\u00f6ssern sich die Vierh\u00fcgel den Dimensionen der \u00fcbrigen Gehirn-Antheile gegen\u00fcber, so dass, w\u00e4hrend letztere beim Menschen verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig klein sind, sie beim Fisch sich der Gr\u00f6sse des Grosshirns schon so weit gen\u00e4hert haben, dass man im Zweifel dar\u00fcber sein k\u00f6nnte, was Grosshirn und was Vierh\u00fcgel ist.\nMeynert2 fand ein anatomisches Maass der Intelligenz in der S\u00e4ugethierreihe in Folgendem. Seine Studien f\u00fchrten ihn zu der Anschauung, dass im Fusse des Hirnschenkels die Bahnen f\u00fcr die willk\u00fcrlichen Bewegungen und die Empfindungen, in der Haube des Hirnschenkels diejenigen f\u00fcr reflectorisch ausgel\u00f6ste Bewegungen verlaufen. Dem entsprechend findet sich in den Gehirnen der S\u00e4ugethierreihen Grosshirnlappen, Linsenkern und Fuss des Hirnschenkels stets in gleichem Maasse entwickelt, d. h. ein Thier das gut entwickelte Grosshirnlappen hat, hat auch einen gut entwickelten Linsenkern und Hirnschenkelfuss. Das von Meynert aufgestellte Maass besteht nun in dem Fl\u00e4chenverh\u00e4ltniss zwischen Querschnitt der Haube und des Fusses, welches ein Schnitt durch den Hirnschenkel zeigt. Je gr\u00f6sser die Intelligenz, desto gr\u00f6sser ist der Fuss im Vergleiche zur Haube entwickelt. Es stimmt hiermit \u00fcberein, dass im menschlichen Embryo die Haube relativ stark entwickelt ist.\nNachstehend die betreffende Tabelle Meynert\u2019s mit der Bemerkung, dass vollkommen exacte Messungen wegen der Begr\u00e4nzungs-weise dieser anatomischen Bezirke nicht ausf\u00fchrbar sind, weshalb hier nur H\u00f6hen angegeben wurden.\n1\tJoh. M\u00fcller, Handb. d. Physiol, d. Menschen. I. S. 825. Coblenz 1838.\n2\tMeynert, Studien \u00fcber die Bedeutung d. zweifachen R\u00fcckenmarkursprunges aus dem Grosshirn. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LX. 2. Abth. 1869.","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Meynert\u2019s Maass der Intelligenz. Hirngewicht.\n195\n\tGr\u00f6sse der Gesammt-h\u00f6he des Hirn-schenkels mm.\tMediale H\u00f6he der Haube mm.\tSeitliche H\u00f6he der Haube mm.\tH\u00f6he des Fusses mm.\nErwachsener Mensch .\t25\t8,5\t10,5\t10\nF\u00f6tus aus dem 7. Monat\t12,5\t4\t5\t2,5\nHarlekinaffe\t\t12,5\t5\t6,5\t2\nHund\t\t15\t7\t8\t2,5\nKatze\t\t11,5\t4\t5,5\t1\nNeugeborenes Schaf . .\t13\t4,5\t6,5\t0,6\nKalb\t\t25\t6\t14\t2\nPferd \t\t27\t8\t10\t3\nK\u00e4nguru \t\t14,5\t5\t7\t2\nK\u00e4ngururatte \t\t9\t4\t4\t0,8\nAguti\t\t14\t5\t6\t1\nReh\t\t19,5\t5,5\t9\t1,5\nSchwein \t\t20\t6\t9\t1,5\nMeerschweinchen . . .\t7\t3\t3,5\t0,4\nFledermaus (Pteropus).\t5,5\t1,6\t2,8\t0,24\n1 Maulwurf\t\t5 1\t2,2\t2,5\t0,4\n3. Ein weiterer Umstand der der Anschauung, dass das Gehirn der Sitz des psychischen Lebens ist, das Wort spricht, liegt darin, dass Gr\u00f6sse und Windungsreichthum des menschlichen Gehirnes mit der h\u00f6heren Intelligenz des Individuums zunimmt, und zwar, wie abermals hervorgehoben werden muss, im grossen Ganzen, denn niemals kann aus dem anatomischen Befund ein sicherer Schluss auf die Intelligenz gezogen werden. So f\u00fchrt Huschke 1 an, dass in einer grossen Anzahl von durch ihn ausgef\u00fchrten W\u00e4gungen das Maximum des Hirngewichtes bei 1500\u20141600 grm., das Minimum bei 880 grm. lag.1 2 Dem gegen\u00fcber wog das Gehirn von Lord Byron . . . 2238 grm.\nCromwell . . .2233 \u201e\nCuvier .... 1829 \u201e\nEin Factor, der die Gr\u00f6sse des Gehirnes wesentlich mit zu beeinflussen scheint, ist die K\u00f6rpergr\u00f6sse. Doch geht dies nur bis zu einer gewissen Gr\u00e4nze. Wenn der K\u00f6rper abnorm gross wird, nimmt das Gehirn wieder relativ ab, wie Langer 3 bei Messungen von \u201eRiesenskeletten\u201c fand.\nUeberblickt man die Gehirne der Wirbelthierreihen, so erkennt man sogleich, dass im Allgemeinen geistig tiefer stehende Arten und Species ein furchenarmes, geistig h\u00f6her stehende ein furchenreicheres\n1\tHuschke, Sch\u00e4del, Hirn und Seele. S. 58. Jena 1854.\n2\tYergl. die Tabelle in: Rudolf Wagner, Vorstudien zu einer wissenschaftl. Morph, u. Physiol, des Gehirns als Seelenorgan; und Burdach, Bau und Leben des Gehirns. II. S. 5. Leipzig 1822.\n3\tLanger, Wachsthum des menschl. Skelettes mit Bezug auf die Riesen. Denkschrift d. Wiener Acad. d. Wiss. XXXI. bei Gerold 1871.\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\nGehirn haben.1 Dasselbe Verh\u00e4ltnis zeigt sich, wenn wir Gehirne menschlicher Embryonen verschiedenen Alters unter einander vergleichen. Je \u00e4lter der Embryo, desto mehr Windungen besitzt sein Gehirn. Es war also zu erwarten, dass sich derartige Unterschiede auch bei erwachsenen Menschen verschiedenen Intelligenzgrades finden werden, um so mehr, als man schon wusste, dass Idioten windungsarme Gehirne haben.\nVon diesem Gesichtspunkt und durch die Anschauung geleitet, dass die Bedeutung der Windungen in der Vergr\u00f6sserung der grauen Hirnrinde beruhe, untersuchte Hermann Wagner2, fussend auf Messungen seines Vaters Rudolf Wagner3, die Gehirne des Mathematikers Gauss, des Klinikers Fuchs, einer 29j\u00e4hrigen Frau und des Handarbeiters Krebs auf ihre Oberfl\u00e4che.\nDiese Oberfl\u00e4chenbestimmungen, die sich ausschliesslich auf das Grosshirn bezogen, geschahen, indem Goldschaum in Pl\u00e4ttchen so auf die Gehirnrinde aufgelegt wurde, dass dieselbe, wie eine vergoldete Nuss, vollkommen mit einer Schicht desselben \u00fcberzogen war. Aus dem Gewichte des verbrauchten Goldschaumes ergab sich dann die Gr\u00f6sse der Oberfl\u00e4che. H. Wagner fand auf diesem Wege, dass bei allen vier Gehirnen die in den Furchen verborgene Oberfl\u00e4che n\u00e4herungsweise der freiliegenden Oberfl\u00e4che gleich war, und dass die Gesammtoberfl\u00e4che betrug\nbei\tGauss\t.\t.\t2196\t[J-cm.\n\u201e\tFuchs\t.\t.\t2210\t\u201e\n\u201e\tder Frau\t.\t2041\t\u201e\n\u201e\tKrebs\t.\t.\t1877\t\u201e\nDie Oberfl\u00e4che des Grosshirns ist also, wenn man die bei den vier Messungen erhaltenen Resultate verallgemeinern will, bei hervorragender Intelligenz eine gr\u00f6ssere.\n4. Der directe Nachweis, dass das Gehirn der Sitz der psychischen Functionen ist, liegt in der Thatsache, dass die Durchschneidung oder Verletzung der Nerven, ja selbst des R\u00fcckenmarks diese Functionen, insofern nicht indirecte Einwirkungen stattfinden, nicht st\u00f6rt, dass aber die von diesen Organen versehenen Muskeln der Willk\u00fcr entzogen sind und die durchtrennten Nerven keine Verbindung der Aussenwelt mit dem Bewusstsein mehr vermitteln.\nLiesse sich eine systematische Versuchsreihe ausf\u00fchren, in wel-\n1\tDesmoulins, Anatomie des system, nerv. II. p. 606. Paris 1825.\n2\tH. Wagner, Maassbestimmungen d Oberfl\u00e4che des grossen Gehirnes. Inaug.-Diss. Cassel 1864.\n3\tR. Wagner, Vorstudien zu einer wissenschaftl. Morph, u. Physiol, d. Gehirns als Seelenorgan.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Windungsreichthum. Hirnexstirpation.\n197\neher man gegen das Gehirn vorschreitend Querschnitt auf Querschnitt durch das R\u00fcckenmark legt, und w\u00fcrde man hierbei beachten k\u00f6nnen, wann eine St\u00f6rung der Intelligenz eintritt, so w\u00fcrde man mit solchen Querschnitten jedenfalls \u00fcber die medulla oblongata, vielleicht auch \u00fcber die Stammganglien hinaus, wahrscheinlich bis zur Hirnrinde gelangen k\u00f6nnen, ohne eine solche wahrzunehmen. Aus nahe liegenden Gr\u00fcnden l\u00e4sst sich diese Versuchsreihe nicht ausf\u00fchren, wohl aber l\u00e4sst sich nebst dem schon erw\u00e4hnten Anfangsglied auch das Endglied derselben verwirklichen. Man kann n\u00e4mlich die Grosshirnrinde oder die ganzen Grosshirnlappen eines Thieres von ihren peripheren Verbindungen trennen. Von diesen Grosshirnlappen k\u00f6nnen wir nun freilich nicht erfahren, ob sie noch Intelligenz besitzen, denn sie haben kein Mittel dieselbe zu zeigen, wohl aber k\u00f6nnen wir die Thiere ohne diese Organe beobachten, \u2014 denn viele Thiere \u00fcberleben diese Operation sehr gut, \u2014 und uns auf diese Weise \u00fcberzeugen, dass die Grosshirnrinde Sitz der h\u00f6heren geistigen Functionen ist.\nDie Exstirpation des Grosshirns, einzelner Theile desselben sowie seiner Rinde ist eine Operation, welche seit dem Beginne dieses Jahrhunderts von einer ganzen Reihe von Forschern an Thieren ausgef\u00fchrt wurde, welche k\u00fcrzere oder l\u00e4ngere Zeit, bisweilen Monate lang, die Operation \u00fcberlebten.1 Am meisten eignen sich hierzu Amphibien, vor allen die Fr\u00f6sche, dann V\u00f6gel und junge S\u00e4ugethiere. Aeltere S\u00e4ugethiere \u00fcberstehen die Operation schwer, j\u00fcngere V\u00f6gel\n1 Yergl. Desmoulins, Anatomie des syst. nerv. II. Paris 1825 ; Calmeil, Journ. des progr\u00e8s des sc. et inst. med. XI. p. 91. 1828; Bouillaud, Journ. de physiol, exp. IX. 1830 ; Gerdy, Bull. d. l\u2019Acad. de m\u00e9d. Y. 1840 ; Flourens, Recherches experim. sur les propri\u00e9t\u00e9s et les fonctions du syst. nerv. 2. \u00e9dit. Paris 1842 ; Magendie, Pr\u00e9cis \u00e9l\u00e9m. de physiol. I. 1836; Derselbe, Le\u00e7ons sur les fonct. I. Paris 1839; Longet, Anatomie et Physiologie du syst. nerv. de l\u2019homme etc. Paris 1842, ins Deutsche \u00fcbersetzt von Hein. Leipzig 1847; G. Paton, Perceptive Power of the Spinal Chord. British med. Journ. 10. Juli 1858; Renzi, Saggio di Fisiologia sperimentale sui centri nervosi della vita psychica nelle quattro classi degli animali vertebrati. Annali univ. diMed. Yol. 186, 187, 189; Yulpian, Exp\u00e9riences ayant pour but de rechercher quelle est la partie des centres nerveux qui pr\u00e9side aux ph\u00e9nom\u00e8nes de l\u2019\u00e9motion. L\u2019Institut. No. 1590 ; Goltz, Beitr\u00e4ge zur Lehre von d. Functionen d. Nervericentra d. Frosches. Berlin 1869 und Centralbl. f. d. med Wiss. 1868. S. 690 u. 705 ; Onimus , Recherches exp\u00e9rimentales sur les ph\u00e9nom\u00e8nes cons\u00e9cutifs \u00e0 l\u2019ablation du cerveau etc. Journ. de l\u2019anat. et d. 1. physiol. 1871. 7. an. ; Kramszt\u00fck, Symptomatologie d. Yerst\u00fcmmelungen des Grosshirns beim Frosche. Arbeiten d. physiol. Laborat. in Warschau. 1873. Hft. 2 (russisch) ; im Auszuge in Hofmann u. Schwalbe\u2019s Jahresber. f. Anat. u. Physiol, f\u00fcr 1873. S. 465; Rosenthal, Ueber Bewegungen nach Abtragung der Grosshirnhemisph\u00e4ren. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1868. S. 739; Bischoff, ebendas. 1864. S. 53; Voit , Beobacht, nach Abtrag, der Hemisph\u00e4ren des Grosshirns bei Tauben. Sitzgsb. d. k. bair. Acad. d. Wiss. 1868 beschreibt Neubildung der Gehirnmasse nach der Exstirpation ; Lussana, Monografia delle vertigini e richerche di fisiologia neurologica. Ann. univ. di med. Yol. 164, Giugno, Luglio ; M\u2019 Kendrick Observations and exper. on the corpora striata and cerebral hemispheres of pigeons. Edinburgh 1873.","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\nauch leiehter als alte. Am h\u00e4ufigsten ist sie wohl an halb erwachsenen Tauben und H\u00fchnern ausgef\u00fchrt worden, weshalb auch hier zur Schilderung der Erscheinungen ein Huhn als Beispiel gew\u00e4hlt werden mag.\nMan spaltet einem Huhn mit einem Sagittalschnitt die Kopfhaut neben dem Kamme, schiebt dieselbe beiderseits zur\u00fcck, so dass der Sch\u00e4del ent-bl\u00f6sst ist ; das Sch\u00e4deldach wird mit einer Knochenzange abgetragen und mit den Hirnh\u00e4uten ebenso verfahren wie mit der Kopfhaut, dann mit einem scharfen L\u00f6ffelchen die Grosshirnhemisph\u00e4ren ausgeschaufelt.1 Schon bei der Durchtrennung des Knochens, noch mehr aber bei Verletzung des Gehirns tritt eine heftige Blutung ein, an welcher die Thiere zu Grunde zu gehen in Gefahr schweben. Deshalb muss dieser Theil der Operation schnell ausgef\u00fchrt werden, was nicht ganz leicht ist, weil man in dem mit Blut erf\u00fcllten Operationsfeld doch die Reste der Hemisph\u00e4ren bemerken und fortschaffen muss. Ist man sicher, dass letzteres gesehehen ist, so schliesst man, ohne durch Blutstillungsversuche Zeit zu verlieren durch N\u00e4hte die Kopfhaut und bringt auf die noch blutende Wunde gepulvertes Gummi arabicum. Dies etwas barbarisch erscheinende Mittel thut an diesem Platze sehr gute Dienste, denn es kommt durch immer neues Aufsch\u00f6pfen des Pulvers auf die blutende Stelle nicht nur die Blutung bald zum Stehen, sondern das im Blute gequollene Gummi bildet sp\u00e4ter beim Eintrocknen eine das Sch\u00e4deldach ersetzende feste H\u00fclle, und verhindert, dass sich das Thier durch Kratzen die Wunde immer wieder aufreisst. Es braucht kaum erw\u00e4hnt zu werden, dass man w\u00e4hrend der Operation in der Sch\u00e4delh\u00f6hle darauf zu achten hat, dass die zur\u00fcckbleibenden Theile des Gehirns nicht gezerrt werden, und dass man nach der Operation das Thier an einen warmen Ort bringt \u2014 wo es gew\u00f6hnlich apathisch hocken bleibt \u2014, ihm etwas Wasser giebt und mit R\u00fccksicht auf eine Nachblutung beobachtet.\nEs geht schon aus der Schilderung dieser Operation hervor, dass man es hier nicht mit einem exacten Experimente zu thun hat. Denn bei aller Vorsicht kann man niemals genau sagen, welche Gehirntheile man entfernt hat, welche Theile der Stammganglien noch vorhanden sind, ob alle Rinde der Basis des Gehirns fortgenommen ist etc. Aber auch wenn man dieses w\u00fcsste, so w\u00e4re immer noch die Frage, inwieweit die zur\u00fcckgebliebenen Hirnantheile in Folge der Degeneration an den Schnittfl\u00e4chen, in Folge des Extravasates u. s. f. functionsunf\u00e4hig geworden sind, offen, und nicht zu beantworten. Auch durch den Sections-befund l\u00e4sst sich kein Aufschluss gewinnen, da in der Narbe die Gehirnreste bis zur Unkenntlichkeit verzerrt sind. Es beziehen sich also die folgenden Schilderungen auf Thiere, von denen man nur mit Sicherheit aussagen kann, dass ihnen der gr\u00f6sste Theil der Hemisph\u00e4ren genommen worden ist. Schon w\u00e4hrend der Operation f\u00e4llt auf, dass das Thier zwar deutliche Schmerzens\u00e4usserungen macht, wenn man Haut und Knochen verletzt, dass es sich aber in den Hemisph\u00e4ren herumw\u00fchlen l\u00e4sst, ohne\n1 Krieshaber bediente sich bei dieser Operation des Gl\u00fcheisens (Destruction partielle progressive de l\u2019enc\u00e9phale sur un pigeon. Arch, de physiologie. 1869).","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Hirnexstirpation beim Huhn.\n199\neine Aeusserung des Unbehagens zu zeigen. Vielmehr verh\u00e4lt es sich w\u00e4hrend dieses geschieht, fast wie schlafend.\nMan hat bis zur zweiten H\u00e4lfte unseres Jahrhunderts lebhaft dar\u00fcber gestritten, ob die Verletzungen der grauen und der weissen Substanz der Hemisph\u00e4ren schmerzhaft \u00bbseien oder nicht.1 Jetzt ist man dar\u00fcber einig, dass, wie der in Rede stehende Versuch zeigt, diese Verletzungen nicht schmerzhaft sind, und dass die fr\u00fcheren dem scheinbar widersprechenden Versuche ihre Erkl\u00e4rung darin finden, dass die Verletzungen sich auf tiefer liegende Hirnantheile, ja selbst auf die Med. oblongata erstreckten.\nNachdem das operirte Huhn einige Stunden ersch\u00f6pft gelegen, erhebt es sich gew\u00f6hnlich aus seiner hockenden Stellung und steckt den Kopf unter die R\u00fcckenfedern, um scheinbar normal zu schlafen. Es beh\u00e4lt jedoch so lange es lebt die Neigung mehr zu hocken als es gesunde H\u00fchner thun, und mehr zu schlafen, so dass es halbe Tage lang in normaler Schlafstellung verharrt. Nach Verlauf einiger weiterer Stunden beginnt es langsam, fast wie vorsichtig, mit etwas eingezogenem Kopfe herumzugehen. Pl\u00f6tzlich unterbricht es seinen Gang um oft in der Mitte des Zimmers, in welchem Leute ab- und zugehen, wieder die Schlafstellung einzunehmen. Nach einigen Tagen kann man bemerken, dass das Thier Futter sucht, d. h. auf den Boden pickt \u2014 gleichg\u00fcltig ob etwas da liegt oder nicht \u2014 und mit den F\u00fcssen scharrt, auch auf glattem Boden. Manche Versuchsh\u00fchner lernen vorgeworfenes Futter, wenn auch sehr ungeschickt, aufzupicken, andere lernen es nie. Hingegen habe ich einmal in dem Kropf eines solchen Thieres ein ca. halbmeter langes Leinenb\u00e4ndchen gefunden, doch kann ich nicht mehr angeben, ob dieses Huhn f\u00fcr gew\u00f6hnlich Futter frass oder nicht. Wird dem Thiere t\u00e4glich Futter und Wasser in den Schnabel gebracht, so kann es mehrere Monate am Leben erhalten werden. Man bemerkt dann beim Schlucken die den H\u00fchnern eigenthiimlichen Bewegungen; Flourens2 hatte\n1\tGegen die Schmerzhaftigkeit sprachen sich aus: Aristoteles, De partibus animalium. lib. II. Cap. 7 ; Galenits, De causis symptomatum. I. Cap. 8. III ; Andr. Du-laurens, Histor. anotom. hum. corpor. et sing. ej. part. Paris 1600 ; Cortesi, In librum Hippocratis de vulneribus capitis commentarius. Messinae 1632; Lorry, M\u00e9m. de i\u2019Acad. des sciences. Savants \u00e9trangers. III. p. 352. 1760 ; L\u00e9cat, Trait\u00e9 de l\u2019existence de la nature et de propri\u00e9t\u00e9s du fluide des nerfs, p. 290. Berlin 1765 ; Longet, Anat. et Physiol, du syst. nerv. Paris 1842. F\u00fcr die Schmerzhaftigkeit \u00e4usserten sich: Haller, Elem. physiol. IV. p. 312 u. 313, der seine Ansicht theils auf pathologische Erfahrungen, theils auf Versuche an Thieren st\u00fctzt und eine Reihe \u00e4lterer Autoren anf\u00fchrt, welche derselben Anschauung waren. Vergl. auch Haller, M\u00e9moire sur la nature sensible et irritable des parties du corps anim. Lausanne 1756. Serres, Anat. comp. du cerveau. Paris 1827 ; Renzi, Saggio di Fisiologia sperimentale sui centri nervosi etc. Ann. univers, di Med. Vol. 186. 187. 189. (Zum Theil citirt nach Longet 1. c.)\n2\tFlourens, Recherches exp\u00e9r. sur les propr. et les fouet, du syst. nerv. p. 87. Paris 1842.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\neine so operirte Henne zehn Monate erhalten, und Voit1 berichtet das bisher einzig dastehende Factum, dass sich bei einer Taube f\u00fcnf Monate nach der Operation neugebildete Gehirnmasse in Form von zwei mit je einer H\u00f6hle versehenen Halbkugeln vorgefunden habe, welche aus doppelt-conturirten Nervenfasern und Ganglienzellen bestanden. Die Art wie diese Thiere zu Grunde gehen ist h\u00f6chst auffallend. Man bemerkt n\u00e4mlich im Verlaufe der Wochen nach der Operation, dass wenn die F\u00fctterungszeit heranr\u00fcckt, der am Vortage gef\u00fcllte Kropf noch nicht leer ist. Diese Entfernung des Futters aus dem Kropf wird immer mangelhafter, w\u00e4hrend das Thier sichtlich abmagert. Schliesslich, wenn die Brustmuskeln g\u00e4nzlich abgemagert sind, und der Kamm des Sternums fast wie am Skelet vorsteht, stirbt das Thier unter Kr\u00e4mpfen, oft nachdem es einige Stunden, oder einen Tag vorher noch wie gew\u00f6hnlich im Zimmer herumgegangen ist. Der Kropf ist nat\u00fcrlich noch mit Futter gef\u00fcllt.\nEs ist vielfach die Frage ventilirt worden, ob diese Thiere noch \u201eempfinden.\u201c2 Geruchsempfindungen haben sie sicher keine mehr, denn der N. olfactorius wurde bei der Operation mit entfernt. Sie sehen noch, denn sie weichen Gegenst\u00e4nden aus, blicken auch nach einem Lichte u. s. f. doch muss es dahingestellt bleiben, ob man dies ein Sehen im gew\u00f6hnlichen Sinne nennen will. Auf Lichtwirkung zieht sich die Iris wie gew\u00f6hnlich zusammen, ja es tritt bisweilen auch Blinzeln ein. Weniger deutlich sind die Aeusserungen davon, dass die Thiere noch h\u00f6ren. Longet erz\u00e4hlt zwar, dass er mehrere hundert Mal folgendes Experiment angestellt habe. Eine ent-hirnte Taube wird neben einen Schirm gesetzt und hinter diesem Schirm, f\u00fcr sie unsichtbar, ein Gewehr abgefeuert. Das Thier erschrickt sichtlich. Oft reichte auch das Losschlagen eines Z\u00fcndh\u00fctchens hin, um die Taube aus ihrer tr\u00e4gen Buhe auffahren zu machen. Aehnliches beobachtete Vulpian.3 Doch ist hierbei zu bemerken, dass starke Schallempfindungen, wie die hier angewendeten, auch mit Tastempfindungen verbunden zu sein pflegen, hervorgerufen durch die grob mechanische Ersch\u00fctterung, welche die Luftbewegung erzeugt. Damit soll nicht gesagt sein, dass jene Taube nicht geh\u00f6rt habe, sondern nur dass jenes Experiment nicht beweisend sei. Doch auch hier muss gefragt werden, ob man den Eindruck, den das\n1\tVoit, Beobacht, nach Abtr. der Grosshirnhemisph\u00e4ren bei Tauben. Sitzgsber. d. k. bair. Acad. d. Wiss. 1868.\n2\tVergl. hier\u00fcber Longet 1. c., wo sich die \u00e4ltere Litteratur \u00fcber diesen Gegenstand findet, welche hier wohl \u00fcbergangen werden darf.\n3\tVulpian, Exp\u00e9riences ayant pour but de rechercher, quelle est la partie des centres nerveux qui pr\u00e9side aux ph\u00e9nom\u00e8nes de l\u2019\u00e9motion. L\u2019Institut No. 1590.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Das enthirnte Huhn.\n201\nThier ohne Hemisph\u00e4ren hat, noch mit dem Namen \u201eH\u00f6ren\u201c bezeichnen will.\nOb unser Huhn noch Geschmacksempfindung hat, l\u00e4sst sich um so weniger feststellen, als wir von der F\u00e4higkeit eines normalen Huhns zu schmecken s\u00a9 gut wie nichts wissen. Auf Tasteindr\u00fccke zeigen sich, wenn sie schmerzhaft sind, jene abwehrenden Bewegungen, welche allgemein als Reflexbewegungen bezeichnet werden; hat man fr\u00fcher vom \u201esehen\u201c und \u201eh\u00f6ren\u201c gesprochen, so m\u00fcsste man jetzt von Tastempfindungen sprechen. Da man aber weiss, dass Reflexbewegungen noch zu Stande kommen, wenn das R\u00fcckenmark allein da ist, da man weiss dass sie mit bewussten Empfindungen nicht zusammenzuh\u00e4ngen brauchen, so wird man vorsichtig sein in der Deutung der obigen Versuche, und anerkennen, dass jene Bewegungen nicht als Aeusserung eines H\u00f6rens und Sehens im gew\u00f6hnlichen Sinne aufzufassen, sondern entweder Reflexbewegungen oder etwas diesen Aehnliches sein k\u00f6nnen.\nDie wichtigste Erscheinung am enthirnten Huhne ist der Verlust der Intelligenz. So muss man die Thatsache bezeichnen, dass das Thier sich in irgendwelchen n\u00e4herungsweise schwierigen Situationen nicht mehr zu helfen weiss, dass es keine Handlungen mehr mit Ausnahme der sogenannten instinctiven auszuf\u00fchren vermag. So weicht es zwar, wenn es ganz nahe herangekommen ist, noch Hindernissen aus, steigt wohl auch auf einige Centimeter hohe Leisten u. dgl., fliegt aber nie mehr vom Boden auf einen Stuhl, entflieht nicht mehr, wenn man sich ihm n\u00e4hert, sondern l\u00e4sst sich ruhig fassen, um dann einige ungeschickte Fluchtversuche zu machen, vom Tisch herabfallend fliegt es nicht schief zur Erde nieder, wie es ein normales Huhn thun w\u00fcrde, sondern f\u00e4llt flatternd mehr oder weniger direct zu Boden. Auf den Finger gesetzt l\u00e4sst es sich wie ein Jagdfalke tragen, w\u00fcrde aber bei raschen Bewegungen das Gleichgewicht verlieren und herunterfallen. Es f\u00fcrchtet sich nicht mehr vor einem Hunde, gew\u00f6hnt sich nicht an eine Schlafst\u00e4tte oder einen sonstigen Lieblingsplatz, wo man es hinsetzt bleibt es so ruhig sitzen, als h\u00e4tte es schon lange dagesessen. Es hat also offenbar nach wenigen Secunden die peinliche Lage in der es sich befand, so lange es in der Hand gehalten wurde, vergessen, wenn man in einem solchen Falle von \u201eVergessen\u201c sprechen will.1\nDiese und viele andere Thatsachen dr\u00e4ngen zu der Behauptung, dass mit den Hemisph\u00e4ren des grossen Gehirns das Organ der In-\n1 Vergl. die Schilderung eines enthirnten Huhnes in Br\u00fccke, Vorlesungen \u00fcber Physiologie. II. S. 53. Wien 1876.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202 Exner. Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\ntelligenz entfernt worden ist. Dabei k\u00f6nnen die Bewegungen des enthirnten Tkieres immer noch in bobem Grade zweckdienlich erscheinen. Goltz1 bat eine Reibe diesbez\u00fcglicher Versuche an enthirnten Fr\u00f6schen ausgef\u00fchrt, deren Resultate zeigten, dass auch diese Thiere sich noch verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gut zurechtfinden, und Onimus2 3 4 5 zeigte, dass eine von einer Henne aufgezogene enthirnte junge Ente, die niemals im Wasser war, sobald sie in dieses gebracht wurde, in normaler Weise schwamm.\nVon der Function der Hemisph\u00e4ren als dem Organe des Bewusstseins hat man sich noch auf andere Weise durch Versuche an Thieren eine Anschauung zu verschaffen gesucht. Statt n\u00e4mlich die Hemisph\u00e4ren zu exstirpiren, hat man sie theils durch Blutentziehung, theils durch Abk\u00fchlung functionsunf\u00e4hig gemacht. Auf Unterbindung oder Compression der Carotiden und Wirbelschlagadern tritt ein bewusstloser Zustand ein, der bald in Scheintod und Tod \u00fcbergeht, den aber Brown-S\u00e9quard 3 an einem k\u00fcnstlich respirirten Hunde noch nachdem er 17 Minuten angedauert hat, sich wieder l\u00f6sen sah, als die Compression aufgehoben wurde. Kussmaul und Tenner 4 geben an, dass beim Kaninchen schon 2 Minuten nach der Absperrung des Blutes vom Gehirn jener tod\u00e4hnliche Zustand eintritt, und A. Fleming0 beschreibt den bewusstlosen, schlaf \u00e4hnlichen Zustand, in welchen ein Mensch durch Compression der Carotiden versetzt werden kann, ja empfiehlt diese Compression sogar als Ersatz f\u00fcr Anaesthetica, indem er hervorbebt, dass jener Bewusstlosigkeit keinerlei \u00fcble oder auch nur unangenehme Nachwirkung folgt.\nMitchell6, Richardson7 8 und sp\u00e4ter Walther^ beobachteten bei Thieren, deren Hemisph\u00e4ren bis zum Gefrieren abgek\u00fchlt waren, Erscheinungen, welche den an enthirnten Thieren beobachteten entsprechen. Die durch zerst\u00e4ubten Aether hervorgerufene'Abk\u00fchlung konnte bei V\u00f6geln, die eine sehr d\u00fcnne Sch\u00e4deldecke haben, auch\n1\tGoltz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1868. S. 690. 705.\n2\tOnimus, Recherch. exp\u00e9rim. sur les ph\u00e9nom\u00e8nes consecutifs a 1 ablation du cerveau etc. Journ. de l\u2019anatom. et de la physiologie. 1871. 7. ann\u00e9e.\n3\tBrown-S\u00e9quard, Recherches exp\u00e9r. sur les propri\u00e9t\u00e9s et les usages du sang rouge et du sang noir. Compt. rend. XLV.\n4\tTenner, Unters, \u00fcber d. Ursprung u. d. Wesen d. fallsuchtartigen Zuckungen u. d. Fallsucht \u00fcberhaupt. Molesch. Unters. II. Froriep\u2019s Neue Notizen. II. 1857.\n5\tFleming, Note sur la production du sommeil et de l\u2019anesthesie par la compression des carotides. Rev. m\u00e9d. fran\u00e7aise et \u00e9trang\u00e8re. Juin 1855.\n6\tMitchell, On retrogressive motions in birds produced by the application ot cold to the cervical\u2019spine etc. American journ. of the medic, sciences. January 1867.\n7\tRichardson, On the influence of extreme cold on nervous function. Medic, times and gazette. 1867. May, Juli, Aug.\n8\tWalther, Centralbl. f. d. med, Wiss. 1868. S. 449.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Anderweitige Ausschaltung der Hirnrinde.\n203\ndurch diese ohne dieselbe zu verletzen vorgenommen werden. L\u00e4sst man die Gehirne langsam wieder aufthauen so erholen sich die Thiere vollkommen, bei raschem Aufthauen gehen sie zu Grunde. Erstreckt sich die Abk\u00fchlung bis auf das Athemcentrum so tritt sogleich Tod ein.\nWie man sieht sind diese Methoden der Ausschaltung der Hemisph\u00e4ren aus nahe liegenden Gr\u00fcnden noch weiter davon entfernt ein exactes Experiment zu liefern, als die Exstirpation.\nFast noch deutlicher als durch die Exstirpation des ganzen Grosshirns wird dessen Function als Organ der Intelligenz illustrirt, wenn man einem Thiere nur eine Hemisph\u00e4re des grossen Gehirns entfernt, oder in h\u00f6herem oder geringerem Maasse functionsunf\u00e4hig macht.\nDer erste der hier das Richtige getroffen zu haben scheint, d\u00fcrfte Renzi 1 sein. Er sagt von S\u00e4ugethieren, denen er eine Hemisph\u00e4re entfernt hatte, dass ihre Intelligenz nicht gelitten habe, dass sie auf dem Auge der entgegengesetzten Seite auch nicht blind geworden seien, dass sie aber die geistige Auffassung der Gesichtseindr\u00fccke und der Bewegungen der entgegengesetzten Seite verloren hatten. Aehnliches geben Lussana und Lemoigne1 2 3 f\u00fcr eine Taube an, der sie eine Hemisph\u00e4re und das Auge derselben Seite exstirpirt hatten. Diese Taube verhielt sich, was den Gesichtssinn anbelangt, \u00e4hnlich einem Thier, dem beide Hemisph\u00e4ren weggenommen sind.\nIn neuester Zeit sind derartige Versuche von Goltz 3 an Hunden ausgef\u00fchrt worden, auf welche hier etwas ausf\u00fchrlicher eingegangen werden mag.\nUm die t\u00f6dtliehen Blutungen zu vermeiden, an welchen die fr\u00fcheren Exstirpationsversuche an Hunden gew\u00f6hnlich scheiterten, brachte Goltz im Sch\u00e4deldache eine oder mehrere Trepan\u00f6ffnungen an, und leitete durch dieselben den Wasserstrahl einer Spritze. Dieser durchw\u00fchlte die Gehirnmasse und schwemmte dieselbe durch die Oeffnungen zu Tage ohne die gr\u00f6sseren Gef\u00e4sse zu zerreissen. Durch passend gebogene Can\u00fclen konnte auf diese Weise ein grosser Theil einer Hemisph\u00e4re entfernt werden. Wurde die Haut \u00fcber der Oeffnung wieder geschlossen und die Wunde gepflegt, so \u00dcberstand eine betr\u00e4chtliche Anzahl der so operirten Thiere den Eingriff, ja er konnte an einem derselben mehreremale wiederholt werden. Denn es leuchtet ein, dass so auf Einmal nicht die ganze Rinde\n1\tKenzi, Saggio di Fisiologia sperimentale sui centri nervosi della vita psychica nelle quatro classi degli animali vertebrate. Ann. univers, di Med. Vol. 186. 187. 189, und als selbstst\u00e4ndiges Buch unter dem Titel : Saggio di Fisiologia sperimentale etc. Milano. Presso la Societa per la publicazione degli Ann. univ. delle scienze e delh In-dustria 1863.\n2\tLussana e Lemoigne, Fisiologia dei centri nervosi encefalici. Padova 1871.\n3\tGoltz, Ueb. d. Verrichtung, d. Grosshirns. Arch. f. d. ges. Physiol. XIIIu. XIV.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\neiner Halbkugel entfernt werden konnte, ja es ist keinem Zweifel unterworfen, dass auf diesem Wege \u00fcberhaupt die ganze Rinde nicht entfernt werden kann. Auch ist es bei dieser Operationsweise noch schwieriger als bei der Exstirpation, wie sie oben geschildert worden, die Ausdehnung der gesetzten L\u00e4sion zu beurtheilen, da man nicht wissen kann, wieweit sich die Wirkung des Druckes, den der Strahl aus\u00fcbt, die Circulations-st\u00f6rungen und das Absterben halbzerst\u00f6rter Gehirnmasse erstreckt. F\u00fcr die Frage, die uns im Momente interessirt, kommen diese Umst\u00e4nde nicht wesentlich in Betracht: es gen\u00fcgt zu wissen, dass auf diese Weise die Zerst\u00f6rung eines grossen Theiles einer Hemisph\u00e4re, und zwar haupts\u00e4chlich der Rinde erzielt wird.\nDie ersten Stunden nach der Operation erscheint das Thier auf der der operirten Halbkugel entgegengesetzten Seite gel\u00e4hmt, und an\u00e4sthetisch in Bezug auf den Tastsinn und das Auge dieser gel\u00e4hmten Seite. (Die \u00fcbrigen Sinnesorgane genau zu pr\u00fcfen ist der Schwierigkeit wegen unterlassen worden).\nNach Verlauf von Stunden und Tagen tritt die Empfindlichkeit und Beweglichkeit dieser Seite wieder auf und bessert sich verh\u00e4lt-nissm\u00e4ssig schnell, bis das Thier wenigstens auf den ersten Blick sich von einem gesunden nicht mehr unterscheidet. Aber auch jetzt noch lassen sich bei genauerer Beobachtung gewisse Eigenth\u00fcmlich-keiten an ihm erkennen, welche es so lange es am Leben erhalten wird, nicht mehr verliert. Goltz erhielt so operirte Hunde mehrere Monate.\nDie Eigenth\u00fcmlichkeiten, welche diese Thiere in diesem station\u00e4ren Zustand zeigen, sind folgende:\nDie Hautsensibilit\u00e4t ist auf der dem Operationsfeld entgegengesetzten Seite herabgesetzt.1 Ein Gewicht, welches auf die gesunde Pfote gelegt, eben eine Aeusserung des Unbehagens hervorrief, musste mehr als verdoppelt werden, wenn es auf der kranken Seite denselben Erfolg erzielen sollte. Ein solches Thier nimmt mit seinen kranken Beinen oft die unbequemsten Stellungen ein; benimmt sich mit diesen ungeschickt und t\u00f6lpelhaft; tritt, auf den Tisch gesetzt, \u00fcber den Rand hinaus und f\u00e4llt dadurch leicht herunter; steigt in sein Wassergef\u00e4ss ; gleitet auf einem glatten Fussboden aus, ebenso wenn es sich sch\u00fcttelt; es benutzt nie die kranke Vorderpfote zum Festhalten oder Verscharren eines Knochens; stellt es sich auf die Hinterbeine, um \u00fcber eine Br\u00fcstung wegsehen zu k\u00f6nnen, so stemmt es sich nur mit dem gesunden Bein dagegen, w\u00e4hrend es mit dem\n1 Wie schon Schiff hervorhob. Vergl. Lezioni di fisiologia sperimentale. p. 523. Firenze 1873. Uebersetzt im Arch. f. experim. Pathol. III. Vergl. auch Schiff\u2019s Lehrbuch der Physiologie des Menschen. Lahr 1858\u201459.","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Rindenzerst\u00f6rungen am Hund.\n205\nkranken ungeschickte scharrende Bewegungen macht. Thiere, welche abgerichtet waren, auf Wunsch die Pfote zu geben, thaten dies nicht mehr oder doch nur sehr schwer mit der kranken Pfote, nachdem sie operirt waren, w\u00e4hrend sie die gesunde Pfote herzugeben nicht verlernt hatten.1\nEin solches Thier ist im Stande, zugeworfene St\u00fccke Fleisch geschickt mit dem Rachen aufzufangen, es sieht also gut, benutzt aber augenscheinlich nur das gesunde Auge (das derselben Seite, auf welcher die Operation vorgenommen wurde), denn es vermag ein St\u00fcck Fleisch und \u00e4hnliches, das man ihm seitlich so vorh\u00e4lt, dass es nur mit dem kranken Auge gesehen werden k\u00f6nnte, nicht zu erkennen. Drohende Geberden, vor diesem kranken Auge ausgef\u00fchrt, erschrecken es nicht. Goltz f\u00fchrte einem solchen Thiere eine abenteuerlich vermummte Gestalt vor. Das Thier st\u00fcrzte nach Art der Haushunde W\u00fcthend auf dieselbe los ; diese zog sich sogleich zur\u00fcck. Darauf wurde diesem Thiere das gesunde Auge enucleirt, und nachdem es sich von dieser Operation wieder erholt hatte, wurde ihm die vermummte Gestalt wieder vorgef\u00fchrt. Jetzt aber verhielt sich das Thier ganz gleichg\u00fcltig gegen dieselbe. Das Thier hat seine Geschicklichkeit im Auff\u00e4ngen des Fleisches verloren, ist aber nicht etwa blind, denn es folgt mit seinem Kopfe den Armbewegungen des Werfenden. Im Zimmer frei herumlaufend st\u00f6sst es nirgends an. Uebrigens erscheint der Hund tr\u00e4ge und theilnahmlos. \u201eWeil die Gesichtseindr\u00fccke in ihm keine Gem\u00fcthsbewegung mehr erwecken, so erlebt er wenig und versinkt in tr\u00e4ges Hinbr\u00fcten\u201c. Sobald man ihm durch eines seiner gesunden Sinnesorgane einen Eindruck zuf\u00fchrte, erwachte seine alte Lebendigkeit. Als ihm eine Ente hingehalten wurde, \u201eglotzte er sie ebenso stumpf au, wie jeden beliebigen anderen Gegenstand. Sobald aber die Ente absichtlich zu lautem Schreien gebracht wurde, sprang er in \u00e4usserster Aufregung bellend empor und wollte sich ihrer bem\u00e4chtigen\u201c. Er erkennt ein St\u00fcck Fleisch mit dem Auge nicht. Ein solches Thier erschrickt nicht mehr vor der Peitsche; sobald man aber mit derselben knallt, verkriecht es sich \u00e4ngstlich. Zum Fenster hinausgehalten str\u00e4ubt es\nl Diese Beobachtungen r\u00fchren zum Theil schon von fr\u00fcheren Forschern her. Bouillaud, Journ. de physiol, exp\u00e9riment. etpathol. X. Paris 1830; Flourens, Recherches experimentales sur les propri\u00e9t\u00e9s et les fonctions du syst\u00e8me nerveux. Paris 1842; Vulpian, Le\u00e7ons sur la physiologie g\u00e9n\u00e9rale et compar\u00e9e du syst. nerv. Paris 1866; Goltz, der diese Autoren kennt und anf\u00fchrt, weicht, was die Erkl\u00e4rung dieser Erscheinungen anbelangt, von ihnen insofern ab, als er geneigt ist, das Hauptgewicht auf die Herabsetzung der Hautsensibilit\u00e4t zu legen. Es wird in der speciellen Physiologie der Hirnrinde auf diese und andere hierher geh\u00f6rige strittige Punkte n\u00e4her eingegangen werden.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206 Exxer, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 1. Cap. Stellung der Rinde.\nsich nicht. Es wagt keine Spr\u00e4nge mehr weder von einer Platte, welche mehr als 32 cm. \u00fcber dem Boden angebracht war, auf diesen herab, noch von einem Tisch auf einen anderen, Spr\u00fcnge, welche andere Hunde, die ebenso operirt waren, aber das gesunde Auge noch behalten haben, mit Leichtigkeit ausf\u00fchren. Dabei ist das Thier im \u00fcbrigen k\u00fchn und unternehmend. Analoge Verh\u00e4ltnisse fand Goltz 1, als er Hunden beide Hemisph\u00e4ren auf die oben geschilderte Weise verletzte. Nat\u00fcrlich betrafen hier die St\u00f6rungen auch beide Seiten des Thieres.\nWir werden sp\u00e4ter, wenn von der speciellen Physiologie der Hirnrinde die Rede sein wird, sehen, dass die Ergebnisse dieser Versuche in mancher Beziehung vieldeutig und der Angelpunkt diffe-rirender Anschauungen sind : den Punkt aber sind sie in hohem Grade geeignet klar zu stellen, dass die Hirnrinde der Sitz der Intelligenz ist und dass die geistige Verarbeitung der Sinneseindr\u00fccke eines Auges ganz oder zum Theil in der Hirnrinde der entgegengesetzten Seite geschieht. Was hier vom Auge nachgewiesen, von den Tastempfindungen wahrscheinlich gemacht ist, gilt, so d\u00fcrfen wir ver-muthen, auch f\u00fcr die \u00fcbrigen Empfindungen.\n5. Endlich ist f\u00fcr die Stellung, welche die Hirnrinde den psychischen Functionen gegen\u00fcber einnimmt, noch ein Punkt von Wichtigkeit. Es wird sp\u00e4ter ausf\u00fchrlich die Rede davon sein, dass unter gewissen Verh\u00e4ltnissen bestimmte Muskelgruppen in Contraction ge-rathen, wenn die Pole einer electrischen Batterie auf sp\u00e4ter n\u00e4her zu bezeichnende Stellen der Hirnrinde eines Versuchstieres aufgesetzt werden. Die Voraussetzung nun, dass durch diese Reizung ein den psychischen Acten nahe stehender Vorgang ausgel\u00f6st wird, erh\u00e4lt ihre Best\u00e4tigung in dem Umstande, dass die electrische Reizung erfolglos ist bei neugeborenen Thieren (Hunden bis zum 9.\u201411. Tag)2 einerseits und bei gewissen Arten tiefer Narcose andererseits 3, also in jenen F\u00e4llen, in welchen auch sonst Aeusserungen eigentlich psychischer Impulse fehlen.\nNach dem im vorstehenden Mitgetheilten muss es auffallend erscheinen, dass es eine grosse Anzahl sicher constatirter F\u00e4lle giebt,\n1\tGoltz u. Gergens, Ueber die Verrichtungen des Grosshirnes. Arch. f. d. ges. Physiol. XIV. S. 412.\n2\tSoltmann, Zur elektr. Reizbarkeit der Grosshirnrinde. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1875. S. 209 undDers., Experim. Stud, \u00fcber die Function des Grosshirns der Neugeborenen. Jahrb. f. Kinderheilkde. N. F. IX. Vergl. auch Tarchanoff, Sur les centres psychomoteurs des animaux nouveau-n\u00e9s. Revue mensuelle de m\u00e9dec. et de chirurg. 1878. p. 721 u. 826.\n3\tHitzig, Unters, z. Physiol, d. Gehirns. 4. Abh. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1873.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"2. Cap. Empfindlingsimpulse. Empfindungen und Wahrnehmungen im Allgem. 207\nin welchen Menschen zum Theil sehr betr\u00e4chtliche Verluste von Gehirnsubstanz erlitten, ohne irgendwelche merkliche Aenderung ihrer geistigen Functionen. Es wird auf diesen Gegenstand und seine Erkl\u00e4rung, so weit von einer solchen gesprochen werden kann, im Ca-pitel \u00fcber die Rindengebiete des Menschen (s. unten) n\u00e4her eingegangen werden.\nZWEITES CAPITEL.\nDie Empfindungsimpulse.\nI. Die Empfindungen und Wahrnehmungen im Allgemeinen.\nNach den heutigen Anschauungen bringt jede sensible Nervenfaser sie mag auf welche Weise immer erregt werden, eine Empfindung in das Bewusstsein, welche sich von jeder Empfindung, die von einer anderen Nervenfaser geliefert wird, unterscheidet.\nDieser Satz ist mit nicht unbedeutender Wahrscheinlichkeit aus dem Studium des Seh-, Geh\u00f6r- und Tastsinnes hervorgegangen, w\u00e4hrend der Nachweis desselben f\u00fcr den Geschmack- und Geruchsinn noch nicht geliefert ist. Er beruht a) auf dem Gesetz der specifi-schen Sinnesenergie 1 von Johannes M\u00fcller, welches aussagt, dass ein Sinnesnerv immer, wenn er gereizt wird, nur die ihm zugeh\u00f6rige Empfindung hervorrufen kann: die Netzhaut oder der Sehnerv auf elektrischem, mechanischem oder dem normalen Weg in Erregung versetzt, vermitteln immer nur eine Lichtempfindung ; ebenso die Tastnerven immer nur Tastempfindungen, der H\u00f6rnerv Geh\u00f6rsempfindungen. b) Weiter hat sich gezeigt, dass, soweit die Dinge verfolgt werden konnten, auch jedes End-Element der Netzhaut eine andere Empfindung hervorruft als jedes andere. W\u00e4re dieses nicht der Fall, so w\u00fcrden wir den Ort, an welchen uns z. B. ein sehr kleiner Stern erscheint, nicht angeben k\u00f6nnen, denn es w\u00fcrde sich dann die Empfindung die er hervorruft, wenn sein Bild auf den Netzhautzapfen \u00ab liegt, nicht unterscheiden von der, welche sein Bild auf dem Netzhautzapfen \u00df hervorruft. Unser Unterscheidungsverm\u00f6gen entspricht\n1 Joh. M\u00fcller, Handb. d. Physiol, d. Menschen. IL S. 250. Coblenz 1840.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nnun in Wirklichkeit der Kleinheit unserer Netzhautelemente l, so dass man mit Bestimmtheit behaupten kann, dass jedes derselben eine ihm charakteristische Empfindung hervorruft. Ebenso hat sich gezeigt, dass jeder Endfaser des Geh\u00f6rnerven ihre specifische Empfindung zugesprochen werden muss etc. c) Endlich beruht dieser Satz auf dem Gesetz der isolirten Leitung, welches aussagt, dass die einem Nervenfaserende mitgetheilte Erregung in dieser Faser isolirt bis zum Organ des Bewusstseins verl\u00e4uft, sich also nicht etwa den begleitenden Nervenfasern mittheilt. Wir werden sp\u00e4ter sehen, dass es einige F\u00e4lle giebt, f\u00fcr welche dieses Gesetz entweder eine Ausnahme erleidet, oder doch jedenfalls nicht ohne Weiteres anerkannt werden kann. Im grossen Ganzen ist es nat\u00fcrlich stichh\u00e4ltig.\nDie durch ein sensibles Element vermittelte Empfindung wollen wir ein Empfindungselement2 nennen. Jedes Empfindungselement hat eine Seite in welcher es gleich, oder doch vergleichbar ist mit Empfindungen, welche andere Elemente desselben Sinnesorganes hervor-rufen. So hat die Empfindung eines reinen Tones immer noch eine gewisse Aehnlichkeit mit der Empfindung eines anderen Tones, durch welche sich diese beiden Empfindungen, wenn sie auch nie identisch sein k\u00f6nnen, als zusammengeh\u00f6rig oder doch zusammengeh\u00f6riger ma-nifestiren als die Empfindung des Tones mit der z. B. des Kitzelns. Zwei Empfindungen des Blau, hervorgerufen an zwei verschiedenen Netzhautstellen sind nicht identisch, wohl aber in einem Punkt, eben was das Blau anbelangt, gleich. Oder gesetzt den Fall wir empfinden an einer Hautstelle, hervorgerufen durch ein aufliegendes Gewicht einen bestimmten Druck, so k\u00f6nnen wir auf einer benachbarten Hautstelle eine ebensolche Empfindung hervorrufen. Beide Empfindungen, durchaus nicht identisch, sind in einem Punkt gleich. War das zweite Gewicht wesentlich rauher, oder war es mit-einer Spitze versehen, so sind die beiden Empfindungen immer noch mehr vergleichbar, als die erste Empfindung des Druckes etwa mit der Empfindung eines Tones war.\nDiese Seite nun in welcher die Empfindung jedes Nervenelemen-tes gleich, oder doch vergleichbar wird der Empfindung anderer, nennt man die Qualit\u00e4t der Empfindung, und spricht in diesem Sinne von der Empfindung eines Druckes, von der Empfindung des Blau, von der Empfindung eines bestimmten Tones, oder eines gewissen Ge-\n1\tHelmholtz, Physiolog. Optik. S. 215.\n2\tPreyer versteht etwas anderes unter einem Empfindungselement. Yergl. dessen \u201eElemente der reinen Empfindungslehre\u201c. Samml. physiol. Abh. Herausgegeb. von Preyer. Jena 1877.","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Empfindungen u. Wahrnehmungen im Allgemeinen. Qualit\u00e4t d. Empfindungen. 209\nSchmackes etc. Dasjenige hingegen, was in den oben angef\u00fchrten Beispielen die Empfindungen, welche die beiden gleichen Gewichte, oder die beiden Blau-Erregungen hervorriefen, unterscheidet, nennt t man das Localzeichen. Zwei gleichzeitig gesehene Sterne von gleicher Gr\u00f6sse und Farbe rufen also Empfindungen hervor, die sich nur durch ihr Localzeichen unterscheiden.\nEndlich kann die Empfindung jedes Nervenelementes noch an Intensit\u00e4t variiren: ein Ton z. B. kann schwach und stark ert\u00f6nen, ebenso ein Stern heller und weniger hell sein.\nObwohl also jede Erregung erstens durch die betheiligten Nervenfasern und zweitens durch die Intensit\u00e4t ihrer Reizung vollkommen bestimmt ist, spricht man doch von den drei Elementen einer Empfindung: ihrer Qualit\u00e4t, ihrem Localzeichen und ihrer Intensit\u00e4t oder Quantit\u00e4t.\nDie Qualit\u00e4t der Empfindung variirt nicht nur von Sinnesorgan zu Sinnesorgan, sie variirt auch innerhalb eines und desselben Sinnesorganes. Roth, Gr\u00fcn etc. sind Qualit\u00e4ten der Lichtempfindung, T\u00f6ne verschiedener H\u00f6he Qualit\u00e4ten der Geh\u00f6rsempfindung und \u00e4hnlich verh\u00e4lt es sich bei den anderen Sinnesorganen.\nDie Qualit\u00e4ten verschiedener Sinnesorgane k\u00f6nnen sich sehr \u00e4hnlich sein (man denke nur an die Empfindungen, von denen wir kaum wissen ob sie dem Bereich des Geschmackes oder dem des Geruches angeh\u00f6ren) und andererseits k\u00f6nnen die Empfindungsqualit\u00e4ten eines und desselben Sinnesorganes so verschieden sein, dass von einer Vergleichbarkeit kaum mehr die Rede sein kann. So unterscheidet sich die Empfindungsqualit\u00e4t, welche unsere Hornhautnerven liefern (bei Verletzung der Hornhaut oder ihres Epithels durch einen \u201ein das Auge gefallenen\u201c Gegenstand) von der Qualit\u00e4t einer Druckempfindung so sehr, dass, sie mit den gew\u00f6hnlichen Tastempfindungen zusammenzuwerfen, der Sache Gewalt anthun heisst, um so mehr als sich jene Hornhautempfindung bei Steigerung niemals zu der gew\u00f6hnlichen Schmerzempfindung umwandeln l\u00e4sst, sondern stets ihren Charakter beibeh\u00e4lt. Geht man also bei der Eintheilung der Empfindungen nach Sinnen von dem Princip aus, dass einem Sinne angeh\u00f6rt, was sich in der Empfindung als zusammengeh\u00f6rig erweist, dann muss man sagen, dass unter den Begriff des Tastsinnes so heterogene Empfindungen zusammengedr\u00e4ngt worden sind, dass unsere Eintheilung in f\u00fcnf Sinne nothwendig einer Revision bed\u00fcrfte. Ohnehin umfasst die alte Eintheilung l\u00e4ngst nicht mehr alle uns n\u00e4her bekannten Empfindungen. Ich erinnere an die von den Bogeng\u00e4ngen des Ohrlabyrinthes vermittelten, sowie an alle bei Affecten auftretenden Empfindungen.\nDie Qualit\u00e4ten der Empfindung \u00e4ndern sich mit der Intensit\u00e4t, weshalb der oben aufgestellte Satz nur f\u00fcr Reize innerhalb der normalen Gr\u00f6sse auf G\u00fcltigkeit Anspruch machen kann. (Vergl. das gelegentlich psychophysischer Streitfragen S. 241 Auseinandergesetzte.)\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nIn gewissen F\u00e4llen ist es sicher, dass diese Aenderung der Qualit\u00e4t in der Function der Endapparate ihren Grund hat, z. B. das Weiss-lich-werden aller Farben bei hoher Intensit\u00e4t.\nIn anderen F\u00e4llen scheint die Ursache darin zu liegen, dass das Gesetz der isolirten Leitung bei starken Erregungen keine Giltigkeit mehr hat. Die von Purkinje zuerst beschriebene subjective Gesichtserscheinung, welche unter dem Namen der elliptischen Lichtstreifen bekannt ist, scheint daher zu r\u00fchren, dass die Erregung in der Opticusschichte der Netzhaut von den direct erregten Fasern auf die benachbarten \u00fcberspringt. Auch kann man beobachten, dass ein von einem bestimmten Zahne ausgehender Zahnschmerz sich scheinbar auf die benachbarten ausbreitet, dass aber auch der mit der Krone diesen ber\u00fchrende Gegenzahn im anderen Kiefer betheiligt ist, so dass man im Zweifel dar\u00fcber sein kann, welcher von diesen beiden der kranke Zahn ist. Da die beiden Gegenz\u00e4hne im Leben fast stets gleichzeitig sensuell erregt werden, so bringt diese Erscheinung auf den Gedanken, die Erregung breite sich erst im Centralorgan aus.\nDas Localzeichen kommt nicht den Empfindungen aller Sinnesorgane zu. R\u00e4umliche Sinne, d. h. solche bei welchen das Localzeichen eine wesentliche Rolle spielt, sind vor allem Gesicht und Getast. Letzteres betrifft haupts\u00e4chlich' die \u00e4ussere Haut, denn die Empfindungen, welche von den inneren Organen unseres K\u00f6rpers ausgehen, sind schlecht localisirt.1\nDie Intensit\u00e4t der Empfindungen wird uns noch des Weitern besch\u00e4ftigen. Hier sei nur erw\u00e4hnt, dass sich auf ihre Intensit\u00e4t nur zwei Empfindungen vergleichen lassen, wenn sie gleiche Qualit\u00e4ten haben.\nDie Empfindungen als solche setzen uns nicht unmittelbar in den Stand uns in der Aussenwelt zu recht zu finden. Vielmehr tritt jetzt die seit Jahrhunderten discutirte Frage an uns heran, wie ist es m\u00f6glich, dass uns jene Sinnesorgane \u201erichtige Vorstellungen\u201c der Dinge in das Bewusstsein bringen. Die Schwierigkeit dieser Frage leuchtet sogleich ein, wenn man bedenkt, dass wir unsere Kenntnisse von den Aussendingen den Wirkungen dieser auf unsere Sinnesorgane verdanken, und dass jede Wirkung erstens dem einwirkenden Ding nicht nur un\u00e4hnlich, sondern gar nicht vergleichbar ist. Man denke z. B. an die Wirkung, welche eine S\u00e4ure auf blaue Lakmustinctur aus\u00fcbt oder an die Bewegung der aufgeh\u00e4ngten Magnetnadel, welche ein tritt, wenn in den dieselbe umkreisenden Draht ein electrischer Strom hereinbricht. Welche Aehnlichkeit zwischen dem Auftreten\n1 Yergl. \u00fcber Localzeiclien : Kries und Auerbach, Die Zeitdauer einfachster psychischer Vorg\u00e4nge. Arch. f. Anat. u. Physiol. Physiol. Abth. 1877. S. 349 ff.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Empfindgn. u. Wahrnehm, im Allgem. Localzeichen. Intensit\u00e4t d. Empfindgn. 211\ndar rothen Farbe und der einwirkenden S\u00e4ure, oder der Bewegung der Magnetnadel und dem electrischen Strom? Wie sollte also auch eine Aehnlickkeit zu Stande kommen zwischen den durch die Empfindungen vermittelten Vorstellungen und den einwirkenden Aussendingen? Zweitens h\u00e4ngt jede Wirkung ab, nicht nur von dem einwirkenden, sondern auch von dem Gegenstand, auf welchen eingewirkt wird. Die Wirkungen auf die Sinnesorgane m\u00fcssen also verschieden sein je nach den Individuen, da es sicher ist, dass die Sinnesorgane nicht bei allen Menschen gleich sind. Wie kommen dann alle Menschen zu Empfindungen, welche sie zu \u201erichtigen Vorstellungen\u201c f\u00fchren ?\nEs ist in den letzten Decennien gelungen, diese Frage in ihren Hauptz\u00fcgen endg\u00fcltig zu beantworten.\nIch will im Folgenden die jetzt gangbare Lehre skizziren und dabei von einigen Modificationen, die sp\u00e4ter erw\u00e4hnt werden sollen, vorl\u00e4ufig absehen.\nEine Aehnlichkeit zwischen dem Ding und seiner Vorstellung existirt nicht nur nicht, sondern ist eine dem jetzigen Stand der Naturwissenschaften l\u00e4ngst nicht mehr entsprechende Idee einer kindlichen Philosophie alter Zeiten.\nDie Art, wie wir zu unseren Vorstellungen kommen, ist vielmehr folgende: Wie oben auseinandergesetzt, ist die Empfindung, welche je eine sensible Nervenfaser im Bewusstsein hervorruft, f\u00fcr sich vollkommen charakterisirt. Sie wird also von dem mit Ged\u00e4chtniss begabten Individuum immer wenn sie eintritt wiedererkannt werden. Darin liegt der Schl\u00fcssel zur L\u00f6sung unserer Frage. Wir werden so oft eine Empfindung eintritt erkennen, dass dies die Empfindung ist, welche zu jener bekannten Zeit und unter jenen bekannten Umst\u00e4nden auch aufgetreten war, und da unsere Sinnesorgane so eingerichtet sind, dass unter gleichen \u00e4usseren Umst\u00e4nden zu verschiedenen Zeiten (abgesehen von gewissen in das Bereich der Sinnest\u00e4uschungen fallenden Umst\u00e4nden) gleiche Empfindungen eintreten, so werden wir bei Eintritt dieser bekannten Empfindungen erkennen, dass gleiche \u00e4ussere Umst\u00e4nde, wie in diesem und jenem Falle vorliegen. Dies ist alles, was zu der Construction einer Vorstellung n\u00f6thig ist. Unsere Empfindungen fungiren also mit ihren Verschiedenheiten wie die Buchstaben eines Buches. Die Vorstellungen sind dem Inhalte des Buches zu vergleichen. Beim Buchstaben besteht keine Beziehung zwischen seiner Form und dem Laut, dem er als Symbol dient, ebenso bei der Empfindung und dem Object, welches sie erregt. Der Buchstabe hat seine Bedeutung darin, dass er stets\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\ndenselben Laut zum Bewusstsein bringt; ebenso die Empfindung. Oder um beim oben angef\u00fchrten Beispiele zu bleiben: nicht der Farbenwechsel der Lakmustinctur hat Aehnlichkeit mit der S\u00e4ure, nicht die Bewegung der Magnetnadel mit dem elektrischen Strome; das Wesentliche ist vielmehr, dass Chemiker und Physiker die Anwesenheit der S\u00e4ure und des Stromes an jenen Ver\u00e4nderungen erkennen, weil diese Ver\u00e4nderungen unter denselben \u00e4usseren Umst\u00e4nden stets wieder eintreten. Ebenso geschieht in uns die Deutung der Empfindungs-Impulse.\nEin Beispiel soll dieses klarer machen:\nAuf jeder der beiden Netzh\u00e4ute eines Individuums befinde sich eine Gruppe von Nervenendigungen in Erregung. Das Individuum wird also etwas sehen, und wenn nur roth-empfindende Nervenenden erregt sind ], so wird es erkennen, dass die gegenw\u00e4rtige Empfindung ihrer Qualit\u00e4t nach identisch ist mit der Empfindung, welche der Anblick von Blut, von einer Mohnblume etc. erzeugt hat. Diese Qualit\u00e4t hat das Individuum von Kindheit an mit dem Namen \u201eRoth\u201c bezeichnen geh\u00f6rt, es nennt die jetzige Empfindung also ebenso. Es ist wohl kaum n\u00f6thig zu erw\u00e4hnen, dass sich diese Empfindung \u00fcberhaupt nie anders beschreiben l\u00e4sst, als durch Nennung des Gegenstandes, der sie hervorruft. Liegt das rothe Netzhautbild im linken unteren Quadranten der Netzhaut, d. h. sind dort liegende Netzhautenden die erregten, dann hat das Individuum eine Empfindung, die sich zwar ebensowenig wie die obere beschreiben l\u00e4sst, die aber immer dann eingetreten ist, wenn das Object, welches die Empfindung hervorrief, im rechten oberen Theil des Gesichtsfeldes lag. Es hat sich dies durch Erfahrung, indem das Individuum nach dem Gegenst\u00e4nde griff oder ihn durch die Hand dem Blicke zu verdecken gesucht hat, herausgestellt, und im jetzt eintretenden Falle, welchem viele Millionen gleichartiger F\u00e4lle vorhergegangen, erwartet das Individuum den Gegenstand in derselben Richtung zu finden. Es sieht also ein rothes Feld rechts oben. Da es hierbei bloss darauf ankommt, dass das Individuum ein oft dagewesenes Localzeichen wiedererkennt und erfahrungsgem\u00e4ss deutet, so braucht es nat\u00fcrlich nichts davon zu wissen, wo auf der Netzhaut das Netzhautbild liegt, und weiss ja in der That in der gr\u00f6ssten Mehrzahl der F\u00e4lle sein Leben lang nichts davon.\n1 Es tritt bekanntlich in Wirklichkeit der Fall nie ein, dass eine Gattung der drei farbenempfindenden Nervensorten allein erregt ist, es sind vielmehr immer alle drei, wenn auch zwei nur sehr schwach an der Erregung betheiligt. Diese und \u00e4hnliche Vereinfachungen m\u00f6gen im Beispiele gestattet sein.","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Entstehung der Wahrnehmung.\n213\nDenken wir uns weiter die erregten Netzhautelemente so grup-pirt, wie sie beim Anblick des Vollmondes, einer M\u00fcnze, kurz einer Kreisscheibe gruppirt waren, so wird auch dieser freilich etwas com-plicirtere Empfindungscomplex wiedererkannt werden und das Individuum im rechten oberen Theile des Gesichtsfeldes eine rothe Kreisscheibe sehen. Ist auf derselben Licht und Schatten so vertheilt, wie dies unz\u00e4hlige Male an einem Objecte gesehen wurde, welches in die Hand genommen sich in eigenth\u00fcmlicher Weise umgreifen Hess, auf den Boden geworfen weiter rollte, und in der Hand gedreht stets dasselbe Netzhautbild darbot, und sich gleich anf\u00fchlte, dann wird das Individuum auch diesmal beim Anblick jener Liektvertkeilung dieselben Eigenschaften voraussetzen und eine rothe Kugel im oberen rechten Theile des Gesichtsfeldes erkennen. Endlich wird das Individuum den Gegenstand anblicken und durch vielf\u00e4ltige Uebung leicht den Augen eine solche Stellung geben, dass es jene Kugel nur einfach nicht doppelt sieht. Es wird hierbei eine gewisse Muskelanstrengung in den Bewegern des Bulbus machen m\u00fcssen und wird erkennen, dass es Muskelimpulse von gleichem Grade immer dann gebraucht hat, wenn der anzublickende Gegenstand so weit vom Auge entfernt war, dass es denselben mit vollkommen ausgestrecktem Arm eben noch erreichte. Es wird also erkennen, dass dies in vorliegendem Falle ebenso geschehen wird.\nDas Individuum ist auf diese Weise zur \u201eWahrnehmung\u201c einer rothen Kugel gelangt, welche sich in einer bestimmten Richtung und einer bestimmten Entfernung befindet. Es hat also \u201eeine richtige Vorstellung\u201c von jenem Objecte gewonnen. Unter dem Ausdrucke \u201erichtige Vorstellung\u201c ist aber nichts anderes zu verstehen, als dass eben dieses Individuum durch seine gewonnene Anschauung in den Stand gesetzt ist, die Erfolge von Actionen, die es mit jenem Ding vornimmt oder die es an ihm beobachtet, richtig vorauszusehen, die Beziehungen des Dinges zu anderen Dingen richtig zu beurtheilen etc., kurz die gewonnene Vorstellung practisch zu verwerthen. Eine \u201erichtige Vorstellung\u201c in dem Sinne, dass dieselbe von dem beobachtenden Individuum unabh\u00e4ngige Eigenschaften des Dinges enth\u00e4lt, also das \u201eDing an sich'4 erkennen l\u00e4sst, giebt es nat\u00fcrlich nicht, und nach einer solchen zu fragen, heisst sich auf einen \u00fcberwundenen Standpunkt stellen.\nWir sind in der vorstehenden Auseinandersetzung auf Schritt und Tritt auf sogenannte Analogie-Schl\u00fcsse gestossen. Indem wir z. B. sagten das Individuum habe unz\u00e4hligemale bei Reizung einer bestimmten Ketz-hautstelle den reizenden Gegenstand durch Ausstrecken der Hand in eine","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214 Exner, Grossliirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\ngewisse Richtung verdecken k\u00f6nnen, und es erwartet jetzt bei Reizung derselben Netzhautstelle den Gegenstand durch dieselbe Handbewegung zu verdecken, so haben wir dem Individuum f\u00fcr diesen Fall einen Analogie-Schluss zugeschrieben. Solche Schl\u00fcsse nun, deren bei jeder Sinneswahrnehmung sehr viele ausgef\u00fchrt werden, laufen in der Regel, wenn der Ausdruck erlaubt ist, instinctiv ab, d. h. sie fallen nicht in das Bereich des Bewusstseins. Man nennt sie deshalb auch unbewusste Schl\u00fcsse oder Inductionssclil\u00fcsse. Es ist das Verdienst Stuart Mill\u2019s 1 die Wichtigkeit und Bedeutung derselben f\u00fcr unsere Fragen zuerst in das richtige Licht gestellt zu haben. Dadurch dass diese Schl\u00fcsse obwohl aus Erfahrung stammend und auf dieser fussend, instinctiv geworden sind, haben sie auch das Zwingende des Distinctes gewonnen, so dass wir uns selbst gegen unsere bessere Einsicht ihren Schlussfolgerungen nicht mehr entziehen k\u00f6nnen. Wenn wir z. B. die eben erw\u00e4hnte Netzhautstelle dadurch in Erregung versetzen, dass wir dieselbe durch den auf die Sclera aufgesetzten Finger dr\u00fccken, so sehen wir eine Lichterscheinung die doch in jener Richtung liegt, in welcher der reizende Gegenstand stets gelegen war, und wir k\u00f6nnen uns durch die Kenntniss davon, dass der reizende Gegenstand, diesmal der Finger, wo anders liegt, jenem zwingenden Analogie-Schluss nicht entziehen. Ein sch\u00f6nes Beispiel, um das Zwingende dieser Schl\u00fcsse zu beleuchten, ist folgendes. Eine stark im Relief gepr\u00e4gte M\u00fcnze oder eine getriebene Arbeit wird in der N\u00e4he des Fensters so aufgestellt, dass sie deutliche Lichter und Schatten zeigt. Zwischen sie und das beobachtende Auge wird eine Convexlinse so angebracht, dass man bequem das durch dieselbe entworfene verkehrte Luftbild beobachten kann. In diesem Luftbild erscheint das Relief nun negativ, d. h. was erhaben ist, erscheint jetzt vertieft, und umgekehrt. Es r\u00fchrt dies daher, dass jetzt die in Wirklichkeit dem Fenster zugekehrten Seiten jeder Erh\u00f6hung, welche die starken Lichter haben, wegen der Umkehrung des Bildes vom Fenster abgewendet, und die Schattenseiten dem Fenster jetzt zugekehrt sind. Diese Vertheilung von Licht und Schatten in Bezug auf die Lage des Fensters haben wir immer und nur dann gesehen, wenn das Relief ein negatives war. Wie man sieht kann diese T\u00e4uschung nur zu Stande kommen, wenn wir die Lage des Fensters \u2022 mit in das Calc\u00fcl einschliessen, und doch wird kaum jemand, der diesen Versuch und seine Bedeutung nicht kennt, sich dar\u00fcber bewusst, dass \u00fcberhaupt die Lage des Fensters eine Rolle dabei spielt. Die T\u00e4uschung schwindet sobald es gelingt, das Fenster auf der anderen Seite vorzustellen.\nDie Lehre von den Sinnest\u00e4uschungen bildet eine Kette von Nachweisen \u00fcber die zwingende Kraft der unbewussten Schl\u00fcsse.1 2\nIch bin in der vorstehenden Darstellung vom Zustandekommen einer Vorstellung und Wahrnehmung der Lehre der sogenannten empiristischen\n1\tStuart Mill, A System of Logic ratiocinative and inductive etc. London 1843. Es existirt eine deutsche Uebersetzung dieses Werkes von Schiel, Braunschweig 1868. und eine von Gomperz bei Fues (Reisland) 1871\u201472.\n2\tVergl \u00fcber Empfindung und Wahrnehmung: Stricker, Vorles. \u00fcber allgem. u. experim. Pathologie. 3. Abth. Wien 1879. Es ist dieses Heft erst nach Abschluss des vorliegenden Manuscriptes erschienen, konnte deshalb nicht mehr ber\u00fccksichtigt werden.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Wahrnehmungen. Intensit\u00e4t der Empfindungen.\n215\nTheorie gefolgt. Sie vertritt die Ansicht, dass jene Erfahrungen auf welchen die Deutung unserer Empfindungen der Aussenwelt gegen\u00fcber beruht, im Laufe des Lebens jedes Individuums gesammelt werden m\u00fcssen. Ihr gegen\u00fcber stellt die nativistisclie Theorie, nach deren Ansicht die er-fahrungsgem\u00e4sse Deutung der Empfindungen dem Individuum bis zu einem gewissen Grade anererbt ist.\nDas Eingehen auf diese Controverse w\u00fcrde uns zu weit von unserem Wege abfiihren, umsomehr als sie sich zum Tlieil auf rein philosophischem Boden, zum Theil eng begrenzt auf dem Boden der physiologischen Optik bewegt.\nIn physiologischer Beziehung ist der hervorragendste Vertreter der empiristischen Theorie Helmholtz, der hervorragendste Vork\u00e4mpfer f\u00fcr die nativistisclie Hering. Die Literatur so wie die wesentlichsten Fragen dieses Streites findet sich in Helmholtz, Physiologische Optik 1 zusammengestellt.2 Ebendaselbst findet sich auch eine Darstellung der historischen Entwickelung der uns im Vorstehenden besch\u00e4ftigenden Fragen, auf welche ich diejenigen, welche sich f\u00fcr dieses Grenzgebiet der Psychologie und der Physiologie n\u00e4her interessiren, mir zu verweisen erlaube.3\nII. Die Intensit\u00e4t der Empfindungen (Psycliopliysik).\nVorbem erklingen.\nEs ist Gegenstand der t\u00e4glichen Erfahrung, dass sich eine Empfindung von bestimmtem Charakter innerhalb gewisser Gr\u00e4nzen an Intensit\u00e4t \u00e4ndern kann, ohne dass sich dieser Charakter \u00e4ndert. Der Geschmack von etwas Saurem kann mehr oder weniger intensiv sein, ebenso der Eindruck, den ein weisses Feld in uns hervorruft. Weiter ist Gegenstand unmittelbarer Erfahrung, dass die Intensit\u00e4t der Empfindung w\u00e4chst, wenn der Reiz w\u00e4chst, d. h. wenn die physischen Vorg\u00e4nge, die auf unsere Sinnesorgane wirken, physikalisch betrachtet, an Intensit\u00e4t zunehmen. Wenn wir uns einer Schallquelle n\u00e4hern, bemerken wir eine Zunahme der Intensit\u00e4t der Geh\u00f6rsempfindung; ein weisses Feld, von zwei Kerzen beleuchtet, ruft eine gr\u00f6ssere Empfindungs-Intensit\u00e4t hervor, als wenn es bloss von einer Kerze beleuchtet ist etc. Denken wir uns einen Sinnesreiz continuirlich an Intensit\u00e4t zunehmen, dann wird erfahrungsgem\u00e4ss die Empfindung auch an Intensit\u00e4t zunehmen, und zwar auch st\u00e4tig. Man kann sich nun fragen, in welcher Weise ist die Zunahme der Empfindung in ihrem Verlaufe abh\u00e4ngig von dem Verlaufe des Reizwachsthums.\n1\tHelmholtz, Handbuch der physiologischen Optik. (IX. Bd. von Karsten\u2019s Encyklop\u00e4die der Physik.) S. 441. 594. 805. 809\u2014818. Leipzig 1867.\n2\tNach dem Erscheinen des HELMHOLTz\u2019schen Buches f\u00e4llt die Rede Hering\u2019s, \u201eUeber das Ged\u00e4chtniss als eine allgemeine Function d. organisirten Materie\u201c. Feierliche Sitzg. d. Wiener Acad. d. Wiss. 1870.\n3\tHelmholtz 1. c. S. 455.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfmdungsimpulse.\nWie leicht einzusehen, sind hier mehrere F\u00e4lle denkbar: Es k\u00f6nnte z. B. wenn der Reiz die 2 -, 3-, 4-fache Intensit\u00e4t angenommen hat, die Empfindung auch die 2 -, 3 -, 4 - fache Intensit\u00e4t annehmen ; es w\u00fcrde dann die Empfindung proportional dem Reize wachsen. Es w\u00e4re dies dieselbe Beziehung, welche zwischen Dichte und Expansivkraft eines Gases obwaltet u. dgl. m. Oder es k\u00f6nnte wenn der Reiz 2-, 3-, 4-mal so gross wird, die Empfindung 4-, 9-, 16-mal so gross werden, d. h. die Empfindung w\u00fcrde quadratisch mit dem Reiz steigen, wie die lebendige Kraft einer geschossenen Kugel im quadratischen Verh\u00e4ltniss mit ihrer Geschwindigkeit steigt. So sind noch andere F\u00e4lle denkbar. Die Entscheidung der Frage, in welcher Weise die Zunahme der Empfindung von der Zunahme des Reizes abh\u00e4ngt, mit anderen Worten, welche Function des Reizes die Empfindung sei, ist nicht mehr Gegenstand der t\u00e4glichen Erfahrung, ist \u00fcberhaupt nicht mehr Gegenstand unmittelbarer Empfindung. Wir gewahren nicht, welches Weiss doppelt so hell ist, wie ein anderes, welcher Ton doppelt so stark ist, wie ein anderer, welches S\u00fcss doppelt so s\u00fcss ist, wie ein anderes etc. Dass dies nicht Gegenstand unmittelbarer Empfindung ist, leuchtet sogleich ein, wenn man jemandem, der in solchen Versuchen fremd ist, zwei Weiss zeigt, von denen das eine doppelt so hell ist, wie das andere ; er ist davon \u00fcberrascht, oder wird zweifeln, wird auch ein dreimal so helles f\u00fcr das doppelt so helle halten etc. Demgegen\u00fcber sind das Mehr oder Weniger \u00fcberhaupt, und Farbenn\u00fcancen, Gegenstand unmittelbarer Empfindung und der in diesen Dingen fremdeste Beobachter wird nicht dar\u00fcber zweifeln, ob ein Weiss heller ist als ein anderes oder ein ihm vorgef\u00fchrtes Gr\u00fcn-Gelb wirklich ein solches sei oder nicht.\nWohl aber kann man durch Erfahrung gelernt haben, wie ein Weiss von doppelter Helligkeit aussieht, ein S\u00fcss von doppelter Intensit\u00e4t schmeckt etc. In diesen F\u00e4llen aber darf man nicht glauben, die doppelte Empfindungs-Intensit\u00e4t zu erkennen. Es ist dies ein Fehler, der wiederholt vorgekommen ist, der uns auch noch sp\u00e4ter besch\u00e4ftigen wird, auf den ich aber schon hier kurz eingeken muss.\nWenn Jemand erkennt, dass auf seine rechte Hand ein doppelt so grosses Gewicht gelegt wurde, wie auf seine linke, so hat er nicht die doppelt so intensive Gewichts - Empfindung erkannt, sondern er hat verm\u00f6ge der ihm vom ersten Gewichte zukommenden Empfindung und seiner reichhaltigen Erfahrung das erste Gewicht richtig abgesch\u00e4tzt, er ist auf demselben Wege zu der richtigen Beurthei-lung des zweiten Gewichts gelangt, und hat auf diese Weise das","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen (Psychophysik). Weber\u2019s Gesetz.\t217\nVerh\u00e4ltniss der beiden Gewichte eruirt. Die unmittelbaren Empfindungen, welche die beiden Gewichte hervorrufen, k\u00f6nnen dabei in einem ihm g\u00e4nzlich unbekannten Verh\u00e4ltnisse stehen, er muss dieselben, d. i. die Empfindungen, nur genau kennen, um die Gewichte richtig zu beurtheilen, das Verh\u00e4ltniss zwischen den Empfindungen der beiden Gewichte braucht er nicht zu kennen und kennt es in der That nicht.\nAlso selbst wenn Jemand erkennt, wann ein Reiz 2-, 3-, 4-mal so gross ist, wie ein anderer, so ist dies nicht ein Beweis daf\u00fcr, dass er eine Empfindung von der 2-, 3-, 4-mal so grossen Intensit\u00e4t hat. Nach unseren heutigen Anschauungen steht auch Empfindung und Reiz gar nicht in diesem proportionalen Verh\u00e4ltniss zu einander, und ist dieses Verh\u00e4ltniss nur durch einen Umweg experimentell zu eruiren.\nEs ist die Frage nach dem functionellen Verh\u00e4ltnisse zwischen der Intensit\u00e4t von Reiz und Empfindung zuerst von Fechner beantwortet und diese Beantwortung zur Basis einer Lehre gemacht worden, welche er Psychophysik 1 nennt. Mit dieser haben wir uns zun\u00e4chst zu besch\u00e4ftigen.\nDas Web er'sehe Gesetz.\nDer Sinnesreiz, z. B. ein Lichtreiz, ein Druck etc. ist in seiner Gr\u00f6sse in den meisten F\u00e4llen messbar, d. h. wir k\u00f6nnen angeben, wievielmal er gr\u00f6sser oder kleiner ist als ein gleichartiger Reiz, dessen Intensit\u00e4t als Einheit angenommen wird. Wir k\u00f6nnen einen solchen Sinnesreiz auch willk\u00fcrlich an Intensit\u00e4t wachsen lassen. Denken wir uns nun folgenden Versuch ausgef\u00fchrt: Ein weisses Feld von einer gewissen Helligkeit wirke als Reiz auf die Netzhaut; es bringt, eine Empfindung von einer gewissen uns unbekannten Intensit\u00e4t hervor. Nun lassen wir den Reiz um eine uns bekannte Gr\u00f6sse zunehmen; es wird auch die Empfindung zunehmen; die Gr\u00f6sse dieses Zuwachses kennen wir nicht. W\u00fcrden wir aber wissen, um wieviel der Reiz weiter wachsen muss, um den Empfindungszuwachs doppelt so gross zu machen, wie weit dann der Reiz noch wachsen muss, um den Empfindungszuwachs dreimal so gross zu machen etc., dann w\u00fcrden wir das Gesetz kennen, welches die Reizgr\u00f6ssen mit den Empfindungsgr\u00f6ssen verkn\u00fcpft.\nEs handelt sich also darum zu erkennen, wann der zweite Empfindungszuwachs ebenso gross ist, wie der erste war, ferner wann der dritte ebenso gross ist, wie der zweite war, etc. Solche gleich-\n1 Elemente der Psychophysik von G. Th. Fechner. Leipzig 1860.","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218 Exner, Grosslnrnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\ngrosse Empfindungszuw\u00fcchse sind nun in einem Falle mit Sicherheit zu erkennen, n\u00e4mlich wenn sie eben merklich sind. Lassen wir also unser urspr\u00fcngliches weisses Feld in einer H\u00e4lfte so viel an Intensit\u00e4t zunehmen, dass diese Zunahme eben merklich ist, und messen das Mehr an Lichtintensit\u00e4t, das dazu gebraucht wurde, so haben wir mit diesem Zuwachs an Reiz einen eben merklichen Empfindungszuwachs erzielt. Nun ertheilen wir dem ganzen Feld diese h\u00f6here Intensit\u00e4t und lassen neuerdings die eine H\u00e4lfte desselben an Intensit\u00e4t zunehmen, bis sie wieder eben merklich heller erscheint, als die andere H\u00e4lfte, dann haben wir einen zweiten eben merklichen Empfindungszuwachs erzielt, der nun ebensogross ist wie der erste. Indem wir so weiter fortfahren, steigern wir also die Intensit\u00e4t der Empfindung immer um gleiche Gr\u00f6ssen und k\u00f6nnen nun erkennen, ob diese gleichen Empfindungszuw\u00fcchse durch gleiche Reizzuw\u00fcchse hervorgerufen worden oder nach welchem anderen Gesetze die Reizzuw\u00fcchse, d. i. die Zusch\u00fcsse an Beleuchtung unseres weissen Feldes wachsen mussten, damit die Empfindungszuw\u00fcchse gleich wurden.\nDass zwei eben merkliche Empfindungszuw\u00fcchse gleich gross sind, ergiebt sich, wenn man bedenkt, dass die Gr\u00f6sse einer bestimmten Empfindung oder eines Empfindungszuwachses einzig und allein durch ihre gr\u00f6ssere oder geringere Merklichkeit gegeben ist, dass also, wo die letztere gleich gross ist, auch die ersteren gleich gross sein m\u00fcssen.\nBei Ausf\u00fchrung des eben geschilderten Versuches stellt sich heraus, dass eben merkliche Empfindungszuw\u00fcchse immer dann vorhanden sind, wenn der Reiz in der einen H\u00e4lfte des weissen Feldes um einen gewissen Bruchtheil der urspr\u00fcnglichen Intensit\u00e4t zugenommen hat. Dieser Bruchtheil, der bei verschiedenen Individuen verschieden ist, schwankt um fioo, d. h. wenn die eine H\u00e4lfte des weissen Feldes die Intensit\u00e4t der Beleuchtung H hat und die andere die In-\njj\ntensit\u00e4t \u00fc+\u2014, so ist letztere eben merklich heller als erstere.\nH\u00e4tte die urspr\u00fcngliche Beleuchtungs-Intensit\u00e4t H eine Empfindungs-\nIntensit\u00e4t E hervorgerufen, so w\u00fcrde iJ-f-y-- ergeben E 4-e, wo e\nder eben merkliche Empfindungszuwachs ist. Lassen wir die Hellig-\nkeit E[ -h yy- wieder um ihren hundertsten Theil wachsen, und fahren\nso fort, so ergibt sich unmittelbar das Gesetz nach welchem die Empfindung mit dem Reize w\u00e4chst.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen (Psychophysikh Weber\u2019s Gesetz.\n219\n101\n1\u00d6\u00d6\n101\nH\n100 101\n101 101 rr\n100 100 ----------------- 100\n100\n\tH ergiebt\tE\nH 100\t121H . 100\tE 1\n101 T\u00f6\u00f6 *\t\u2014 ff ioa\tE -F \u00a3\t\u00a3\n101 1 * l\u00d6\u00d6 *\t\u2014 H 100\tE -j\u2014 \u00a3 -{- \u00a3 -|\u2014 \u00a3\nd. h. wenn die Empfindung um gleiche Gr\u00f6ssen (e) zunehmen soll,\nmuss die Helligkeit mit gleichen Gr\u00f6ssen\tmultiplicity werden:\nerstere w\u00e4chst in arithmetischer Progression, wenn die Zunahme der letzteren in geometrischer Progression geschieht.\nDer Satz auf welchem diese Ableitung beruht, und welcher sagt, dass der Reiz um einen bestimmten Bruchtheil seiner Gr\u00f6sse zunehmen muss, um eine eben merklich verschiedene Empfindung zu erzeugen, wie gross er auch urspr\u00fcnglich sein m\u00f6ge, r\u00fchrt von E. H. Weber1 her, und f\u00fchrt nach diesem Forscher den Namen des WEBER\u2019schen Gesetzes. Dass diese ebenmerklichen Empfindungsunterschiede gleich gross sein m\u00fcssen, war der gl\u00fcckliche Gedanke Fechner\u2019s, 'der es ihm erm\u00f6glichte aus jenem WEBER\u2019schen Gesetz das viel weittragendere, \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungsgr\u00f6ssen von den Reizgr\u00f6ssen \u00fcberhaupt, abzuleiten. Die Versuche Weber\u2019s bezogen sich zun\u00e4chst auf die Absch\u00e4tzung von Gewichten. Zwei Gewichte wurden eben als ungleich erkannt, wenn dieselben um eine bestimmte Anzahl ihrer Einheiten verschieden waren, und diese Anzahl war n\u00e4herungsweise dieselbe, ob als Einheit Drachmen oder Unzen ben\u00fctzt wurden. Die Versuche wurden in zweierlei Weise angestellt, erstens indem die Gewichte auf die unterst\u00fctzte Handfl\u00e4che gelegt, zweitens indem sie gehoben wurden, in welchem letzteren Falle nebst der Tastempfindung, noch das Muskelgef\u00fchl betheiligt ist. Nat\u00fcrlich musste, um das Urtheil nicht zu beeinflussen, eine zweite Person die Gewichte auflegen, und unter Beachtung gewisser Vorsichtsmass-regeln wechseln. Im Nachfolgenden eine Originaltabelle Weber\u2019s.2\n1\tVergl. E. H. Weber, De pulsu, resorptione, auditu et tactu. annotationes ana-tomicae et pfiysiologicae. Lipsiae apud K\u00f6hler. 1834 ; ferner : Die Lehre vom Tastsinne und Gemeingef\u00fchle in R. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol. III. 2. Abth., und die Ab-handlg. : Ueber den Tastsinn. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1835. S. 152.\n2\tWeber, Program, collect. Auch abgedruckt in : Fechner, Eiern, d. Psycho-physik. I. S. 139.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220 Exner, Grosshimrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nDifferentia minima unciarum vel drachmarum Numerus hominum in quibus manibus impositarum in qua diversitas ponderis exp\u00e9rimenta instituta sunt.\tpercipiebatur.\nI tactu \t\t. 32 une.\tIT une.\tdiffert 15 une.\ntactu et coenaesthesi .\t32 \u201e\t3072 \u201e\t\u201e\t172 \u201e\ntactu\t\t32 drachm.\t24 drachm.\t\u201e\t8 drachm.\ntactu et coenaesthesi .\t32\t\u201e\t30\t\u201e\t2\nII tactu\t\t. 32 une.\t22 une.\t\u201e\t10 une.\ntactu et coenaesthesi . .\t. 32\t\u201e\t3072 \u201e\t\u201e\t172 \u201e\ntactu\t\t. 32 drachm.\t22 drachm.\t\u201e\t10 drachm.\ntactu et coenaesthesi . .\t. 32\t\u201e\t30\t\u201e\t2\nII tactu \t\t\t20 une.\t\u201e\t12 une.\ntactu et coenaesthesi . .\t. 32\t\u201e\t26 \u201e\t\u201e 6 \u201e\ntactu et coenaesthesi . ,\t. 32 drachm.\t26 drachm.\t\u201e\t6 drachm.\nV tactu \t\t. 32 une.\t26 une.\t\u201e\t6 une.\ntactu et coenaesthesi . .\t. 32\t\u201e\t30 \u201e\tv\t2\t\u201e\ntactu et coenaesthesi .\t. 32 drachm.\t29 drachm.\t\u201e\t3 drachm.\nDie vorstehende Tabelle zeigt,\t\tdass die.\tVersuche keinesw\nvollkommen mit dem Gesetze \u00fcbereinstimmende Zahlen ergeben, es kommen in einzelnen F\u00e4llen vielmehr sehr betr\u00e4chtliche Abweichungen vor und es kann nur von einer Ann\u00e4herung des ausgesprochenen Gesetzes an die thats\u00e4ehlichen Resultate die Rede sein.\nEs ist hier der Ort hervorzuheben, dass aus allen genau ange-stellten Versuchsreihen immer nur eine gr\u00f6ssere oder geringere Ann\u00e4herung an das WEBER\u2019sche Gesetz hervorgeht, ein solches Klappen der Resultate wie es in der vorstehenden Entwickelung, der Darstellung wegen angenommen wurde, kommt nicht vor. Doch verliert das Gesetz durch diese xAbweichungen nicht seine Bedeutung. Soll man die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungszuw\u00fcchse von den Reizzu-wtichsen durch ein einfaches Gesetz darstellen, so ist es das in Rede stehende, welches dem thats\u00e4chlichem Verhalten am n\u00e4chsten kommt. (Wir werden sp\u00e4ter von Modificationen des Gesetzes sprechen, welche jenen Abweichungen gerecht zu werden streben.)\nDie Aoweichungen welche der Versuch ergibt sind zweierlei: Erstens h\u00e4ngt jedes Versuchsresultat von einer grossen Zahl Nebenumst\u00e4nden ab, die der Experimentator nicht immer in der Gewalt hat, oder auch nur kennt. Der Grad der Aufmerksamkeit, die nerv\u00f6se Disposition, die von Tag zu Tag wechselt, der momentane Erm\u00fcdungszustand des betreffenden Sinnesorganes und viele andere Momente k\u00f6nnen auch beim sorgf\u00e4ltigsten Experimentiren immer einen gewissen Einfluss auf das Resultat nehmen. Es gilt deshalb als Regel Versuchsreihen immer vollkommen gleichartig durchzuf\u00fchren und eine sein-grosse Zahl von Einzelversuchen zu machen ; es wird dann das Durchschnittsresultat als das richtige angenommen. Zweitens liegen nachweisbare Ursachen zu Abweichungen von Weber\u2019s Gesetz in der Natur unserer Sinnesorgane. Steigt man \u00fcber eine gewisse Grenze mit der","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen (Psychophysik). Fechner\u2019s Gesetze.\n221\nIntensit\u00e4t des Reizes so leidet das Sinnesorgan und es treten sehr bedeutende Abweichungen ein; man spricht in diesem Sinne von einer oberen Grenze der G\u00fcltigkeit des Gesetzes. Es giebt auch eine untere Grenze. Sind n\u00e4mlich die Sinnesreize sehr gering, so treten auch Abweichungen von dem Gesetze ein, so dass Fechner das Gesetz nur f\u00fcr die Intensit\u00e4ten, welche beim gew\u00f6hnlichen Gebrauche unserer Sinnesorgane in Betracht kommen, f\u00fcr giltig erkl\u00e4rte. In neuerer Zeit jedoch ist klar gestellt worden, dass auch f\u00fcr diese mittleren Intensit\u00e4ten eine vollst\u00e4ndige G\u00fcltigkeit nicht angenommen werden kann, dass vielmehr auch hier, abgesehen von den Zuf\u00e4lligkeiten, die eine Rolle spielen, Abweichungen Vorkommen. Wir werden sp\u00e4ter auf dieselben zur\u00fcckkommen, wenn wir von der Pr\u00fcfung des Gesetzes f\u00fcr die verschiedenen Sinnesorgane handeln.\nDie Feeliner \u2019sehen Gesetze.\nDas Weber\u2019sehe Gesetz, welches aussagt, dass der eben merkliche Empfindungszuwachs (in unserem obigen Beispiele e) immer derselbe ist, wenn nur das Verh\u00e4ltniss zwischen dem Reizzuwachs und dem schon vorhandenen Reize (oben 1100) dasselbe bleibt, l\u00e4sst sich auch mathematisch ausdriieken. Es sei die Empfindungsgr\u00f6sse e hervorgerufen durch den Reiz r; ein ebenmerklicher Zuwachs zur Empfindungsgr\u00f6sse heisse Je und der Reizzuwachs, welcher Je hervorruft heisse Jr. Die Gleichung\n, KJr\nJ e \u2014--------\nr\ndr\u00fcckt dann das Weber\u2019scIic Gesetz aus, AMst hierbei eine Constante welche von den Einheiten abh\u00e4ngig ist, die f\u00fcr e und r gew\u00e4hlt werden. Man erkennt n\u00e4mlich ohne Weiteres, dass Je constant bleibt, es m\u00f6ge Jr und r was immer f\u00fcr absolute Werthe annehmen, wenn nur das Verh\u00e4ltniss der beiden gleich bleibt.\nDa man annehmen muss, dass dieses Gesetz auch bei einer con-tinuirlichen Zunahme von v und e seine G\u00fcltigkeit beh\u00e4lt, so nimmt Fechner keinen Anstand die obige Gleichung f\u00fcr unendlich kleine Zuw\u00fcchse gelten zu lassen, und zu schreiben\n7 Kdr A\nde=------- 1)\nr\nDiese Gleichung (Fechner\u2019s Fundamentalformel) ergiebt durch Integration 1\te \u2014 A log r -j- C.\nI Es l\u00e4sst sich der wesentlichste Theil der hier zu f\u00fchrenden Ableitungen auch mit Umgehung der Infinitesimalrechnung ausf\u00fchren, und Fechner hat diese Ableitung selber in seinen Eiern, d. Psychophysik. II. S. 34 gegeben. An diesem Orte scheint es uuzweckm\u00e4ssig. dieser einfachen Integration wegen jenen zweiten viel l\u00e4ngeren Weg zu gehen.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nEs ist durch eine Erfahrungsthatsache m\u00f6glich die Integrations-constante C zu bestimmen. Es ist dieses \u201edie Thatsache der Schwelle\u201c oder \u201e das Gesetz der Schwelle \u201c wie Fechner, die Erscheinung nennt, dass ein Reiz eine \u00fcber Null stehende, wenn auch sehr geringe Gr\u00f6sse haben muss, um \u00fcberhaupt eine Empfindung im Bewusstsein hervorzurufen. Entfernt sich die Quelle eines Ger\u00e4usches immer mehr, so kommt ein Moment, in welchem man das Ger\u00e4usch nicht mehr h\u00f6rt, obwohl offenbar noch Schallwellen bis zu uns dringen; beleuchtet man ein Object immer weniger so entschwindet es dem Auge, wenn auch noch Lichtstrahlen von demselben in unsere Augen dringen. Man sagt der Reiz sei unter die Schwelle gesunken. Im Falle der Reiz eben merklich wird, sagt man, er tritt auf die Schwelle. Diese Thatsache nun, dass noch bei endlichem Werthe des Reizes r die Empfindung e schon 0 wird dient zur Bestimmung der Constante C.\nNennen wir den Reiz r f\u00fcr den Fall dass er eben unter die Schwelle tritt: s, so wird die Gleichung f\u00fcr diese Reizintensit\u00e4t\n0 = K log s -f- C C = \u2014 Alogs\nalso\te = K (log r \u2014 log s)\noder unter Anwendung gew\u00f6hnlicher Logarithmen, da k = \u2014 ; wo M der Modulus 0,4342945 e = k (log r \u2014 log s) |\ne = * log ~s\t|\nDiese Gleichung (2) ist die Maas s formel und sagt aus, dass eine Empfindung proportional ist dem Logarithmus der durch ihren Schwellenwerth dividirten Reizgr\u00f6sse. Sie gestattet die Gr\u00f6sse einer Empfindung aus der Gr\u00f6sse des Reizes und dem Sch wellen werth des letzteren zu berechnen. Nimmt man f\u00fcr den Reiz diejenige Intensit\u00e4t als Einheit an, welche derselbe haben muss, wenn die Empfindung eben die Schwelle betritt, setzen also s = 1 so wird die Gleichung (2) zu\te = k log r.\nSetzt man, was unter Umst\u00e4nden thunlich auch k = 1 so erh\u00e4lt man\ne = log r.\nEndlich l\u00e4sst sich aus der Maassformel unmittelbar die Formel f\u00fcr den Unterschied zweier gleichartiger Empfindungen ableiten. Die Empfindungsgr\u00f6sse\te = k w \u2014\no\nweniger der Empfindungsgr\u00f6sse\net = k log ^\nergiebt den Unterschied der Empfindungen","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen. Fechner\u2019s Gesetze. Empirische Grundlage ders. 223\ne \u2014 ex = k log \u2014 = k (log r \u2014 log r,J 3)\nDiese Formel (3) heisst Unterschiedsformel und sagt aus, dass der Unterschied in der Intensit\u00e4t zweier Empfindungen proportional dem Logarithmus des Quotienten beider Reizgr\u00f6ssen ist.\nDie Maassformel (2) l\u00e4sst ersehen, dass die Empfindungsgr\u00f6sse e negativ wird, wenn der Reiz r unter den Schwellenwerth s sinkt. Das was diesen negativen Gr\u00f6ssen in der Erscheinung entspricht, sind die von Fechner als unbewusst bezeichneten Empfindungen: diejenigen Ver\u00e4nderungen des nerv\u00f6sen Apparates, welche von Reizen hervorgerufen werden, die zu schwach sind, das Bewusstsein anzuregen. Dass wirklich Reize, die unter der Schwelle stehen, noch Ver\u00e4nderungen in uns erzeugen, geht aus einer Reihe von That-sachen hervor, z. B. daraus, dass sie bei der sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle unser durchschnittliches Urtheil beeinflussen.\nMan pflegt von den vorstehenden Gesetzen, sie zusammenfassend, als dem psychophysischen Gesetz Fechner\u2019s zu sprechen.\nEmpirische Grundlagen der psychophysischen Gesetze.\nWir haben oben gesehen, dass das WERER\u2019sche Gesetz aus Versuchen abgeleitet ist, welche demselben nur ann\u00e4herungsweise gen\u00fcgen, wir haben auch schon von oberer und von unterer Gr\u00e4nze des WEBER\u2019schen Gesetzes und von sonstigen Abweichungen gesprochen, welche das Experiment ergeben hat. Wir haben weiter gesehen, dass die psychophysischen Gesetze s\u00e4mmtlich auf dem WEBER\u2019schen basiren, es ist also begreiflich, dass man bestrebt war, durch viele und verschiedenartige Versuche zu constatiren, ob jene Abweichungen nicht etwa einen solchen Charakter haben, dass sie das WEBER\u2019sche Gesetz illusorisch machen und dadurch dem ganzen Geb\u00e4ude das Fundament entziehen, ob das WEBER\u2019sche Gesetz ein bloss f\u00fcr gewisse Sinnesorgane g\u00fcltiges Gesetz ist oder ob es einen allgemeinen Charakter hat, etc.\nEs ist in der That eine grosse Anzahl der verschiedenartigsten Versuche in dieser Richtung gemacht worden, mit denen wir uns jetzt des N\u00e4heren besch\u00e4ftigen wollen.\nMethoden.\nEs l\u00e4sst sich die Pr\u00fcfung der psychophysischen Gesetze im Allgemeinen nach drei Methoden ausf\u00fchren.","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\n1.\tDie Methode der eben merklichen Unterschiede, von der wir oben schon beispielsweise gesprochen und nach welcher E. H. Weber experimentirte, besteht darin, dass man einen Reiz so lange vermehrt oder verringert, bis er sich f\u00fcr die Empfindung eben merklich ver\u00e4ndert hat. Die Empfindlichkeit f\u00fcr diese Reizunterschiede ist dann der gefundenen Reizdifferenz umgekehrt proportional. Man kann, wie leicht einzusehen, bei der Bestimmung jenes kleinsten Reizzuwachses auf zweierlei Weise verfahren; handelt es sich z. B. um die Auffindung des kleinsten Gewichtes, welches eine bestimmte zu hebende Last eben merklich schwerer macht, so kann man mit unmerklichen Gewichten den Versuch beginnen, und immer mehr und mehr Gewichte zusetzend bis zu jenem fortschreiten, welches der Beobachtende eben merklich findet. Oder man kann mit sehr merklichen Gewichten beginnen und bis zu einem unmerklichen herabsteigen; macht man viele Versuche in der einen Weise und ebenso in der anderen, so gewahrt man dass beide Arten zu ungleichen, wenn auch nur wenig verschiedenen Resultaten f\u00fchren. Im Allgemeinen ist es r\u00e4thlich nach beiden Arten gleich viele Versuche auszuf\u00fchren und aus ihnen das Mittel zu nehmen.\n2.\tDie Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle.1 Ist ein Zusatzgewicht (so nennt man das kleine Gewicht, welches zugesetzt wird) von entsprechender Kleinheit, und man soll unterscheiden, ob es dem Hauptgewichte (das urspr\u00fcngliche gr\u00f6ssere Gewicht) zugesetzt oder von demselben fortgenommen wurde, so kommen h\u00e4ufige Irrth\u00fcmer vor. Rechnet man alle F\u00e4lle in welchen sich der Beobachtende nicht get\u00e4uscht hat zusammen, ebenso alle in welchen er sich get\u00e4uscht hat, rechnet man weiter die F\u00e4lle, in welchen er zweifelhaft geblieben ist, halb zu der einen halb zu der anderen Abtheilung, dann erh\u00e4lt man das Verh\u00e4ltniss zwischen der Anzahl der richtigen und der der falschen Urtheile. Die Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle beruht nun darauf die Gr\u00f6sse des Zusatzgewichtes zu finden, welches aufgelegt werden muss, damit unter den zu untersuchenden Umst\u00e4nden jenes Verh\u00e4ltniss der richtigen und falschen Urtheile dasselbe sei. Anstatt dieses Verh\u00e4ltnisses kann man auch das Verh\u00e4ltniss der richtigen F\u00e4lle zur Gesammtzahl der F\u00e4lle, oder ebenso der falschen F\u00e4lle zur Gesammtzahl der F\u00e4lle benutzen. Die Gr\u00f6sse der Empfindlichkeit f\u00fcr die vorliegenden Umst\u00e4nde ist dann dem gefundenen Gewichte umgekehrt proportional.\nWas hier an dem Beispiele von den Gewichtsversuchen erl\u00e4utert wurde, l\u00e4sst sich nat\u00fcrlich auch auf andere Sinnesgebiete ausdehnen.\nWie man sogleich ersieht, dr\u00e4ngt sich bei der Ben\u00fctzung dieser Methode eine Schwierigkeit auf. Gesetzt den Fall wir h\u00e4tten f\u00fcr ein gewisses Hauptgewicht und ein passendes Zusatzgewicht ein Verh\u00e4ltniss\nder richtigen F\u00e4lle zu der Gesammtzahl der F\u00e4lle gefunden, es sei ~ \u2022\nWir verdoppelten jetzt das Hauptgewicht und f\u00e4nden unter den neuen\n1 Diese Methode scheint in urspr\u00fcnglicher Form zuerst in Vierordt\u2019s Laboratorium ge\u00fcbt worden zu sein. Siehe die Arbeit von Hegelmayer (Vierordt\u2019s Arch. XI) und die von Renz und Wolff (ebendas. 1856 und in Poggendorfs Ann. XCVIII. S. 600). Fechner hat sie sp\u00e4ter weiter ausgebildet.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden psychophysischer Messungen.\n225\nUmst\u00e4nden ein Verh\u00e4ltnis -i. Letzteres wird nat\u00fcrlich kleiner ausfallen r\tni\nals \u2014 ? und es ginge daraus wohl hervor, dass die Empfindlichkeit f\u00fcr\ndas Zusatzgewicht abgenommen hat, in Folge der Vergr\u00f6sserung des Hauptgewichtes ; damit ist aber die Aufgabe nicht gel\u00f6st. Eine genaue Messung der Empfindlichkeit wird ja, wie oben gesagt, erst durch die Kenntnis desjenigen Zusatzgewichtes gegeben, welches bei doppeltem Hauptge-\nwicht das Verh\u00e4ltnis \u2014 ergiebt. Es handelt sich also darum aus dem n\tr\nbekannten Zusatzgewicht und dem gefundenen \u2014 dasjenige Zusatzgewicht\nn\\ * r zu bestimmen, welches unter den neuen Umst\u00e4nden das Verh\u00e4ltnis --\nergeben w\u00fcrde. Diese Bestimmung l\u00e4sst sich durch eine Rechenoperation ausf\u00fchren, die zwar an und f\u00fcr sich einfach, deren Auseinandersetzung und Erkl\u00e4rung aber f\u00fcr die hier verfolgten Zwecke unverk\u00e4ltnissm\u00e4ssig weitl\u00e4ufig istr, so dass f\u00fcr dieselbe auf die Originalarbeit Fechner\u2019s, und dessen Tabellen, welche zu den Operationen zu ben\u00fctzen sind, verwiesen sei. Es kann dieses umsomehr geschehen, als kaum jemand unternehmen d\u00fcrfte, nach dieser genauesten der in Betracht kommenden Methoden zu experimentiren, ohne die werthvollen Winke, welche dieser Forscher f\u00fcr dieselbe ertheilt, nachzusehen. Es handelt sich um den Abschnitt : \u201e Specifies zur Methode richtiger und falscher F\u00e4lle in Anwendung auf die Gewichtsversuche\u201c in den Eiern, der Psychophysik I, S. 93 \u2014120.\n3. Bei der Methode der mittleren Fehler stellt man sich die Aufgabe einem genau bestimmten Gewichte (dem Normalgewichte Fechner\u2019s) ein anderes Gewicht (das Fehlgewicht Fechner\u2019s) m\u00f6glichst gleich zu machen. Man begeht hiebei einen gewissen Fehler. Das Gewicht, um welches man zu viel oder zu wenig zugesetzt hat, wird als Maass des Fehlers betrachtet. In einer grossen Reihe von F\u00e4llen werden diese Gewichte bestimmt, aus ihnen das Mittel genommen, und die Empfindlichkeit f\u00fcr Gewichtsunterschiede diesem Mittel reciprok gesetzt. Es bedarf kaum der Erw\u00e4hnung, dass die Fehler immer positiv gerechnet werden, ob das Fehlgewicht zu gross oder zu klein gemacht wurde. (Genaueres \u00fcber diese Methode s. in Fechner\u2019s Eiern, d. Psychophysik I, S. 120.)\nA) Tastsinn.\nDie ausf\u00fchrlichsten Versuchsreihen \u00fcber dieses Sinnesgebiet beziehen sich auf die Beurtheilung der Schwere gehobener Gewichte. Wie man sieht, handelt es sich hier nicht um reine Tastempfindungen, es spielen vor allem die Empfindungen, welche man bei activer Muskelcontraction hat, das sogenannte Muskelgef\u00fchl, hierbei eine wesentliche Rolle.\nVon den Versuchen E. H. Weber\u2019s war oben schon die Rede; zu Resultaten, welche besser mit dem Gesetze stimmten, kam Fech-ner in einer mit allen Vorsichtsmaassregeln ausgef\u00fchrten Verucks-reihe, nach der Methode der richtigen und falschen F\u00e4lle ausgef\u00fchrt.\nHandbuch der Physiologie. Bd.IIa.\t15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse,\nEs mag diese Versuchsreihe hier in extenso mitgetheilt sein, schon um einen Einblick in die practische Ausf\u00fchrung des oben er\u00f6rterten Principes dieser Methode zu gehen.\nDas folgende sind die Worte Fechner\u2019s selbst; (Elem. d. Psycho-physik I, 8. 188) es sei nur noch erw\u00e4hnt, dass unter einh\u00e4ndiger Versuchsreihe eine solche verstanden ist, hei welcher beide Gewichte mit derselben Hand gehoben wurden, unter zweih\u00e4ndiger eine solche bei welcher das eine Gewicht mit der einen, das andere mit der anderen Hand gehoben wurde.\n\u201eMeiner Hauptversuchsreihen \u00fcber den betreffenden Gegenstand sind zwei, eine zweih\u00e4ndige und eine (mit Rechter und Linker besonders ausgef\u00fchrte) einh\u00e4ndige, welche beide vergleichbar, durch eine Reihe von 6 Hauptgewichten, 300, 500, 1000, 1500, 2000, 3000 Grm. durchgef\u00fchrt, zu sehr \u00fcbereinstimmenden Ergebnissen gef\u00fchrt haben.\u201c\n\u201eSpeciell ist folgendes dazu zu bemerken.\nJede beider Reihen umfasst in, 32 Versuchstagen \u00e0 12 Abtheilungen \u00e0 64 Hebungen im Ganzen 32 . 12 . 64 = 24576 einfache Hebungen oder F\u00e4lle. Zu jedem Hauptgewichte P wurden (periodisch damit wechselnd) zwei bestimmte Verh\u00e4ltnisstheile als Zusatzgewicht I) angewandt, n\u00e4mlich 0,04 P und 0,08 P. Letzteres Zusatzgewicht kann gross erscheinen, giebt aber doch, wie man sich aus den folgenden Versuchstabellen \u00fcberzeugen kann, noch genug falsche F\u00e4lle, was mit der Einrichtung des S. 94 f. beschriebenen Verfahrens zusammenh\u00e4ngt, jeden (zu 2 F\u00e4llen 1 gerechneten) Vergleich auf eine einfache Doppelhebung, statt auf wiederholtes Hin- und Herwiegen zu begr\u00fcnden, wo ein Z? = 0,08 P schwerlich noch falsche F\u00e4lle liefern m\u00f6chte. An jedem Versuchstage von 12.64 = 768 Hebungen wurden s\u00e4mmtliche 6 Hauptgewichte, jedes in 2 Abtheilungen \u00e0 64 Hebungen, alle mit demselben verh\u00e4ltnissm\u00e4ssigen D gepr\u00fcft, und dieses nur nach Tagen oder Wochen, wie unten anzugeben, gewechselt.\nAusserdem wurde nach Tagen wechselnd in aufsteigender (|) und absteigender ({) Folge der Hauptgewichte verfahren. So kommen in jeder beider Versuchsreihen auf jedes der sechs Hauptgewichte, im Ganzen 32 . 128 = 4096 Hebungen oder F\u00e4lle; 2048 mit Z> = 0,04 P und eben so viel mit Z? = 0,08 P; je 1024 davon J und eben so viel {. In der zweih\u00e4ndigen Reihe wurden mit jedem Hauptgewichte die 128 Hebungen jedes Tages in continuo angestellt, in der einh\u00e4ndigen folgeweis 64 mit der Linken, 64 mit der Rechten, wobei nach Tagen wechselnd die Linke oder Rechte den Anfang machte. In der zweih\u00e4ndigen Reihe wurde nach je zwei Tagen, in der einh\u00e4ndigen nur nach je 8 Tagen zwischen D = 0,04 P und P = 0,08 P gewechselt.\u201c\n\u201eDie gebrauchte Gewichtseinheit im folgenden ist \u00fcberall der Gramm.\nUm \u00fcber die Bedeutung der Zahlen in den n\u00e4chstfolgenden Tabellen keinen Zweifel zu lassen gebe ich dieselbe ausdr\u00fccklich f\u00fcr die erste Zahl der ersten Tabelle an. Die Zahl 612 bei P= 300, P = 0,04 P,\n1 Es geschieht dieses, um die Bruchtheile von Urtheilen in den Tabellen zu vermeiden, die hei den unentschiedenen Urtheilen , welche halb den richtigen und halb den falschen F\u00e4llen zugez\u00e4hlt werden sollen, entstanden.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen. Tastsinn.\n227\nn \u2014 1024, | sagt, dass bei einem Hauptgewichte = 300 Grm. und einem Zusatzgewichte = 0,04 des Hauptgewichtes, also 12 Grm., die Zahl der richtigen F\u00e4lle aller Tage, wo die Hauptgewichte in aufsteigender Folge (j,) angewandt wurden, 612 war, indess die Totalzahl der F\u00e4lle, richtige und falsche zusammen, unter denselben Umst\u00e4nden 1024 betrug, wonach die Zahl der falschen 1024\u2014612 = 412 war. Hiernach wird die Bedeutung der \u00fcbrigen Zahlen von selbst verst\u00e4ndlich sein. Den Zahlen r der ver-ticalen Schlusssummenspalte geh\u00f6rt nat\u00fcrlich das 4-fache n der Zahlen in den Specialspalten zu, d. i. 4096, wie einschaltungsweise angegeben ist, da die r der 4 verticalen Specialspalten in der vertiealen Schlusssummenspalte addirt sind, hingegen geh\u00f6rt den Zahlen r der horizontalen Schlusssummenspalte das 6-fache n der Specialzahlen, d. i. 6144 zu, da die r, welche zu den 6 P\u2019s in derselben Verticalspalte geh\u00f6ren, in der horizontalen Schlusssummenspalte addirt sind.\u201c\nI. Zahl richtiger F\u00e4lle r der zweih\u00e4ndigen Reihe.\np\t\tn \u2014\t1024\t\tSumme (n = 4096)\n\tD = 0,04 P\t\tB = 0,08 P\t\t\n\ti\tJ\tI |\t!\t\t\n300\t612\t614\t714\t720\t2660\n500\t586\t649\t701\t707\t2643\n1000\t629\t667\t747\t753\t2796\n1500\t638\t683\t*811\t781\t2913\n2000\t661\t682\t828\t798\t2969\n3000\t685 1\t650\t839\t818\t2992\nSumme\t3811\t3945\t4640\t4577\t16973\n(n\u2014 6144)\t\t\t\t\t\nII. Zahl richtiger F\u00e4lle r der einh\u00e4ndigen Reihe.\n\t\t\t\tn =\t= 512\t\t\t\t\nP\tB = 0,04 P\t\t\t\tB \u2014 0,08 P\t\t\t\tSumme\n\tLinke\t\tRechte\t\tLinke\t\tRechte\t\tn = 4096\n\tl\t\u00ce\tI 1 !\t\t\u00ce\t!\tI ! !\t\t\n300\t352\t337\t344\t318\t387\t372\t386\t342\t2838\n500\t339\t332\t348\t335\t383\t402\t413\t366\t2918\n1000\t325\t343\t382\t388\t383\t412\t389\t422\t3044\n1800\t353\t358\t371\t383\t406\t416\t435\t430\t3152\n2000\t378\t353\t369\t382\t413\t418\t414\t421\t3148\n3000\t367\t343\t364\t386\t426\t433\t429\t438\t3186\nSumme (n = 3072)\t2114\t2066\t2178\t2192\t2398\t2453\t2466\t2419\t18286\n15:","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nW\u00e4re das psychophysische Gesetz vollkommen zutreffend, so m\u00fcssten alle Zahlen r, die bei den verschiedenen Hauptgewichten gefunden sind, einander gleich sein. Man erkennt nun, dass dies zwar nicht der Fall ist, dass die Abweichungen aber so unbedeutend sind, dass man sie wohl auf eine Reihe von Nebenumst\u00e4nden beziehen kann, die hier zu er\u00f6rtern zu weit f\u00fchren w\u00fcrde, die aber obwalten und solche St\u00f6rungen erkl\u00e4rlich machen. Diese Tabelle spricht also in hohem Grade f\u00fcr die G\u00fcltigkeit unseres psychophysischen Gesetzes.\nVon den Gewichtsversuchen Hering\u2019s wird gelegentlich der Einwendungen gegen das psychophysische Gesetz die Rede sein.\nAuch \u00fcber die Temperatur-Empfindungen hat Fechner Versuche angestellt und gefunden, dass das Gesetz keine G\u00fcltigkeit hat f\u00fcr die Abk\u00fchlungen der Hand, dass aber die Beurtheilung von W\u00e4rmezusch\u00fcssen, so lange man sich innerhalb der Temperatur von 20 \u2014 30\u00b0 R. (25 \u2014 37,5 \u00b0 C.) befindet \u2014 weiter hat Fechner nicht untersucht \u2014 wohl nach dem WEBER\u2019schen Gesetze geschieht, wenn man als den Nullpunkt der W\u00e4rmeempfindung eine Temperatur von 14,77\u00b0 R. (18,71\u00b0 C.) nimmt, die Steigerungen also erst von diesem Punkte an rechnet. Hiernach darf das Gesetz f\u00fcr Temperaturempfindungen noch nicht als g\u00fcltig betrachtet werden.\nEs war bisher immer nur von dem psychophysischen Gesetz in dem Sinne die Rede, dass es sich auf die Intensit\u00e4t der Empfindung und der Reizung einer gewissen und bestimmten Anzahl von Nervenendigungen beziehe. Es war kaum eine gl\u00fcckliche Idee zu nennen, dass in die Psychophysik noch ein anderer Begriff von der Intensit\u00e4t eines Reizes eingef\u00fchrt wurde, der sich auf die Anzahl der gereizten Nervenelemente oder auf die r\u00e4umliche Entfernung derselben beziehen sollte. So betrachtete man die Empfindung, die durch zwei weit von einander auf die Haut aufgesetzte Zirkelspitzen hervorgerufen wurde, als einem gr\u00f6sseren Reiz entsprechend, als wenn die Zirkelspitzen n\u00e4her an einander waren; ferner betrachtete man eine lange Linie als einen gr\u00f6sseren optischen Reiz als eine kurze. Man sprach nun in diesem Sinne von den extensiven Reizen, Empfindungen, Gr\u00f6ssen etc., im Gegensatz von den intensiven Reizen, Empfindungen, Gr\u00f6ssen, von denen wir bisher gehandelt haben.\nDieser Anschauung entsprach es, dass man den Tastsinn nun auch in seinen extensiven Empfindungen auf die Richtigkeit des psychophysischen Gesetzes pr\u00fcfte, indem man, wie schon angedeutet, die Distanzen zwischen zwei aufgesetzten Zirkelspitzen absch\u00e4tzen Hess. Es zeigte sich keine Uebereinstimmung mit dem Ge-","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen. Gesichtssinn.\n229\nsetze.1 Gl\u00fccklicher war man mit den extensiven Empfindungen des Gesichtssinnes, doch werden wir sehen, dass die Uebereinstimmung, die hier gefunden wurde, mit Wahrscheinlichkeit in einer intensiven Empfindung ihren Grund hat, welche sich bei jenen Versuchen einschlich.\nB) Gesichtssinn.\nDie Grundlagen zu dem WEBEu\u2019schen Gesetze finden sich in einigen Werken franz\u00f6sischer Physiker des vorigen Jahrhunderts, welche gelegentlich anderer Untersuchungen Interesse daran hatten, die Empfindlichkeit des Auges bei verschiedenen Lichtintensit\u00e4ten zu pr\u00fcfen. Es kam hier-s bei nat\u00fcrlich nie zur Formulirung eines physiologischen Gesetzes, es wurde auch niemals versucht, die Allgemeing\u00fcltigkeit zu pr\u00fcfen, oder \u00fcberhaupt den Gegenstand weiter zu verfolgen.\nIm Jahre 17 60 beschreibt Bouguer\u20192 3 einen Versuch unter dem Titel: \u201eObservations faites pour d\u00e9terminer, quelle force il faut qu\u2019ait une lu-I mi\u00e8re pour q\u00fc\u2019elle en fasse dispara\u00eetre une autre plus faible\u201c, welcher identisch ist mit den Schattenversuchen, von denen wir alsbald sprechen werden; es handelt sich darum zu bestimmen, um wieviel ein Schatten dunkler sein muss als seine Umgebung, um eben noch erkannt zu werden. Er fand nun dass er hierzu um Per des Grundes dunkler sein muss als dieser und f\u00fcgt hinzu, er glaube f\u00fcr sein Auge gefunden zu haben, dass dieser Bruchtlieil von der absoluten Intensit\u00e4t unabh\u00e4ngig ist. Letztere Angabe schliesst wie man sieht das WEBER\u2019sche Gesetz in sich.\nAuch Arago 3 der die Versuche Bouguer\u2019s nachgemaclit haben soll 4 5 . spricht sich f\u00fcr die Richtigkeit jener Angabe aus, und Masson 5 der ausf\u00fchrlich \u00fcber unseren Gegenstand experimentirte (bei Gelegenheit seiner Untersuchungen \u00fcber elektrische Photometrie) tliut dasselbe. Steinheil 6 wurde bei seinen Arbeiten \u00fcber \u201e Helligkeitsmessungen am Sternenhimmel \u201c auf unsere Frage geleitet, und kam zu gleichen Resultaten wie seine Vorg\u00e4nger. Er fand als den, innerhalb der von ihm ben\u00fctzten Intensit\u00e4ten constanten, eben merklichen Helligkeitsbruchtheil 1/38.\nBabinet7 spricht jenes Gesetz von dem constanten Helligkeitsbruchtheil auch aus.\nFerner ist hervorzulieben, dass Sir John Herschel8 die von den Astronomen angenommenen Sterngr\u00f6ssen, ihrer absoluten Helligkeit nach\n1\tVergl. Elem. d. Psychopliysik. I. 235.\n2\tBouguer, Trait\u00e9 d\u2019optique sur la gradation de la lumi\u00e8re par Lacaille. p. 51, w\u00f6rtlich citirt von Masson, Ann. de Ch. et de Phys. XIV. p. 148. 1845.\n3\tArago, Popul\u00e4re Astronomie. Herausgeg. von Hankel. I. S. 168. Leipzig, Wigand. 1865.\n4\tWie Masson nach einer m\u00fcndlichen Mittheilung berichtet. Ann. de Chem. et de Phys. XIV. p. 150. 1845.\n5\tMasson 1. c. Das N\u00e4here \u00fcber diese Versuche s. Rechner, Elem. d. Psycho-physik. I. S. 154, welchem Orte auch die Mehrzahl der hier angef\u00fchrten historischen Daten entnommen ist.\n6\tSteinheil, Sitzgsher. d. bayer. Acad. Math.-physik. CI. 1837.\n7\tBabinet, Compt. rend. 1857. p. 358.\n8\tHerschel in seinen Outlines of Astronomy, p. 645\u2014646 (entnommen aus Humbold\u2019s Kosmos. III. p. 136. Cotta 1850.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindlingsimpulse.\nin der Reihe 1 : \u2014 : \u2014 : \u2014.......abnehmen l\u00e4sst, wie er aus photo-\n4\t9\t16\nmetrischen Beobachtungen entnehmen zu k\u00f6nnen glaubte. Nun ist vorauszusetzen, dass man bei der urspr\u00fcnglich blos nach der Intensit\u00e4t der Helligkeitsempfindung eingef\u00fchrten Sterngr\u00f6ssensch\u00e4tzung so vorgegangen war, dass man die Empfindungsunterschiede zwischen den Sternen der verschiedenen Gr\u00f6ssen einander gleich machte, dass also den Astronomen ein Stern 1. Gr\u00f6sse einen Stern 2. Gr\u00f6sse um ebensoviel an Helligkeit zu \u00fcberwiegen schien, als der Stern 2. Gr\u00f6sse dem Stern 3. Gr\u00f6sse \u00fcberlegen war u. s. f. Wie man sieht hat man also in den Sterngr\u00f6ssen eine durch die Erfahrung von vielen Hunderten von Jahren controlirte und regulirte Reihe von dem Urtheile nach gleichweit von einander abstehenden Empfindungs-Intensit\u00e4ten, an welchen man nun, wenn man jenem Urtheile trauen will, wohl das psychophysische Gesetz pr\u00fcfen kann.\nDieses w\u00fcrde dann durch die photometrischen Messungen eine Best\u00e4tigung finden, wenn die Intensit\u00e4ten der Sterngr\u00f6ssen in einer geometrischen Progression abnehmen w\u00fcrden. Herschel aber fand eine quadratische Reihe. Nun hat aber Fechner gezeigt, dass dem thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse die Reihe\t1 . 1 . 1 . 1\nT \u2019 T \u2019T \u2018 16\nbesser entspricht als die oben von Herschel angef\u00fchrte Reihe, dass sie auch mit den neueren photometrischen Messungen von Steinheil, Stampfer, Johnson und Pogson in besserem Einkl\u00e4nge ist. Diese Reihe ist aber eine geometrische, best\u00e4tigt also das psychophysische Gesetz.1\nEs giebt einen ungemein einfachen Versuch, durch welchen man sich von der approximativen Richtigkeit unseres Gesetzes \u00fcberzeugen kann: Eine Photographie, Lithographie o. dgl. sehe man, indem man sich zu dem Fenster oder unter freien Himmel stellt, an und bemerke die feinsten Sehattirungen, welche man noch erkennen kann ; darauf begebe man sich in die Tiefe des Zimmers, man wird bemerken, dass man auch jetzt noch jene Sehattirungen erkennt und dass sie auch jetzt noch an der Gr\u00e4nze des Erkennbaren stehen. Ja man kann wohl noch Rauchgl\u00e4ser (schw\u00e4rzliche, gew\u00f6hnlich zum Schutz der Augen verwendete Gl\u00e4ser) vor das Auge nehmen; wenn diese nicht zu dunkel sind, wird man auch jetzt noch dieselbe Schattirung erkennen. Dieser Versuch zeigt, dass es, entsprechend dem Weber-schen Gesetze, gleiche Bruchtheile der Gesammtintensit\u00e4t sind, welche uns eben noch merkliche Empfindungszuw\u00fcchse liefern. Denn das Verh\u00e4ltniss der absoluten Lichtquantit\u00e4ten, welche jene schattirte und die nicht schattirte Stelle des Bildes zur\u00fcckwerfen, blieb gleich,\n1 Es ist dieser Nachweis ausf\u00fchrlich in der Abhandlung Fechner's : \u201eUeber ein psychophysisches Grundgesetz und dessen Beziehung zur Sch\u00e4tzung d. Sterngr\u00f6ssen.\u201c Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. Math.-phys. Cl. IV. S. 457 geliefert. Im Auszuge in der Elem. d. Psychophys. I. S. 139. Vergl. weiter den Nachtrag zu diesem Aufsatz in dem Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1859. S. 58.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen. Gesichtssinn.\n231\nob die Beleuchtung stark oder schwach war. Nehmen wir an, die Intensit\u00e4t einer nicht schattirten Stelle sei im Grunde des Zimmers 1 und die schattirte absorbirte um hioo dieser Intensit\u00e4t mehr, so ist sie f\u00fcr das Auge um Vioo dunkler. Gehen wir nun mit dem Bild unter freien Himmel, wodurch die Beleuchtung leicht um das lOfache steigt, so wird die erste Stelle nun die Intensit\u00e4t 10 haben, die letztere wird wieder um Vioo dieser zehnfachen Helligkeit weniger hell sein, also um fio der urspr\u00fcnglichen Intensit\u00e4t, d. h. ihr Helligkeitsunterschied ist jetzt lOmal so gross, wie er fr\u00fcher war. Gleiche (eben merkliche) Empfindungsunterschiede entsprechen also gleichen relativen Helligkeitsunterschieden.\nDie t\u00e4gliche Erfahrung, welche lehrt, dass wir bei nicht unbetr\u00e4chtlich verschiedenen Helligkeitsstufen der Tagesbeleuchtung nahezu gleich gut lesen und arbeiten, entspricht dem obigen Versuche. Dieser l\u00e4sst sich noch feiner als an Photographien an ebenmerklichen Beleuchtungsnuancen der Wolken mit H\u00fclfe einer Reihe von Rauchgl\u00e4sern ausf\u00fchren. Auch durch diese einfachen Versuche lassen sich schon die Gr\u00e4nzen des psychophysischen Gesetzes constatiren. Bei zu geringer Beleuchtung unterscheiden wir keine Details mehr auf der Photographie, bei zu intensiver Beleuchtung ebensowenig. So erkennen wir mit freien Augen die Helligkeitsstufen in grell von der Sonne durchleuchteten Wolken, oder gar die Sonnenflecken nicht mehr, die wir mit hinl\u00e4nglich dunkeln Gl\u00e4sern noch sehen. Die Maler \u201e zwinkern \u201c mit den Augen, d. h. sie verdecken mit den Augenlidern einen Theil ihrer Papille, wodurch das Netzhautbild dunkler wird, wenn sie bei grellem Lichte geringe Helligkeitsdifferenzen noch sicher unterscheiden wollen.1 Die untere Gr\u00e4nze der G\u00fcltigkeit des Gesetzes bezieht Fechner auf die Beimischung des subjectiven Netzhautlichtes, des sogenannten Nebels des dunklen Gesichtsfeldes. Die obere Gr\u00e4nze ist mit der nicht mehr normalen Reizung, bei welcher das Auge schon leidet, in Verbindung gebracht.\nGenaue messende Versuche zum Zwecke der Pr\u00fcfung des psychophysischen Gesetzes wurden auf Veranlassung Fechner\u2019s zuerst von Volkmann in Gemeinschaft mit Knoblauch, Heidenhain und Jung ausgef\u00fchrt.2 Es waren die sogenannten Schatten versuche. Vor einem weissen Schirm sind zwei Kerzenflammen angebracht. Zwischen Kerzen und Schirm steht ein Stab, dessen beide Schatten auf letzteren fallen. Beachtet man einen dieser Schatten, w\u00e4hrend man die ent-\n1\tBr\u00fccke, Bruchst\u00fccke aus der Theorie der bildenden K\u00fcnste. (XXVIII. Bd. der internationalen wissenschaftl. Bibliothek.) S. 216. Leipzig, Brockhaus. 1877.\n2\tElem. d. Psychophysik. 1. S. 149.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nsprechende Kerze immer weiter und weiter entfernt, so gewahrt man, dass er immer undeutlicher wird bis er verschwindet. Da die Stelle des Schattens nur durch die eine Kerze, die Umgebung des Schattens aber durch beide Kerzen beleuchtet ist, und man die Entfernung der Flammen messen kann, so l\u00e4sst sich die Helligkeit des Schattens und seiner Umgebung leicht berechnen. Die Versuche wurden nun in folgender Weise angestellt. Die eine Flamme bekam eine zun\u00e4chst willk\u00fcrliche Entfernung. Der Schatten, den die andere warf, wurde von dem Beobachter ins Auge gefasst, w\u00e4hrend ein Gehilfe diese Kerze langsam entfernte. Der Beobachter hatte anzugeben, wann ihm der Schatten verschwand. Dieser Punkt wurde noch durch Hin- und Herbewegen der Flamme, wobei sich der Schatten bewegte und dadurch an Kenntliehkeit gewann, genauer ermittelt. Nun wurden die Entfernungen der beiden Kerzen abgemessen. Das Resultat war, dass f\u00fcr alle vier Beobachter mit grosser Ann\u00e4herung die zweite Kerze 10 mal so weit vom Schirm entfernt sein musste, wenn der Schatten verschwinden sollte; dass also der Schatten um Vioo weniger hell sein musste als der Grund. Dieses wurde gefunden innerhalb der Beleuchtungsintensit\u00e4ten von 1 bis 38,79. War die Beleuchtung des Grundes nur 0,36, so zeigten sich schon Abweichungen vom Gesetze in dem Sinne, dass der Helligkeitsunterschied ein gr\u00f6sserer sein musste, um den Schatten noch kenntlich zu machen.\nEs war begreiflich, dass bei dem Interesse, welches das psychophysische Gesetz im Kreise der Physiologen wie der Psychologen wach rief, eine Reihe von Forschern dasselbe einer erneuten Pr\u00fcfung unterzog, sowie die Gebiete festzustellen suchte, in welchen es G\u00fcltigkeit hat.\nZuerst hat Helmholtz1 gezeigt, dass, wie schon oben erw\u00e4hnt wurde, das Gesetz auch f\u00fcr die mittleren Lichtintensit\u00e4ten nicht vollkommen zutrifft. Bei genauer Beobachtung und einem g\u00fcnstigen Falle zeigt es sich, dass jener Versuch mit der Photographie, welche bei verschiedenen Intensit\u00e4ten betrachtet wird, nicht ganz genau zutrifft; man findet Schattirungen, welche nur bei einer gewissen Helligkeit merklich sind. Helmholtz erzeugte k\u00fcnstlich solche Schattirungen, indem er auf einer weissen rotirenden Scheibe (wie sie Masson benutzte) einige in einem Radius derselben liegende Linien mit Tusche zeichnete. Bei der Rotation ziehen sich die Linien zu ungemein fein schattirten Ringen auseinander. Er fand nun, dass er bei verschiedenen Helligkeiten verschiedene dieser Ringe eben be-\n1 Helmholtz, Physiologische Optik. S. 314.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen. Gesichtssinn.\n233\nmerkte, und dass jeder derselben nur bei einem gewissen engbegrenzten Helligkeitsgrad sichtbar ist.\nWeiter haben Versuche von Aubert1 gezeigt, dass das psychophysische Gesetz nur ann\u00e4herungsweise richtig ist. (Bei Gelegenheit der Einwendungen gegen das Gesetz wird noch einmal von diesen Versuchen die Kede sein.) Delboe\u00fcf2 hat nach einer Methode, welche von J. Plateau3 angegeben ist, und welche im wesentlichen identisch ist mit der Art aus der Sterngr\u00f6ssensch\u00e4tzung psychophysische Schl\u00fcsse zu ziehen, unser Gesetz gepr\u00fcft, und fand Resultate, welche Fechner gegen diejenigen Aubert\u2019s ins Feld f\u00fchren konnte, indem er hervorhebt, dass bei den A\u00fcBERT\u2019schen Versuchen sich constante Fehler eingeschlichen haben d\u00fcrften, da sonst die Resultate Delboeuf\u2019s nicht gut m\u00f6glich w\u00e4ren.4 5 6 7\nEinen auffallenden Versuch f\u00fchrt Camerer 5 an. Er pr\u00fcfte das psychophysische Gesetz f\u00fcr seine farbenblinden Augen und fand es f\u00fcr dieselben nicht zutreffend, w\u00e4hrend es f\u00fcr zwei andere Beobachter ann\u00e4hernd zutraf. Die Pr\u00fcfung war durch Schattenversuche vorgenommen.\nEs fragt sich weiter, ob das psychophysische Gesetz auch f\u00fcr farbiges Licht G\u00fcltigkeit hat. Lamansky 6 und Dobrowolsky 7 kommen insoferne zu \u00e4hnlichen Resultaten, als beide eine obere und eine untere Gr\u00e4nze unseres Gesetzes auch f\u00fcr farbiges Licht constatirten (es ergiebt sich die Thatsache derselben schon aus der t\u00e4glichen Erfahrung) und fanden, dass zwischen diesen beiden eine approximative Richtigkeit obwaltet. Beide Beobachter arbeiteten mit Spec-tralfarben.\nEndlich hat sich das Gesetz auch f\u00fcr den Fall best\u00e4tigt, dass ein farbiges Licht mit weissem Lichte gemischt wird. Dobrowolsky verglich eine weisse Fl\u00e4che mit einer danebenbefindlichen, welche eine ebenmerkliche Zumischung einer Farbe enthielt. Er fand, dass diese Zumischung ann\u00e4herungsweise bei demselben Mischungsverh\u00e4lt-niss von farbigem und neutralem Lichte unmerklich wird, wie auch die absolute Intensit\u00e4t ge\u00e4ndert werden mochte. Bei Aenderungen der letzteren zwischen 1 und 0,0302 variirte jenes Verh\u00e4ltniss f\u00fcr\n1\tAubert, Physiologie der Netzhaut. S. 54. Breslau, hei Morgenstern. 1865.\n2\tDie diesbez\u00fcglichen Untersuchungen dieses Forschers sind niedergelegt in: \u00c9tude psychophysique. Bruxelles, Hayez. 1873 ; dasselbe in M\u00e9m. de l\u2019Acad. roy. de Belgique XXIII ; Th\u00e9orie g\u00e9n\u00e9r. de la sensibilit\u00e9. Bruxelles, Hayez. 1876; La loi psychophysique. Revue philosophique de la France et de l\u2019\u00c9tranger parRibot. p. 225. Paris, Bailli\u00e8re. 1877.\n3\tJ. Plateau, Bull. d. l\u2019acad. d. Belg. XXXIII. 1872, dasselbe in Ann. d. Physik. CL. St. 3. S. 465 1873. Vergl. ferner: Compt. rend. LXXV. 1872 und Bull. d. l\u2019acad. d. Belg. XXXIII. 2. S\u00e9r. p. 250.\n4\tFechner, In Sachen der Psychophysik. S. 155. Leipzig, Breitkopf u. H\u00e4rtel.\n1877.\n5\tCamerer, Klin. Mon.-Bl. f. Augenheilkunde. 1877.\n6\tLamansky, Ann. d. Physik. CXLIII. und Arch. f. Ophthalmologie. XVII.\n7\tDobrowolsky, Arch. f. d. ges. Physiol. XII. S. 441. Vergl. auch ebend. S. 432 und dessen Beitr\u00e4ge zur physiolog. Optik.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nRoth von 2,2335 bis 2,0303, wie man sieht eine ziemlich gute Best\u00e4tigung des WEBE\u00df/schen Gesetzes.\nDie extensiven Gesichtsempfindungen. Schon E. H. Weber1 wies nach, dass das nach ihm benannte Gesetz auch G\u00fcltigkeit hat f\u00fcr die Beurtheilung der L\u00e4nge von Linien. Legte er einem Beobachter erst eine, und nach Entfernung derselben eine zweite auf Papier gezogene Linie vor, so wurde noch richtig erkannt, welche der beiden Linien die l\u00e4ngere ist, wenn das L\u00e4ngenverh\u00e4lt-\nniss derselben ja bei ge\u00fcbten Augen | betrug. Dieses Ver-ol\t101\nh\u00e4ltniss war innerhalb gewisser Gr\u00e4nzen unabh\u00e4ngig von der absoluten L\u00e4nge der Linien. Es war aber abh\u00e4ngig von der Gr\u00f6sse der Pause, welche man zwischen dem Anblick der ersten und dem der zweiten Linie verstreichen Hess.\nNachdem auch Hegelmayer '2 bei Versuchen die nicht direct auf die Pr\u00fcfung des Gesetzes gerichtet waren, Resultate erhalten hatte, die mit demselben ziemlich gut stimmten, f\u00fchrte Fechner3 unter Beobachtung aller Vorsichtsmaassregeln zur Vermeidung von con-stanten Fehlern Versuchsreihen aus, welche \u201eeine sehr entschiedene Best\u00e4tigung des Gesetzes f\u00fcr alle irgend erhebliche Distanzen, d. i. von 10 bis 240 mm. bei einem Augenabstande von 1 Fuss bis 800 mm.\u201c ergaben, \u201eindem die reinen Fehlersummen oder mittleren Fehler, welche hierbei erhalten wurden, den Distanzen so genau proportional gehen, als man es nur immer erwarten kann.\u201c\nAuch f\u00fcr diese F\u00e4lle scheint das Gesetz eine untere Gr\u00e4nze zu haben, wie aus Versuchen hervorgeht, die unter Volkmann\u2019s Leitung mit Distanzen von 0,2 bis 3,6 mm. und gew\u00f6hnlicher Sehweite angestellt wurden.4\nDiese Versuche nun \u201e\u00fcber extensive Gesichtsempfindungen\u201c wurden urspr\u00fcnglich so gedeutet, als handle es sich hier um eine L\u00e4ngenempfindung, welche bei einer l\u00e4ngeren Linie an Intensit\u00e4t gr\u00f6sser sei als bei einer k\u00fcrzeren. Es stimmt diese Vorstellung mit unseren moderneren Anschauungen \u00fcber Empfindungen nicht \u00fcberein, vielmehr gewinnt eine andere Deutung an Wahrscheinlichkeit, n\u00e4mlich die, dass es sich hier um eine L\u00e4ngenmessung durch Muskelgef\u00fchl handle. Wir \u00fcberblicken die zu sch\u00e4tzenden Linien stets und \u201emessen sie\u201c\n1\tYergl. die Lehre vom Tastsinn und Gemeingef\u00fchle in R. Wagner\u2019s Handw\u00f6rterbuch d. Physiol. III. 2. Abth. S. 559, im Separatabdruck erschienen in Braunschweig bei Yiewegu. Sohn. 1851.. S. 104.\n2\tHegelmayer, Yierordt\u2019s Arch. XL S. 844. 853.\n3\tFechner, Eiern, d. Psychophysik. I. S. 2L2.\n4\tYergl. bei Fechner 1. c.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindungen. Gesichts- und Geh\u00f6rssinn.\t235\nindem wir unsere Gesichtslinie ihnen entlang f\u00fchren. Die Anstrengung welche hierbei ein Muskel macht, ist abh\u00e4ngig von der L\u00e4nge der Linie. Da wir nun durch andere Thatsachen sicher wissen, dass wir ein sehr ausgebildetes Gef\u00fchl f\u00fcr den Innervationszustand unserer Augenmuskeln haben, so liegt es vorl\u00e4ufig nahe, das Gesetz auf dieses Muskelgef\u00fchl zu beziehen. Dieses wird solange geboten sein, bis Versuche, bei welchen Linien ohne Verschiebung des Augapfels auf ihre L\u00e4nge gesch\u00e4tzt werden sollen, mit einem positiven Resultate angestellt sind.\nC) Geh\u00f6rssinn.\nAuch hier sind es zun\u00e4chst Erfahrungen aus dem t\u00e4glichen Leben, welche die Richtigkeit des WEBE\u00df\u2019schen Gesetzes wahrscheinlich machen. Auch im Gebiete der Schall- und Tonempfindungen wird ein Zuwachs v.on gewisser absoluter Gr\u00f6sse unmerklich, wenn er einer bedeutenden Gr\u00f6sse beigef\u00fcgt wird; eine Uhr, die man bei dem gew\u00f6hnlichen Tagesger\u00e4usch nicht mehr ticken h\u00f6rt, h\u00f6rt man wohl noch des Nachts u. dgl. m.\nSoll es sich um eine genauere Untersuchung der Abh\u00e4ngigkeit der Empfindungsst\u00e4rke von der Schallst\u00e4rke handeln, so muss man nat\u00fcrlich den Schall, bezgl. das Ger\u00e4usch nur in seiner Intensit\u00e4t, nicht in seinem Charakter \u00e4ndern. Es sind von Fechner und Volkmann1 solche Versuche angestellt worden. Als Schallquelle diente eine auf eine Platte auffallende Kugel, deren Fallh\u00f6he ver\u00e4ndert werden konnte. Auf diese Weise, sowie durch die Entfernung des Beobachters wurden die Reizintensit\u00e4ten abgestuft. Die Versuche f\u00fchrten zu einem unser Gesetz best\u00e4tigenden Resultate.\nAuch f\u00fcr den Geh\u00f6rssinn hatte man gemeint das WEBE\u00df\u2019sche Gesetz auf die F\u00e4lle ausdehnen zu k\u00f6nnen, wo es sich nicht um gr\u00f6ssere oder geringere Erregungen eines und desselben Nervenapparates handelte, sondern um Betheiligung verschiedener Nervenapparate, \u00e4hnlich wie es bei den sogenannten extensiven Empfindungen im Bereiche des Tast- und des Gesichtssinnes der Fall war. Die Thatsache n\u00e4mlich, dass gleichen Verh\u00e4ltnissen der Schwingungszahlen in den verschieden hohen Octaven gleiche Empfindungen der Tondifferenz entsprechen, wurde so gedeutet.2 Auch auf alte Versuche von Delezenne3 \u00fcber die Genauigkeit mit welcher wir Tonh\u00f6hen unterscheiden, wurde schon von Weber4 Bezug genommen.\n1\tFechner\u2019s Elem. d. Psychophysik. I. S. 176.\n2\tEbendas. I. S. 181.\n3\tDelezenne, Recueil des travaux de la soc. des sciences. Lille 1827.\n4\tWeber, Tastsinn u. Gemeingef\u00fchl. Im Abschnitt welcher betitelt ist : Ueber die kleinsten Verschiedenheiten der Gew., die wir mit dem Tastsinne, der L\u00e4nge der Linien die wir mit dem Ges. u. d. T\u00f6ne, die wir mit dem Geh. unterscheiden k\u00f6nnen. (S. 105 des Separatabdruckes )","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nDoch hat Fechner1, sp\u00e4ter diese Deutung jener Geh\u00f6rsph\u00e4nomene zur\u00fcckgenommen, veranlasst durch Versuche Preyer\u2019s2, welche zeigen, dass das WEBER\u2019sclie Gesetz f\u00fcr unseren Fall nicht zutrifft. Jene oben genannten \u201e gleichen Empfindungen der Tondifferenz \u201c sind n\u00e4mlich etwas wesentlich anderes als das was wir bisher als gleiche Unterschiedsempfindungen bezeichnet haben.\nD) Geschmackssinn.\nAus Versuchen welche Keppler3 \u00fcber die Genauigkeit angestellt hat, mit welcher wir den Coneentrationsgrad einer schmeckenden Fl\u00fcssigkeit (Kochsalz, Phosphors\u00e4ure, Chinin, Glycerin) beurtheilen, folgert Fechner 4, dass es nicht unwahrscheinlich ist, dass auch hier das psychophysische Gesetz Anwendung findet. Es sind diese Versuche so schwer vorwurfsfrei herzustellen, dass ein promptes Stimmen mit den Anforderungen des Gesetzes in keiner Weise zu erwarten ist.\nE) Zeitsinn.\nOb sich auch unser Urtheil \u00fcber die L\u00e4nge von Zeitintervallen dem psychophysischen Gesetze unterordnet, wurde von H\u00f6ring5 6 7 8, Mach 9 und Vierordt 7 untersucht. Mach fand, indem er Signallaute auf die Dauer ihrer Intervalle beobachtete, dass das Verh\u00e4ltniss zwischen dem eben merklichen Zeitunterschied und der Hauptzeit (letzteres Wort in demselben Sinne genommen, wie das \u201eHauptgewicht\u201c) beim Wechsel der letzteren nicht dasselbe bleibt. Dieses Verh\u00e4ltniss hat vielmehr ein Maximum von circa 0,05 bei einer Hauptzeit von 0,3\u20140,4 Sec. Ebenso ergaben die Versuche H\u00f6ring\u2019s , die unter Vierordt\u2019s Leitung angestellt sind, und des letzteren eigene Untersuchungen keine Best\u00e4tigung des psychophysischen Gesetzes. Fechner, der in j\u00fcngster Zeit diese neuen Versuche besprach s, h\u00e4lt es jedoch nicht f\u00fcr unm\u00f6glich, dass durch richtige Elimination von con-stanten Fehlern und der Abweichungen der unteren Gr\u00e4nze noch eine Gesetzm\u00e4ssigkeit gefunden werden k\u00f6nne.\nE) Gl\u00fccks- und Ungl\u00fccksempfindung.\nAuch auf diese Empfindungen des intellectuellen Lebens l\u00e4sst sich unser Gesetz noch bis zu einem gewissen Grade anwenden.9\n1\tFechner, In Sachen der Psychophysik. S. 168. Leipzig 1877.\n2\tPreyer, Arch. f. d. ges. Physiol. II. S. 449. 1869.\n3\tKeppler, Das Unterscheidungsverm\u00f6gen des Geschmackssinnes etc. Inaug.-Dissert. Bonn 1869.\n4\tFechner, In Sachen der Psychophysik. S. 161.\n5\tH\u00f6ring, Versuche \u00fcber das Unterscheidungsverm\u00f6gen des H\u00f6rsinnes f\u00fcr Zeitgr\u00f6ssen. T\u00fcbingen 1864.\n6\tMach, lieber den Zeitsinn des Ohres. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LI. 1865.\n7\tVierordt, Der Zeitsinn. T\u00fcbingen 1868.\n8\tFechner, In Sachen der Psychophysik. S. 174.\n9\tVergL Fechner\u2019s Elem. d. Psychophysik. I. S. 237.","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Intensit\u00e4t der Empfindlingen. Geschmacks-und Zeitsinn. Gl\u00fccksempfindung. 237\nSo wie im Gebiete der Sinnesempfindungen ein Reizzuwachs von bestimmter Gr\u00f6sse sehr bemerklich ist, wenn er zu einem geringen vorhandenen Reiz hinzutritt, eben noch merklich, wenn der vorhandene Reiz eine gewisse Gr\u00f6sse hat, und unmerklich, wenn diese Gr\u00f6sse \u00fcberschritten ist, so ist es auch mit den durch \u00e4ussere Vorkommnisse hervorgerufenen moralischen Empfindungen. Um als einfachstes Maass des \u00e4usseren Reizes das Geld als Beispiel zu nehmen, so wird ein Markst\u00fcck, welches ein Bettler bekommt, in diesem den Eindruck eines grossen Gl\u00fcckes kervorrufen, w\u00e4hrend es, dem Million\u00e4r zugefallen, eine ebenmerkliche oder unmerkliche Empfindung hervorruft. Eine Mutter, die von zehn Kindern eines verliert, empfindet c. p. den Schlag nicht so herb, als wenn sie nur dieses eine besessen h\u00e4tte.\nDer erste, der derartige Betrachtungen angestellt und klar formul\u00e2t hat, .ist Daniel Bernoulli, in seiner Abhandlung: \u201eSpecimen theoriae novae de mensura sortis\u201c.1 Dann hat Laplace2 den Gedanken aufgegriffen. Er wurde von ihm weiter entwickelt und sp\u00e4ter von Poisson3 acceptirt. Schon Bernoulli hatte eine dem Weber-schen Gesetze entsprechende Formel gegeben. Laplace entwickelte geradezu das psychophysische Gesetz in einer nur wenig von der FECHNER\u2019schen abweichenden Form. Er nennt \u201efortune physique\u201c die irdischen G\u00fcter (die als Reiz wirken) und fortune morale die Gl\u00fccksempfindungen, welche durch dieselben hervorgerufen werden und sagt (p. 432): \u201eX \u00e9tant la fortune physique d\u2019un individu, l\u2019accroissement dx. qu\u2019elle re\u00e7oit, produit \u00e0 l\u2019individu un bien moral r\u00e9ciproque \u00e0 cette fortune ; l\u2019accroissement de sa fortune morale peut donc \u00eatre exprim\u00e9 par\tk dx\nx\nk \u00e9tant une constante. Ainsi en d\u00e9signant par y la fortune morale. Correspondante \u00e0 la fortune physique x) on aura\ny = k log X -f- log h\nh \u00e9tant une constante arbitraire, que l\u2019on d\u00e9terminera au moyen d\u2019une valeur de y correspondante \u00e0 une valeur donn\u00e9e de x.\nDie innere und die \u00e4ussere Psychophysik.\nEs kann nicht unerw\u00e4hnt bleiben, dass im Sinne des Sch\u00f6pfers der psychophysischen'Gesetze, unser Gegenstand, so weit er bisher behandelt ist, noch durchaus nicht ersch\u00f6pft ist. F\u00fcr Fechner n\u00e4mlich liegt der Kernpunkt dieser Gesetze in dem Umstande, dass sie\n1\tCom. Acad, scient, imp. Petropolit. V. 1738.\n2\tLaplace, Theorie analytique des probabilit\u00e9s, p. 187. 432.\n3\tPoisson, Recherches sur la probabilit\u00e9, p. 72.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nder Ausdruck daf\u00fcr sind, wie die materiellen Ver\u00e4nderungen des K\u00f6rpers sich der Seele mittheilen. Ein Reiz bringt in den Sinnesorganen eine gewisse Ver\u00e4nderung hervor, welche sich dem Centralnervensysteme mittheilt ; abgesehen von diesen Ver\u00e4nderungen dr\u00e4ngen in den Centraltheilen \u00e4ussere und innere Reize zur rastlosen Bewegung. Diese Bewegung nennt Fechner die psychophysische Th\u00e4tig-keit. Sie ist das letzte Glied der Kette der materiellen Vorg\u00e4nge, durch welche die Reize der Seele zugeleitet werden, die letzte der Ver\u00e4nderungen, deren erste die Processe waren, welche der Reiz im Sinnesorgane hervorgerufen hatte, deren zweite jene in dem leitenden Nerven war etc. Die Seele steht also in unmittelbarem Rapport mit der psychophysischen Bewegung. Die Lehre nun von den functioneilen Beziehungen der \u00e4usseren Reize zu den Functionen der Seele, zu ihren Empfindungen, nennt Fechner die \u00e4ussere Psychophysik. Die Lehre von den Beziehungen der psychophysischen Bewegung zu den Empfindungen der Seele nennt er die innere Psychophysik. Aus Gr\u00fcnden, die hier \u00fcbergangen werden m\u00fcssen, vermuthet Fechner, dass die Ver\u00e4nderungen unserer Sinnesorgane und der psychophysischen Bewegung den \u00e4usseren Reizen proportional sind und dass das logarithmische Verh\u00e4ltniss sich auf die Uebertragung des Impulses von der psychophysischen Bewegung auf die Seele bezieht. Es spielt so das psychophysische Gesetz wie man sieht eine andere Rolle, als die ist, in welcher wir es bisher betrachtet haben. L\u00e4sst man n\u00e4mlich, wie dieses geschehen ist, die Frage nach einer Seele ausserhalb der Betrachtungen, so erscheint das psychophysische Gesetz als ein Erfahrungsgesetz, dessen physiologische Grundlagen im Bau und in den Functionen des Nervensystems liegen und der Forschung wohl zug\u00e4nglich sein m\u00f6gen. F\u00fcr Fechner aber ist es das Grundgesetz der Beziehungen zwischen Nervensystem und Seele, muss also eine allgemeinere G\u00fcltigkeit haben und ist der physiologischen Forschung schon durch seine Beziehung zur Seele entzogen. Wo es nicht nachgewiesen werden kann, z. B. an der oberen und der unteren Gr\u00e4nze, ist es f\u00fcr ihn nur verdeckt.\nAuf diese Weise erkl\u00e4rt es sich, dass hier manches nur als Nebensache oder gar nicht behandelt ist, was in Fechner\u2019s Psychophysik eine hervorragende Rolle spielt.\njEinw\u00e4nde gegen das psychophysische Gesetz. Modificationen und Erl\u00e4uterungen desselben.\nEs sind Zweifel an der Richtigkeit des psychophysischen Gesetzes erhoben worden. Dieselben sind doppelter Art. Einerseits wird gesagt,","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Moclifi cationen und Einw\u00e4nde gegen das psychische Gesetz.\n239\ndass die Yersuchsresiiltate das Gesetz nicht erkennen lassen, andererseits wird aus aprioristischen Gr\u00fcnden die M\u00f6glichkeit eines solchen Gesetzes in Frage gestellt. Wir k\u00f6nnen uns in diesen Streitfragen kurz fassen, schon deshalb, weil sich dieselben in dem Werke Fechner\u2019s: \u201eIn Sachen der Psychophysik\u201c1 zusammengestellt und ausf\u00fchrlich besprochen finden. Nur die wuchtigsten dieser Fragen m\u00f6gen kurz ber\u00fchrt und die Vorschl\u00e4ge zu Ab\u00e4nderungen des Gesetzes erw\u00e4hnt werden. Da in Vorstehendem schon mehrfach hervorgehoben wurde, dass das psychophysische Gesetz nur in einer gewissen Ann\u00e4herung die Abh\u00e4ngigkeit der Empfindung vom Reize ausdr\u00fcckt, so wird auf diesen Punkt weiter nicht zur\u00fcckgegriffen \u25a0werden.\nHelmholtz 2 hat zun\u00e4chst ausschliesslich an Gesichtsempfindungen denkend, der Formel f\u00fcr die Empfindungsgr\u00f6sse eine andere Gestalt gegeben, so dass auch die obere und untere Gr\u00e4nze des Gesetzes in der Formel zum Ausdruck kommt.\nDie untere Gr\u00e4nze, gegeben durch den Einfluss des Eigenlichtes der Netzhaut, wird in unserer Formel 1) ausgedr\u00fcckt, indem man zu dem Reize r noch den constanten Reiz des Eigenlichtes r0 hinzuaddirt,\n7\t7 \u00e4r\nr + r0\nDurch Integration erh\u00e4lt man dann\ne \u2014 k log \\r -j- r0) -j- C.\nDa bei starken Reizen die Empfindung auch dieser Formel nicht entspricht, indem sie bei wachsender Reizgr\u00f6sse erst langsamer und schliesslich, wenn die Reizgr\u00f6sse sehr hoch gestiegen ist, gar nicht mehr w\u00e4chst, so muss k als variabel betrachtet werden, und zwar so, dass es beim Wachsthum von r bis zu einem gewissen Punkte nahezu unver\u00e4nderlich ist, bei sehr grossen Werthen von r aber immer kleiner und schliesslich Null wird. Helmholtz w\u00e4hlt zum Ausdruck dieses Abh\u00e4ngigkeitsver-\nh\u00e4ltnisses die Gleichung\t___ a\nb + r\nwto a und b Constante, b \u00fcberdies verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gross ist. Es wird dann die letzte Differentialgleichung zu\n7\ta dr\nd e =\nund\n\n(l + r) (r + r0) log (r + r^\nb-r0 \u00b0\\b\nC.\nDas Maximum der Empfindung, welches eintreten kann, ist nach dieser Formel C und die gr\u00f6sste Empfindlichkeit, wenn der Reiz den Werth\nr = \\br0\nhat.\nDiese Formel bezieht sich, wie gesagt, zun\u00e4chst auf Lichtempfindungen oder doch nur auf solche Empfindungen, f\u00fcr welche das Fechner-sche Gesetz eine obere und eine untere Gr\u00e4nze hat. Es ist aber auch\n] Leipzig bei Breitkopf u. H\u00e4rtel. 1877.\n2 Helmholtz, Physiologische Optik. S. 315.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nf\u00fcr Lichtempfmdimgen erstens nicht auf seine Genauigkeit gepr\u00fcft, zweitens deshalb nicht ohne Weiteres anwendbar, weil, wie wir aus gewissen Tliat-sachen wissen, die Empfindungsgr\u00f6sse f\u00fcr die verschiedenen Farben nicht in gleicher Weise mit der Reizgr\u00f6sse w\u00e4chst. Letzterer Umstand bezieht sich nat\u00fcrlich ebenso auf die Formel Fechner\u2019s.\nWie oben erw\u00e4hnt, hat Aubert1 Versuche gemacht, aus welchen er folgert, dass das psychophysische Gesetz auf dem Gebiete der intensiven Lichtempfindungen keine G\u00fcltigkeit hat. Er fand vielmehr, dass bei Abnahme der absoluten Helligkeit die Empfindlichkeit f\u00fcr Helligkeitsunterschiede auch abnimmt. Da wir schon wissen, dass das Gesetz \u00fcberhaupt nur als ann\u00e4herungsweise richtig betrachtet wird, dass jener eben genannte AuBERT\u2019sche Satz jenseits der unteren Gr\u00e4nze der G\u00fcltigkeit des Gesetzes zutrifft, so fr\u00e4gt es sich, ob die Resultate Aubert\u2019s so sehr von den gesetzlichen abweichen, dass auch nicht mehr in dem Sinne, wie wir dies bisher gethan haben, von einer n\u00e4herungsweisen Richtigkeit die Rede sein kann. Aubert hat die Helligkeiten, bei welchen er experimentirte, innerhalb sehr weiter Gr\u00e4nzen ge\u00e4ndert, so dass der Gedanke nahe liegt, es k\u00f6nnten diese Versuche, bei Ber\u00fccksichtigung der oberen und unteren Gr\u00e4nze des Gesetzes, wenigstens die ann\u00e4hernde Richtigkeit derselben als zul\u00e4ssig erscheinen lassen. In der That hat Fechner bei genauerer Pr\u00fcfung der Aubert\u2019scIich Versuchsresultate dieselben mehr f\u00fcr als gegen sein Gesetz sprechend gefunden. W\u00e4hrend n\u00e4mlich bei diesen Versuchen die Helligkeiten von 1- bis zum 96,67 fachen variirten \u2014 also in weiteren Gr\u00e4nzen als die sind, innerhalb deren normaler Augengebrauch stattfindet \u2014 \u00e4nderte sich der ebenmerkliche Reizunterschied, anstatt constant zu bleiben, nur im Verh\u00e4ltniss von 1 : 1,8 nach aufw\u00e4rts und abw\u00e4rts. Fechner findet, dass dieses Resultat, in Anbetracht jener ausserordentlich grossen Aenderungen der objectiven Helligkeit, in hohem Grade geeignet ist, die ann\u00e4hernde Stichhaltigkeit des Gesetzes zu erweisen.\nEs ist hier nicht der Ort, alle jene Einw\u00e4nde zu discutiren, welche von Mach 2, Plateau 3, Delboeuf 4, Brentano 5, Langer 6, Ueberhost 7 8 und Hering 8 gegen das psychophysische Gesetz vorgef\u00fchrt wurden. Nur von einem Punkt, der in verschiedener Form als Einwand wiederkehrt, mag hier in K\u00fcrze die Rede sein.\nEs wird gesagt, das psychophysische Gesetz kann nicht richtig sein, denn w\u00e4re es richtig, so k\u00f6nnten wir uns mit unseren Empfindungsgr\u00f6ssen in der Welt nicht zurechtfinden. Es ist dieser Einwand in der neuesten Zeit durch Hering ausf\u00fchrlicher und pr\u00e4ciser als fr\u00fcher aufgestellt worden, weshalb es vortheilhaft sein wird, bei Erl\u00e4uterung desselben sich an diesen Autor zu halten, um so mehr als dessen Anschauungen von\n1\tAubert, Physiologie der Netzhaut. S. 52.\n2\tMach, Vortr\u00e4ge \u00fcber Psychophysik. Wien, Sommer 1873.\n3\tPlateau 1. c.\n4\tJDelboeuf 1. c. und s. unten S. 246.\n5\tBrentano, Psychologie vom empirischen Standpunkte. 1. Th. S. 87. 1874.\n6\tLanger, Grundlagen der Psychophysik. Jena 1876.\n7\tUeberhorst, Entstehung der Gesichtswahrnehmungen. G\u00f6ttingen 1876.\n8\tHering, Zur Lehre von der Beziehung zwischen Leib und Seek. 1. Mitth. Ueber Fechner\u2019s psychophysisches Gesetz. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LXXII. 1875.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Psychophysische Gesetze. Einw\u00e4nde gegen dieselben.\n241\nAnderen acceptirt wurden. Der Punkt , um welchen sich diese Frage dreht, wird am einfachsten klargestellt werden durch folgende Stelle in Hering\u2019s Abhandlung 1 : \u201e Denken wir uns, wir h\u00e4tten der urspr\u00fcnglich 50 mm. langen Linie so viele eben merkliche L\u00e4ngenzuwiiehse erteilt, dass sie in Wirklichkeit um 50 mm., d. i. um ihre eigene L\u00e4nge gewachsen w\u00e4re, und wir h\u00e4tten ferner der zweiten Linie, die urspr\u00fcnglich 50 cm. lang war, genau ebenso viele ebenmerkliche L\u00e4ngenzuw\u00fcchse verschafft, so w\u00fcrde uns nach dem FECHNER\u2019schen Satze der Gesammtzuwachs der letzteren Linie nur ebenso gross erscheinen d\u00fcrfen, wie der Gesammtzuwachs der ersteren. Bei dieser, die urspr\u00fcnglich 50 mm. lang war, betrug dieser Zuwachs in Wirklichkeit 50 mm., bei der anderen Linie f aber h\u00e4tte er, entsprechend ihrer urspr\u00fcnglich gr\u00f6sseren L\u00e4nge, 50 cm. betragen m\u00fcssen. Diese zugewachsenen 50 cm. nun, und jene zugewachsenen 50 mm. m\u00fcssten uns also gleich gross erscheinen, denn beide entspr\u00e4chen gleich vielen gleich grossen Empfindungszuwiichsen der beiden urspr\u00fcnglichen Empfindungsgr\u00f6ssen. Es w\u00e4chst aber bekanntlich die J scheinbare L\u00e4nge einer Linie (innerhalb der hier in Betracht kommenden Gr\u00e4nzen) proportional mit ihrer wirklichen L\u00e4nge, d. h. die Empfindungsgr\u00f6sse nimmt proportional mit der Reizgr\u00f6sse zu; und es ist gut, dass es so ist, sonst k\u00f6nnte von einer Wahrnehmung der r\u00e4umlichen Verh\u00e4ltnisse der Aussenwelt gar nicht die Rede sein ; denn wenn gleichen relativen Reizzuw\u00fcchsen gleiche Empfindungszuwtichse entspr\u00e4chen, so w\u00fcrden unsere Empfindungen nicht proportional, sondern nur logarithmisch mit den Reizgr\u00f6ssen wachsen.\nMan denke an die Verwirrung, die daraus entstehen m\u00fcsste. Zwei . verschieden grosse, aber geometrisch \u00e4hnliche Dreiecke w\u00fcrden uns un\u00e4hnlich scheinen, denn das Verh\u00e4ltniss der drei Seiten w\u00fcrde in den beiden Dreiecken f\u00fcr unsere Empfindung oder Vorstellung ganz verschieden sein\u201c .... \u201eWie jedes, so ist auch dieses Paradoxon gar nicht auszudenken. Wenn ich es gleichwohl hier etwas ausgef\u00fchrt habe, so ge-h schah dies, weil im Grund das psychophysische Gesetz Fechner\u2019s ein ganz analoges Paradoxon f\u00fcr die Intensit\u00e4t der Empfindungen schafft, freilich nicht in so offenerWeise, sondern mehr oder minder versteckt\nEs l\u00e4sst sich hierauf zur Verteidigung des FECHNER\u2019schen Gesetzes erwidern, dass zwei ebenmerkliche Reizzuw\u00fcchse zwar gleich gross aber l durchaus nicht identisch sein m\u00fcssen, d. i. insofern gleichwertig, als der eine f\u00fcr den anderen substituirt werden k\u00f6nnte, als der eine von dem anderen durch das Bewusstsein nicht unterschieden w\u00fcrde.\nDenken wir uns eine Empfindung von Null an durch lauter gleiche Empfindungszuwiichse wachsen, so dass die endliche Empfindungsgr\u00f6sse etwa durch das Bild einer in viele gleiche Theile getheilte Verticale ! darzustellen ist. Die Reizzuw\u00fcchse, welche jenen gleichen Empfindungszuwiichsen entsprechen, seien'uns f\u00fcr den Moment gleichg\u00fcltig.\nJeder dieser Empfindungszuw\u00fcclise ist nun nicht nur durch seine Gr\u00f6sse, sondern auch durch seine Stellung, die er der H\u00f6he nach einnimmt, charakterisirt.\n1 Hering 1. c. S. 12.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\n16-","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpulse.\nDie HERiNG\u2019sche Voraussetzung, dass gleich viele gleich grosse Em-pfindungszuw\u00fcchse gleiche Empfindungen hervorrufen m\u00fcssen, in unser Bild \u00fcbersetzt, Messe, dass die n untersten Theile unserer Linie dieselbe Empfindung repr\u00e4sentiren w\u00fcrden, als n aneinanderstossende Theile derselben aus irgend einer anderen H\u00f6he. Die letzteren n Theile aber m\u00fcssten wir zu diesem Vergleiche gleichsam herausheben und mit den ersten auf dieselbe Abscissenaxe setzen. Dies tliut Hering, indem er den absoluten Zuwachs zu seiner kurzen Linie mit dem absoluten Zuwachs zu seiner langen Linie vergleicht. Es liegt aber hierin die Voraussetzung, dass es blos auf die Anzahl, nicht auch auf die Position jener gleichen Linien-theile, welche die Empfindungszuwlichse darstellen, ankommt.\nMan kann die Frage aufwerfen, ob es denn auch richtig ist, dass ein Empfindungszuwachs (bezogen auf einen bestimmten und nach der Intensit\u00e4t variirenden Sinneseindruck, z. B. einer Gewichtsempfindung) ausser durch seine Gr\u00f6sse auch noch durch die H\u00f6he, in welcher er sich unserem Bilde nach befindet, charakterisirt ist. Man k\u00f6nnte meinen, ein solcher Empfindungszuwachs sei, da seine Qualit\u00e4t schon gegeben ist, nur in der Gr\u00f6sse variabel; sind also zwei gleichartige Zuw\u00fcchse auch gleich gross, so m\u00fcssten sie auch gleich, sozusagen congruent sein, der eine f\u00fcr den anderen substituirbar sein.\nWie man\u2019sieht hat diese Frage ihre volle Berechtigung; sie n\u00f6tliigt uns auf einen bisher uner\u00f6rterten Punkt einzugehen, der f\u00fcr die Bedeutung des psychophysischen Gesetzes von Wichtigkeit ist. Es handelt sich darum, was wir qualitativ gleiche Empfindungen verschiedener Intensit\u00e4t nennen. Man hat allgemein angenommen, dass mit der Steigerung der Intensit\u00e4t sich (innerhalb gewisser Gr\u00e4nzen) die Qualit\u00e4t nicht \u00e4ndert. Hierauf basirt jedes Messen der Empfindungsgr\u00f6sse, also auch das psychophysische Gesetz. Fragt man sich aber nach der unserem Bewusstsein entnommenen Grundlage dieses Satzes, so findet man dieselbe durchaus nicht so fest, wie gew\u00f6hnlich vorausgesetzt wird. Dass die Druckempfindung, welche ein Loth hervorruft, von der Druckempfindung, welche ein Pfund hervorruft, nur quantitativ verschieden ist, ist nicht Gegenstand der unmittelbaren Empfindung. Gegenstand der unmittelbaren Empfindung ist nur, dass die beiden Empfindungen verschieden sind. Oder man denke an einen Ton, der einmal schwach' dann stark angeschlagen wird, an zwei Helligkeiten von verschiedener Intensit\u00e4t, an die Empfindung des Lauen und die des noch nicht schmerzhaften Heissen, wobei alle diese Empfindungen innerhalb der Gr\u00e4nzen des FECHNER\u2019schen Gesetzes liegen m\u00f6gen. Eine Empfindung ist eben ein Vorgang von grosser Complicirtheit, und das einfache Schema von \u201ewie\u201c und \u201ewie viel\" ist auf dieselbe nur mit Reserve anzuwenden. Es will scheinen, als w\u00e4ren wir aus unserer Empfindung heraus nie auf den Gedanken gekommen, dass die Eindr\u00fccke der genannten Reize sich nur durch ihre Quantit\u00e4t unterscheiden; als h\u00e4tte uns vielmehr die Erfahrung, dass der Reiz nur in seiner Quantit\u00e4t ge\u00e4ndert werden muss, um von einer Empfindung zur anderen zu f\u00fchren, auf diesen Gedanken gebracht.\nMan k\u00f6nnte auf den ersten Blick meinen, dass Empfindungen sich als quantitativ verschieden manifestiren, wenn sie dadurch charakterisirt sind, dass man von der einen durch unmerkliche Ueberg\u00e4nge von hin-","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Psychophysische Gesetze. Einw\u00e4nde gegen dieselben.\n243\nl\u00e4nglicher Anzahl zu der anderen gelangen kann. Dem ist aber nicht so, denn man kann auf demselben Weg von Roth zu Gr\u00fcn, von einem Ton zum anderen gelangen.\nMan wird sagen: wenn das Auseinandergesetzte richtig ist, so giebt es nicht nur qualitativ verschiedene Empfindungen im alten Sinne, sondern zu diesen kommen nun noch alle jene qualitativen Empfindungen, welche ihren Ursprung in den verschiedenen Quantit\u00e4ten der Reize haben. Ein psychophysisches Gesetz sei jetzt in keiner Form mehr denkbar, da man verschiedene Dinge nicht mit demselben Maasse messen kann.\nNun ist aber zu bemerken, dass (wie schon in der Einleitung auseinandergesetzt) qualitativ verschiedene Empfindungen doch im Bewusstsein gewisse Aehnlichkeiten haben k\u00f6nnen, wodurch sie sich als zusammengeh\u00f6rig manifestiren. Die Empfindung eines Tones ist von der qualitativ verschiedenen Empfindung eines anderen Tones nicht so entfernt, wie die Empfindung des Tones von der eines Gewichtes etc. Gewisse Gruppen von Empfindungen geh\u00f6ren also, wie uns unser Bewusstsein sagt, zusammen. *So k\u00f6nnen auch jene Empfindungen, welche durch einen quantitativ variirenden Reiz hervorgerufen werden, obwohl sie qualitativ verschieden sind, doch den Stempel der Zusammengeh\u00f6rigkeit tragen, und thun dies in der That. Eine solche Gruppe von zusammengeh\u00f6renden Empfindungen kann auch einen gemeinsamen Namen haben, so dass man ganz wohl von Gewichtsempfindungen, Rothempfindungen etc. sprechen kann, ohne damit zu sagen, dass jene Empfindungen alle ganz streng genommen, dieselbe Qualit\u00e4t haben m\u00fcssen.\nNun kann man zwar Aepfel, Birnen und N\u00fcsse f\u00fcr gew\u00f6hnlich nicht addiren, kann sie aber wohl addiren, wenn man vor die Summe ihren gemeinsamen Namen Obst hinschreibt. Ebenso, will es scheinen, kann man jene zwar qualitativ verschiedenen Empfindungszuwiichse addiren, wenn man nur vor ihre Summe den gemeinsamen Namen Gewichtsempfindung, Rothempfindung u. dgl. hinschreibt.\nEs ist klar, dass bei diesen Anschauungen das psychophysische Gesetz in ein anderes Licht tritt. Da die ebenmerklichen Empfindungszuw\u00fcchse, wenn sie auch qualitativ verschieden sind, doch gleich gross bleiben, so gilt das Gesetz nach wie vor. Die Empfindungen einer bestimmten Gruppe (im oben angedeuteten Sinne), z. B. die Empfindungen, welche ein allm\u00e4hlich wachsendes Gewicht hervorruft, sind in einer bestimmten Reihe angeordnet. Die Empfindungsgr\u00f6sse im FECHNER\u2019schen Gesetze giebt nun den Ort in jener Reihe an, welcher der durch die gegebenen Reize hervorgerufenen Empfindung zukommt.\nSo wie die ebenmerklichen Empfindungszuw\u00fcchse, obwohl sie nicht identisch sind, gleiche Gr\u00f6sse haben, sind auch ebenmerkliche Empfindungszuw\u00fcchse, welche verschiedenen Sinnesgebieten angeh\u00f6ren, oder ebenmerkliche Empfindungen, sie m\u00f6gen durch welche Sinnesorgane immer hervorgerufen sein, gleich gross.\nEs sind also gleich grosse Empfindungszuw\u00fcchse nicht als identisch zu betrachten, und darin liegt wohl die L\u00f6sung der durch Hering hervorgehobenen Schwierigkeiten.\nHerings Anschauungen gehen weiter dahin, dass die richtige Auffassung der Aussenwelt durch unsere Sinne nur dann m\u00f6glich ist, wenn\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 2. Cap. Empfindungsimpi\u00fcse.\ndie Empfindungsgr\u00f6sse proportional der Reizgr\u00f6sse steigt. Die oft erw\u00e4hnten Versuehsresultate als richtig vorausgesetzt, w\u00fcrde dieser Satz zu der Behauptung dr\u00e4ngen, dass ehenmerkliehe Empfindungsunterschiede nicht gleich gross sind. Bedenkt man nun, dass, wie oben schon erw\u00e4hnt, die Gr\u00f6sse eines Empfindungsunterschiedes nur durch seine gr\u00f6ssere oder geringere Merklichkeit gegeben ist, so erkennt man die Unkaltsamkeit jener Anschauung.\nIn der That hat Hering die Versuehsresultate selbst in Zweifel gezogen. Neue von ihm und seinen Sch\u00fclern angestellte Versuchsreihen ergaben keine Uebereinstimmung mit den Forderungen des psychophysischen Gesetzes. Freilich hat Fechner sp\u00e4ter gezeigt, dass Hering\u2019s Resultate auch anders, und zwar zu Gunsten des psychophysischen Gesetzes gedeutet werden k\u00f6nnen. Es kann hier diese Controverse um so mehr \u00fcbergangen werden, als Hering neue Versuchsreihen zu bringen versprach, also jetzt doch keine endg\u00fcltige Anschauung gewonnen werden k\u00f6nnte.\nIm Gegensatz zu jenen Autoren, welche das psychophysische Gesetz mit der sogenannten praktischen Wahrheit unserer durch die Empfindungen vermittelten Vorstellungen und Wahrnehmung unvereinbar halten, leitet J. J. M\u00fcller gerade aus dieser praktischen Wahrheit unserer Vorstellungen das FECHNER\u2019sche Gesetz ab.1 Es ist nicht leicht m\u00f6glich, diese Ableitung in K\u00fcrze wiederzugeben, doch soll der Weg derselben skizzirt werden. Bei dem grossen Wechsel in der Intensit\u00e4t der Reize, welche unsere Sinnesorgane treffen, und bei dem ebenso grossen Wechsel der Erregbarkeit unserer Sinnesorgane fragt es sich, auf welche Weise wir unterscheiden, ob zwei Empfindungen vou ungleicher Gr\u00f6sse diese ihre Ungleichheit der verschiedenen Intensit\u00e4t der \u00e4usseren Reize oder der Verschiedenheit der Erregbarkeit des betreffenden Sinnesorganes verdanken. Eine Unterscheidung dieser beiden F\u00e4lle muss m\u00f6glich sein, sollen unsere Empfindungen praktisch verwerthbar sein. Diese Unterscheidung ist nach J. J. M\u00fcller auf folgende Weise gegeben. Der Intensit\u00e4tsunterschied zweier Empfindungen ist, wenn derselbe von einer Differenz der \u00e4usseren Reize herr\u00fchrt, unabh\u00e4ngig von der Erregbarkeit, r\u00fchrt er aber von dem Unterschied in der Erregbarkeit des Sinnesorganes'her, so ist er unabh\u00e4ngig von dem \u00e4usseren Reiz. F\u00fcr den ersten Theil dieses Satzes sprechen Beobachtungen FechnerV2, er fand, dass der Unterschied zweier Gewichte noch gleich gut erkannt wird, ob der hebende Arm erm\u00fcdet ist oder nicht. (Der zweite Theil dieses Satzes ist bisher experimentell nicht erwiesen.) Hieraus leitet nun J. J. M\u00fcller unter Zu-hiilfenahme von einigen anderen mehr oder weniger sicher gestellten S\u00e4tzen der Physiologie, z. B. desjenigen von der Proportionalit\u00e4t der Nervenerregung mit der Reizgr\u00f6sse auf mathematischem Wege das psychophysische Gesetz ab. Die Erregbarkeit wird in die Ableitung einbezogen, indem sie bei constantem Reize der Nervenerregung proportional gesetzt wird.\n1\tJ. J. M\u00fcller, Ueber eine neue Ableitung des Hauptsatzes der Psychophysik. Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. XXII. S. 328.\n2\tFechner, Elem. d. Psychophysik. I. S. 305.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Psychophysische Gesetze. Deutung derselben.\n245\nAnschauungen \u00fcber die Bedeutung des psychophysischen Gesetzes.\nJ. Bernstein1 fand folgende Theorie \u00fcber die Ausbreitung der Nervenerregung in den nerv\u00f6sen Centren \u00fcbereinstimmend mit dem FECHNER\u2019schen Gesetze, und betrachtet sie demnach als in urs\u00e4chlichem Zusammenh\u00e4nge mit letzterem stehend.\nEine durch die Nervenfaser zugeleitete Erregung verbreitet sich nach der Vorstellung Bernstein\u2019s im Centralorgane, indem sie von Ganglienzelle zu Ganglienzelle fortgeleitet wird, in der Umgebung der Eintrittsstelle des Nerven, so dass ein Irradiationskreis dieser Erregung entsteht. Indem nun vorausgesetzt wird, dass diese Verbreitung der Erregung unter einem gewissen Widerstand geschieht, und dass die zum Bewusstsein kommende Intensit\u00e4t der Empfindung proportional ist dem Raum in welchem sich die Erregung ausgebreitet hat,\" bez. der Anzahl Ganglienzellen, welche in diesem Raume enthalten sind, ergiebt sich f\u00fcr jede Reizgr\u00f6sse eine bestimmte Empfindungsgr\u00f6sse. Die Gr\u00e4nze eines solchen Irradiationskreises ist durch die Annahme eines Schwellenwerthes der Erregung gegeben, d. i. eines Werthes f\u00fcr die lebendige Kraft des sich verbreitenden ErregungsVorganges, bei welchem jener supponirte Widerstand nicht mehr \u00fcberwunden werden kann. Die Erregung ist im Centrum des Kreises am intensivsten und nimmt nach der Peripherie, erstens wegen jenes Widerstandes, zweitens wegen der Vertheilung der lebendigen Kr\u00e4fte ab. Berechnet man die Gr\u00f6ssen eines Irradiationskreises f\u00fcr Reizungen von verschiedener Intensit\u00e4t, so findet man, dass dieselben nach dem FECHNER\u2019schen Gesetze von letzteren abh\u00e4ngen.\nAuch lassen sich eine Reihe von Thatsachen \u00fcber die Genauigkeit unserer Tastempfindungen aus dieser Theorie ableiten. Schwieriger wird es, sich die Theorie f\u00fcr Gesichts- und Geh\u00f6rsempfindungen zu erg\u00e4nzen. Nehmen wir z. B. an, ein kleiner Netzhautbezirk wird durch Licht gereizt; es entsteht dann im Centrum ein Irradiationskreis. W\u00e4chst jetzt die Intensit\u00e4t der Reizung, so soll sich der Irradiationskreis auf neue Gangliengruppen ausbreiten. Diese neuen Gangliengruppen k\u00f6nnen aber nicht den benachbarten Netzhautelementen angeh\u00f6ren, da, wie wir ja wissen, die Localisation der Netzhauteindr\u00fccke innerhalb weiter Gr\u00e4nzen der Reizungsintensit\u00e4ten merklich dieselbe bleibt. Es m\u00fcssen das also Gangliengruppen sein, welche nur dann erregt werden, wenn jene Netzhautstelle bis zu diesem Grade der Intensit\u00e4t gereizt wird. Sehr hohe Reizintensit\u00e4ten\n1 Bernstein, Untersuchungen \u00fcber den Erregungsvorgang im Nerven- und Muskelsystem. S. 165. Heidelberg, bei Winter. 1871.","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 3. Cap. Bewegungsimpulse.\nw\u00fcrden dann Zellengruppen in Erregung versetzen, welche fast das ganze Leben unbenutzt sind, und gleichsam nur f\u00fcr den Fall so starker Erregungen vorr\u00e4thig sind: eine Anschauung, die nicht ganz plausibel ist.\nAuch Delboeuf 1 ist bestrebt, die physiologischen Vorg\u00e4nge, die zu einer Empfindung f\u00fchren und das Verbaltniss zwischen Reizgr\u00f6sse und Empfindungsgr\u00f6sse dem Verst\u00e4ndniss n\u00e4her zu f\u00fchren. Dieser Autor stellt sich die Theilchen des nerv\u00f6sen Apparates in steten Schwingungen vor und betrachtet die Ver\u00e4nderungen, welche diese Bewegung durch den Nervenreiz, der selbst auch in einer \u00e4hnlichen Bewegung besteht, erleidet, als den Ausdruck der Empfindung. Er kommt durch seine mathematischen Deductionen zu einer Formel f\u00fcr die Empfindung, welche mit der FECHNER\u2019schen im Wesentlichen \u00fcbereinstimmt. Seine Vorstellungen \u00fcber den Empfindungsvorgang f\u00fchren ihn auch auf den mathematischen Ausdruck f\u00fcr die Erm\u00fcdung und deren Abh\u00e4ngigkeit von den Leistungen des Sinnesorganes.\nDRITTES CAPITEL.\nDie Bewegmigsimpulse.\nAehnlich wie wir von Empfindungselementen handelten, kann man von Innervationselementen sprechen, d. i. von der willk\u00fcrlichen Erregung einer motorischen Nervenfaser. Es ist unbekannt, ob eine solche einzelne Erregung je gesetzt wird, ja es ist sogar fraglich, ob nicht stets alle Nervenfasern, die zu einem Muskel f\u00fchren, in Erregung versetzt werden, da die partielle willk\u00fcrliche Contraction eines (anatomisch gut begr\u00e4nzten) Muskels nie beobachtet wurde. Hingegen ist durch Br\u00fccke\u2019s1 2 Untersuchungen festgesetzt, dass jene Innervationselemente bei der willk\u00fcrlichen Erregung zeitlich nicht Zusammenf\u00e4llen. K\u00fcnstliche tetanische Erregung vom Nerven aus verh\u00e4lt sich vielmehr zur willk\u00fcrlichen Erregung eines Muskels wie rasch auf-\n1\tVergl. nebst den S. 233 angef\u00fchrten Schriften dieses Autors den Aufsatz in : Revue scientifique de la France et de l\u2019\u00e9tranger. 31. Juillet 1875 und das Werkchen: La Psychologie comme science naturelle. Bruxelles 1876, endlich: La loi psychophysique in der Revue philosophique. V. 187\u00ab.\n2\tBr\u00fccke. Ueber willk\u00fcrliche und krampfhafte Bewegungen. Sitzgsber. d. mener Acad. LXXV. 1877.","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Willk\u00fcrliche Bewegungen.\n247\neinanderfolgende Salven zu einem Pelotonfeuer.1 Aber selbst ganze Muskeln k\u00f6nnen wir, wenn \u00fcberhaupt nur in Ausnahmsf\u00e4llen isolirt, in Contraction versetzen. Vielmehr sind es gew\u00f6hnlich Gruppen von Muskeln, welche bei einer auch noch so einfach erscheinenden Bewegung betheiligt sind. So sind, wie Br\u00fccke nach wies, bei der Streckung des Fusses im Sprunggelenk, bei der Beugung der Hand im Handwurzelgelenk, und offenbar auch bei anderen derartigen Bewegungen die Antagonisten der direct betheiligten Muskeln stets auch in Contraction. Selbst so isolirt gelagerte Muskeln, wie der Tensor tympani, k\u00f6nnen nur in Gemeinschaft mit anderen Muskeln contrahirt werden.\nWenn zwei oder mehrere Muskeln nur gleichzeitig durch den Willen in Contraction versetzt werden k\u00f6nnen, so sagt man, es herrsche zwischen ihnen Mitbewegung. So ist es z. B. beim Tensor cho-rioideae und Sphincter pupillae, bei den beiden Masseteren und vielen anderen paarigen Muskeln, ferner den Flexoren der Zehen u. s. f.\nNeben diesen unaufl\u00f6slichen Combinationen von Bewegungen giebt es auch solche, welche im Laufe des Lebens aufgel\u00f6st werden k\u00f6nnen. Zu diesen geh\u00f6ren alle jene Bewegungen, welche das Kind combinirt ausf\u00fchrt, und welche sp\u00e4ter, wenn dasselbe den Gebrauch der Glieder lernt, isolirt ausgef\u00fchrt werden. Bekanntlich bewegt das Kind gew\u00f6hnlich beide Arme gleichzeitig und gleichsinnig, es zieht beide F\u00fcsse in gleicher Weise an den K\u00f6rper heran, es beugt alle Finger etc. Diese Bewegungen isoliren sich sp\u00e4ter, welche Isolation durch Uebung bis zu der Vollendung gebracht werden kann, die uns ein Clavierspieler zeigt. Dieser kann auch zum Beispiele daf\u00fcr dienen, dass die Anzahl der in der Zeiteinheit ausf\u00fchrbaren Bewegungen durch Uebung vermehrt wird. Sowie Mitbewegung beseitigt werden kann, kann sie auch im Laufe des Lebens acquirirt werden. (In diesem Falle spricht man wohl auch, um ihn von jenem eben besprochenen zu unterscheiden, von associirter Bewegung.) Gewisse, bei mechanischen Arbeiten oft ausgef\u00fchrte Bewegungscombinationen werden so gel\u00e4ufig, dass das Weglassen einer solchen Bewegung Schwierigkeiten macht. Man denke an einen Schwimmer, dem die Aufgabe gestellt wird, den Unterschenkel eines Beines h\u00e4ngen zu lassen, mit dem Oberschenkel aber die gew\u00f6hnliche Bewegung zu machen. Hiermit h\u00e4ngt es zusammen, dass ge\u00fcbte Arbeiter sp\u00e4ter erm\u00fcden als unge\u00fcbte. Letztere f\u00fchren \u00fcberfl\u00fcssige Muskelbewegungen aus. Auf dem Erlernen von\n1 Harles (Analyse der willk\u00fcrlichen Bewegung. Ztschr. f. rat. Med. (3) XIY) hielt die willk\u00fcrlichen Bewegungen im Gegens\u00e4tze zu den tetanischen f\u00fcr vollkommen ^ontinuirlich.","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248 Exner, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 3. Cap. Bewegungsimpulse.\nBewegungscombinationen und des richtigen Verh\u00e4ltnisses der einzelnen Innervationen beruht haupts\u00e4chlich die Geschicklichkeit in Fertigkeiten.\nEs sind auch Bewegungscombinationen, die bei der Locomotion ausgef\u00fchrt werden, und die verschiedenen Gangarten der Thiere zeigen, dass solche Combinationen, ohne eigentliche Mitbewegung zu sein, im Organismus gleichsam vorgebildet sind. Hier kann man sehen, dass der Ort, an welchem die Innervationen zu diesen Bewegungscombinationen gesetzt werden, das R\u00fcckenmark ist, denn der gek\u00f6pfte Frosch macht noch seine Sprungbewegungen, das gek\u00f6pfte Huhn seine Lauf- und Flugbewegungen, das gek\u00f6pfte Kaninchen die Galoppbewegung. Das Gehirn scheint also wenigstens bei diesen Thieren jene Bewegungscombinationen im R\u00fcckenmarke fertig auszul\u00f6sen.\nSowohl die einfacheren als die zusammengesetzten Bewegungen stehen unter der Controlle der sinnlichen Erfahrung insofern, als sie, wenn diese mangelt, schlecht ausgef\u00fchrt werden, und wenn diese zeigt, dass die intendirten Bewegungen nicht zum Ziele f\u00fchrten, anders ausgef\u00fchrt werden, so dass sie zum Ziele f\u00fchren. Diese Controlle durch die Erfahrung geschieht unbewusst, d. h. die Ver\u00e4nderung des Willensimpulses, welche durch die Erfahrung geboten wird, f\u00e4llt nicht in das Bereich des Bewusstseins, oder muss doch nicht in das Bereich des Bewusstseins fallen.\nEs ist bekannt, dass in jenen Krankheitsf\u00e4llen, in welchen die Sensibilit\u00e4t gest\u00f6rt ist, gewisse Bewegungen ungeschickt ausgef\u00fchrt werden. Der Tabetiker, der nicht mehr correct empfindet, was f\u00fcr Bewegungen seine Willensimpulse in den unteren Extremit\u00e4ten her-vorrufen, geht ungeschickt oder f\u00e4llt sogar, wenn er die F\u00fcsse nicht sehen kann. Ja Stk\u00fcmpell 1 erz\u00e4hlt einen Fall, in welchem eine Person, deren Hautsensibilit\u00e4t g\u00e4nzlich geschwunden war, bei geschlossenen Augen angab, sie habe die Hand zur Faust geballt, erhebe den Arm u. dgl., ohne dass dies der Fall war. Oeffnete sie die Augen, so zeigte sich, dass sie nun sehr gut, und ohne irgend ein Kennzeichen motorischer St\u00f6rung, die Hand schliessen und \u00f6ffnen konnte etc.\nEs ist schon hieraus zu ersehen, wie schlecht wir den Grad unserer willk\u00fcrlichen Innervation zu ermessen verm\u00f6gen, und wie nothwendig es f\u00fcr die correcte Ausf\u00fchrung der Bewegungen ist durch\n1 Str\u00fcmpell, Beobachtungen \u00fcber ausgebreitete An\u00e4sthesien u. deren Folgen f\u00fcr die willk\u00fcrliche Bewegung. Deutsch. Arch. f. klin. Med. XII. S. 321. Dieser Aufsatz ist f\u00fcr jene, welche sich f\u00fcr den in Rede stehenden Gegenstand interessiren, in hohem Grade lesenswerth.","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Controlle der willk\u00fcrlichen Bewegungen durch die Erfahrung.\t249\ndie Erfahrungen, welche uns unsere Sinnesorgane liefern, stets unterst\u00fctzt zu sein. So sind z. B. die beiderseitigen Arme und H\u00e4nde an gemeinsames Arbeiten gew\u00f6hnt und doch geschieht es, dass, wenn man sich die Aufgabe stellt, bei freigehaltenen Armen und geschlossenen Augen die beiden Zeigefinger so gegen einander zu f\u00fchren, dass sie mit ihren Spitzen aneinander stossen, diese Probe auf den richtigen Grad und die richtige Vertheilung der Innervation f\u00fcr die Hand- und Armmuskeln misslingt, und dieses selbst bei Clavier-spielern und sonst manuell ge\u00fcbten Individuen. Es kommt vor, dass man mehrere Male nach einander fehl tritt, wenn man im dunklen Zimmer ein glimmendes Z\u00fcndh\u00f6lzchen auszutreten sucht.\nNimmt man (nach Helmholtz1) Prismen von 16 bis 18 Grad brechendem Winkel so vor beide Augen, dass beide Prismen die \u00e4usseren Gegenst\u00e4nde z. B. nach rechts verschieben, und betrachtet irgend ein Object genau auf seine Lage, schliesst dann die Augen und greift nach demselben, so greift man nat\u00fcrlich rechts an ihm vorbei. Manipulirt man aber auch nur wenige Minuten mit diesen Brillen, so wird man bei Wiederholung des Versuches ganz sicher nach ,den Objecten greifen. Es hat sich also in dieser kurzen Zeit die ganze Innervationscombination der Extremit\u00e4t ge\u00e4ndert und den neuen Erfahrungen angepasst. Nimmt man jetzt die Brillen fort, so greift man links an den Objecten vorbei, weil die neue Innervationsart auf die alten Verh\u00e4ltnisse nicht mehr passt.\nEs ist auch nothwendig, dass unsere Innervationscombinationen in hohem Grade modificirbar sind, denn im entgegengesetzten Falle w\u00fcrden wir schon bei Erm\u00fcdung des Muskelapparates und noch mehr hei ungleichm\u00e4ssiger Erm\u00fcdung der einzelnen Muskeln desselben, die F\u00e4higkeit correcte Bewegungscombinationen auszuf\u00fchren, verlieren.\nWir arbeiten also mit unseren Bewegungsorganen so zu sagen auf den Effect, d. h. wir \u00e4ndern an dem Grad und dem Verh\u00e4ltnisse der Innervationen so lange bis die erwartete Empfindung eintritt. Dabei ist unsere Kenntniss von den Innervationen, die wir erfliessen lassen, so gering, dass wir nicht nur von ganzen Muskelgruppen in Unkenntniss sein k\u00f6nnen, ob wir sie in Contraction versetzen oder nicht, sondern wir t\u00e4uschen uns auch h\u00e4ufig, selbst wenn wir unsere Aufmerksamkeit darauf richten, \u00fcber die Richtung der Bewegung, welche wir ausf\u00fchren. F\u00fcr das erstere kann jener oben besprochene Versuch Br\u00fccke\u2019s als Beispiel dienen, bei welchem unbewusst die Strecker contrahirt werden, wenn eine Beugung intendirt und aus-\n1 Helmholtz, Physiolog. Optik. S. 601.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250 Exnei?, Grosshirnrinde. Allgemeine Physiologie. 3. Cap. Bewegungsimpulse.\ngef\u00fchrt wird. Hier ist der Effect, auf welchen es abgesehen ist der, durch Schaffen eines Widerstandes eine hinl\u00e4nglich langsame und sichere Bewegung zu erzielen. Deshalb bleiben die Antagonisten auch aus dem Spiele, wenn der Bewegung ohnehin schon ein grosser Widerstand dargeboten ist. F\u00fcr den letzteren Fall mag als Beispiel angef\u00fchrt sein, dass wir mit der gr\u00f6ssten Sicherheit die Zungenspitze nach einer schmerzhaften Stelle der Mundschleimhaut f\u00fchren oder einen Bissen w\u00e4lzen, ohne angeben zu k\u00f6nnen, ob sich dieselbe hierbei nach oben oder nach unten, nach rechts oder nach links bewegen muss. (Physiologen und Anatomen sind f\u00fcr diesen Versuch nicht die richtigen Objecte, da sie sich schon auf anderweitige Weise zu genaue Kenntniss ihrer Mundh\u00f6hle und der mit den Zungenbewegungen verbundenen Empfindungen verschafft haben.) Es schliessen sich hieran als Beispiel alle jene Mundstellungen, welche beim Sprechen ausgef\u00fchrt werden und die Kehlkopfbewegungen. Hiermit h\u00e4ngt es auch zusammen, dass wir bei gewissen Bewegungscombinationen, welche wohl m\u00f6glich, aber im Allgemeinen ohne Nutzen sind, uns ungeschickt benehmen. So ist durch den muskul\u00f6sen Apparat wohl die M\u00f6glichkeit gegeben, den Humerus eine Drehung um seine Axe ausf\u00fchren zu lassen (nat\u00fcrlich nicht um ganze 360 Grade), ohne dabei die Hand um ihre Axe zu drehen. Will man es thun, so gelingt es nicht. Wohl aber kann man die Bewegung lernen, wenn man zuerst die Hand und mit ihr den Vorderarm fixirt, indem man sich an einem Tischrand festh\u00e4lt.\nEin Beispiel welches sehr gut zeigt, wie wir die Innervations-combinationen tastend suchen und an der erwarteten Empfindung rectificiren, besteht darin, dass man sich einen Bleistift oder dergl. nahe vor das Gesicht h\u00e4lt und bei geschlossenen Augen versucht, die richtige Augenstellung f\u00fcr die bekannte Lage desselben zu treffen. Oeflfnet man dann die Augen, so sieht man fast immer Doppelbilder, zum Beweis, dass die richtige Innervation nicht getroffen wurde, diese Doppelbilder verschwinden aber sehr rasch, indem nun der Innervationsgrad ausfindig gemacht wird, nachdem f\u00fcr denselben ein Anhaltspunkt durch den sinnlichen Eindruck gegeben ist.\nEs muss hier noch bemerkt werden, dass Bewegungen, welche den Charakter der willk\u00fcrlichen Bewegungen tragen, oft unwillk\u00fcrlich, sogar gegen den Willen ausgel\u00f6st werden beim Wachrufen gewisser Vorstellungen, sei es in Folge von Sinneseindr\u00fccken, sei es auch nur, dass Ged\u00e4chtnissbilder auftauchen. Das Gesticuliren beim Sprechen, sowie das Gesticuliren eines einsamen Spazierg\u00e4ngers, ja auch das Sprechen desselben geh\u00f6rt hierher. Auch ganze complicate Reflexe","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Willk\u00fcrliche Bewegungen. Intensit\u00e4t derselben.\n251\nwerden durch Vorstellungen ausgel\u00f6st. Darauf beruht das Ansteckende des G\u00e4hnens, das Schauern bei einer grauenhaften Geschichte etc., ja die Absonderungsnerven zeigen sich wie in ihrem anatomischen Verhalten so auch hierin den motorischen Nerven angereiht, dass auch sie unwillk\u00fcrlich durch Vorstellungen in Erregung versetzt werden. Das Weinen bei Gem\u00fcthserregungen, die Speichelabsonderung bei der Vorstellung wohlschmeckender Speisen sind hier zu nennen.\nWas die Intensit\u00e4t der motorischen Impulse anlangt, so ist hervorzuheben, dass, \u00e4hnlich wie dieses bei den Empfindungen der Fall ist, wenn sie eine gewisse Gr\u00f6sse \u00fcberschreiten, die Localisation leidet. Versucht man z. B. durch den Adductor pollicis einen Gegenstand fester und fester zu pressen, so bemerkt man, dass fast alle Muskeln der Hand, die Muskeln des Unterarmes und schliesslich auch die des Oberarmes in Contraction gerathen.\nDas Zittern, welches bei heftigen willk\u00fcrlichen Muskelactionen auftritt, kann seine Ursache sowohl in einer ungleichm\u00e4ssigen Action der Muskeln, wie in einer Ungleickm\u00e4ssigkeit der Nervenimpulse haben.\nWie aus der H\u00f6he des Muskeltones und Mitschwingungsversuchen von Helmholtz1 zu ersehen ist, bekommt bei willk\u00fcrlicher Contraction der Muskel 18 \u2014 20 Nervenimpulse in der Secunde. Der Muskelton entspricht der h\u00f6heren Octave d. h. er hat 36\u201440 Schwingungen. Obwohl der Muskel selbst f\u00e4hig ist, einen viel h\u00f6heren Ton zu geben2, so nimmt derselbe doch bei Steigerung der willk\u00fcrlichen Anstrengung nicht merklich an H\u00f6he zu, woraus hervorgeht, dass die kr\u00e4ftigere Bewegung nicht in einer gr\u00f6sseren Frequenz jener Einzelimpulse, sondern in Zunahme von deren Intensit\u00e4t beruht.\nAngesichts der oben erw\u00e4hnten Thatsache von der Pelotonfeuerartigen Entladung im Muskel ist der Muskelton nicht mehr aufzufassen als der Ausdruck der Anzahl der an den ganzen Muskel abgegebenen Entladungen. Es scheint vielmehr wahrscheinlich, dass er der Ausdruck der Anzahl jener Entladungen ist, welche in einer Secunde durch eine Nervenfaser fliessen, wobei diese Entladungen nicht gleichzeitig mit den Entladungen anderer Nervenfasern sein m\u00fcssen. Wie leicht einzusehen muss auch auf diese Weise jene Tonempfindung zu Stande kommen.3\n1\tYergl. Helmholtz, Ueber das Muskelger\u00e4uscb. Monatsber. d. Berliner Acad. 1864 ; Arcb. f. Anat. u. Pbysiol. 1864. S. 766 und Verb. d. naturbist.-med. Vereins z. Heidelberg. Ill u. IV.\n2\tVergl. nebst der Abbandlg. von Helmholtz auch Bernstein, Arcb. f. d. ges. Pbysiol. XI. S. 191.\n3\tVergl. auch Friedrich, Unters, des physiologischen Tetanus mit H\u00fclfe des","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Verh. psych. Impulse.\nDie Anzahl jener Einzelimpulse ist durch Einrichtungen des Centralnervensystems gegeben, denn obwohl man vom peripheren Nerven aus den Muskelton steigern kann, indem man die Anzahl der Reize steigert, so dass die H\u00f6he des Muskeltones der Anzahl der Reize entspricht* 1 2, fand du Bois-Reymond2 schon vor vielen Jahren, dass der Muskelton bei Reizung des R\u00fcckenmarks tiefer ist, als er der Anzahl der Reize nach h\u00e4tte erwartet werden k\u00f6nnen.\n(Vergl. \u00fcber Bewegungsimpulse nebst den angef\u00fchrten Werken noch J. M\u00fcller\u2019s Handb. d. Physiol, d. Menschen. II. Coblenz und C. Ludwig\u2019s Lehrb. d. Physiol, d. Menschen. I. Leipzig bei Winter. 1858.)\nVIERTES CAPITEL.\nDas zeitliche Verhalten psychischer Impulse.\nI. Der zeitliche Verlauf der Einpfindungsimpulse.\nWir wissen, dass eine Gesichtsempfindung, hervorgerufen durch einen constanten Reiz, an Intensit\u00e4t nicht constant ist, dass sie vielmehr in den ersten Zeittheilchen (es handelt sich hierbei um Brueh-theile von Secunden), von Null an allm\u00e4hlich w\u00e4chst, ein Maximum erreicht, um dann viel langsamer, als sie angestiegen war, wieder abzusinken.3 Ebenso ist es von den Tonempfindungen nachgewiesen, dass dieselben ihre volle Intensit\u00e4t erst nach verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig langer Einwirkung des Tones auf das Ohr erreichen.4 Dass die-Tonempfindung sp\u00e4ter wieder an Intensit\u00e4t abnimmt, wie die Gesichtsempfindung, ist nicht bekannt.\nstrompr\u00fcfenden Nerv-Muskelpr\u00e4parates. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LXXIV, und Br\u00fccke 1. c.\n1\tDiese Steigerung hat eine Gr\u00e4nze. Der h\u00f6chste Muskelton, der durch Steigerung der Reizfrequenz vom Nerven aus erzeugt werden konnte, hatte 933 Schwingungen. Mehr als 933 Nervenreize- beantwortet der Muskel nicht mehr mit dem Ton von gleicher Schwingungsanzahl. Bernstein 1. c.\n2\tdu Bois-Reymond, Ges. Abhandlg. z. allg. Muskel- u.Nervenphysiol. IL S. 30. Leipzig 1877.\n3\tVergl. Fick, Zeitlicher Verlauf der Netzhautreizung. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1863 ; Sigm. ExTer, Ueber die zu einer Gesichtswahrnehmung n\u00f6thige Zeit. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LVIII. 1868; Kunkel, Ueber die Abh\u00e4ngigkeit der Farbenempfindung von der Zeit. Arch. f. d. ges. Physiol. IX.\n4\tVergl. Sigm. Exner, Zur Lehre von den Geh\u00f6rsempfindungen. Arch. f. d. ges. Physiol. XIII.","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Zeitlicher Verlauf der Empfindungsimpulse.\n253\nAnders verh\u00e4lt es sich mit den Empfindungen, welche durch Ger\u00e4usche hervorgerufen werden, und ebenso mit Tastempfindungen. Hier ist von jenem Ansteigen und Abfallen der Empfindungsintensit\u00e4t nichts zu beobachten. Hingegen zeigen uns Geschmackssinn und Geruchssinn, dass eine solche Tr\u00e4gheit der Empfindung durch die Functionsweise des Sinnesorganes gegeben sein kann, und legen den Gedanken nahe, dass wir es auch bei Auge und Ohr nicht mit Eigent\u00fcmlichkeiten der nerv\u00f6sen Centralorgane, sondern mit solchen der Endapparate zu thun haben. In der That kann kaum mehr ein Zweifel dar\u00fcber existiren, dass letzteres der Fall ist. Denn einerseits wissen wir, dass bei Reizung der Netzhaut durch Licht von m\u00e4ssigen Intensit\u00e4ten mehr als 24 Impulse in der Secunde wirken m\u00fcssen, wenn der Eindruck ein continuirlicher werden soll. Reizt man aber auf elektrischem Wege die Nervenfasern der Netzhaut direct, so bringen auch 60 solche Impulse in der Secunde noch keinen con-tinuirlichen Eindruck hervor, obwohl die letzteren Reize den ersteren an Intensit\u00e4t nachstehen.1 Es geht hieraus hervor, dass jener oben erw\u00e4hnte tr\u00e4ge Verlauf der Gesichtsempfindungen seinen Grund im Endorgane des N. opticus hat. Andererseits hat sich gezeigt, dass jenes allm\u00e4hliche Ansteigen der Tonempfindungen auf dem Umstand beruht, dass die Schneckenfasern, durch deren Mitschwingen die Empfindung erst hervorgebracht wird, nicht gleich durch die ersten Tonwellen das Maximum ihrer Elongationen erreicht haben, dass die Vibrationen vielmehr allm\u00e4hlich an Gr\u00f6sse zunehmen.2 Auch hier also beruht die Tr\u00e4gheit der Empfindungen auf der eigent\u00fcmlichen Functionsweise des Endapparates, und wir werden sp\u00e4ter Thatsachen kennen lernen, welche zeigen, dass wir auch mit dem Geh\u00f6rorgan verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig viele Impulse in der Zeiteinheit aufnehmen k\u00f6nnen (Ger\u00e4usche), dass also auch hier die Centralorgane jene Tr\u00e4gheit der Empfindung nicht verursachen.3 Demnach geh\u00f6ren diese Erscheinungen in das Bereich der eigentlichen Sinnesphysiologie.\nUeber die Geschwindigkeit, mit welcher Empfindungsimpulse dem Centralorgane zugeleitet werden, wird bei Gelegenheit der Pers\u00f6nlichen Gleichung die Rede sein.\n1\tSigm. Exner, Experimentelle Untersuchung der einfachsten psychischen Pro-cesse. 4. Abhdlg. Arch. f. d. ges. Physiol. XI.\n2\tDerselbe, Zur Lehre von den Geh\u00f6rsempfindungen. Ebendaselbst XIII.\n3\tDie Frage nach der Anzahl der Empfindungen, welche in der Zeiteinheit per-cipirt werden k\u00f6nnen, ist von Preyer ausf\u00fchrlich behandelt, aber in anderem Sinne beantwortet worden, wie dieses oben geschehen ist. (Ueber die Gr\u00e4nzen des Empfindungsverm\u00f6gens und des Willens. Bonn 1868.)","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiologie. 4. Cap. Zeitl. Yerh. psych. Impulse.\nII. Der zeitliche Verlauf der Bewegungsimpulse.\nEs ist schon oben erw\u00e4hnt worden, dass wir uns nicht vorzustellen haben, dass bei der Intention einer Bewegung vom Centralorgan ein Impuls oder eine Reihe rhythmischer Impulse abgegeben werden, welche gleichzeitig die Nervenfasern der betreffenden Muskeln erregen. Diese Impulse werden vielmehr zwar rhythmisch jeder einzelnen Nervenfaser zugef\u00fchrt, doch sind die Phasen dieses Rhythmus f\u00fcr die verschiedenen Nervenfasern verschieden. Es steht hiermit die Thatsache, dass wir einen Muskelton von bestimmter H\u00f6he h\u00f6ren, nicht in Widerspruch, denn wir h\u00f6ren auch den Ton richtig, den viele Violinen gleichzeitig spielen, und doch sind hier offenbar Phasenunterschiede zwischen den von den einzelnen Instrumenten ausgehenden Wellenz\u00fcgen vorhanden.\nIn welcher Weise die einzelnen Impulse im Nerven verlaufen, ob die negativen Stromesschwankungen, welche sie hervorrufen, von derselben Form sind wie jene, die wir k\u00fcnstlich durch elektrische Reizung erzeugen u. dgl. m., wissen wir nicht. Von der Leitungszeit der motorischen Impulse soll, so weit sie uns hier interessirt, bei Besprechung der Reactionszeit gehandelt werden.\nVierordt 1 hat mit seinem Sch\u00fcler Camerer 2 Untersuchungen dar\u00fcber angestellt, mit welcher Genauigkeit Bewegungen, bei welchen man eine gewisse Geschwindigkeit beabsichtigt, ausgef\u00fchrt werden. Sie fanden, dass, wenn man seine Hand eine gewisse vorgestellte Strecke weit bewegen will, die Strecke zu gross ausf\u00e4llt, wenn die Bewegung langsam, zu klein, wenn sie schnell ausgef\u00fchrt wird. Jede derartige Bewegung beginnt und endet nicht pl\u00f6tzlich, sondern mit geringer Geschwindigkeit, auch dann, wenn eine gleichm\u00e4ssige Geschwindigkeit intendirt wird. Diese Anfangs- und Endabweichung w\u00e4hrt um so k\u00fcrzer, je rascher die intendirte gleichm\u00e4ssige Bewegung ist. Beabsichtigten jene Forscher eine beschleunigte Bewegung auszuf\u00fchren, so zeigte das Resultat, dass ihnen diese Bewegung auffallend gut gelungen ist, ja dass sie eine nahezu gleichf\u00f6rmig beschleunigte Bewegung ausgef\u00fchrt hatten. Nat\u00fcrlich muss auch hier vom Beginn und Ende der Bewegung abgesehen werden. Soll man eine verz\u00f6gerte Bewegung ausf\u00fchren, so zeigt sich die Neigung, in der ersten H\u00e4lfte der Bewegung eine zu grosse Verz\u00f6gerung eintreten zu lassen, die zweite H\u00e4lfte zu wenig zu verz\u00f6gern.\n1\tVierordt, Zeitsinn. T\u00fcbingen 1868.\n2\tCamerer, Versuche \u00fcber den zeitlichen Verlauf der Willensbewegungen. Inaug.-Dissert. T\u00fcbingen 1866.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Zeitlicher Verlauf der Bewegungsimpulse. Pers\u00f6nliche Gleichung.\n255\nIII. Die Pers\u00f6nliche Gleichung.\nWir haben es in diesem Abschnitte mit einer physiologischen Erscheinung zu thun, welche zuerst von Astronomen bemerkt und genauer untersucht wurde x, auch von diesen ihren etwas auffallenden Namen erhalten hat. Es ist n\u00e4mlich bei Bestimmungen der Stellung eines Gestirnes \u00fcblich, das mit einem oder mehreren F\u00e4den versehene Fernrohr nach jener Stelle des Himmels zu richten, an welcher man den Stern um eine bestimmte Zeit erwartet. R\u00fcckt der \u2018Stern in das Sehfeld, so achtet der Beobachter auf die Schl\u00e4ge eines Secunden-pendels. Ist er dem betreffenden Faden hinl\u00e4nglich nahe ger\u00fcckt, so hat der Astronom seine Aufmerksamkeit dahin zu concentriren, sich erstens die Entfernung des Sternes vom Faden zu merken, die derselbe in dem Momente hatte, in welchem der letzte Secunden-schlag vor'dem Durchg\u00e4nge des Sternes durch den Faden geh\u00f6rt wurde, zweitens sich die Entfernung des Sternes auf der anderen Seite des Fadens zu merken, die derselbe in dem Momente des ersten Secundenschlages nach dem Durchgang durch den Faden hatte. Auf diese Weise wurde die Zeit, in welcher der Stern den Faden passirte, sch\u00e4tzungsweise bis auf Zehntel von Secunden genau bestimmt.\nEs ergab sich nun, dass verschiedene Personen auf diese Weise die Zeit des Durchganges des Sternes verschieden bestimmten und als man sich durch geeignete Mittel (z. B. dadurch, dass dasselbe Fernrohrbild gleichzeitig in den Augen verschiedener Beobachter entworfen wurde) \u00fcberzeugt hatte, dass die Ursache dieser Differenzen nicht in den Apparaten liege, begann man dieselben in den physiologischen Eigenth\u00fcmlichkeiten der Beobachter zu suchen. Es war dieses um so mehr gerechtfertigt, als wenn A heute den Stern sp\u00e4ter durch den Faden treten sah als B, er ihn auch morgen etc. und zwar um ann\u00e4herungsweise dieselbe Zeitdauer sp\u00e4ter durchtreten sah.\nSo lag der Gedanke nahe, die Differenzen, welche sich zwischen verschiedenen Astronomen zeigten, um vergleichbare Beobachtungsresultate zu erhalten, ein f\u00fcr alle Male zu bestimmen und in Rechnung zu bringen. Man that dieses in folgender Weise. Wenn z. B. Bessel den Durchtritt eines Sternes um 7 Uhr beobachtete, so sah ihn Argelander um 7 Uhr 1,22 Sec. Man schrieb diese Beobaehtungs-dififerenz in Form der Gleichung: Argelander\u2014 Bessel = 1,22 Sec.\n1 Eine Zusammenstellung der hierhergeh\u00f6rigen astronomischen Arbeiten findet sich bei Radau, Moniteur scientifique Quesneville. No.de 15. novembr. 1865 et suiv. und Carl\u2019s Repert. f. physik. Technik. I u. IL; ferner vollst\u00e4ndiger in Sigm. Exner, Experimentelle Untersuchung der einfachsten psychischen Processe. Abhdlg. I. Arch, f. d. ges. Physiol. VII.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Verh. psych. Impulse.\nAuf diese Weise kam die Erscheinung zu dem Namen der \u201e pers\u00f6nlichen Gleichung\u201c.\nDie astronomischen Beobachtungen nahmen an Genauigkeit eini-germaassen zu, als man die oben beschriebene Beobachtungsweise mit der folgenden vertauschte. Der Moment, in welchem der Stern hinter den Faden trat, wurde durch eine Handbewegung markirt, theils indem durch dieselbe ein Uhrwerk zum Stehen gebracht wurde, theils indem eine Taste niedergedr\u00fcckt wurde, welche mit H\u00fclfe elektrischer Uebertragungen ein Zeichen auf einer rotirenden Trommel machte, welches nun den Zeitmoment der Handbewegung angab.\nWie man sieht, beruhen die beiden Wege, auf welchen die Astronomen ihre Zeitbestimmungen, und damit auch ihre Untersuchungen der pers\u00f6nlichen Gleichung ausf\u00fchrten, auf physiologisch sehr verschiedenen Vorg\u00e4ngen, wie auch jenen nicht entgangen ist.\nDie erste Beobachtungsweise f\u00fchrt zum physiologischen Studium der Frage: wie schnell k\u00f6nnen sich zwei Sinneseindr\u00fccke folgen, damit ihre zeitliche Lage noch richtig erkannt wird ? Dieses kleinste Zeitintervall nennen wir die \u201ekleinste Differenz\u201c.\nDie zweite Beobachtungsweise f\u00fchrt zu dem Studium der Frage : wie gross ist die Zeit, welche nothwendig vergehen muss, wenn auf einen Sinnesreiz hin eine beabsichtigte Bewegung ausgef\u00fchrt werden soll? Diese kleinste Zeit nennen wir \u201e Reactionszeit \u201c.\n1. Die klemste Differenz.\nGesichtssinn. Es kann zun\u00e4chst um die kleinste Differenz gefragt werden f\u00fcr den Fall, wo die beiden Reize dieselbe Netzhautstelle treffen. Es f\u00e4llt diese Frage zusammen mit den vielfach gemachten Untersuchungen \u00fcber die Dauer eines Lichteindruckes, und es wurde schon oben erw\u00e4hnt, dass und warum diese Untersuchungen in das Bereich der speciellen Sinnesphysiologie geh\u00f6ren. Hier sei nur erw\u00e4hnt, dass Versuche an rotirenden Scheiben, die in schwarze und weisse Sectoren von gleicher Gr\u00f6sse getheilt waren, ergaben, dass bei gew\u00f6hnlichem Tageslicht circa 24 Reize in der Secunde erfolgen m\u00fcssen, wenn die Scheibe gleichm\u00e4ssig grau erscheinen soll, d. h. wenn die kleinste Differenz \u00fcberschritten ist. Es w\u00fcrde auf diese Weise eine kleinste Differenz von V48 Sec. gefunden sein, wenn es sich nicht weiter herausgestellt h\u00e4tte, dass wenn die weissen Sectoren auch nicht gleich gross mit den schwarzen sind, jene 24 Reize immer noch die Gr\u00e4nze bilden l, bei welcher der Eindruck ein\n1 Es h\u00e4ngt dieses mit den Curven des An- und Abklingens einer Lichtempfindung zusammen, worauf hier nicht n\u00e4her eingegangen werden kann, f j]","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Kleinste Differenz des Gesichtssinnes.\n257\ncontinuirlicher wird. Da die Gr\u00f6sse der schwarzen Sectoren die kleinste Differenz repr\u00e4sentirt, so folgt hieraus, dass die kleinste Differenz f\u00fcr unseren Fall unendlich viele Gr\u00f6ssen haben kann. Andererseits ist die Anzahl der Reize, welche n\u00f6thig ist, um jenen Eindruck zu einem continuirlicken zu machen, abh\u00e4ngig von der Intensit\u00e4t des einwirkenden Lichtes, so dass also die kleinste Differenz zweier, dieselbe Netzhautstelle treffender Reize in doppeltem Sinne unendlich viele Werthe haben kann.\nAnders ist es, wenn die beiden Reize verschiedene Netzhautstellen treffen. Fixirt man eine Stelle, an welcher schnell hintereinander zwei elektrische Funken \u00fcberspringen, deren Bilder auf der Netzhaut 0,011 mm. von einander entfernt sind (in welchem Falle beide als im Netzhautcentrum befindlich betrachtet werden k\u00f6nnen), so erkennt man noch, welcher Funken fr\u00fcher \u00fcberspringt, wenn ihre Differenz 0,044 Sec. betr\u00e4gt.1\nH\u00f6chst auffallend ist es, dass, wenn die Orte der beiden elektrischen Funken Anfangs- und Endpunkte einer wirklichen oder scheinbaren Bewegung sind \u2014 so also, dass der Beobachter nicht zwei helle Punkte aufflackern sieht und entscheiden soll, welcher der erste war, sondern dass er eine Bewegung zwischen diesen Punkten sieht und entscheiden soll, welche Richtung dieselbe hatte, \u2014 die kleinste Differenz wesentlich kleiner, n\u00e4mlich 0,014 \u2014 0,015 ist. Es h\u00e4ngt dies offenbar mit der praktischen Bedeutung zusammen, welche das Erkennen von Bewegungen hat.2\nSowohl die kleinste Differenz f\u00fcr den Fall, in welchem keine Bewegung gesehen wird (0,044 Sec.) als auch jene f\u00fcr Bewegungserscheinungen (0,015 Sec.), sind innerhalb weiter Gr\u00e4nzen merklich unabh\u00e4ngig von der Lichtintensit\u00e4t und, wenn man sich nicht zu weit vom Netzhautcentrum entfernt, von dem gegenseitigen Abstand der beiden Reizstellen; ferner hat sich gezeigt, dass sie auch unabh\u00e4ngig ist von der Gr\u00f6sse der Netzhautbilder (nat\u00fcrlich auch innerhalb der durch die Verh\u00e4ltnisse gegebenen Gr\u00e4nzen).\nL\u00e4sst man beide Reize auf die Netzhautperipherie fallen, so erh\u00e4lt man als kleinste Differenz Zahlen, welche mit denen f\u00fcr das Centrum als gleichwerthig betrachtet werden k\u00f6nnen. F\u00fcr das Sehen von Bewegung an einer Netzhautstelle, welche 4,1 mm. nach aussen von der Fovea centralis lag, ergab sich 0,017 Sec. F\u00fcr das Er-\n1\tWo es nicht ausdr\u00fccklich anders gesagt ist, sind die hier anzuf\u00fchrenden Zahlen entnommen aus : Sigm. Exner, Experimentelle Untersuchung der einfachsten psychischen Processe. 3. Abh. Arch. f. d. ges. Physiol. XI.\n2\tVergl. Sigm. Exner , Das Sehen von Bewegungen und die Theorie des zusammengesetzten Auges. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LXXII. 1875.\nHandbuch, der Physiologie. Bd. II a.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258 Exner, Grosshirnrinde. AJlg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\nkennen der Zeitdifferenz an weiter von einander entfernten Reizstellen mit Ausschluss von Bewegungserscheinungen fand sich als kleinste Differenz 0,049 Sec.\nTrifft ein Reiz die Fovea centralis und der andere eine Stelle der Netzhautperipherie, welche 6 mm. \u00fcber dem Centrum liegt, so scheint die kleinste Differenz gr\u00f6sser zu sein, als in den bisher genannten F\u00e4llen, n\u00e4mlich 0,076 Sec.\nL\u00e4sst man einen Reiz auf das Centrum des rechten Auges, den anderen auf das des linken Auges wirken, w\u00e4hlt aber nicht vollkommen identische Stellen, so dass die \u00fcberspringenden Funken nebeneinander zu sein scheinen, so sieht man eine scheinbare Bewegung (wie unter \u00e4hnlichen Umst\u00e4nden monocul\u00e4r) und erh\u00e4lt ann\u00e4hernd dieselbe kleinste Differenz, die f\u00fcr die BewegUDgserscheinung in einem Auge gefunden wurde, n\u00e4mlich 0,017.\nGeh\u00f6rssinn. Von den eigentlichen Tonempfindungen m\u00fcssen wir aus schon angedeuteten Gr\u00fcnden absehen.\nUnter den Ger\u00e4uschempfindungen ist das zu den vorliegenden Versuchen geeignetste das Knistern, das ein elektrischer Funke hervorruft, oder das Ger\u00e4usch eines pl\u00f6tzlichen Stosses. Beobachtet man mit einem Ohr, so werden zwei elektrische Funken noch als zeitlich auseinanderfallend erkannt, wenn der eine 0,00205 Sec. fr\u00fcher \u00fcberspringt als der andere. Nicht mehr sicher erkennt man eine Differenz von 0,00198 Sec., so dass die Zahl 0,002 Sec. als kleinste Differenz angenommen werden kann. Bei Versuchen, in welchen ein Blechstreifen an ein SAVART\u2019sches Rad streifte, aus dem alle Z\u00e4hne mit Ausnahme von zwei nebeneinanderstehenden entfernt waren, ergab sich dieselbe Zahl.1\nLeitet man je einem Ohr ein kurz dauerndes Ger\u00e4usch zu, so erh\u00e4lt man eine ganz andere kleinste Differenz. Diese betr\u00e4gt bei gleichen Eindr\u00fccken f\u00fcr beide Ohren 0,064 Sec. Damit, dass das Unterscheidungsverm\u00f6gen eines Ohres so viel besser ist als das Unterscheidungsverm\u00f6gen f\u00fcr Eindr\u00fccke, von denen der eine das eine Ohr, der andere das andere Ohr trifft, h\u00e4ngt die Bemerkung E. H. Weber\u2019s2 zusammen, dass wir ganz wohl bestimmen k\u00f6nnen, ob zwei Taschenuhren gleichzeitig oder ungleichzeitig ticken, wenn wir beide vor dasselbe Ohr halten, diese Unterscheidung aber nicht mehr treffen, wenn wir vor jedes Ohr eine Uhr halten.\n1\tMach hat \u00e4hnliche Versuche angestellt, wie der letzt besprochene und kam zu einer kleinsten Differenz von 0,016 Sec. Unters \u00fcber d. Zeitsinn d. Ohres. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LI.\n2\tE. H. Weber, Tastsinn und Gemeingef\u00fchl. S. 13. Braunschweig 1851.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Kleinste Differenz des Geh\u00f6rsinnes und des Tastsinnes.\n259\nTastsinn. Die hier zu erw\u00e4hnenden Versuche sind meistens so angestellt, dass St\u00f6sse \u2014 etwa durch die Z\u00e4hne eines sich drehenden Zahnrades erzeugt \u2014, rasch hinter einander die Haut treffen, und der Beobachter beurtheilte, bei welchen Intervallen der Tasteindruck noch discontinuirlich erschien. Da man an fast jedem musikalischen Instrumente durch Anlegen der Hand an dasselbe erfahren kann, dass man die Vibrationen auch noch ziemlich hoher T\u00f6ne als Schwirren f\u00fchlt, so war zu erwarten, dass die Anzahl der Eindr\u00fccke, welche in einer Secunde erfolgen m\u00fcssen, damit eben eine continuir-liche Empfindung entstehe, eine bedeutende sein werde. Preyer1 2 steht wohl ganz vereinzelt mit der Behauptung, dass schon 27,6 bis 36,8 St\u00f6sse in der Secunde eine continuirliche Empfindung ergeben. Valentin 2 hatte schon fr\u00fcher diese Gr\u00e4nze bei 480 und 640 angegeben und v. Wittich3 fand dieselbe in der N\u00e4he von 1000.4\nDiese\u2018Versuche zeigen wohl, dass das Verm\u00f6gen des Centralorganes, gesonderte Tasteindr\u00fccke aufzunehmen, ein ausserordentliches ist, doch geben sie die obere Gr\u00e4nze dieses Verm\u00f6gens nicht an, da die wirklich gefundene Gr\u00e4nze mit gewisser Wahrscheinlichkeit \u2014 \u00e4hnlich wie bei Auge und Ohr \u2014 auf die Functionsweise des Endapparates bezogen werden muss. Es erhellt dies sogleich, wenn man bedenkt, dass, soll der Zustand der Nervenendigungen sich \u00e4ndern, die durch einen Stoss niedergedr\u00fcckte Haut merklich wieder aufschnellen muss, ehe der n\u00e4chste Stoss kommt.\nVersuche, bei welchen der Endapparat gar nicht im Spiele ist, k\u00f6nnen durch elektrische Reizung der Haut ausgef\u00fchrt werden. Da hat es sich gezeigt, dass unter gewissen Umst\u00e4nden schon 36 In-ductionsschl\u00e4ge in der Secunde eine continuirliche Empfindung erzeugen k\u00f6nnen, dass diese Empfindung aber bei Steigerung der Reizintensit\u00e4t wieder discontinuirlich wird. Auf der Stirnhaut wurden 60 Schl\u00e4ge noch als discontinuirlich empfunden. Auch diese Versuche mit elektrischer, sind wie jene mit mechanischer Reizung durchaus nicht maassgebend. In beiden F\u00e4llen spielen vielleicht Circula-tionsst\u00f6rungen eine Rolle, ferner ver\u00e4ndert sich der Charakter der Empfindung u. dgl. m.\nEine kleinste Differenz l\u00e4sst sich also in diesem Falle nicht\n1\tPreyer, Die Grenzen des Empfindungsverm\u00f6gens u. des W\u00fclens. Bonn 1868.\n2\tValentin, Arch. f. physiol. Heilkunde. 1852.\n3\tv. Wittich, Bemerkungen zu Preyer\u2019s Abh. \u00fcber die Grenzen des Empfindungsverm\u00f6gens und des Willens. Arch. f. d. ges. Physiol. II.\n4\tAuch Mach f\u00fchrt gelegentlich seiner Untersuchungen \u00fcber das zeitliche Unterscheidungsverm\u00f6gen des Ohres einen hierher geh\u00f6rigen Versuch an. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LI. 1865.'\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\nangeben, doch scheint sie, wie aus dem oben angef\u00fchrten Versuche hervorgeht, mit dem Wachsen der Reizintensit\u00e4t abzunehmen.\nIm Gebiete des Geruchs und Geschmackssinnes sind aus naheliegenden Gr\u00fcnden keine Versuche \u00fcber die kleinste Differenz angestellt worden.1\nWir haben bisher nur die kleinste Differenz zwischen denselben oder verschiedenen Nervenendigungen eines Sinnes besprochen. Wir gehen zu dem Falle \u00fcber, dass die zwei Reize verschiedene Sinnesorgane treffen.\nAuge undOhr. Blickt man einen \u00fcberspringenden elektrischen Funken an und ert\u00f6nt gleichzeitig mit diesem Ueberspringen des Funkens ein Glockenschlag, so ist die Gleichzeitigkeit dieser beiden Sinnesreize nicht leicht zu erkennen. Soll man ein Urtheil f\u00e4llen, so \u00fcberlegt man es sich, ob der eine oder der andere Reiz der erste war, und wenn man nicht weiss, wie sich die beiden Reize zeitlich verhalten, so wird man h\u00e4ufig urtheilen, dass sie gleichzeitig erfolgten, h\u00e4ufig aber auch, dass die Schallempfindung vorausging, am seltensten dass die Gesichtsempfindung die erste war.\nMacht man eine Reihe solcher Versuche, bei welchen ein Ge-h\u00fclfe nach Willk\u00fcr, und ohne dass der Experimentirende Kenntniss davon hat, die Intervalle zwischen den beiden Reizen \u00e4ndert, so findet man, dass im grossen Ganzen der Schall fr\u00fcher empfunden wird, als der elektrische Funken gesehen wird. Bei der Unsicherheit der Beurtheilung ist es nicht m\u00f6glich, genau die Zeit anzugeben, um welche ersterer Reiz sp\u00e4ter erfolgen muss, um mit letzterem gleichzeitig zu erscheinen, doch d\u00fcrfte dieselbe zwischen 0,04 und 0,06 Sec. liegen.\nUnter diesen Verh\u00e4ltnissen kann nat\u00fcrlich von einer Angabe der kleinsten Differenz, diesen Namen im obengebrauchten Sinne genommen, nicht mehr die Rede sein. Man m\u00fcsste zwei solche kleinste Differenzen unterscheiden. Die eine f\u00fcr den Fall, dass der Gesichtseindruck dem Geh\u00f6rseindruck vorangeht, wurde in einer Versuchsreihe 0,16 Sec. gefunden; die zweite f\u00fcr den Fall, dass der Gesichtseindruck dem Geh\u00f6rseindruck folgt, wurde 0,06 Sec. gefunden, wobei der Grad der Sicherheit, mit welcher das Urtheil gef\u00e4llt wurde, durch ein willk\u00fcrliches Maass bestimmt ward.\nEs ist klar, dass derartige Versuche auf unsere Frage nur dann\n'1 Erw\u00e4hnt mag werden, dass eine Untersuchung Schirmer\u2019s sich damit besch\u00e4ftigt , zu constatiren, welche Substanz fr\u00fcher geschmeckt wird, wenn Gemenge von zwei schmeckenden Substanzen auf die Zunge gebracht werden. Dissertation Gryphiae 1856 und Deutsche Klinik 1859.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Kleinste Differenz zwischen Eindr\u00fccken verschiedener Sinnesorgane. 261\neine correcte Antwort geben, wenn der Experimentirende nicht weiss, ob fr\u00fcher von ihm gef\u00e4llte Urtheile richtig waren oder nicht. W\u00fcrde er dieses von einem Urtheil erfahren, so fiele sein n\u00e4chstes schon corrigirt aus, er w\u00fcrde unbewusst z. B. vorsichtiger sein mit dem Urtheil, dass der Glockenschlag fr\u00fcher war, als der Funken u. dgl. m.\nWesentlich anders gestalten sich die Dinge, wenn der Moment des einen Reizes vorauszusehen ist, wie dies bei den astronomischen Messungen der Fall ist. Hier wird das Verschwinden des Sternes hinter dem Faden als optischer Reiz betrachtet, und den Moment desselben konnte der Beobachter mit der Ann\u00e4herung des Sternes heranr\u00fccken sehen. Aehnlich ist es bei Versuchen, die Wuxdt 1 angestellt hat.\nTastsinn und Geh\u00f6rssinn. Modificirt man den eben besprochenen- Versuch, bei welchem ein Funken sichtbar und ein Glockenschlag h\u00f6rbar war, so, dass der elektrische Schlag durch die Finger einer Hand geht, und stellt sich die Aufgabe, w\u00e4hrend wieder ein Gehitlfe das Intervall ver\u00e4ndert, zu beurtheilen, ob der Tasteindruck oder der Geh\u00f6rseindruck der erste war, so bemerkt man zun\u00e4chst, dass das Urtheil mit gr\u00f6sserer Sicherheit abgegeben werden kann. Beim Studium derartiger Versuchsreihen stellt sich weiter heraus, dass eine Verz\u00f6gerung der einen Empfindung gegen die andere, wie eine solche der Gesichtseindruck gegen den Geh\u00f6rseindruck erleidet, nicht merklich ist. Diese Verz\u00f6gerung des Gesichtseindruckes ist hingegen wieder sehr deutlich, wenn man\nTastsinn und Gesichtssinn miteinander vergleicht. Auch hier sind die Urtheilsfehler viel geringer wie bei Auge und Ohr, doch wird, wenn beide Reize gleichzeitig wirken, geurtheilt, dass der Gesichtseindruck sp\u00e4ter erfolgt. Die Verz\u00f6gerung desselben betr\u00e4gt circa 0,01 Sec. Auch hier muss man demnach von einer doppelten kleinsten Differenz sprechen, welche wieder nach einem willk\u00fcrlichen Maass der Sicherheit des Urtheils gemessen, betr\u00e4gt : wenn der Tastreiz vorausgeht, circa 0,05, wenn derselbe nachfolgt, circa 0,07 Sec\nIm Folgenden sind die kleinsten Differenzen f\u00fcr die verschiedensten Reizarten zusammengestellt, freilich k\u00f6nnen die Zahlen nur als ann\u00e4hernd richtig bezeichnet werden.\nEs muss hier hervorgehoben werden, dass die psychischen Vorg\u00e4nge bei jenen Versuchen, in denen dieselben Nervenendigungen zweimal durch gleiche Reize erregt werden, wie bei intermittirenden Licht- oder Schalleindr\u00fccken m\u00f6glicherweise nicht unwesentlich ver-\n1 Wundt, Neuere Leistungen auf dem Gebiete der physiologischen Psychologie. Yierteljschrft. f. Psychiatrie I. 1867.","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Verh. psych. Impulse.\nschieden sind yon jenen, welche hei den Versuchen an verschiedenen Sinnesorganen statt haben. Im ersteren Falle hat n\u00e4mlich der Beobachter nur zu beurtheilen, ob die beiden Eindr\u00fccke eine continuir-liche oder eine discontinuirliche Empfindung liefern, es liegt aber ganz ausser aller M\u00f6glichkeit, zu beurtheilen, welcher Reiz der erste war. Anders beim zweiten Falle. Trifft ein Reiz das Auge und nahezu gleichzeitig ein anderer das Ohr, so f\u00e4llt hier der Anhaltspunkt, den das Urtkeil in der Continuit\u00e4t der Empfindung hatte, ganz fort, und es ist nur dadurch zu erfahren, ob die beiden Reize gleichzeitig oder ungleichzeitig empfunden werden, dass der Beobachter ein Urtheil dar\u00fcber f\u00e4llt, welcher Reiz der erste war.\nkleinste\nDifferenz.\nZwischen zwei Ger\u00e4uschempfindungen (elektrische Funken)............ 0,002 Sec.\n\u201e Lichtempfindungen an derselben Netzhautstelle, hervorgerufen durch directe elektrische Reizung .\t. kleiner als 0,017\t\u201e\n\u201e\t\u201e Tastempfindungen, hervorgerufen durch St\u00f6sse an den\nFinger (Mach *)........................................ 0,0277\t\u201e\n\u201e\t\u201e Lichtempfindungen in der Fovea centralis, hervorgerufen\ndurch optische Bilder...............................     0,044\t\u201e\n\u201e\t\u201e Lichtempfindungen auf der Netzhautperipherie, hervorgerufen durch optische Bilder...................._... 0,049 \u201e\n\u201e\tGesichtsempfindung\tund\tTastempfindung (Gesichtsempfindung\nnachfolgend).......................... .\t\u2022\t.............0,05\t\u201e\n\u201e\tGesichtsempfindung\tund\tGeh\u00f6rsempfindung (Gesichtsempfindg.\nnachfolgend)........................ .................... \u2022\t0,06\t\u201e\n\u201e zwei Ger\u00e4uschempfindungen, deren jede einem Ohr angeh\u00f6rt .\t0,064 \u201e\n\u201e\tGesichtsempfindung\tund\tTastempfindung (Gesichtsempfindung\nvorausgehend)........................\u2022\t\u2022\u2022\u2022\u2022\u2022\u2022\t0,071\t\u201e\n\u201e zwei Lichtempfindungen, deren eine der Peripherie, die andere\ndem Centrum der Netzhaut angeh\u00f6rt\t.\t.\t.\t............. 0,076\t\u201e\n\u201e\tGesichtsempfindung\tund\tGeh\u00f6rsempfindung (Gesichtsempfindg.\nvorausgehend).................................................0,16\t\u201e\n2. Die Re actions zeit.-\nEs ist nach dem, was das Studium der kleinsten Differenz gezeigt hat, zu erwarten, dass auch die Reaetionszeiten verschieden ausfallen werden, wenn die Sinnesreize, auf welche die beabsichtigte Bewegung in m\u00f6glichst kurzer Zeit ausgef\u00fchrt werden soll, variirt werden.\nDer erste, der einen Versuch \u00fcber Reactionszeit anstellte, war der Entdecker der pers\u00f6nlichen Gleichung, Bessel. Er beabsichtigte zun\u00e4chst nur die Differenzen bei verschiedenen Individuen festzustellen. Eine Reihe von Autoren hat an eigens hierzu construirten Apparaten die Versuche in verschiedenen Modificationen wiederholt, um die Einfl\u00fcsse, welche Uebung und andere Umst\u00e4nde auf jene\n1\tMach, Sitzgsber. d. Wiener Acad. LI. 1S65.\n2\tAuch \u201ephysiologische\u201c Zeit genannt. Da man mit diesem Ausdrucke nicht immer genau denselben Begriff verbunden hat, ziehe ich, um Missverst\u00e4ndnisse zu vermeiden, den oben angef\u00fchrten vor.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Die Reactionszeit von Hand zu Hand.\n263\nDifferenzen aus\u00fcben, zu studiren. Sp\u00e4ter bat Helmholtz 1 die Re-actionszeiten f\u00fcr Reizung verschiedener Hautstellen gemessen, um aus ihnen die Leitungsgeschwindigkeit in den sensiblen Nervenbahnen zu bestimmen. Zu demselben Zwecke wurde noch eine grosse Anzahl von derartigen Messungen theils von Physiologen, theils von dem Astronomen Hirsch ausgef\u00fchrt, deren Resultate im Folgenden mitgetheilt werden sollen.1 2\nAuch hier kann es sich bei Zahlenangaben \u00fcber die Reactionszeit nur um n\u00e4herungsweise richtige Werthe handeln. Denn selbst bei dem ernstesten Bestreben, seine Aufmerksamkeit einzig dem Versuche zuzuwenden, um so rasch als m\u00f6glich auf den erwarteten Sinnesreiz die Bewegung auszuf\u00fchren, fallen doch die Resultate nicht gleich aus.\nWir wollen hier zun\u00e4chst die Versuche ins Auge fassen, in welchen auf verschiedene Sinnesreize immer mit derselben Bewegung, n\u00e4mlich mit Fingerdruck reagirt wurde.\nAls ersten Sinnesreiz w\u00e4hlen wir die elektrische Erregung der freien Hand, d. i. der Hand, welche nicht reagiren soll.\nIm Folgenden ist eine Zusammenstellung der von verschiedenen Autoren f\u00fcr diese \u201eReactionszeit von Hand zu Hand\u201c, wie wir sie nennen wollen, gefundenen Werthe gegeben. Jede Zahl stellt nat\u00fcrlich einen unter entsprechenden Vorsichtsmaassregeln gewonnenen Mittelwerth aus gr\u00f6sseren Versuchsreihen dar.\nReactionszeit von Hand zu Hand.\nNach Helmholtz.................f 0,12776\n1 0,12495\n\u201e\tHirsch.................../ 0,1733\n1 0,1911\n\u201e Kohlrausch................. 0,1697 3\n-\tV. WITT.CH...............{2;18\n\u201d\tEXNER....................{o!l283\n\u201e\tV. Yintschga\u00fc............{\n\u201e\tv. Kries und\tAuerbach . . {o\u2019 1464\n776 Sec.\n1\tHelmholtz , Versuche von N. Baxt \u00fcber die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Reizung in den motorischen Nerven des Menschen. Monatsber. d. Berliner Acad 1S67. S. 229 Anm.\n2\tAuch in diesem Abschnitte sind alle Zahlen, bei welchen der Autor nicht ausdr\u00fccklich angegeben ist, entnommen aus der Abhandlung : Sigl. Exner, Experimen. Unters d. einfachsten psychischen Processe. 1. Abh. Die pers\u00f6nliche Gleichung. Arch, f. d. ges. Physiol. VII.\n3\tDiese Zahl ist nach einer von Kohlrausch gegebenen Tabelle f\u00fcr dessen Beobachter A berechnet.\n4\tDie Doppelzahlen bedeuten Werthe, welche in verschiedenen Versuchsreihen gefunden wurden.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\nEs w\u00fcrde zu weit f\u00fchren, sollten hier alle einzelnen Versuchsanordnungen und Resultate, welche in den Arbeiten von Hirsch1, Kohlrausch2, Schelske3, Hankel4, y. Wittich5, Mendenhall6, y. Vintschgau und H\u00f6nigschmied 7 8, Sigm. Exner s und Burckhardt9, sowie in jenen sp\u00e4ter zu bezeichnenden Arbeiten, deren directes Ziel zwar die Messungen der Vorstellungs- und Urtheilszeit ist, die aber doch hierher geh\u00f6rige Angaben enthalten, angef\u00fchrt und besprochen werden.\nDie obige Tabelle zeigt, wie gross die Verschiedenheiten der Reactionszeiten bei verschiedenen Individuen sind. Wenn wir uns also jetzt die Frage vorlegen, wie die Reactionszeiten variiren, wenn man den Reiz, auf welchen immer dieselbe Bewegung ausgef\u00fchrt werden soll, \u00e4ndert, so kann die Beantwortung derselben nur von Interesse sein, wenn sich alle Versuche auf ein Individuum beziehen.\nIm Folgenden ist eine solche Tabelle gegeben, welche sich wieder auf die Handbewegung als Reaction bezieht, und zwar wurde mit der rechten Hand reagirt.\nReizungsstelle und Art\tReactions- zeiten\nLichtempfindung, hervorgerufen durch directe elektrische Reizung der Netzhaut\t Elektrischer Schlag in die linke Hand\tj Pl\u00f6tzliche Schallempfindung\t Elektrischer Schlag in die Stirnhaut\t \u201e\t\u201e\t\u201e \u201e reckte Hand\t \u201e\tFunke in gew\u00f6hnlicher Weise gesehen\t \u201e\tSchlag in die Zehen des linken Fusses\t\tSec. 0,1139 0,1276 0,1283 0,1360 0,1374 0,1390 0,1506 0,1749\nDie Tabelle giebt die Reactionszeiten in wachsender Ordnung. Hiernach geh\u00f6rt die erste Stelle der elektrischen Netzhautreizung. Es muss hierbei hervorgehoben werden, dass nicht sicher zu con-\n1\tHirsch , Molesch. Unters. IX. und Bull, de la soci\u00e9t\u00e9 des sciences naturelles de Neuch\u00e2tel. VI. 1862 ; ferner: Biblioth\u00e8que universelle de Gen\u00e8ve. Arch. d. sciences phys. XVIII. 1862.\n2\tKohlrausch, Ztschr. f. rat. Med. XXVIII.\n3\tSchelske, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1864.\n4\tHankel, Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss. 1866 ; dasselbe in Ann. d. Physik. CXXXII.\n5\tV. Wittich, Ztschr. f. rat. Med. XXXI. 1868; ferner : Arch. f. d. ges. Physiol. II. 1869.\n6\tMendenhall, Americ. journ. of scienc. and arts. II. 1871.\n7\tv. Vintschgau u. H\u00f6nigschmied, Arch. f. d. ges. Physiol. X u. XH.\n8\tSigm. Exner, ebendas. VII.\n9\tBurckhardt, Die physiol. Diagnostik der Nervenkrankheiten. Leipzig 1875.","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Reactionszeiten.\n265\nstatiren ist, ob bei diesem Versuche wirklich die Netzhaut, oder ob der Nervus opticus, vielleicht auch noch centraler gelegene Antheile des Opticusapparates gereizt wurden. Jedenfalls ist das Resultat wesentlich abh\u00e4ngig davon, ob der Sehnervenapparat auf elektrischem Wege direct gereizt wird, oder ob dieses auf dem normalen Wege durch Lichtwirkung geschieht. Obwohl die Lichtempfinduug, welche der Anblick des elektrischen Funkens hervorruft, eine viel intensivere ist, als die bei directer elektrischer Reizung, so ist doch die Reactionszeit f\u00fcr den letzteren Fall bedeutend k\u00fcrzer als f\u00fcr den ersten.\nEs stimmt dies mit den \u00e4lteren Messungen v. Wittich\u2019s \u00fcberein, welcher auch die Reactionszeit von Auge zur Hand bei elektrischer Reizung kleiner (0,162 See.) fand, als bei Reizung durch das Netzhautbild eines elektrischen Funkens1 (0,186 Sec.). Bedenkt man, dass die Zeit, welche n\u00f6thig ist, damit ein Netzhautbild eine eben merkliche Empfindung hervorbringt 2 3 4, von einer Reihe verschiedener Umst\u00e4nde abh\u00e4ngig ist, so wird man sich nicht dar\u00fcber wundern, dass die Reactionszeit f\u00fcr gew\u00f6hnliche optische Reize sehr verschieden ausfallen kann. In der That wird sie von verschiedenen Autoren ziemlich ungleich angegeben. Auch ein Resultat Hankel\u2019s 3 erscheint unter dem obigen Gesichtspunkt nicht mehr ganz r\u00e4thselhaft. Dieser fand n\u00e4mlich die Reactionszeit gr\u00f6sser, wenn als Reiz das Netzhautbild eines elektrischen Funkens diente, als wenn das Netzhautbild eines St\u00fcckes hellen Himmels verwendet wurde (im ersten Falle 0,2268 und 0,2447, im zweiten Falle 0,2057). Es d\u00fcrfte hier n\u00e4mlich die Gr\u00f6sse des Netzhautbildes eine Rolle spielen. Hingegen fand Mendenhall 4 dieses Verh\u00e4ltniss umgekehrt (f\u00fcr den elektrischen Funken 0,203, f\u00fcr den Anblick einer weissen Karte 0,292 Sec.).\nWesentlich anders gestaltete sich der Versuch, wenn nicht, wie in allen diesen F\u00e4llen, ein pl\u00f6tzlich auftretender optischer Eindruck als Reizzeichen dient, sondern wenn, wie dies bei jenen astronomischen Messungen der Fall ist, ein vorauszusehendes Ereigniss als Reiz ben\u00fctzt wird. Hier werden die Resultate von complicirten psychischen Actionen mit beeinflusst werden. Hirsch5 hatte z. B. f\u00fcr\n1\tv. Wittich, Ztsehr. f. rat. Med. XXXI.\n2\tSigm.Exner, Ueber d. zu einer Gesichtswahrnehmung n\u00f6thigeZeit. Sitzgsber. d. Wiener Acad. LVIII. 1868.\n3\tHankel, Ann. d. Physik. CXXXII und dasselbe in Ber. d. s\u00e4chs. Ges. d. Wiss.\n1866.\n4\tMendenhall, Time required to communicate impressions to the sensorium and the reverse. Americ. journ. of scienc. II. 1871.\n5\tHirsch, Exp\u00e9riences chronoscopiques. Bull, de la soci\u00e9t\u00e9 des sciences naturelles de Neuch\u00e2tel. VI. 1862.","page":265},{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"266 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\ndie Beobachtung des elektrischen Funkens eine Reactionszeit von 0,1974 und 0,2038 gefunden, w\u00e4hrend er die minimale Zeit 0,0769 Sec. fand, wenn als optisches Zeichen das Zusammentreffen des umlaufenden Zeigers seines Chronoskopes mit der Verticalen angenommen war. Hier hat man es, wie leicht einzusehen, nicht mehr mit dem zu thun, was wir Reactionszeit nannten, da unter diesen Verh\u00e4ltnissen ein Vorschl\u00e4gen, d. i. das Abgeben des motorischen Impulses m\u00f6glich ist, noch ehe der sensible im Sensorium angekommen ist.\nAuffallend kann weiter der Umstand gefunden werden, dass die Reactionszeit f\u00fcr eine pl\u00f6tzliche Schallempfindung gr\u00f6sser ist, als die f\u00fcr elektrische Reizung der Finger. Auch hierin stimmt die vorliegende Tabelle mit fr\u00fcheren Versuchen v. Wittich\u2019s (1. c.) (der als Reactionszeit von Hand zu Hand die Werthe 0,153 und 0,166 fand; f\u00fcr Ohr zu Hand aber 0,179 Sec.). Auch aus anderweitigen Versuchen geht dasselbe Resultat hervor.1\nWas die Hautreize anbelangt, so ist zun\u00e4chst hervorzuheben, dass die Reactionszeit bei Reizung der Hand k\u00fcrzer ausf\u00e4llt, als bei Reizung der Stirnhaut, obwohl letztere dem Centralorgan n\u00e4her liegt als erstere, ferner dass sie nicht unbedeutend anders ausf\u00e4lit, je nachdem die Hand, mit welcher reagirt werden soll, das Signal erh\u00e4lt oder die unbesch\u00e4ftigte Hand. Zu dem ersten Resultate sind fr\u00fchere Autoren nicht gekommen.2 Doch ist diesen gegentheiligen Ansichten gegen\u00fcber hervorzuheben, dass gerade dieser Versuch eine besondere Vorsicht erheischt, indem hierbei leicht Reizung des Opticusapparates eintritt und es sehr schwer ist zu entscheiden, ob nicht auf diesen optischen Reiz, wenn er auch kaum merklich ist, reagirt wird. (v. Vintschgau und H\u00f6nigschmied f\u00fchren ein \u00e4hnliches Resultat f\u00fcr Zungenreizung an. Elektrische Reizung der Zunge wird unter gewissen Verh\u00e4ltnissen sp\u00e4ter signalisirt, als ebensolche Reizung der Hand.) Das zweite Resultat ist unabh\u00e4ngig von der Uebung und der Gewohnheit, wie specielle Versuche lehrten.3 Jedenfalls geht hieraus hervor, dass Messungen der Nervenleitungsgeschwindigkeit durch Reizung verschiedener Hautpartieen schon aus diesem Grunde mit Vorsicht aufzunehmen sind. Es werden sp\u00e4ter noch andere Gr\u00fcnde erw\u00e4hnt werden.\nv. Wittich fand f\u00fcr die Reizung der Stirnhaut 0,1301 Sec., Hirsch f\u00fcr die des Gesichts 0,111. Bei Ber\u00fchrung desselben statt elektrischer\n1\tYergl. die von verschiedenen Personen herr\u00fchrenden Yersuchstab eilen bei Sigm. Exner , Arch. f. d. ges. Physiol. YII ; Hankel (1. c.) kam zu dem entgegengesetzten Resultate.\n2\tIn neuester Zeit wurde dasselbe best\u00e4tigt.\n3\tSigm. Exner 1. c. S. 622.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Abh\u00e4ngigkeit der Reactionszeit von der Individualit\u00e4t.\n267\nReizung fand Mendenhall 0,107, bei Ber\u00fchrung der Hand v. Wittich 0/236, v. Vintshgau und H\u00f6nigschmied zwischen 0,1299 und 0,1790 Sec., ebenso fand v. Wittich bei Reizung des Fusses 0,256 Sec. Hankel giebt f\u00fcr die Ber\u00fchrung der Hand nur 0,1546 Sec. an. Schelske reizte elektrisch die Leistengegend und fand 0,17 8 Sec., w\u00e4hrend er unter denselben Umst\u00e4nden f\u00fcr den Fuss 0,208 gefunden hatte. Ich fand f\u00fcr den letzten Werth 0,1749. v. Vintschgau und H\u00f6nigschmied1 2 3 massen die Reactionszeit f\u00fcr Ber\u00fchrung der Zunge und fanden sie bei verschiedenen Individuen zwischen 0,1742 und 0,1211. Endlich ist noch hervorzuheben, dass v. Wittich 2 sowie v. Vintschgau und H\u00f6nigschmied 3 auch f\u00fcr Geschmacksempfindungen die Reactionszeiten zu bestimmen unternahmen.\nIn allen hier angef\u00fchrten Versuchen wurde die reagirende Bewegung mit der Hand ausgef\u00fchrt. Es liegen auch Versuche vor, in welchen mit dem Unterkiefer, andere, in welchem mit dem Fusse reagirt wurde. In beiden F\u00e4llen diente der Anblick eines elektrischen Funkens als Reiz. Es fand sich als Reactionszeit von Auge zu Unterkiefer 0,1377 und von Auge zu Fuss 0,1840 Sec. Hierher geh\u00f6ren auch Versuche von Donders4, der mit H\u00fclfe des Phonautographen mass, welche Zeit vergeht zwischen dem Ert\u00f6nen eines bekannten Vocales und der vorher verabredeten m\u00f6glichst raschen Wiederholung dieses Vocales von Seite eines Anderen. Er fand, dass dieselbe im Mittel 0,201 Sec. betrage.\nNachdem wir die Angaben \u00fcber die absoluten Gr\u00f6ssen der Reactionszeiten der Hauptsache nach kennen gelernt haben, fragen wir nach den Umst\u00e4nden, von welchen die Gr\u00f6sse der Reactionszeit abh\u00e4ngig ist, und zwar der Reactionszeit f\u00fcr einen bestimmten Fall von Sinnesreiz und Bewegung. Dabei mag vorl\u00e4ufig von der Aufmerksamkeit abgesehen sein, d. h. die zu besprechenden Einfl\u00fcsse haben sich aus Versuchen ergeben, in denen der Experimentator stets in gleicher Weise bestrebt war, so rasch als m\u00f6glich auf den Sinnesreiz zu reagiren.\nHier ist in erster Reihe die Individualit\u00e4t zu nennen. Verschiedene Menschen haben, wie aus der Thatsache der Pers\u00f6nlichen Gleichung hervorgeht, verschiedene Reactionszeiten und es handelt sich nun darum, zu untersuchen, ob sich Beziehungen zwischen den Eigenschaften des Individuums und seiner Reactionszeit ermitteln lassen. Nat\u00fcrlich sind bei einer derartigen Untersuchung zun\u00e4chst Gegens\u00e4tze auf ihre Reactionszeit zu pr\u00fcfen. Ein 23 Jahre alter, sehr lebhafter\n1\tv. Vintschgau und H\u00f6nigschmied, Versuche \u00fcber die Reactionszeit einer Geschmacksempfindung. 2. Theil. Arch. f. d. ges. Physiol. XII. 1876.\n2\tv. Wittich, Ztschr. f. rat. Med. XXXI.\n3\tv. Vintschgau und H\u00f6nigschmied, Arch. f. d. ges. Physiol. X. XII. XIV.\n4\tBonders, Schnelligkeit psychischer Processe. Arch. f.Anat.u. Physiol. 1868.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\netwas hastiger, mit Begeisterung an die Sache gehender junger Mann wurde zun\u00e4chst mit einem 77 j\u00e4hrigen Greis aus dem Versorgungshause verglichen. Es ward die Reactionszeit von Hand (elektrische Reizung) zu Hand als Norm genommen. Wie zu erwarten war, fiel die Reactionszeit f\u00fcr den jungen Mann viel k\u00fcrzer aus: 0,3311 Sec. w\u00e4hrend sie beim alten Mann 0,9952 Sec. betrug. Auffallender war es schon, dass ein anderes Individuum von 26 Jahren, welches viel weniger lebhaft war, als jener junge Mann eine viel geringere Reactionszeit wie dieser aufwies, n\u00e4mlich 0,1337 Sec. Ja es hatte der erstgenannte junge Mann, obwohl er der lebhafteste von einer ganzen Reihe junger Leute war, die bei weitem gr\u00f6sste Reactionszeit. Andererseits wurden zwei Individuen nur deshalb gebeten, die Versuche zu machen, weil sie die stillsten \u2014 im gew\u00f6hnlichen Leben phlegmatisch genannten \u2014 \u00fcberlegtesten und in den Bewegungen langsamsten waren, welche unter den disponiblen jungen Leuten \u00fcberhaupt zu finden waren. Von diesen hatte einer eine mittelgrosse, der andere eine ganz auffallend kleine Reactionszeit (0,1295 Sec.). Individuen von weniger auffallenden Eigenth\u00fcmlichkeiten hatten eine Reactionszeit, welche zwischen den beiden Extremen, von denen eben die Rede war, in der Mitte lag. Jene, welche f\u00fcr die genannte Reizungsart eine grosse, jene, welche eine kleine Reactionszeit haben, zeigen dieselbe Eigenthiimlichkeit, wenn andere Reizungsarten angewendet werden. Es wurden an derselben Reihe von Menschen Versuche \u00fcber kleinste Differenz zwischen Auge und Ohr angestellt1, wobei sich gezeigt hat, dass die, welche eine kleine Reactionszeit haben, auch die Zeitunterschiede von Sinnesreizen am genauesten be-urtheilen. Aus beiden Arten von Versuchsreihen schien hervorzugehen, dass diejenigen Individuen das Minimum der Reactionszeit und der kleinsten Differenz erreichen, welche am meisten gew\u00f6hnt sind, ihre Aufmerksamkeit auf einen Gegenstand zu concentriren, und nur ruhige, entschiedene und bewusste Bewegungen auszuf\u00fchren. Individuen, welche gewohnt sind, ungehemmt ihre Vorstellungen ablaufen zu lassen, haben relativ grosse Reactionszeiten. Nat\u00fcrlich sind \u00fcber diesen Punkt noch weitere Messungen n\u00f6thig, da das genannte Resultat nur aus wenigen Versuchsreihen erschlossen ist, vorl\u00e4ufig also mit Reserve aufgenommen werden muss.\nEin weiterer Umstand, von dem c. p. die Reactionszeit abh\u00e4ngig ist, ist die Uebung. Jedermann zeigt bei den ersten diesbez\u00fcglichen\n1 Sigm. Exner, Experim. Unters, d. einfachsten psychischen Processe. Arch. f. d. ges. Physiol. XI.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Abh\u00e4ngigkeit der Reactionszeit von Uebung, Erm\u00fcdung etc.\n269\nVersuchen eine l\u00e4ngere Reactionszeit, als bei den sp\u00e4teren, so dass die Behauptung des Astronomen Wolf gerechtfertigt erscheint, man k\u00f6nne durch Uebung an einem Apparate seinen pers\u00f6nlichen Fehler (seine Versuche sind nicht ganz identisch mit den in Rede stehenden) auf ein gewisses Minimum reduciren. Unter eine gewisse Gr\u00e4nze kann nat\u00fcrlich die Reactionszeit auch durch Uebung nicht gebracht werden. Am auffallendsten war der Erfolg der Uebung bei jenem oben erw\u00e4hnten Greise. Wie gesagt war seine Reactionszeit 0,9952 Sec. Diese Zahl bezieht sich auf die ersten Versuchsreihen, die an ihm angestellt wurden (musste also oben, wo es sich um den Vergleich mit den ersten Versuchen anderer Individuen handelte, angef\u00fchrt werden). Im Laufe von mehr als einem halben Jahre wurde dieser Mann zu Reactionsversuchen verwendet und die folgende Tabelle zeigt, wie sehr seine Reactionszeit durch die Uebung abgenommen hat.\nDatum\tReactionszeit von Hand zu Hand\n21. Juni 1872 .... 1. Juli 1872 .... 9. Januar 1873 .\t. .\t0,9952 Sec. 0,3576 \u201e 0,1866 \u201e\nEinen der Uebung entgegengesetzten Einfluss auf die Reactionszeit hat die Erm\u00fcdung. Die Versuche sind anstrengend und in Folge davon ist zu beobachten, dass, wenn dieselben \u00fcber eine gewisse Zeit fortgesetzt werden, die Reactionszeiten wachsen.\nWeiter ist die Gr\u00f6sse der Reactionszeit abh\u00e4ngig von der Intensit\u00e4t des Reizes. Erstere nimmt ab mit Zunahme der letzteren. Aber nicht nur die Reactionszeit, sondern auch die Sicherheit, mit welcher reagirt wird, ist abh\u00e4ngig von der Reizintensit\u00e4t und diese nimmt mit letzterer zu. Da von den Schwankungen der Werthe in den einzelnen Versuchen noch nicht die Rede war, so m\u00f6ge hier eine Tabelle folgen, aus welcher die Abnahme der Reactionszeit und des mittleren Fehlers bei steigendem Reize ersichtlich ist.1 Reagirt wurde mit der Hand, als Reiz diente der Anblick eines elektrischen Funkens ; die beiden Kn\u00f6pfe, zwischen welchen er \u00fcbersprang, wurden gegeneinander verschoben und dadurch die Gr\u00f6sse des Funkens ver\u00e4ndert.\n1 Jede der angegebenen Reactionszeiten ist ein Mittel aus mehreren Einzelresultaten und der mittlere Fehler gibt das Mittel der Differenzen an, welche zwischen den Einzelresultaten und ihrem Mittel herrschen, wobei diese Differenzen nat\u00fcrlich s\u00e4mmtlich positiv genommen sind.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse\u00bb\nFunken- l\u00e4nge\tReactionszeit\t| Mittlerer Fehler\n0,5 mm.\t0,1581 Sec.\t0,0125\n1\t0,1502\t\u201e\t1 0,0122\n2\t0,1479 \u201e\t,\t0,0084\n3\t0,1483\t\u201e\t0,0056\n5\t\u00bb\t0,1384 \u201e\t0,0097\n7\t0,1229 \u201e\t0,0004\nAuch v. Wittich 1 war bei Versuchen mit elektrischer Reizuug der Haut zu demselben Resultate gekommen, und weist, gewiss mit vollem Rechte, darauf hin, wie sehr durch diese Thatsache die Messungen der Nervenleitungsgeschwindigkeit erschwert werden, welche auf Reactionsversuchen beruhen. Kries und Auerbach1 2 kamen in Bezug auf die Abh\u00e4ngigkeit der Reactionszeit von der Reizintensit\u00e4t auch zur gleichen Anschauung, ebenso v. Vintschgau und H\u00f6nig-schmied 3, welche \u00fcberdies die Aufmerksamkeit darauf lenken, dass bei gleichem elektrischen Reize die Reactionszeit kleiner ist, wenn zwei Finger von demselben getroffen werden, als wenn nur einer getroffen wird. Es w\u00fcrde dies darauf hindeuten, dass (analog dem oben erw\u00e4hnten Falle mit dem optischen Eindr\u00fccke) mit wachsender Zahl der erregten Nervenenden die Reactionszeit abnimmt.4\nAus Untersuchungen, welche v. Vintschgau in Gemeinschaft mit Dietl5 angestellt hat, geht hervor, dass die Reactionszeit an kalten Wintertagen um mehrere Hunderttheile einer Secunde kleiner ist als an heissen Sommertagen. Auch haben diese beiden Beobachter gefunden, dass nach einem deprimirenden psychischen Affect (eine traurige Nachricht) die Reactionszeit 1-2 Tage lang verl\u00e4ngert ist (um 0,011 \u2014 0,027 Sec.). Hingegen glauben dieselben angeben zu k\u00f6nnen, dass die Reactionszeit kurz nach geistiger oder k\u00f6rperlicher Arbeit verkleinert ist.\nEndlich ist hervorzuheben, dass Versuche dar\u00fcber vorliegen, ob durch Intoxication die Reactionszeit beeinflusst werde. Zwei\n1\tv. Wittich, Ztschr. f. rat. Med. XXXI. S. 102.\n2\tKries u. Auerbach, Arch. f. Anat. u. Physiol. Physiol. Abthlg. 1877.\n3\tv. Vintschgau u. H\u00f6nigschmied, Arch. f. d. ges. Physiol. XII.\n4\tDurch die bedeutende Aenderung des elektrischen Widerstandes, welche dadurch gesetzt wird, dass statt eines Fingers zwei den Kreis schliessen, ist der Versuch vorl\u00e4ufig nicht ganz durchsichtig. Doch ist das Resultat, wie aus anderweitigen Versuchen hervorgeht, wohl als richtig anzunehmen.\n5\tv. Vintschgau u. Dietl, Verhalten der physiol. Reactionszeit unter d. Einfluss von Morphium, Caffee und Wein. Arch. f. d. ges. Physiol. XVI.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Abh\u00e4ngigkeit der Reaktionszeit von Intoxicationen etc.\n271\nFlaschen Rheinweines bewirkten, dass die Reaetionszeit (von Auge zu Hand) von 0,1904 Sec. auf 0,2969 Sec. steigen kann. Dabei hat der Experimentirende das Gef\u00fchl schneller zu reagiren als gew\u00f6hnlich. Sein mittlerer Fehler steigt von 0,0127 auf 0,0294 Secunden. Seine Reactionsbewegungen sind, ohne dass er es weiss, sehr heftig, v. Vintschgau und Dietl1 fanden, indem sie diesen Versuch mehrfach wiederholten, dass bei Genuss einer geringeren Quantit\u00e4t oder bei langsamerem Trinken die Reaetionszeit f\u00fcr eine gewisse Dauer abnimmt.\nNach Kaffeegenuss nimmt die Reaetionszeit ebenfalls ab. Diese Abnahme beginnt circa 20\u201425 Minuten nach der Einnahme und war noch nach 2 Stunden zu beobachten. Subeutane Morphiuminjectionen verl\u00e4ngern im Laufe der ersten 30\u201440 Minuten die Reaetionszeit, sp\u00e4ter nimmt dieselbe wieder ihre normale Gr\u00f6sse a\u00fc.\nUeber die Rolle, welche die Aufmerksamkeit bei diesen Versuchen spielt, wird in dem von dieser handelnden Abschnitt die Rede sein. Erw\u00e4hnt mag noch werden, dass Reactionszeiten auch bei Kranken und zwar bei Nerven- und Geisteskranken untersucht wurden. Sie fanden sich da im allgemeinen gr\u00f6sser als bei Gesunden.2\nAnalyse der Reaetionszeit. Es fragt sich nun auf was f\u00fcr physiologische Acte die Reaetionszeit verwendet wird. Dieselben sind bei verschiedener Reizweise verschieden, doch sind folgende m\u00f6glich: 1) die Verarbeitung des Reizes im Sinnesorgane zur Nervenerregung; 2) centripetale Leitung im peripheren Nerven; 3) centripetale Leitung im R\u00fcckenmark; 4) Umsetzung des Empfindungsimpulses in den motorischen Impuls; 5) centrifugale Leitung im R\u00fcckenmarke; 6) centrifugale Leitung im motorischen Nerven; 7) Ausl\u00f6sung der Muskelbewegung.\nWas den ersten Punkt anbelangt, so f\u00e4llt die Zeit zur Umsetzung des Reizes in Nervenerregung bei elektrischer Reizung so viel man weiss ganz weg, sie ist aber nicht unbedeutend bei Reizung der Netzhaut durch Licht3) und bei Reizung des H\u00f6rnerven durch einen musikalischen Ton. In beiden F\u00e4llen hat sie eine deutlich messbare Gr\u00f6sse, denn in beiden F\u00e4llen muss der Reiz eine gewisse Zeit lang eingewirkt haben, wenn \u00fcberhaupt eine merkliche Erregung entstehen soll.4\n1\tv. Vintschgau u. Dietl, Verhalten etc. Arch. f. Anat. u. Physiol. XVI.\n2\tVerlangsamte motorische Leitung von Leiden u. v. Wittich, Arch. f. pathol. Anat. lS69u. 1872. Ferner Obersteiner, Ueber eine neue einfache Methode zur Bestimmung d. psych. Leistungsf\u00e4higkeit etc. Ebenda LIX und Burckhardt, Physiolog. Diagnostik der Nervenkrankheiten. Leipzig 1875.\n3\tVon nicht zu grosser Intensit\u00e4t.\n4\tVergl. Sigm. Exner , Ueber die zu einer Gesichtswahrnehmung n\u00f6thige Zeit.","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. \u00c7ap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\nDie sensible Leitung in den peripheren Nerven ist von einer Reihe von Autoren gemessen worden. Es geschah dies dadurch, dass die Re-actionszeit fur Hautstellen, die verschieden weit vom Centralorgane entfernt lagen, z. B. Leistengegend und Fuss, ermittelt und die Differenz dieser Zeiten als Ausdruck der durch die Leitung verlorenen Zeit betrachtet wurde. Auf diese Weise fand man Werthe f\u00fcr die Nervenleitungsgeschwindigkeit, welche von 20\u201430 Meter per Seeunde anfangend, sieh bis gegen 100 Meter erstrecken. Erw\u00e4gt man, wie vielen Fehlerquellen diese Art der Messung sensibler Nervenleitung dadurch ausgesetzt ist, dass die Reactionszeit abh\u00e4ngig ist von der Intensit\u00e4t des Reizes \u2014 so dass, sollen die Versuche richtig sein, gleich grosse Reize wohl auch auf gleich empfindliche Stellen wirken sollen \u2014, erw\u00e4gt man, dass wiederholt f\u00fcr die Gesichtshaut und die Handwurzel* 1 eine l\u00e4ngere Reactionszeit gefunden wurde, als f\u00fcr Reizung der Hand, dass endlich bei den meisten dieser Messungen vorausgesetzt wurde, dass die Erregung sich im R\u00fcckenmarke so schnell fortpflanzt wie im peripheren Nerven, so wird man auf diese Messungsresultate kein grosses Vertrauen haben. Andererseits liegen uns vollkommen vorwurfsfreie Messungen f\u00fcr die peripheren motorischen Nerven des lebenden Menschen von Helmholtz und Baxt2 vor. Wir sind also hier vor die Alternative gestellt, wollen wir, wenn es sich darum handelt, einen approximativen Werth f\u00fcr die sensible Leitung anzunehmen, uns denjenigen durch Reactionsversuche gefundenen Werth aussuchen, der noch am verl\u00e4sslichsten erscheint, oder wollen wir den Werth f\u00fcr die motorische Leitung auch f\u00fcr die sensible annehmen? Bedenken wir, dass wir bisher nicht eine anatomische oder physiologische Differenz zwischen einer sensiblen und einer motorischen Nervenfaser kennen, so werden wir letzteres wohl vorziehen, umsomehr, als die motorische Leitungsgeschwindigkeit bei den gew\u00f6hnlichen Zimmertemperaturen (sie ist verschieden bei verschiedener Temperatur) ziemlich in die Mitte der oben angef\u00fchrten Werthe f\u00e4llt.3\nWir setzen die sensible Leitung nat\u00fcrlich indem wir uns bewusst bleiben nur durch Wahrscheinlichkeiten geleitet worden zu sein gleich der motorischen und zwar zu 62 Meter i. d. Sec.\nWir m\u00fcssten uns noch weiter in das Gebiet der Wahrscheinlichkeiten hineinwagen, wollten wir mit Zugrundelegung dieses Werthes f\u00fcr die periphere Nervenleitung die sensible und die motorische R\u00fcckenmarksleitung aus den Reactionsversuchen berechnen. Wir m\u00fcssten da n\u00e4mlich voraussetzen, dass die Leitung im R\u00fcckenmark mit gleichf\u00f6rmiger Geschwindigkeit geschieht, dass die Erregung beim Eintritt\nSitzgsber. d. Wiener Acad. LVIII und Zur Lehre von den Geh\u00f6rsempfindungen. Arch, f. d ges. Physiol XIII.\n1\tKries und Auerbach, Zeitdauer einfachster psychischer Vorg\u00e4nge. Arch. f. Anat. u. Physiol. Physiol. Abth. 1877. S. 313 und Bloch, Arch, de physiol, norm, et pathol. 1875.\n2\tHelmholtz und Baxt, Berliner Acad. d. Wiss. M\u00e4rz 1870.\n3\tAuch Donders spricht sich in diesem Sinne f\u00fcr den Werth der directen Messungen von Helmholtz und Baxt aus. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868. S. 662.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Analyse der Reactionszeit. Zeitsch\u00e4tzung.\n273\nund beim Austritt in das R\u00fcckenmark keine Verz\u00f6gerung erh\u00e4lt, oder dass doch solche Verz\u00f6gerungen 1 f\u00fcr die zur Messung verwendeten sensiblen Bahnen gleich gross sind, ebenso bei den motorischen, ferner dass der sogenannte Willensact bei Reizung verschiedener Hautstellen gleiche Zeit beansprucht. Wir w\u00fcrden dann finden, dass die R\u00fcckenmarksleitung um vieles langsamer ist als die periphere, dass die sensible R\u00fcckenmarksleitung circa 8 Meter in der Secunde, die motorische 11\u201412 Meter zu setzen ist.2 Endlich w\u00fcrde bei Vernachl\u00e4ssigung der zur Umsetzung der Nervenerregung in Muskelcontraction n\u00f6thigen Zeit sich auf diese Weise durch Subtraction der durch die Leitung verlorenen Zeit die Dauer bestimmen lassen, die erforderlich ist, den im Centrum angelangten sensibeln Reiz zu einem centralen motorischen Impuls umzugestalten. Diese \u201ereducirte Reactionszeit\u201c betr\u00fcge z. B. 0,0828 Sec. f\u00fcr einen specieilen Fall, in dem die Reactionszeit von Hand zu Hand 0,1337 Sec. betr\u00e4gt. Sie ist also nicht viel gr\u00f6sser als die am Menschen f\u00fcr gewisse F\u00e4lle gefundene reducirte \u201eReflexzeit\u201c deren kleinster Werth 0,0471 Sec. betr\u00e4gt.3\nDie Zeitsch\u00e4tzung. Man darf sich nicht vorstellen, dass bei den Reactionsversuchen der Experimentirende die Zeitpause, welche zwischen Reiz und Reaction eintritt, \u00fcbersieht; er ist sich derselben vielmehr sehr genau bewusst, und sch\u00e4tzt sie mit grosser Correctheit. Man ist bei diesen Versuchen nicht so weit Herr seiner Muskeln, dass man die Bewegung wirklich immer in dem Momente, in dem man sie intendirt, ausf\u00fchrt. Oft bleibt sie ganz aus, oft kommt sie zu sp\u00e4t, oft auch ebe der Reiz da war. Ist sie einmal abgegeben, so wird der Moment dieser Abgabe im Verh\u00e4ltniss zu dem Momente des Reizes mit der erw\u00e4hnten Correctheit beurtheilt. (In den Versuchsreihen werden deshalb ziemlich allgemein nur die Reactionen ber\u00fccksichtigt, von denen der Experimentirende aussagt, sie seien so geschwind als ihm m\u00f6glich ausgef\u00fchrt.)\nAls Beispiel f\u00fcr die Genauigkeit, mit welcher die Reactionszeit gesch\u00e4tzt wird, mag folgender Versuch angef\u00fchrt werden. Bei 39 Reactionen von Auge (elektr. Funken angeblickt) zu Fuss ergab sich\n1\tSolche Verz\u00f6gerungen sind f\u00fcr die motorische Leitung im R\u00fcckenmark des Frosches nachgewiesen. Vergl. Sigm. Exner, Experim. Untersuch, der einfachsten psych. Processe. 2. Abhdlg. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII und : In welcher Weise tritt die negat. Schwankung durch das Spinalganglion? Arch f. Anat. u. Physiol. 1877. S. 570 Anm.\n2\tEs stimmen hierzu ziemlich gut die nat\u00fcrlich gleichen Einw\u00e4nden ausgesetzten Messungen, welche Fran\u00e7ois-Franck u. Pitres (Gaz. hebd. 1878) am Hunde ausgef\u00fchrt haben. Sie fanden seine motorische R\u00fcckenmarksleitung 10 M.\n3\tSigm. Exner, Experim. Untersuchungen d. einfachsten psychischen Processe. 2. Abhdlg. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII.\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\n18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\nim Mittel die Reactionszeit 0,1840 Sec. Mit Ausnahme eines Falles wurde die Reaction als \u201ezu langsam\u201c bezeichnet, wenn mehr als 0,1994 Sec., und ebenso mit Ausnahme efnes Falles als \u201esehr gut\u201c (nicht wie gew\u00f6hnlich \u201egut\u201c) bezeichnet, wenn weniger als 0,1781 Sec. gebraucht wurden. Es wurde also ungef\u00e4hr auf 0,01 Sec. genau gesch\u00e4tzt.\nF\u00fchrt man Versuche aus, welche den astronomischen Bestimmungen analog sind, bei welchen der Durchtritt eines Sternes durch den Faden des Fernrohres mit einer Handbewegung \u2014 gew\u00f6hnlich durch Niederdr\u00fccken einer elektrischen Taste \u2014 signalisirt wird, so ersieht man, dass hierbei viel gr\u00f6ssere Fehler in der Zeitabsch\u00e4tzung gemacht werden, als bei den bisher beschriebenen Versuchen, bei welchen ein pl\u00f6tzlicher Reiz als Signal zur Handbewegung dient. Freilich kann, wenn man den Moment, in welchem die Bewegung eintreten soll, herannahen sieht, wirklich ohne Verz\u00f6gerung reagirt werden, es muss dann nur der motorische Impuls um die Leitungsdauer fr\u00fcher abgegeben werden. Die Sch\u00e4tzung dieser Leitungsdauer ist nur sehr unsicher, doch kann hier offenbar die Uebung yerh\u00e4ltnissm\u00e4ssig viel leisten. Eine \u00e4hnliche Unsicherheit legt man an den Tag, wenn man sich bestrebt, mit rhythmisch wiederkehrenden Sinneseindr\u00fccken isochron zu reagiren. Auch hier betragen die Schwankungen des Reactionsmomentes oft mehrere Zehntheile von Secunden.\nEs mag hier erw\u00e4hnt werden, dass Vierordt1 auf ganz anderem Wege, indem er n\u00e4mlich versuchte ein geh\u00f6rtes Intervall zwischen zwei Ger\u00e4uschempfindungen in gleicher Gr\u00f6sse wiederzugeben, zu dem interessanten Resultate kam, dass wir kleine Zeiten \u00fcbersch\u00e4tzen und grosse Zeiten untersch\u00e4tzen. Das Minimum des Sch\u00e4tzungsfehlers (gemessen in Procenten des Zeitintervalles) ist bei 1 \u2014 1,5 Sec. wenn die Zeitangabe sogleich nachdem das Intervall geh\u00f6rt wurde, geschieht. Vierordt und sein Sch\u00fcler R\u00f6hring2 haben diese Untersuchungen auch auf eomplicirtere Taktangaben ausgedehnt. Es wurde das Unterscheidungsverm\u00f6gen f\u00fcr Gruppen derartiger Zeitintervalle gepr\u00fcft. Auch Contrastempfindungen spielen in der Zeitsch\u00e4tzung eine Rolle: h\u00f6ren wir z. B. eine gr\u00f6ssere Reihe kurzer Taktschl\u00e4ge, so kommt uns ein langes Intervall auffallend lang vor.3\n1\tVierordt, Der Zeitsinn. T\u00fcbingen 1S68.\n2\tR\u00f6hring, Versuche \u00fcber das Unterscheidungsverm\u00f6gen d. H\u00f6rsinnes f\u00fcr Zeitgr\u00f6ssen. T\u00fcbingen 1S64.\n3\tVierordt 1. c. S. 164; vergl. auch Joh. Czermak, Ideen zu einer Lehre vom Zeitsinn. Sitzgsber. d. Wiener Acad. 1857 und J. Moleschott, Untersuchungen zur Naturlehre etc. V.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Zeitsch\u00e4tzung. Methoden zur Bestimmung der pers\u00f6nlichen Gleichung. 275\nDie Methoden, nach welchen die Untersuchungen \u00fcber Re-actionszeit und kleinste Differenz ausgef\u00fchrt wurden, k\u00f6nnen hier nur im Principe angegeben werden. Sie lassen sich in zwei Gruppen theilen.\nDie erste Gruppe beruht auf der Verwendung eines sehr corr\u00e9c-ten Uhrwerkes (z. B. des Hipp\u2019schen Chronoskopes), welches an einem Zeiger die Ablesung sehr kleiner Zeittheilchen gestattet. W\u00e4hrend das Uhrwerk gleichm\u00e4ssig abl\u00e4uft, kann durch eine mechanische Vorrichtung der erst ruhende Zeiger pl\u00f6tzlich mit demselben in Verbindung gebracht, und ebenso pl\u00f6tzlich kann er wieder arretirt werden. Gew\u00f6hnlich geschieht dies auf elektromagnetischem Wege. Denken wir uns, dass die Ausl\u00f6sung des Zeigers gleichzeitig mit dem Ueber-springen eines elektrischen Funkens geschieht, so kann dieser als Reiz benutzt werden, auf welchen durch Druck auf eine Taste reagirt werden soll, welche Taste nun wieder auf elektrischem Wege die Arretirung des Zeigers bewirkt. Man kann dann am Zifferblatt unmittelbar ablesen, wie viel Zeit zwischen dem Aufblitzen des Funkens und dem Niederdr\u00fccken der Taste vergangen ist. Nat\u00fcrlich muss man hierbei die Wirkungsweise der Elektromagneten kennen und die auf die Magnetisirung und Entmagnetisirung derselben verwendete Zeit in Abrechnung bringen. Aehnlich wie hier der elektrische Funken k\u00f6nnen andere Sinnesreize im Momente der Desarre-tirung des Zeigers ausgel\u00f6st werden.\nDie zweite Gruppe von Versuchsanordnungen beruht auf der graphischen Methode. Man denke sich eine berusste rotirende Scheibe an deren Peripherie eine Nadel angebracht ist, die bei einer gewissen Stellung der Scheibe in ein Quecksilbern\u00e4pfchen eintaucht. Nadel und Quecksilbern\u00e4pfchen sind leicht so abzupassen und mit einer elektrischen Batterie zu verbinden, dass, wenn die Scheibe sich in Rotation befindet, der Strom dieser Batterie w\u00e4hrend der sehr kurzen Zeit des Eintauchens geschlossen ist. Geht dieser Strom durch die prim\u00e4re Rolle eines Schlitteninductoriums und f\u00fchren die beiden Enden der secund\u00e4ren Rolle zu auf die Haut aufgesetzten Elektroden, so erh\u00e4lt das betreffende Individuum in dem Momente zwei Inductions-schl\u00e4ge, in welchem die Nadel in das N\u00e4pfchen ein- und wieder austaucht. Man richtet die Intensit\u00e4ten so ein, dass nur der st\u00e4rker wirksame Oeffnungsschlag \u00fcberhaupt empfunden wird, macht aber aus Vorsicht doch das Intervall zwischen beiden Schl\u00e4gen so klein, dass, selbst wenn der Schliessungsschlag schon empfunden w\u00fcrde, ein merklicher Fehler nicht daraus entspringen k\u00f6nnte. Das Individuum hat nun die Aufgabe, einen Stift, der auf der berussten Scheibe\n18*","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276 Exner, Grosskirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\nschreibt, niederzudr\u00fccken, sobald es den Inductionsschlag empfindet. Die Winkel-Differenz zwischen der Stellung der Scheibe, bei welcher die Nadel in das Quecksilber tauchte, und der Stellung, bei welcher der Schreibstift begann sich zu senken (oder je nach der Vorrichtung auch zu heben) giebt, zusammengehalten mit der Rotationsgeschwindigkeit der Scheibe, die Reactionszeit an. Es ist dabei unwesentlich, ob man statt der rotirenden Scheibe einen rotirenden Cylinder verwendet, ob man das Signal auf der Scheibe durch blosse Hebelverbindungen oder auf elektromagnetischem Wege verzeichnet, ob die Nadel an der Scheibe selbst angebracht ist oder der Moment, in welchem auf andere Weise der Contact hergestellt wird auf der Scheibe gezeichnet wird u. s. w.\nSollen die Versuche zu guten Resultaten f\u00fchren, die nur dann zu erreichen sind, wenn der Grad der Aufmerksamkeit in den einzelnen Versuchen nicht zu sehr differirt, so muss man mit der Anstrengung der Aufmerksamkeit sparsam sein. Die Versuche werden also gew\u00f6hnlich so angestellt, dass ein Geh\u00fclfe einige Secunden vorher den Reiz ank\u00fcndigt, dann einen Contact herstellt an dem bis dahin noch, abgesehen von dem Quecksilbern\u00e4pfchen, der Stromkreis unterbrochen war. Wenn jetzt die Nadel in das N\u00e4pfchen eintaucht, findet der Inductionsschlag den Experimentirenden in vorbereitetem Zustande.\nSowie hier die Tastempfindung, so k\u00f6nnen auch bei dieser Art der Versuchsanordnung andere Sinnesempfindungen gerade in dem Momente ausgel\u00f6st werden, in dem die Scheibe eine bekannte und bestimmte Stellung einnimmt.\nF\u00fcr die Zwecke des praktischen Arztes ist noch ein zwar weniger genauer aber daf\u00fcr sehr einfacher Apparat, das Neuram\u00f6bimeter (a/xoi\u00dfr'i Antwort, Umsatz) angegeben worden.1 Er besteht im Wesentlichen aus einer in einem Scharnier beweglichen metallischen Feder, welche ihre Schwingungen auf einer berussten Glasplatte zeichnet. Die Feder kann durch einen Druck von der Glasplatte abgehoben werden. Indem nun der Untersuchende die auf einem Schlitten liegende Glasplatte mit der Hand schiebt, schl\u00e4gt die gespannte Feder los. Der Untersuchte hat den Auftrag, sobald er das Losschlagen der Feder gewahrt, mit der schon fr\u00fcher aufgelegten Hand dieselbe von der Glasplatte abzuheben. Die Anzahl der Schwingungen, welche die Feder vom Moment des Losschlagens bis zu dem Momente, in\n1 Beschrieben von Sigm. Exner, Experim. Untersuchungen d. einfachsten psychischen Processe. 1. Abh. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII und H. Obersteiner, Arch. f. pathol. Anat. LIX. S. 427.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden zur Bestimmung der pers\u00f6nlichen Gleichung. Vorstellungszeit. 277\nwelchem sie abgehoben wurde, zu zeichnen Zeit hatte, giebt nun die Reactionszeit an, und zwar, da die Feder hundert Schwingungen in der Secunde macht, gleich in Hunderttheilen von Secunden. Es lassen sich nat\u00fcrlich noch Tausendstel von Secunden sch\u00e4tzen.\nIT. Yorstellimgs-, Untersclieidungs- und Willenszeit.\nBaxt1 hat unter Leitung von Helmholtz Versuche dar\u00fcber angestellt, wie lange ein Bild im optischen Apparat des Auges wirken muss, wenn es zu einer richtigen Vorstellung f\u00fchren soll.\nDa bei den kurzen Zeitr\u00e4umen, mit denen man es hier zu thun hat, das positive Nachbild bei der Perception wesentlich mit betheiligt w\u00e4re, so muss dasselbe bei diesen Messungen weggeschafft werden; es geschieht dies dadurch, dass das Netzhautbild des zu erkennenden Objectes im Moment seines Verschwindens durch das eines sehr intensiven gleichf\u00f6rmig hellen Feldes ersetzt wird. Die Zeitdauer, w\u00e4hrend welcher unter diesen Umst\u00e4nden das Netzhautbild eines Objectes auf der Netzhaut ruhen muss, damit eine Vorstellung von diesem Objecte zu Stande kommen kann, wollen wir Vorstellungszeit nennen. Es soll damit aber nicht gesagt sein, dass dies die Zeit ist, welche zur Entwickelung der Vorstellung dieses Objectes n\u00f6thig ist, von dieser Zeit erfahren wir vielmehr durch die vorliegenden Versuche nichts.\nBaxt experimentirte an Buchstaben, Schriftproben und Abbildungen mehr oder weniger complieirter Curven (LissAjou\u2019schen Schwin-gungscurven) und fand, dass die Vorstellungszeit um so gr\u00f6sser ist, je complieirter das Object ist, das erkannt werden sollte, und dass dieselbe innerhalb gewisser Grenzen unabh\u00e4ngig ist von der Intensit\u00e4t des Netzhautbildes. Gr\u00f6ssere Objecte werden in k\u00fcrzerer Zeit erkannt als kleinere.\nAehnliche Versuche, nur unter viel complicirteren Bedingungen, deshalb weniger zu einem Schluss berechtigend, hatte schon fr\u00fcher Sagot2 angestellt.\nVersuche anderer Art wurden von Donders und seinen Sch\u00fclern3, sowie in neuester Zeit gemeinschaftlich von Kries und Auer-\n1\tHelmholtz in den Monatsber. d. Berliner Acad. Juni 1871 und Baxt, Ueber die Zeit, welche n\u00f6thig ist, damit ein Gesichtseindruck zum Bewusstsein kommt, und \u00fcber die Gr\u00f6sse der bewussten Wahrnehmung bei einem Gesichtseindruck von gegebener Dauer. Arch. f. d. ges. Physiol. IV.\n2\tSagot , Quelques recherches sur la rapidit\u00e9 des sensations et la promptitude des op\u00e9rations de l\u2019esprit. Nach Canstatt\u2019s Jahresber.'f. Physiol. (Lit. 1853.) S. 222.\n3\tde Jaager, Over den physiologischen tyd der psychische processen. Inaug.-Dissert. Utrecht 1865; Donders, Schnelligkeit psychischer Processe. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278 Exner, Grosshimrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Verh. psych. Impulse.\nbach1 2 ausgef\u00fchrt. Hier wurde, \u00e4hnlich wie dies hei den Versuchen \u00fcber Reactionszeit der Fall ist, auf Reize mit einer Bewegung geantwortet. Nur war nicht wie bei jenen Versuchen ein bestimmter Reiz, sondern es waren unregelm\u00e4ssig abwechselnd verschiedene Reize, welche auf den Experimentirenden wirkten, und auf nur einen derselben durfte reagirt werden. So hatte Donders folgenden Versuch ersonnen: Zwei Individuen sitzen am Phonautographen, das erste ruft in denselben verschiedene Vocale hinein, das zweite hat die Aufgabe, wenn es den Vocal i h\u00f6rt, so schnell als m\u00f6glich auch in den Appaiat hineinzurufen und zwar denselben Vocal. Aus den Aufschreibungen des Apparates konnte dann die Zeit ersehen werden, welche zwischen dem Beginn des ersten und des zweiten Vocal verging. Er fand, dass dieselbe 0,237 Sec. betrug. Da die Reactionszeit in derselben Weise gemessen, d. i. also die Zeit, welche zwischen dem Ert\u00f6nen eines vorher verabredeten Vocales und dem Ert\u00f6nen der gleichlautenden Antwort vergeht, nur 0,201 Sec. betrug, so war durch die Com-plicirung des Versuches eine Verl\u00e4ngerung von 0,036 Sec. eingetreten. Was bedeuten diese 0,036 Sec.? Es ist gesagt worden, sie geben die Zeit an, welche zur F\u00e4llung des Urtheiles \u00fcber die Art des Vocales ben\u00f6thigt wird. Man versetze sich einen Augenblick in den Zustand des Experimentirenden. Es handle sich zun\u00e4chst um eine einfache Reactionszeit. Die ganze Aufmerksamkeit ist auf das zu erwartende Ereigniss gerichtet, in unserem Falle den Vocal i. Alles ist vorbereitet, um sogleich die Muskelaction auszuf\u00fchren. Es ist durch den Willen alles so weit vorbereitet, dass, erfolgt das erwartete Signal, der ganze Process, so zu sagen unwillk\u00fcrlich abl\u00e4uft. -Wie auch Donders erw\u00e4hnt, bricht derselbe auf jeden heftigeren Sinnesreiz los, doch ist das Sensorium f\u00fcr den erwarteten Reiz gleichsam empfindlicher, f\u00fcr alle anderen unterempfindlich. Vergleichen wir mit diesem Zustand denjenigen, der im vorliegenden Versuche statthat, wo zwischen den Sinnesreizen gew\u00e4hlt werden soll, wo z. B. nicht auf a, nicht auf o etc., wohl aber auf i geantwortet werden soll. Auch hier ist die ganze Aufmerksamkeit auf den verabredeten Reiz gerichtet, f\u00fcr die anderen Reize \u2014 hier die anderen Vocale \u2014 ist das Sensorium unempfindlicher. Die Zust\u00e4nde sind also ziemlich \u00e4hnlich und unterscheiden sich mit dadurch, dass im zweiten Versuche, da starke Sinnesreize zu erwarten sind, die obendrein densel-\n1\tKries und Auerbach , Die Zeitdauer einfachster psych. Vorg\u00e4nge. Arch.f.\nAnat. u. Physiol. Physiol. Abth. 1S77.\t.......\n2\tEs soll hiervon unten gelegentlich der \u201e Aufmerksamkeit aust\u00fchrhcher gehandelt werden.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"Unterscheidungszeit.\n279\nben Sinnesapparat treffen, wie der auf den reagirt werden soll, jener Zustand im Centralorgan, der den ganzen Process unwillk\u00fcrlich ablaufen l\u00e4sst, weniger stark ausgebildet ist. Der Experimentirende ist vorsichtiger, denn wenn er sich ebenso intensiv vorbereitet wie bei der einfachen Reaction, so l\u00e4uft er Gefahr, dass auch jetzt wie dort, der Unrechte Sinnesreiz jene Processe ausl\u00f6st, wie dies auch h\u00e4ufig wirklich geschieht. Die langsamere Reaction ist also ein Ausdruck der Vorsicht, welche der Experimentirende anwendet. Da durch diese Vorsicht erm\u00f6glicht wird, dass mit ziemlicher Genauigkeit nur auf den einen Reiz geantwortet wird, so kann man diese Zeit wohl Unterscheidungszeit nennen, da dieselbe ben\u00f6thigt wird, wenn der Sinnesreiz richtig unterschieden werden soll. Doch hat man nie zu vergessen, dass die Sinnesreize zwischen welchen unterschieden wird, in ganz ungleichem Verh\u00e4ltnisse zum Sensorium stehen, auf den einen ist es vorbereitet und auf das H\u00f6chste gespannt und f\u00fcr die anderen gleichsam verschlossen. Es ist dies also kein Urtheil, das den Ur-theilen des gew\u00f6hnlichen Lebens gleichst\u00fcnde.\nJene 0,036 Sec. bedeuten also den Zuwachs, welchen die Re-actionszeit bekommen muss, wenn der Reiz richtig unterschieden werden soll. Diesen Zuwachs wollen wir Unterscheidungszeit nennen.\nEs hat schon vor mehreren Jahren Mendenhall1 derartige Versuche angestellt und ist zu auffallend grossen Zahlen f\u00fcr die Unterscheidungszeit gekommen. In neuester Zeit ist von Kries und Auerbach2 eine grosse Reihe derartiger Versuche ausgef\u00fchrt worden.\nIm Folgenden eine Tabelle dieser Autoren, in welcher die Unterscheidungszeiten ihrer Gr\u00f6sse nach geordnet sind:\nOptische Richtungslocalisation..........................0,011 Sec.\nFarbenunterscheidung......................................0,012\t\u201e\nGeh\u00f6rslocalisation (kleinster Werth)......................0,015\t\u201e\nUnterscheidung einfacher T\u00f6ne (h\u00f6herer Ton)...............0,019\t\u201e\nLocalisation der Tastempfindungen.........................0,021\t\u201e\nOptische Entfernungslocalisation......................... 0,022\t\u201e\nUnterscheidung von Ton und Ger\u00e4usch...................... 0,022\t\u201e\nBeurtheilung der Intensit\u00e4t von Tastreizen (bei starkem Reiz) 0,023\t\u201e\nUnterscheidung einfacher T\u00f6ne (tieferer\tTon)............. 0,034\t\u201e\nErkennen der schwachen Tastreize......................... 0,053\t\u201e\nGeh\u00f6rslocalisation (gr\u00f6sster Werth)...................... 0,062\t\u201e\nDer kleinste gefundene Werth, der f\u00fcr die optische Richtungslocalisation, bezieht sich auf Versuche, bei welchen elektrische Funken \u00fcbersprangen. Die Entfernung der beiden Funkenstellen entsprach\n1\tMendenhall, Amer, journ. of scienc. and arts. II. p. 156. 1871.\n2\tKries und Auerbach, Arch. f. Anat. u. Physiol. Physiol. Abth. 1877.","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280 Exner, Gros shir nri\u00fcde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\neinem Gesichtswinkel von etwa 10\u00b0. Es musste entschieden werden, welcher Funke zuerst \u00fcbersprang.\nDie Geh\u00f6rslocalisation ist in \u00e4hnlicherWeise gepr\u00fcft; es sprangen von dem Beobachter einmal rechts von seiner Medianebene, andere Male links von derselben Funken \u00fcber, und es sollte am Knistern derselben erkannt werden, welcher Fall eingetreten war. Dabei zeigte es sich, dass die Unterscheidungszeit mit der wachsenden Entfernung der Funken von einander abnahm. F\u00fcr die Unterscheidung der T\u00f6ne sind verschiedene Werth e gefunden worden, wenn verschieden hohe T\u00f6ne in Anwendung kamen. Es h\u00e4ngt dies damit zusammen, dass hohe T\u00f6ne in k\u00fcrzerer Zeit die mitschwingenden Fasern im Cortischen Organ bis zu dem Grad der Schwingungselongation bringen, bei welchem Nervenerregung stattfindet, als tiefere.1 Sollte zwischen starken und schwachen Hautreizen unterschieden werden, so fiel, wie nach dem oben auseinandergesetzten zu erwarten war, die Zeit k\u00fcrzer aus, wenn auf den starken Reiz reagirt werden sollte, als wenn der schw\u00e4chere als Reactionssignal diente.\nMan kann nun auch diese Versuche so ausf\u00fchren, dass mehr als zwei Reize wirken, und doch nur auf einen bestimmten reagirt werden darf. Unter diesen Verh\u00e4ltnissen ist die Zeit zu Anfang der Versuche gr\u00f6sser, n\u00e4hert sich aber durch Uebung den Werthen, welche bei Unterscheidung von nur zwei Reizen gefunden werden. Ueber-haupt spielt die Uebung bei der Unterscheidungszeit eine gr\u00f6ssere Rolle als bei einfachen Reactionen.\nDonders2 hat weiterhin noch folgende Versuchsweise ausgef\u00fchrt. Zwei elektrische Reize treffen in unregelm\u00e4ssiger Abwechslung den einen und den anderen Fuss. Der Experimentirende hat die Aufgabe, jedesmal mit der Hand derselben Seite zu reagiren. Es liegt diesem Versuche folgender Gedanke zu Grunde. Die Unterscheidungszeit f\u00fcr die beiden Reize kennen wir schon, das Plus an Zeit, welches f\u00fcr die jetzt vorliegende Reaction beansprucht wird, geh\u00f6rt also der Wahl des Bewegungsimpulses (ob derselbe rechts oder links gesetzt werden soll) an. Dieses Plus wollen wir die Willenszeit nennen. Es kann nun dieser Versuch auch f\u00fcr andere Siunesorgane und andere Bewegungscombinationen ausgef\u00fchrt werden. Es soll z. B. auf einen gerufenen Vocalklang durch Aussprechen desselben Vocales so schnell als m\u00f6glich reagirt werden. In diesem Falle fand Donders eine Willenszeit von 0,036 Sec. Es sind f\u00fcr diese und \u00e4hnliche Versuche\n1\tYergl. Sigm. Exner, Zur Lehre von den Geh\u00f6rsempfindungen. Arch. f. d. ges. Physiol. XIII.\n2\tDonders, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1868.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Unterscheidungs- und Willenszeit. Ged\u00e4chtniss.\n281\nvon Donders zwei Apparate construirt worden, der No\u00ebmatotacho-graph und das No\u00ebmatotackometer.1\nY. Das Ged\u00e4chtniss.\nAn die Lehre vom zeitlichen Verlauf der Empfindungs- und Bewegungsimpulse m\u00f6ge hier dasjenige angereiht werden, was wir vom Ged\u00e4chtniss aussagen k\u00f6nnen. Jede Empfindung und Empfindungs-combination bringt im Centralorgane Ver\u00e4nderungen hervor, welche Ver\u00e4nderungen im Laufe der Zeit wieder schwinden. Sie sind es, welche erm\u00f6glichen, dass eine in einem bestimmten Falle eintretende Empfindungscombination als schon ein oder mehrere Male dagewesene erkannt wird. Die Geschwindigkeit, mit welcher ein Ged\u00e4chtnissbild vergeht, ist von einer Reihe von Umst\u00e4nden abh\u00e4ngig, der Individualit\u00e4t, der Reproduction, der Intensit\u00e4t von anderen Ged\u00e4chtniss-bildern u. s. w. und in hohem Maasse von dem Grade der Aufmerksamkeit, welche wir der prim\u00e4ren Sinnesempfindung zugewendet haben. Die vielen Tausende von Sinneseindr\u00fccken, die jeder Tag liefert, gehen mit Ausnahme von wenigen dem Ged\u00e4chtnisse verloren, und doch gaben auch diese ein Ged\u00e4chtnissbild. Sinneseindr\u00fccke, auf welche die Aufmerksamkeit nicht gerichtet ist, rufen ein so kurz dauerndes Ged\u00e4chtnissbild hervor, dass es gew\u00f6hnlich \u00fcbersehen wurde. Ist man mit einem Gegenst\u00e4nde intensiv besch\u00e4ftigt, so h\u00f6rt man eine Uhr nicht schlagen. Man kann aber, nachdem dieselbe aufgeh\u00f6rt hat zu schlagen, aufmerksam werden, und noch jetzt die Schl\u00e4ge der Uhr z\u00e4hlen. Derartige Beispiele findet man oft im t\u00e4glichen Leben. Man kann auch an einer zweiten Person die Existenz dieses \u201eprim\u00e4ren Ged\u00e4chtnissbildes \u201c, wie wir es nennen wollen, f\u00fcr den Fall der vollkommen ahgelenkten Aufmerksamkeit nachweisen: man bitte z. B. dieselbe m\u00f6glichst schnell die Zeilen einer bedruckten Seite o. dgl. zu z\u00e4hlen, mache, w\u00e4hrend dies geschieht, ein Paar Schritte auf und ab, und frage nachdem die Person geendet hat, wo man gestanden ist; sie wird immer mit voller Bestimmtheit angeben, man sei gegangen. Ganz analoge Versuche kann man mit dem Gesichtssinn anstellen.2 Dieses prim\u00e4re Ged\u00e4chtnissbild ist, ob die Aufmerksamkeit dem Eindruck zugewendet ist oder nicht, ein \u00e4usserst lebhaftes, unterscheidet sich aber schon in der Empfindung von jeder Art von Nachbildern oder Hallucinationen. Erstere r\u00fchren sicher, letztere wahrscheinlich von Ver\u00e4nderungen im nerv\u00f6sen Apparate her, welche\n1\tArchief voor natuur- en geneeskunde. D. III. Vergl. auch ebenda D. II.\n2\tSigm. Exner, Experim. Untersuchungen d. einfachsten psychischen Processe. 4. Abhdlg. Arch. f. d. ges. Physiol. XI.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 4. Cap. Zeitliches Yerh. psych. Impulse.\neinen anderen Sitz haben als die Ver\u00e4nderungen, welche dem Ge-d\u00e4chtnissbilde zu Grunde liegen.\nDas prim\u00e4re Ged\u00e4chtnissbild schwindet, wenn die Aufmerksamkeit dasselbe nicht erfasst, im Laufe weniger Secunden. Auch wenn die Aufmerksamkeit dem urspr\u00fcnglichen Sinneseindrucke zugewendet ist, nimmt die Lebhaftigkeit des Ged\u00e4chtnissbildes sehr rasch ab. Dasselbe kann aber nach Fechner 1 durch neue Anstrengung der Aufmerksamkeit wiederholt frisch angefacht werden. In welcher Weise die Genauigkeit eines Ged\u00e4chtnissbildes im Laufe der ersten Secunden und Minuten abnimmt, kann man aus Versuchen ersehen, die in folgender Weise angestellt sind. Erst wird eine Linie von bestimmter L\u00e4nge angeblickt, dann entfernt und dem Auge sogleich eine zweite geboten. Man stellt sich die Aufgabe, die zweite mit der ersten auf ihr L\u00e4ngenverh\u00e4ltniss zu sch\u00e4tzen. Diese Sch\u00e4tzung geschieht mit einem durchschnittlichen Fehler von bestimmter Gr\u00f6sse. Dann l\u00e4sst man eine Pause zwischen dem Anblick der beiden Linien eintreten, und sch\u00e4tzt wieder. Bei wachsender Pause nun wird der Sch\u00e4tzungsfehler rasch gr\u00f6sser. Auch mit den Empfindungen anderer Art lassen sich derartige Versuche ausf\u00fchren, die also die Sch\u00e4rfe des Ged\u00e4chtnissbildes und deren Aenderung in Zahlen ausdr\u00fccken lassen.2 Doch sind bisher ausgedehnte Versuchsreihen dieser Art noch nicht angestellt worden.3\nDie Sch\u00e4rfe des Ged\u00e4chtnissbildes n\u00e4hert sich mit der Zeit immer mehr und mehr einem station\u00e4ren Zustande, ohne diesen aber, wie es scheint, je zu erreichen. So wie im Laufe der ersten Minuten das prim\u00e4re Ged\u00e4chtnissbild durch daraufgerichtete Aufmerksamkeit wieder aufgefrischt werden kann, so auch das viel ungenauere \u00e4ltere Ged\u00e4chtnissbild.\nNicht nur das Ged\u00e4chtniss als F\u00e4higkeit Ged\u00e4chtnissbilder l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Zeit festzuhalten, ist vererblich, sondern auch der Inhalt des Ged\u00e4chtnisses, die Ged\u00e4chtnissbilder selbst. Sicher gilt dies f\u00fcr Thiere, ob, in welchem Grade und in welcher Form es f\u00fcr den Menschen gilt, darauf kann hier nicht n\u00e4her eingegangen werden. Es kommt vor, dass junge Jagdhunde, die niemals auf der Jagd waren, noch sonst Gelegenheit hatten, je einen Flintenschuss und\n1\tFechner, Psychophysik. II. S. 493.\n2\tE. H. Weber, Tastsinn und Gemeingef\u00fchl. S. 57.\n3\tWie aus einem wenige Zeilen langen Referate der Allg. Ztschr. f. Psychiatrie. XXXV. Heft L zu ersehen ist, hat Dittmar im Juni 1577 im psychiatr. Verein der Rheinprovinz einen Vortrag gehalten, in welchem er Curven \u00fcber den Verlauf des Ged\u00e4chtnisses, die auf experimentellem Wege gewonnen waren, demonstrate. Es ist aber aus diesem Referate nicht zu ersehen, ob es sich um den in Rede stehenden Gegenstand handelt.","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Das Ged\u00e4chtniss. Die Aufmerksamkeit.\n283\nseine Wirkung kennen zu lernen, wenn sie auf dem Felde den ersten Schuss gewahren mit voller Lust, wie ein alter Jagdhund losst\u00fcrzen um die Beute zu apportiren, auch dann, wenn sie keine fallen sahen. Es ist dies ein Beweis, dass seit der Erfindung des Schiesspulvers das Ged\u00e4chtnissbild eines Schusses und seiner Folgen in das Hundegehirn erblich \u00fcbergegangen ist, also in den sogenannten Instinct aufgenommen wurde.1\nF\u00dcNFTES CAPITEL.\nDie Aufmerksamkeit,\nUeber die physiologischen Vorg\u00e4nge, welche jenen Thatsachen zu Grunde liegen, aus denen der Begriff der Aufmerksamkeit ab-strahirt wurde, wissen wir gar nichts. Nur das ist klar, dass wiles hier mit willk\u00fcrlich gesetzten Ver\u00e4nderungen unseres Centralner-vensystemes zu thun haben, welche Ver\u00e4nderungen erstens quantitativ variiren, zweitens abwechselnd die verschiedenen Bezirke unserer psychischen Th\u00e4tigkeit betreffen k\u00f6nnen: wir k\u00f6nnen unsere Aufmerksamkeit in h\u00f6herem und geringerem Grade anspannen, wir k\u00f6nnen sie den Eindr\u00fccken des Gesichtsorganes, oder denen des Geh\u00f6rorganes, den von einer intendirten Bewegung zu erwartenden Muskelempfindungen u. s. w. zuwenden.\nDie Aufmerksamkeit bewirkt, dass von den vielen tausend Sinneseindr\u00fccken, welche wir in jedem Momente bekommen, immer nur wenige, oft gar keine zum Bewusstsein kommen. Man denke nur an alle Gegenst\u00e4nde, ihre Farben, Beleuchtungen u. s. w., die wir in jedem Gesichtsfeld vor uns haben, an die Ger\u00e4usche, die wir gleichzeitig h\u00f6ren, an alle Tastempfindungen unserer K\u00f6rperoberfl\u00e4che u. s. f.\nAlle diese Eindr\u00fccke k\u00f6nnen wir durch die Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich in das Bewusstsein treten lassen. Dabei ist folgendes zu bemerken.\nF\u00fcr gew\u00f6hnlich gelingt es uns nur unsere Aufmerksamkeit von einem Gegenst\u00e4nde abzuziehen, wenn wir sie auf einen anderen richten ; denn unser Bewusstsein vollkommen zu entleeren, d\u00fcrfte, wenn\n1 Ueber die Erwerbung u. Vererbung des Instinctes sowie andere Eigenschaften der Organismen vergl. E. Hering, Ueber das Ged\u00e4chtniss als eine allgemeine Function der organisirten Materie. Vortrag in der Wiener Acad. 1870 und v. Hensen, Ueber das Ged\u00e4chtniss. Rectorsrede. Kiel 1877.","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 5. Cap. Die Aufmerksamkeit.\n\u00fcberhaupt, doch nur f\u00fcr sehr kurze Zeit m\u00f6glich sein. Wenn wir uns hingegen dem Zustande des Schlafes n\u00e4hern, gelingt es auch willk\u00fcrlich f\u00fcr einige Secunden die Aufmerksamkeit von Allem soweit abzuziehen, dass man nachher in der That keinen Gegenstand nennen kann, mit dem man sich besch\u00e4ftigt h\u00e4tte.1 Die Willkiirlichkeit der Aufmerksamkeit ist weiter dadurch beschr\u00e4nkt, dass es uns nicht gelingt, dieselbe von heftigen Eindr\u00fccken abzulenken, sowie einem Gegenst\u00e4nde gleichm\u00e4ssig zugewendet zu erhalten, wenn andere Reize auftreten, die eine gewisse Intensit\u00e4t \u00fcberschreiten, oder wenn gleichzeitig willk\u00fcrliche Bewegungen ausgef\u00fchrt werden sollen.\nMan darf sich nun nicht vorstellen, die Wirkung der Aufmerksamkeit komme dadurch zu Stande, dass die Sinnesorgane und ihre n\u00e4chsten centralen Verbindungen, auf welche sie gerichtet ist, erregbarer werden. Denn dann m\u00fcsste ein graues Papier heller, ein Ton st\u00e4rker erscheinen, wenn die Aufmerksamkeit auf dieselbe gerichtet ist, als wenn dies nicht der Fall ist.2 Es m\u00fcssten zwei Nachbilder gleicher Objecte ungleich deutlich erscheinen, wenn das eine mit Aufmerksamkeit beobachtet wurde, und das andere nicht, was auch nicht der Fall ist. Aber auch auf einzelne oder Gruppen von Empfindungselementen (s. Einleitung) ist die Aufmerksamkeit gew\u00f6hnlich nicht gerichtet, denn w\u00fcrden wir z. B. bei Betrachtung einer Statue die Aufmerksamkeit einfach den Empfindungen zuleiten, welche jedes einzelne Netzhautelement, auf dem das Bild der Statue liegt, liefert, so w\u00fcrden wir immer gleichzeitig Farbe, Form, Beleuchtung u. s. w. der Statue beurtheilen m\u00fcssen. Der Vorgang ist also ein viel com-plicirterer. Der Angriffspunkt der Aufmerksamkeit liegt so zu sagen da, wo die Sinneseindr\u00fccke schon bis zu einem gewissen Grade geistig verarbeitet sind.\nAn einfachen F\u00e4llen k\u00f6nnen wir das Spiel der Aufmerksamkeit etwas genauer verfolgen; bietet man dem einen Auge eine Farbe, z. B. roth, dem anderen Auge eine andere, z. B. gr\u00fcn, so sieht man im Allgemeinen Wettstreit der Sehfelder; man kann dann die Aufmerksamkeit dem Roth oder dem Gr\u00fcn zuwenden, kann damit abwechseln, und auf diese Weise den Wettstreit willk\u00fcrlich dirigiren. Hat man nun das Roth einige Secunden lang vortreten lassen, schliesst dann schnell die Augen und beachtet das prim\u00e4re Ged\u00e4chtnissbild, so findet man in demselben nichts von der gr\u00fcnen Farbe und ebensowenig etwas vom Wettstreit der Sehfelder. Das Ged\u00e4chtnissbild\n1\tDieses -willk\u00fcrliche Abziehen der Aufmerksamkeit ist f\u00fcr mich das wirksamste Einschl\u00e4ferungsmittel, ein Beweis, dass hier keine T\u00e4uschung vorliegt.\n2\tFechner, In Sachen der Psychophysik. S. 27. Leipzig 1877.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Leistungen und Wirkungsweise der Aufmerksamkeit.\n285\nbleibt das von Roth, wenn wir uns auch bem\u00fchen die Gr\u00fcn-Empfindung uns in das Ged\u00e4chtnissbild zur\u00fcckzurufen.1 Es beweist dieser Versuch, dass durch die Richtung der Aufmerksamkeit nach dem Roth, jene centralen Vorg\u00e4nge, welche die Gr\u00fcn-Erregung im anderen Auge hervorgerufen hat, gar nicht bis in jene Region psychischer Th\u00e4tig-keit vorgedrungen sind, in welcher die Ged\u00e4ehtnissbilder zu Stande kommen. Hier hat also die Aufmerksamkeit eine Erregung vom Bewusstsein abgesperrt.\nAndererseits kann man im obigen Versuche durch Aufmerksamkeit die Erregungen der beiden Augen soweit combiniren, dass man (viele, nicht alle Beobachter) die Mischfarbe sieht. Ja sogar Con-trastempfindungen, deren Intensit\u00e4t von der Aufmerksamkeit bis zu einem gewissen Grade abh\u00e4ngig sind, kann man durch Combination der Empfindungen beider Augen erhalten. Es werden dann gewisse Empfindungselemente des einen Auges durch die des anderen unterdr\u00fcckt.\nAus diesen und \u00e4hnlichen Versuchen geht hervor, dass die Aufmerksamkeit, um ein Gleichniss zu gebrauchen, die Aufgabe eines Weichenstellers auf einem Schienennetz hat, der daf\u00fcr sorgt, dass gewisse Empfindungstransporte die Kreuzungsstellen ungehindert durchsetzen, andere zur\u00fcckgehalten werden, und wieder andere in neuen Combinationen die Kreuzungsstelle passiren.2\nMan hat Gelegenheit, die Leistungen der Aufmerksamkeit genauer zu studiren, wenn man die oben angef\u00fchrten Versuche \u00fcber kleinste Differenz und Reactionszeit ausf\u00fchrt. Hat man die Aufgabe zu l\u00f6sen, bei sehr geringer Zeitdifferenz zu entscheiden, welcher von zwei Sinnesreizen der erste war, so verf\u00e4hrt man gew\u00f6hnlich so: noch ehe die Reize da sind, wird mit angestrengtester Aufmerksamkeit einer derselben vorgestellt und erwartet. Sind die Reize vorbei, so findet man sie in seinem Ged\u00e4chtnissbilde zeitlich vertheilt und beurtheilt sie nach diesem Ged\u00e4chtnissbilde. Sind die Reize z. B. ein Glockenschlag und das Netzhautbild eines elektrischen Funkens, so wird die Aufmerksamkeit blos auf den Glockenschlag gerichtet. Der elektrische Funken erscheint dann freilich im Ged\u00e4chtnissbilde zeitlich wenig bestimmt, man zweifelt oft, ob er vorausgegangen war oder nicht. Auch hat man die Neigung, den st\u00e4rkeren Reiz f\u00fcr den ersten zu halten, sowie den Reiz auf welchen die Auf-\n1\tEs unterscheidet sichj wie man sieht, dieser Fall von den fr\u00fcher erw\u00e4hnten. Wie oben angef\u00fchrt, haben Eindr\u00fccke, auf welche die Aufmerksamkeit nicht gelenkt ist, auch ein prim\u00e4res Ged\u00e4chtnissbild.\n2\tSigm. Exxer, Experim. Untersuchungen d. einfachsten psychischen Processe. 4. x\\bhdlg. Arch. f. d. ges. Physiol. XI.","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286 Exner, GrossMrnrinde. Allg. Physiol. 5. Cap. Die Aufmerksamkeit.\nmerksamkeit eingestellt war. Wundt1 sagt sogar, er k\u00f6nne bei unserem Beispiele analogen Versuchen willk\u00fcrlich jeden Reiz zuerst erscheinen lassen, indem er ihm die Aufmerksamkeit zuwendet.\nSind die beiden Empfindungen sich \u00e4hnlich, wie wenn gleiche Reize auf beide Ohren wirken, so verf\u00e4hrt man anders. Man stellt die Aufmerksamkeit auf die zu erwartende Empfindung ein, und erfasst die erste, welche man erh\u00e4lt. Die zweite Empfindung wird kaum beachtet. Im Ged\u00e4chtnissbilde findet man dann den ersten Reiz und erkennt nun, ob er das rechte oder das linke Ohr getroffen hat.\nEs ist hervorzuheben, dass diese Vorg\u00e4nge unbewusst geschehen, dass sie nur durch genaue Selbstbeobachtung \u00fcberhaupt erkannt werden k\u00f6nnen, ferner, dass diese ganze Arbeit der Aufmerksamkeit schon geschehen sein muss, wenn die Reize eintreten.\nHat man seine Aufmerksamkeit f\u00fcr einen solchen Versuch eingestellt, so gewahrt man, dass es nicht m\u00f6glich ist, sie immer auf derselben H\u00f6he zu erhalten; unwillk\u00fcrlich und gegen den Willen ist sie in einem steten Schwanken begriffen, und das Resultat des Versuches h\u00e4ngt davon ab, ob die Reize eben in einem g\u00fcnstigen oder in einem ung\u00fcnstigen Momente eingetreten sind.2\nMan wird dadurch an ein Bild Fechnek\u2019s erinnert, der im Bewusstsein Wellen ablaufen l\u00e4sst.3\nDer Umstand, dass durch die Aufmerksamkeit gewisse Nervenbahnen der Erregung ge\u00f6ffnet werden, wird besonders bei den Versuchen \u00fcber die Reactionszeit klar. Hat man z. B. die Aufgabe, auf einen pl\u00f6tzlich auftretenden optischen Reiz mit einer Handbewegung zu reagiren, so versetzt man sich in einen Zustand (der freilich so gut wie gar nicht zu beschreiben ist), der daf\u00fcr sorgt, dass die Reaction eben in der intendirten Weise und mit grosser Schnelligkeit erfolgt. Dieser Zustand wird nat\u00fcrlich willk\u00fcrlich hervorgerufen \u2014 wir sagen, wir strengen unsere Aufmerksamkeit an \u2014 ; befindet sich das Sensorium aber einmal in jenem Zustande, dann ist die Reaction so zu sagen unwillk\u00fcrlich, d. h. es bedarf keines nach dem Eintritt des Reizes zu setzenden Willensimpulses mehr, damit die Reaction erfolge, im Gegentheil, es bedarf einer messbaren Zeit, jenen Zustand wieder zu beseitigen, und trifft der Reiz ein, bevor dies vollkommen geschehen ist, so erfolgt gleichsam ohne und gegen den Willen\n1\tWundt, Mensch-und Thierseele. Leipzig 1863.\n2\tSigm. Exner, Experim. Untersuchungen d. einfachsten psychischen Processe. 3. Abhdlg. Arch. f. d. ges. Physiol. XI.\n3\tFechneRj Elem. d. Psychophysik. II. S. 452 ff.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"Subject, u. object. Beobachtungen \u00fcber die Wirkungsweise d. Aufmerksamkeit. 287\nZuckung. Es geschieht z. B., dass der Reiz den man mit gespannter Aufmerksamkeit erwartet hat, auszubleiben scheint, man sieht sich nach den Apparaten um, oh alles in Ordnung ist; in diesem Moment erfolgt der Reiz und mit ihm auch die Reaction, obwohl die Absicht zu reagiren eigentlich schon aufgegeben war. Die Reaction l\u00e4sst zwar l\u00e4nger auf sich warten als gew\u00f6hnlich, ist aber doch noch viel k\u00fcrzer, als wenn der Willensimpuls erst nach Empfang des Reizes gesetzt worden w\u00e4re.\nDas also, was bewirkt, dass auf den Reiz wirklich die Reaction eintritt, besteht in einer centralen Ver\u00e4nderung, welche schon eingetreten war, bevor der Reiz gesetzt wurde. Diese Ver\u00e4nderung ist es, welche willk\u00fcrlich hervorgerufen wird.\nSoll die Reaction mit anderen Muskelgruppen, oder soll sie auf andere Reize erfolgen, so muss jene Ver\u00e4nderung also eine andere sein. Wir k\u00f6nnen uns diese Verschiedenheiten nur so vorstellen, dass jener Zustand, in welchen die Centralorgane bei angestrengter Aufmerksamkeit versetzt werden, je nach der Richtung derselben verschiedene Nervenbahnen betrifft.\nWas hier \u00fcber den Zustand der Aufmerksamkeit gesagt ist, beruht auf Selbstbeobachtung. Es gibt aber Thatsachen, aus welchen auch objectiv zu ersehen ist, dass das Auseinandergesetzte richtig und auch f\u00fcr andere Personen giltig ist.\nEs kommt vor, und wenn man vom Experimentiren erm\u00fcdet ist, geschieht es sogar sehr h\u00e4ufig, dass nach erfolgtem Reiz die Reaction ganz ausbleibt. Der Experimentirende ist dann von dem Ausbleiben \u00fcberrascht ; was nicht sein k\u00f6nnte, wenn nach dem Reiz noch ein Willensimpuls gesetzt werden w\u00fcrde. Man hat vielmehr den Eindruck, als w\u00e4re jener Zustand im Sensorium zu wenig gesteigert, oder als w\u00e4re der Reiz nicht intensiv genug gewesen, um auf die Bewegungsnerven durchbrechen zu k\u00f6nnen. Ja es geschieht, dass man sich ernstlich \u00fcber das Ausbleiben der Zuckung \u00e4rgert. In solchen F\u00e4llen versucht man gew\u00f6hnlich gar nicht mehr zu reagiren, man gibt, wenn die Reaction ausgeblieben ist, die Sache verloren; reagirt man aber doch, so f\u00e4llt die Zeit unverh\u00e4ltnissm\u00e4ssig gross aus (gegen eine Secunde).\nDiese Anstrengung der Aufmerksamkeit ist in hohem Grade erm\u00fcdend. Man schwitzt oft vor Anstrengung, obwohl man ruhig auf dem Stuhle sitzt.1\n1 Die hier mitgetheilten Resultate der Selbstbeobachtung bei Gelegenheit der Reactionsversuche (Sigm. Exner, Experim. Unters, d. einf. psych. Proc. Abhdlg. I. Arch.f. d. ges. Physiol. VII) sind von Hirsch (Bull, de la soci\u00e9t\u00e9 d. sc. nat. \u00e0 Neuch\u00e2tel. 5. Febr. 1874) best\u00e4tigt worden.","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288 Exner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 5. Cap. Die Aufmerksamkeit.\nIn neuester Zeit hat Obersteiner 1 gezeigt, dass und wie die Gr\u00f6sse der Reactionszeit zunimmt, wenn auf den Experimentirenden \u201ezerstreuende\u201c Sinneseindr\u00fccke wirken. Ein Beispiel m\u00f6ge diese Wirkung demonstriren. Ein Individuum, dessen durchschnittliche normale Reactionszeit f\u00fcr einen bestimmten Fall 0,100 Sec. betrug, hatte die Aufgabe, Reactionsversuche zu machen, w\u00e4hrend in demselben Zimmer eine Spielorgel spielte. Die folgende Tabelle zeigt, wie nun die Zahlen, welche die Reactionszeiten angeben, gr\u00f6sser werden, wie sie aber diesen Zuwachs verlieren, sobald die Orgel zu spielen aufh\u00f6rt. Die mit * bezeichneten Reactionszeiten sind n\u00e4mlich gewonnen w\u00e4hrend der Pausen des Spieles.\nSec.\tDifferenzen\tSec.\tDifferenzen\n0,148\t\t0,124\t\u2014 8\n0,141\t\u2014 7\t0,140\t+ 19\n0,120\t\u2014 21\t0,133\t\u2014 7\n*0,095\t\u2014 25\t*0,087\t\u2014 46\n0,215\t+ 120\t0,144\t+ 57\n0,124\t\u2014 89\t*0,108\t\u2014 36\n0,129\t+ 5\t*0,091\t\u2014 17\nAuch andere Sinneseindr\u00fccke hatten eine \u00e4hnliche Vergr\u00f6sserung der Reactionszeit zur Folge.\nEs war bisher nur die Rede von der Aufmerksamkeit, insofern sie Empfindungs- und Bewegungsimpulse betrifft. Sie kann nun, wie allgemein bekannt, auch Ged\u00e4chtnissbildern zugewendet sein, so wie den Denkoperationen, welche mit denselben ausgef\u00fchrt werden.1 2\nEs hat in neuester Zeit Mosso3 angegeben, gewisse Ver\u00e4nderungen in den Circulationsverh\u00e4ltnissen des menschlichen K\u00f6rpers beobachtet zu haben, welche eintreten, wenn die Aufmerksamkeit des betreffenden Individuums durch \u00e4ussere Eindr\u00fccke oder auch durch psychische Arbeit in Anspruch genommen wird. Doch sind\n1\tObersteiner, Experimental Researches on attention. Brain: a journal of neurology. I. p. 439. London 1879.\n2\tIn welcher Weise der Grad der Aufmerksamkeit in einem gegebenen Falle von anderrn Umst\u00e4nden abh\u00e4ngig ist, findet sich in Herbart\u2019s De attentionis mensura causisque primariis in dessen kleiner philosoph. Schrift, herausg. von Hartenstein, II. S. 353 und in dessen \u201eSchriften zur Physiologie\u201c, herausg. von dems. 2. Th. S. 200. Leipzig 1850 auseinandergesetzt.\n3\tMosso, Sur une nouvelle m\u00e9thode: pour \u00e9crire les mouvements des vaisseaux sanguins schez l\u2019homme. Compt.rend.LXXXII u. Sopra un nuova metodo per scrivere i movimenti dei vasi sanguigni nelP uomo. Turin, Pavaria 1875, ferner im Archivio per le scienze mediche. 1.1876.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"289\nExperimentelles \u00fcber die Aufmerksamkeit.\ndiese Beobachtungen bisher noch zu wenig \u00fcbereinstimmend1 und zu vieldeutig, um sie f\u00fcr die uns hier besch\u00e4ftigenden Fragen ver-werthen zu k\u00f6nnen. Das Thats\u00e4chliche an den Beobachtungen geh\u00f6rt passender in das Capitel von der Circulation.2\nSECHSTES CAPITEL.\nPie Affecte.\nVon der physiologischen Grundlage der Affecte ist nur \u00e4usserst Weniges bekannt. Dieses Wenige bezieht sich nahezu ausschliesslich (wenn wir n\u00e4mlich von den Actionen mancher Muskelgruppen ab-sehen) auf das Gef\u00e4sssystem. Dass bei gewissen Gem\u00fcthsbewegungen sich die Farbe der Haut \u00e4ndert, ist allgemein bekannt, doch ist auch diese Wirkung erstens noch zweideutig, indem sie zwar mit Wahrscheinlichkeit als der Ausdruck einer centralen Innervations\u00e4nderung der Gef\u00e4ssnerven jener Hautbezirke aufgefasst werden muss, aber doch auch m\u00f6glicherweise von Erh\u00f6hung des Blutdruckes bei Gef\u00e4ss-verengerung in den \u00fcbrigen Blutgef\u00e4ssbezirken herr\u00fchren kann, zweitens inconstant, insofern als derselbe \u00e4ussere Eindruck, derselbe Affect, bei verschiedenen Individuen die entgegengesetzte Farbenver\u00e4nderung hervorrufen kann: ein Mensch wird vor Zorn roth, ein anderer bleich.\nSchon im Jahre 1854 hat Rud. Wagner3 Versuche \u00fcber die Wirkung des Schreckens auf die Herzbewegung angestellt. Er z\u00e4hlte die Herzschl\u00e4ge eines Kaninchens, schlug dann neben demselben mit einem Hammer auf den Tisch und bemerkte, dass das Herz eine kurze Zeit stehen blieb, um dann in rascherer Schlagfolge seine Bewegung wieder aufzunehmen. Diese Beschleunigung machte bald wieder der normalen Bewegung Platz. Er fand weiter, dass die Wirkung auf die Pulsfrequenz ausblieb, wenn die beiden N. vagi durchschnitten waren. Das Thier f\u00e4hrt aber auch nach der Durchschneidung bei jedem Hammerschlag zusammen.\n1\tVergl. v. Basch, Die volumetrische Bestimmung d. Blutdruckes am Menschen.\nWiener med. Jahrb\u00fccher. 1876.\t_\n2\tRein psychologisch besch\u00e4ftigt sich mit unserem Thema G. E. M\u00fcller. Zur\nTheorieder sinnlichen Aufmerksamkeit. Inaug.-Dissert. der Univers. G\u00f6ttingen. Gedruckt bei Edelmann. Leipzig.\t, ,\t,\t_\t,\n3\tWagner, Nachr. v. d. G. A. Universit\u00e4t und der k. Ges. d. Wiss. zu Gottingen. Nr. 8. S. 130. 1854.\nHandbuch der Physiologie. Bd. IIa.\n19","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"Schmerzensschrei eines anderen Hundes.\n290\nExner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 6. Cap. Die Affecte.\nFig. 1. Blutdruckschwankungen eines gem\u00fcthlich aufgeregten Hundes.\nFig. 2. Blutdruckschwankungen eines gem\u00fcthlich aufgeregten Hundes nach Durchschneidung der Nn. vagi.\nV -V /","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Vasomotorische Wirkung der Angst.\n291\nIn neuester Zeit sind von Conty und Charpentier1 Beobachtungen gemacht worden, welche die in Rede stehenden Circulations-st\u00f6rungen genauer pr\u00e4cisiren.\nWird von einem curarisirten Hunde der Blutdruck in gew\u00f6hnlicher Weise geschrieben, und man l\u00e4sst einen zweiten Hund einen schmerzhaften Schrei ausstossen, so afficirt dies den ersten, und die Blutdruckeurve desselben zeigt bei durchschnittlicher Steigerung, dass das Herz st\u00fcrmische, sehr ausgiebige und unregelm\u00e4ssige Bewegungen macht, w7ie die beistehende Figur 1 zeigt. Es stimmt dieselbe nicht mit dem Bild \u00fcberein, welches man sich nach R. Wagner\u2019s Z\u00e4hlungen der Herzschl\u00e4ge von dem Verlauf der Druckschwankungen in der Arterie seines Kaninchens entwerfen w\u00fcrde. Doch darf man nicht den Unterschied der Reizart und die Verschiedenheit der beiden Thiere ausser Acht lassen. Das Wesentliche ist vielmehr, dass man es in beiden F\u00e4llen mit dem Ausdruck einer centralen Vagusreizung zu thun hat, denn die mitgetheilte Curve verr\u00e4th den Charakter der Vagusreizung.\nConty und Charpentier haben dann bei demselben Thiere die Nn. vagi durchschnitten und denselben Versuch wiederholt. Sie erhielten jetzt die in Fig. 2 dargestellte Druckcurve. Die Wirkung der Nn. vagi fehlt, doch zeigt sich jetzt, dass ausser derselben noch eine Wirkung auf die Gef\u00e4sse vorhanden ist. Der Tonus derselben wird in Folge des Schmerzensschreies des anderen Thieres erh\u00f6ht und mit diesem der Blutdruck. Diese Blutdruckerh\u00f6hung tritt \u00fcbrigens auch bei anderweitiger Reizung sensibler Nerven auf. Ob sie abh\u00e4ngig oder unabh\u00e4ngig davon ist, dass das Grosshirn erhalten und functionsf\u00e4hig ist, dar\u00fcber sind die Ansichten noch getheilt.'2\nEs muss dahingestellt bleiben, ob die physiologischen Aeusse-nmgen der Affecte, \u00e4hnlich wie dies bei gewissen Reflexkr\u00e4mpfen, z. B. dem Husten, der Fall ist, dem Individuum zum Schutze dienen, indem sie gewisse Sch\u00e4dlichkeiten paralisiren oder beseitigen.3 *\nDurch einen Schrei in das Ohr haben schon fr\u00fcher v. Bezold\n1\tConty et Charpentier , Recherch. s. les effets cardio-vasculaires des excitations des sens. Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1877. p. 525.\n2\tVergl. Cyon, Sur les actions r\u00e9flexes des nerfs sensibles sur les nerfs vasomoteurs. Compt. rend. II. 1^69 und : Hemmungen und Erregungen im Centralsystem der Gef\u00e4ssnerven. Bull, de l\u2019acad. imp\u00e9r. des sc. de St. P\u00e9tersbourg. VII. 1870; Heidenhain, lieber Cyon\u2019s neue Theorie der centralen Innervation der Gef\u00e4ssnerv. Arch. f. d. ges. Physiol. IV ; Cyon , Zur Lehre von der reflectorischen Erreg, der Gef\u00e4ssnerv. ebendaselbst VIII ; Heidenhain, Die Einwirkung sensibler Reize auf den Blutdruck, ebendaselbst IX; Cyon, Zur Physiologie des Gef\u00e4ssnervencentrums. l.Mitth. ebendaselbst IX.\n3\tHecker (Allg. Zeitg. f. Psychiatrie. XXIX.) sucht nach diesem Principe zu\neinem Verst\u00e4ndnisse des Lachens zu gelangen.\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nExner, Gros shir nrinde. Allg. Physiol. 7. Cap. Der Schlaf.\nsowie Danilewsky1 Blutdrueksteigerung lieiworgerufen und gefunden, dass dieselbe ausbleibt, wenn die Grosskirnlappen entfernt waren.\nSIEBENTES CAPITEL.\nDer Schlaf.\nDie Eigenschaft, sein Leben im Wechsel von Schlafen und Wachen zuzubringen, theilt der Mensch mit einer grossen Anzahl von Tkieren, vielleicht mit allen, ja, wenn man den Schlaf im weitesten Sinne nehmen will, auch mit Pflanzen. Es ist nicht zu entscheiden, ob es nur in der Augenf\u00e4lligkeit der Symptome des Schlafes begr\u00fcndet ist, oder ob es den Thatsacken entspricht, dass das Schlafbed\u00fcrfniss uns durchaus nicht mit der h\u00f6heren geistigen Ausbildung der Tkiere im Verh\u00e4ltniss zu stehen scheint. So zeigen Spinnen und Insecten oft eine \u201eschlafs\u00fcchtige Ruhe\u201c'2, w\u00e4hrend h\u00f6here Thiere, z. B. die Fische, ja selbst Wiederk\u00e4uer, zwar ein tr\u00e4ges Hinbr\u00fcten, aber keinen eigentlichen Schlaf zeigen.\nDer tiefste Schlaf steht durch continuirlicke Ueberg\u00e4nge in Verbindung mit dem aufgeregtesten Wachsein. Beobachtet man sich beim Einschlafen, so bemerkt man, dass der Vorstellungskreis, in dem man sich bewegt, immer enger und enger wird. Man kann in einem gewissen Stadium noch wenigstens scheinbar vern\u00fcnftig \u00fcber einen Gegenstand nachgr\u00fcbeln, derselbe kann noch mit gleicher scheinbarer Auffassungsgabe wie sonst \u00fcberlegt und beurtkeilt werden, will man aber jetzt einen anderen Gedankengang einscklagen, so f\u00fchlt man, dass da ein gewisser Widerstand zu \u00fcberwinden w\u00e4re, dessen Ueberwindung eine mehr oder weniger vollkommene Ermunterung zur Folge haben w\u00fcrde. W\u00fcrden wir uns erst mit dem zweiten Gegenstand besch\u00e4ftigt haben, so w\u00fcrde der Uebergang zum ersten die Ermunterung herbeif\u00fchren.\nEs k\u00f6nnen also gewisse Vorstellungskreise so zu sagen noch wachen, w\u00e4hrend andere schon schlafen.\nEs h\u00e4ngen hiermit die Erscheinungen des Somnambulismus zusammen. Wie schon J. M\u00fcller hervorhebt, hat man es hier mit\n1\tDanilewsky, Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Physiol, des Gehirnes. Arch.f. d. ges. Physiol. XL S. 133.\n2\tJ. M\u00fcller, Physiologie des Menschen. S. 587. Coblenz 1840.","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Beobachtungen \u00fcber den Schlaf.\n293\neinem tlieilweisen Schlafe zu thun. Das Individuum, das im Schlale herumgeht, z. B. auf ein Dach steigt, wacht in Bezug auf die beim Gehen, Ausweichen, Orientiren in den R\u00e4umlichkeiten und Aehnlichem verwendeten Vorstellungen, schl\u00e4ft aber in Bezug auf die Vorstellungen der Gefahr, der ungewohnten Situation u. s. f. Ist der Vorstellungskreis, der dem eigentlichen Schlafe entzogen ist, ein sehr geringer, so hat man den oft erw\u00e4hnten Fall des Postillons vor sich, der reitend schl\u00e4ft, oder des M\u00fcllers, den die geringe Aenderung, die das Klappern der M\u00fchle, wenn sie leer wird, erleidet, weckt. Wer w\u00e4hrend einem Vortrage eingeschlafen ist, wacht auf, wenn der Vortragende eine Pause macht. Es zeigt dieses, dass Aenderungen von Sinnesreizen wie Sinnesreize selbst wirken.\nIm tiefen Schlafe gelangen die Sinnesreize, obwohl die Sinnesorgane, wie niemand zweifelt, in gew\u00f6hnlicher Weise functioniren, nicht zum Bewusstsein und sind die willk\u00fcrlichen Muskeln erschlafft : \u201eder Schlaf und der Tod l\u00f6st die Glieder\u201c. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass wir in jenen \u00e4ngstlichen Tr\u00e4umen, in welchen wir uns bem\u00fchen eine Bewegung auszuf\u00fchren, aber uns gefesselt f\u00fchlen, im Centralorgane wirkliche Bewegungsimpulse abgeben, dass aber diese Bewegungsimpulse, ebenso wie die Empfindungsimpulse, von ihrem Ziele abgehalten werden.\nEs ist dies eine Vorstellungsweise, welche schon Purkinje 1 vorschwebte, als er die Erscheinungen des Schlafes unter der Annahme erkl\u00e4rlich hielt, dass die Stabkranzfasern durch die reicher mit Blut gespeisten Stammganglien comprimirt und dadurch leitungsunf\u00e4hig w\u00fcrden. Purkinje f\u00fchrt dies nur als eine m\u00f6gliche Erkl\u00e4rungsweise auf, doch giebt dieselbe ein in gewisser Beziehung treffendes Bild des thats\u00e4chlichen Sachverhaltes. W\u00e4hrend wir uns im Wachen unserer Vorstellungen als Vorstellungen bewusst sind, halten wir sie oder einen Theil derselben im Schlafe f\u00fcr objectiv; sie bekommen dadurch den Charakter der Hallucinationen. Das obige Bild Purkin je\u2019s k\u00f6nnte zu der Vermuthung Veranlassung geben, dass oberhalb der Stabkranzfasern im Organe des Bewusstseins die Vorstellungen w\u00e4hrend des Schlafes ihr gew\u00f6hnliches normales Spiel treiben. Dem ist nicht so. Die Tr\u00e4ume sind, abgesehen davon, dass sie Hallucinationen sind, ein verworrenes und unklares Arbeiten des Bewusstseins. Wir t\u00e4uschen uns im Traume auch \u00fcber intellectuelle Fragen, wir glauben die L\u00f6sung eines R\u00e4thsels 1 2 gefunden zu haben und erkennen beim Erwachen die Unsinnigkeit dieser L\u00f6sung etc. Beson-\n1\tPurkinje, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol, unter \u201eSchlaf\u201c.\n2\tJ. M\u00fcller, Lehrb. d. Physiol. II.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\tExner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 7. Cap. Der Schlaf.\nders frappant sind gewisse T\u00e4uschungen \u00fcber die Zeitdauer. Man weckt uns z. B. und wir schlummern wieder ein, werden aber nach einigen Minuten zum zweiten Male geweckt. W\u00e4hrend diesen Minuten k\u00f6nnen wir eine lange complicate Geschichte getr\u00e4umt haben, zu deren Erz\u00e4hlung eine Viertelstunde n\u00f6thig ist, und glauben dem entsprechend zwischen dem ersten und zweiten Wecken geraume Zeit geschlafen zu haben.\nStricker1 macht darauf aufmerksam, dass ein Hauptmotiv f\u00fcr die T\u00e4uschungen im Traume darin liegt, dass wir gewisse Erfahrungen vergessen, oder ausser Acht lassen. Wir tr\u00e4umen z. B. von einer Person, die l\u00e4ngst gestorben ist. Indem wir im Traume mit ihr zu sprechen glauben, vergessen wir alle Erinnerungsbilder, die sich an ihren Tod kn\u00fcpfen.\nInteressant ist es, dass Erblindete auch noch nach vielen Jahren im Traume zu sehen glauben.2\nOb es auch einen traumlosen Schlaf giebt, ist eine Frage, die sich deshalb nicht bejahen l\u00e4sst, weil in jedem Falle, f\u00fcr welchen wir sie bejahen wollen, die Gefahr obschwebt, dass wir den Traum vergessen haben. Nach eigenen Erfahrungen \u00fcbrigens muss ich mich der Verneinung der Frage zuneigen, denn jedesmal, wenn ich, zu welcher Stunde der Nacht immer, auch ganz pl\u00f6tzlich geweckt wurde, fand ich mich in einem mehr oder weniger weitl\u00e4ufigen Traum.\nDas Schlafbed\u00fcrfnis stellt sich nach angestrengter geistiger oder k\u00f6rperlicher Arbeit im Allgemeinen fr\u00fcher ein, als gew\u00f6hnlich \u2014 im Allgemeinen: denn es giebt F\u00e4lle und Individualit\u00e4ten, wo das Umgekehrte der Fall ist. Es liegt aber nicht unmittelbar in unserem Verm\u00f6gen, dem Bed\u00fcrfnisse nachzukommen. Oft ist es n\u00f6thig, dass wir uns \u00e4usseren Sinnesreizen sowie auch Ged\u00e4chtnissbildern und Gedankenoperationen m\u00f6glichst entziehen, um einsehlafen zu k\u00f6nnen. Wie schon erw\u00e4hnt, gelingt letzteres auf die Dauer nicht vollkommen.3 Dass wir in horizontaler Lage leichter einsehlafen als in anderen Lagen ist allgemein bekannt.\nIn Bezug auf die Wirkung, welche die Sinnesreize beim Einschlafen sowie beim Wacherhalten aus\u00fcben, ist in neuester Zeit von\n1\tStricker, Yorles. \u00fcber allgem. u. experim. Pathol. 3. Abthlg. Wien 1S79.\n2\tJ. M\u00fcller, 1. c.\n3\tDr. J. Breuer tkeilte mir die Beobachtung mit, dass in einem gewissen Stadium des Einschlafens Perioden klareren Bewusstseins mit Perioden verdunkelten Bewusstseins abwechseln. Jede solche Periode dauert mehrere Secunden. Es erinnert diese Thatsache an die Eigenth\u00fcmlichkeit schwacher Geh\u00f6rsempfindungen, periodisch zu verschwinden (Urbantschitsch, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1875. Nr. 37) und der analogen Erscheinung an schwachen Nachbildern (Helmholtz , Physiol. Opt. S. 365. Leipzig 1867).","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Beobachtungen \u00fcber den Schlaf.\n295\nStr\u00fcmpell 1 ein interessanter Krankheitsfall ver\u00f6ffentlicht worden : Ein Schusterjunge war von einer so hochgradigen An\u00e4sthesie befallen, dass nur das rechte Auge und das linke Ohr ihm \u00fcberhaupt noch Sinneseindr\u00fccke liefern konnten. Verband man ihm das erstere und verstopfte das letztere, so war der Kranke von der Aussenwelt vollkommen abgesperrt. So oft man dies nun wirklich that, und Str\u00fcmpell hat dieses Experiment h\u00e4ufig anderen demonstrirt, konnte man Folgendes beobachten: \u201eZuerst machte der Kranke einige Aeusse-rungen der Verwunderung, versuchte vergeblich sich durch Schlagen mit der Hand Geh\u00f6rseindr\u00fccke zu verschaffen. Nach wenigen (2\u20143) Minuten Hessen diese Bewegungen schon nach, Respiration und Puls wurden ruhiger, erstere gleichm\u00e4ssiger, tiefer. Man konnte jetzt die Binde von den Augen entfernen. Dieselben waren geschlossen: der Kranke lag da im festen Schlaf.\u201c\nWenn ' gleich, wie auch Str\u00fcmpell vermuthet, ein Mann mit h\u00f6herer geistiger Ausbildung sich in derselben Lage durch seine Ge-d\u00e4chtnissbilder l\u00e4nger wach erhalten h\u00e4tte, so geht aus diesem Falle doch die grosse Macht hervor, welche die Sinnesreize auf die Lebhaftigkeit der geistigen Functionen in jedem Momente aus\u00fcben.\nDie Tiefe des Schlafes ist bekanntlich grossen individuellen Schwankungen unterworfen; dass sie auch bei einem und demselben Individuum zeitlich verschieden ausf\u00e4llt, geht schon aus den Erfahrungen des t\u00e4glichen Lebens hervor. Kohlsch\u00fctter1 2 bestimmte die Tiefe des Schlafes im Verlaufe einer Nacht. Es geschah dies, indem von halber zu halber Stunde das untersuchte Individuum durch einen Schallreiz von abzustufender Gr\u00f6sse so weit geweckt wurde, dass es eine richtige und klare Antwort geben konnte. Die Tiefe des Schlafes wurde der Intensit\u00e4t des Reizes, welcher gen\u00fcgte um zu wecken, proportional gesetzt. Kohlsch\u00fctter bediente sich als Reizgeber des Fechner\u2019scI]en Schallpendels3 eines pendelartig aufgeh\u00e4ngten Gewichtes, das aus der Gleichgewichtslage gehoben, auf eine Schieferplatte herabf\u00e4llt. Der Schall, den es dabei erzeugt, ist je nach der H\u00f6he, aus welcher es gefallen ist, verschieden stark, und diese St\u00e4rke kann berechnet werden.\nEs leuchtet ein, dass bei Vornahme derartiger Versuche eine ganze Reihe von Fehlerquellen in Betracht und in Rechnung gezogen\n1\tStr\u00fcmpell, Beobachtungen \u00fcber ausgebreitete An\u00e4sthesien und deren Folgen f\u00fcr die willk\u00fcrliche Bewegung u. das Bewusstsein. Deutsch. Arch.f. lclin. Med. XXII.\n2\tKohlsch\u00fctter, Messungen der Festigkeit des Schlafes. Dissert. Leipzig 1862 und Zeitschr. f. rat. Med'. 1863.\n3\tFechner, Elem. d. Psychophysik. I. S. 176.179.","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nExner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 7. Cap. Der Schlaf.\nwerden muss. Trotz dieser Schwierigkeiten haben sich doch folgende Thatsachen mit Sicherheit ermitteln lassen.\nDie Tiefe des Schlafes nimmt im Laufe der ersten Stunde rasch zu und nimmt nach der ersten Stunde mit abnehmender Geschwindigkeit ab. Die beistehende Curve Fig. 3 zeigt den Verlauf eines achtst\u00fcndigen Schlafes, wobei zu bemerken ist, dass Kohlsch\u00fctter vermuthet, dass das Maximum derselben in Wirklichkeit noch etwas fr\u00fcher (also in die erste Stunde hinein) f\u00e4llt, als die nach bestimmten Versuchsreihen construite Curve es zeigt. Dieselbe ist ohne weitere Erl\u00e4uterung verst\u00e4ndlich: auf der Abscixsenase sind die Stunden nach Beginn des Schlafes aufgetragen, die Ordinaten bedeuten die Schallintensit\u00e4ten, welche den Schlafenden zu wecken vermochten.\n0,5 1,0 1,5 2,0 2,5 3,0\t3,5 4,0 4,5\t5,0 5,5 6,0 6,5 7,0 7,5 7,8\nFig. 3. Curve, die Tiefe des Schlafes im Verlauf einer \u00abst\u00e4ndigen Schlaf-dauer darstellend. Auf der Abscissenaxe sind die Stunden verzeichnet, auf\nder Ordinatenaxe die Schallintensit\u00e4ten, welche zum Wecken n\u00f6thig waren.\nDiese Curve beh\u00e4lt ihren Charakter unabh\u00e4ngig von der absoluten Intensit\u00e4t des Schlafes. Wenn der Schlaf in Folge irgendwelcher Umst\u00e4nde sich verflacht, ohne dass eigentliches Erwachen ein-tritt, so folgt eine Periode tieferen Schlafes als dem normalen Verlaufe entspricht. Die Gr\u00f6sse und Dauer dieser Vertiefung h\u00e4ngt von der Gr\u00f6sse der Verflachung ab, und verl\u00e4uft nach einer \u00e4hnlichen Curve, nach welcher die Tiefe des Schlafes im Allgemeinen verl\u00e4uft. Es kann nicht unbemerkt bleiben, dass das, was in der Curve die Tiefe des Schlafes darstellt, nicht als identisch betrachtet werden kann mit der erquickenden Wirkung des Schlafes. W\u00fcrde die Curve zugleich den Verlauf der Erholung des Centralnervensystemes w\u00e4hrend der achtst\u00fcndigen Dauer des Schlafes darstellen, so w\u00e4re es fast gleich-","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Tiefe des Schlafes. Nebenerscheinungen.\n297\ng\u00fcltig, ob Jemand nur 2, 5 Stunden oder 8 Stunden schl\u00e4ft. Die Curve zeigt also, dass die erquickende Wirkung und die Tiefe des Schlafes (letztere in der obigen Weise gemessen) einander nicht parallel gehen.\nUntersucht man in analoger Weise ein Individuum, welches in Folge leichter Alkoholintoxication schl\u00e4ft, so erh\u00e4lt man eine Curve, welche sich von der normalen in keinem Punkte unterscheidet.\nWas die individuellen Schwankungen in der durchschnittlichen Tiefe des Schlafes anbelangt, so l\u00e4sst sich als allgemeine Regel aufstellen, dass Kinder tiefer und auch l\u00e4nger schlafen als Erwachsene, dass das Bed\u00fcrfniss nach Schlaf bei \u201evegetativen vollsaftigen Constitutionen\u201c1 gr\u00f6sser ist als bei mageren Menschen.\nBei den Erscheinungen des Schlafes muss noch erw\u00e4hnt werden, dass die Athmung verlangsamt und die einzelnen Athemz\u00fcge vertieft sind, die Pulsfrequenz verringert und eine Reihe von Secretionen vermindert ist. Schon Purkinje2 erw\u00e4hnt des Trockenwerdens der Cornea eines Schl\u00e4frigen, welche das Reiben der Augen n\u00f6thig macht, um eine ausgiebigere Thr\u00e4nensecretion zu bewirken, auch die Spei-chelsecretion nimmt im Schlafe ab; ob ganz oder nur zum Theile in Folge der Ruhe der Kaumuskeln l\u00e4sst sich freilich nicht b\u00e8stimmen. Wer einen Nasenkatarrh hat, wird in dem Stadium, in welchem das Secret am reichlichsten fliesst und er stets das Sacktuch in der Hand haben muss, erfahren, dass das Fliessen aufh\u00f6rt, oder doch fast aufh\u00f6rt, sobald er eingeschlafen ist. Auch die Harnsecretion erscheint im Schlafe vermindert.3\nDie Augen des Schlafenden sind nach ein- und aufw\u00e4rts gerichtet, die Pupille verengt. Letztere erweitert sich beim Erwachen \u00fcber das normale Maass und n\u00e4hert sich diesem erst allm\u00e4lig und unter Schwankungen ihrer Weite.4\nEndlich sind an Thieren, sowie gelegentlich am Menschen Beobachtungen \u00fcber die Circulationsverh\u00e4ltnisse im Gehirn und seinen H\u00e4uten im schlafenden und wachenden Zustande angestellt worden. Ohne auf diese in diesem Capitel n\u00e4her eingehen zu k\u00f6nnen (sie werden in einem anderen besprochen werden) sei erw\u00e4hnt, dass die oft sehr widersprechenden Angaben im Allgemeinen doch dahin f\u00fchren, im Schlafe eine etwas geringere F\u00fcllung der Blutgef\u00e4sse in der Sch\u00e4delh\u00f6hle anzunehmen, als im wachenden Zustande.\nWas die Ursachen des Schlafes anbelangt, so sind die An-\n1\tJ. M\u00fcller, Handb. cl. Physiol. II. S. 587. Coblenz 1840.\n2\tPurkinje, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol, unter \u201eSchlaf-\u201c.\n3\tVergl. Quincke, Ueber den Einfluss des Schlafes auf die Harnsecretion. Arch, f. experim. Pathol. VII. S. 115.\n4\tJ. M\u00fcller, Handb. d. Physiol. S. 583. Coblenz 1840.","page":297},{"file":"p0298.txt","language":"de","ocr_de":"293\nExner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 7. Cap. Der Schlaf.\nsichten dar\u00fcber ziemlich einig, dass dieselben in der Ueberm\u00fcduug des Centralnervensystemes liegen, und dass dieses im Schlafe an Arbeitsf\u00e4higkeit gewinnt, sich restituirt.1 Ueber die unmittelbare Ursache des Schlafes aber, d. h. \u00fcber die physiologischen Ver\u00e4nderungen, welche als Ausdruck dieser Erm\u00fcdung den Schlaf im gegebenen Falle herbeif\u00fchren, gehen die Ansichten ungemein auseinander. Es w\u00e4re kaum m\u00f6glich, alle die zum Theil sehr abenteuerlichen Theorien \u00fcber den Schlaf anzuf\u00fchren, welche seit den Zeiten der griechischen Philosophen aufgestellt wurden. Es giebt vielleicht kein Ca-pitel der Physiologie, \u00fcber welches so viel mit so wenig Resultat geschrieben wurde. Denn wir wissen von den unmittelbaren Ursachen des Schlafes auch heute noch nichts Sicheres.\nMan neigt sich in neuerer Zeit einer chemischen Theorie des Schlafes zu. Die ersten Anf\u00e4nge einer solchen scheinen von Alex. v. Humboldt2 herzur\u00fchren, der vermuthete, sogar glaubte, dass im Schlafe weniger Sauerstoff vom Gehirne aufgenommen werde als im Wachen. Purkinje3 sagt, man k\u00f6nne sich den Schlaf als den Ausdruck eines verminderten Sauerstoffgehaltes des Blutes vorstellen, ohne weiter eine Erkl\u00e4rung der einzelnen Erscheinungen auf diesem Wege zu urgiren. Es h\u00e4ngen diese Anschauungen offenbar mit der Erfahrung zusammen, dass das Bewusstsein schwindet, wenn der Sauerstoff des H\u00e4moglobins verzehrt oder wenn er durch Kohlenoxydgas ersetzt ist. Es sind derartige Versuche wieder in neuester Zeit von Pfl\u00fcger4 angestellt worden, der zeigte, dass Fr\u00f6sche des Sauerstoffes beraubt erst \u201eschlaftrunken\u201c, dann scheintodt werden. Bietet man den Thieren dann wieder Sauerstoff, so erholen sie sich vollst\u00e4ndig wieder, vorausgesetzt, dass sie nicht zu lange im bewegungslosen Zustande gehalten wurden.\nDa schon der Mangel des Sauerstoffes im Blute Bewusstlosigkeit erzeugt, so ergiebt sich von selbst, dass mangelhafte oder ganz unterbrochene Blutzufuhr zum Gehirn ebenfalls bewusstlos macht. So Druck auf die Carotiden, starke Blutverluste und dergl. Fleming5 hat beim Menschen durch Compression der Carotiden einen schlaf-\n1\tAnders d\u00fcrfte es bei dem Winterschlaf sein. Hier scheint es vielmehr, dass die Natur im Schlafe ein Mittel gefunden hat, die Thiere \u00fcber eine Zeit von Nahrungsmangel, mit m\u00f6glichst geringem Schaden hinauszubringen.\n2\tv. Humboldt, Versuche \u00fcber die gereizte Muskel- und Nervenfaser. Berlin u. Posen 1797.\n3\tPurkinje, Wagner\u2019s Handw\u00f6rterb. d. Physiol unter \u201eSchlaf\u201c.\n4\tPfl\u00fcger, Theorie des Schlafes. Arch. f. d. ges. Physiol. X und Ueber die physiologische Verbrennung in den lebendigen Organismen, ebendaselbst.\n5\tFleming, Note sur la production du sommeil et de l\u2019anesth\u00e9sie des carotides. Rev. m\u00e9d. fran\u00e7aise et \u00e9trang\u00e8re. Juin 1855.","page":298},{"file":"p0299.txt","language":"de","ocr_de":"Vorstellungen \u00fcber die physiologische Bedeutung des Schlafes.\n299\n\u00e4hnlichen Zustand erzeugt. Ohnm\u00e4chten k\u00f6nnen deshalb h\u00e4ufig behoben werden, wenn man den Ohnm\u00e4chtigen in die horizontale Lage bringt, und dadurch das Einstr\u00f6men des Blutes in das Gehirn erleichtert.\nIn all diesen und \u00e4hnlichen F\u00e4llen liegt aber die Frage nahe, haben wir es hier mit denselben Factoren zu thun, die den normalen Schlaf bedingen? Bewusstlosigkeit ist noch nicht Schlaf.\nObersteiger1 dachte in folgender Theorie den normalen Verh\u00e4ltnissen des Schlafes besser Rechnung zu tragen. Analog wie im Muskel gewisse durch die Contraction entstandene chemische Stoffe, wie Milchs\u00e4ure und Kreatin die unmittelbare Ursache der Erm\u00fcdung des Muskels sind, so zwar, dass die Erm\u00fcdung schwindet, wenn diese Stoffe aus dem Muskel ausgewaschen, und sogleich wieder auftritt, wenn diese Stoffe in den Muskel hineingebracht werden, ebenso meint Obersteiger werden Erm\u00fcdungsstoffe w\u00e4hrend dem Wachen im Gehirn gebildet und angeh\u00e4uft, im Schlafe aus demselben durch das Blut herausgewaschen. Die Erfahrungen, dass die Nervenfasern, nachdem sie tetanisirt worden, sauer reagiren, sowie die Thatsachen von der sauren Reaction grauer Substanz f\u00fchrten Obersteiger zur Annahme, dass wir es auch im Centralnervensystem mit einer S\u00e4ure als Erm\u00fcdungsstoff zu thun haben.\nPreyer2 vermuthete, dass diese S\u00e4ure wie in den Muskeln Milchs\u00e4ure ist, und stellte auch diesbez\u00fcgliche Versuche an Thieren und Menschen an, indem er pr\u00fcfte, ob milchsaures Natron in das Blut gebracht eine schlafmachende Wirkung aus\u00fcbt. Die Resultate, die er und andere bei diesen Versuchen erhielten, sind bisher noch zu wenig \u00fcbereinstimmend, um sie als Best\u00e4tigung jener Theorie an-sehen zu k\u00f6nnen.3 Die Periodicit\u00e4t des Schlafes ist vorl\u00e4ufig in diesen Theorieen nicht erkl\u00e4rt.\nDie Anschauungen Pfl\u00fcger\u2019s \u00fcber den Schlaf4 lassen sich nur in Verbindung seiner Theorie des Lebens5 6, f\u00fcr welche hier nicht der Platz ist, darstellen.0\n1\tObersteiner, Zur Theorie des Schlafes. Ztschr. f. Psych, etc. XXIX.\n2\tPreyer, Ueber die Ursachen des Schlafes. Vortrag. Stuttgart bei Enke. 1877 und Centralbl. f. d. med. Wiss. 1875. S. 577.\n3\tVergl. Loth. Meyer, Arch. f. pathol. Anat. LXVI ; Mendel, Deutsche med. Wochenschr. v. 29. April 1876; Jerusalimsky , St. Petersb. med. Wochenschr. 1876. Nr. 11 ; Laufenauer, Pester med. Chirurg. Presse v. 30. Juli 1876; Erler, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1876; Senator, Berliner klin. Wochenschr. v. 17. Juli 1876; Fischer, Zeitschr. f. Psychiatrie. XXXIII.\n4\tPfl\u00fcger, Theorie des Schlafes. Arch. f. d. ges. Physiol. X. 468.\n5\tDerselbe, Ueb. d. physiol. Verbrenn, i. d. lebend. Organ. Ebendas. X. S. 300.\n6\tVergl. nebst den angef\u00fchrten Schriften \u00fcber den Schlaf: Joh. Ziehe, De somno. Inaug.-Diss. Erlangen 1818, enth\u00e4lt alte Literatur \u00fcber den Schlaf ; Byfort,","page":299},{"file":"p0300.txt","language":"de","ocr_de":"300\nExner, Grosshirnrinde. Allg. Physiol. 7. Cap. Der Schlaf.\nAnschliessend an die Lehre vom Schlafe m\u00f6gen hier noch die Erscheinungen des sogenannten Hypnotismus erw\u00e4hnt werden. Wer je einen Vogel mit der Hand gefangen hat, wird sich erinnern, dass derselbe, sobald er ergriffen ist, lebhafte Fluchtversuche macht, nach wenigen Secunden aber sich, wie es den Anschein hat, in sein Schicksal ergiebt, ruhig liegen bleibt, sich wenden und drehen l\u00e4sst, ohne weitere Bewegungen zu versuchen, ja man kann jetzt sachte die Hand \u00f6ffnen und er bleibt liegen, man kann ihn auf den Tisch legen und er bleibt, wenn man ihn nur erst eine Weile festgehalten und dann vorsichtig losgelassen, auch hier und zwar auch in den unnat\u00fcrlichsten Stellungen, wie man sie ihm eben gegeben hat, liegen. Erst nach einer Weile springt er auf und entflieht, ohne dass weiter irgend eine auffallende Erscheinung an ihm zu bemerken ist.\nDieses Ph\u00e4nomen, das mit verschiedenen Zuthaten seit Jahrhunderten im Volke bekannt, zuerst im Jahre 1636 von Daniel Schwent-ner1 beschrieben worden zu sein scheint, bildet die mehr oder weniger versteckte Grundlage des sogenannten Experimentum mirabile Kirchee\u2019s.'2 Dieses bestand in Folgendem: ein Huhn wird an den Fiissen gefesselt, dann h\u00e4lt man es auf dem Fussboden so lange fest bis es sich beruhigt hat. Darauf wird vor dem Schnabel ein Kreidestrich gezogen, die Binde um die Ftisse weggenommen, und jetzt bleibt es noch eine Weile regungslos liegen. In neuerer Zeit hat\nOn the Physiologie of repose or sleep. The Amer, journ. of med. Sc. April 1856, und Gazette m\u00e9dicale de Paris. No. 16. 17. 23, enth\u00e4lt eine Theorie, begr\u00fcndet auf die Wirkung des \u00abSauerstoffs ; Fowler , On the state of the mind during sleep. Report of the Brit. Assoc, at Belfast 1853. p. 80, enth\u00e4lt subject. Erscheinungen; K\u00e4stner, De somno. Halis 1853; R\u00f6len, De somno. Dissert. Bonn 1849, enth\u00e4lt vivisect. Beobachtungen ; Eine anonyme Abhandlung : Einige Beobachtungen \u00fcb. d. Schlaf. Wiener med. Wochenschr. 1870. Nr. 32, erkl\u00e4rt den Schlaf f\u00fcr eine Folge von Kohlens\u00e4ureanh\u00e4ufung im Gehirn ; Adkinson, An inquiry as to the cause of sleep. Edinburgh med. journ. 1870. p. 109; Kohlsch\u00fctter, Mechanik des Schlafes. Ztschr. f. rat. Med. XXXIV, enth\u00e4lt eine chemische Theorie, basirt auf Circulationsverh\u00e4ltnisse; Hammond, On Wakefulness with an introd. chapt. on the Physiology of sleep. Philadelphia, Lippincott et Comp. 1866, enth\u00e4lt vivisectorische Beobachtungen, Fechner, Elem. d. Psy-chophysik. II. S. 439; Durham, The physiology of sleep. Guy\u2019s Hospital Report. I860, p. 148 und \u00c9tudes physiologiques sur le sommeil. Arch, g\u00e9n\u00e9r. 1861. p. 637, enth\u00e4lt vivisectorische Beobachtungen ; Tebaldi, Del sogno. Annali universali di medicina. p. 552. D\u00e9cembre 1860; Brevost, Biblioth. univ. 1834 Mars, enth\u00e4lt Beobachtungen \u00fcber Tr\u00e4ume ; Friedl\u00e4nder, Vers, \u00fcber die inneren Sinne u. ihre Anomalien. Leipzig 1826; Richardson, On the influence of extreme cold on nervous function, und On the balance of nervous action. Medical times and gazette. 1867. May. p. 489. 517. 545. July. p. 5\". Aug. p. 113, 167. 221 ; Nudow, Versuch einer Theorie des Schlafes. K\u00f6nigsberg bei Nicolovius. 1792; Davidson, Ueber d. Schlaf. Berlin bei Felisch. 1796; Gottel, Somni adumbratio physiol, etpathol. Berlin 1819.\n1\tSchwentner, Deliciae physicomathematicae. N\u00fcrnberg 1636. Vergl. Preyer, Sammlung physiol. Abhandl. 2. Reihe : Die Kataplexie und der thierischeHypnotismus. Jena 1878.\n2\tKircher, Ars magna lucis et umbrae. Romae 1646.","page":300},{"file":"p0301.txt","language":"de","ocr_de":"Der hypnotische Zustand.\n301\nCzermak1 dieser Erscheinung wieder die Aufmerksamkeit der Physiologen zugewendet, und zun\u00e4chst constatirt, dass Kreidestrich und Fesselung entbehrlich sind, dass es sich vielmehr nur darum handle, das Thier so lange festzuhalten, bis es seine Bewegungen einstellt. Dabei ist es vortheilhaft, den Kopf gerade ausgestreckt auf der Unterlage zu fixiren.\nAuffallend und sonderlich ist es, dass die Thiere in Stellungen verharren, bei welchen gewisse Muskelgruppen stark contrahirt sind, z. B. ein Bein krampfhaft an den Leib gezogen, das andere ebenso von sich gestreckt, dass ein Huhn in diesem Zustande um seine K\u00f6r-peraxe gedreht, den Kopf in seiner Orientirung im Raume bel\u00e4sst (nat\u00fcrlich nur bis zu einer gewissen Grenze), also im Halse eine com-pensirende Drehung ausf\u00fchrt, dass es durch ein Ger\u00e4usch veranlasst eine kleine Bewegung macht und in der neuen Stellung nun ebenso noch minutenlang verharrt, bis es endlich durch einen pl\u00f6tzlichen Sinnesreiz oder auch ganz von selbst aus diesem Zustande erwacht. Czermak nennt diesen Zustand einen \u201ehypnotischen Zustand\u201c. Er fand weiter, dass der Kreidestrich in Kircher\u2019s Experiment zwar entbehrlich, aber doch nicht ganz ohne Bedeutung ist. Brachte er n\u00e4mlich auffallende Objecte nahe vor die Augen der H\u00fchner, klebte z. B. einen Kork auf den Schnabel, oder hing ein \u201eReiterchen\u201c aus Pappe so \u00fcber den Kamm, dass je ein Schenkel vor ein Auge kam, so verfielen die Thiere leichter in den hypnotischen Zustand und schliefen sogar f\u00f6rmlich ein, so zwar, dass sie die Augen schlossen, und der Muskelzug nachliess. Dieser Schlaf dauerte freilich nicht lange. Dabei kann man Erscheinungen, welche an Katalepsie erinnern, beobachten, indem man z. B. den Hals eines hypnotischen Thieres heben, senken, horizontal ausstrecken kann, und er, nachdem man ausgelassen, in der gegebenen Stellung verharrt. Czermak dehnte diese Versuche auf Cochinchina- und andere Hiihnerra\u00e7en aus, ferner auf Truth\u00fchner, Enten, G\u00e4nse, einen Schwan, kleine Singv\u00f6gel und Tauben.\nAuch Fluss-Krebse lassen sich hypnotisiren. Auf den Kopf gestellt, bleiben sie in der wunderlichen Stellung stehen.\nPreyer2, der diese Versuche wiederholte und mit gleichem Erfolg auf Kaninchen, Meerschweinchen und andere Thiere ausdehnte (mit Hunden gelingt der Versuch nicht), best\u00e4tigt das Thats\u00e4chliche derselben in allen wesentlichen Punkten. Er glaubt in dem eigen-\n] Czermak, Sitzgsber. d. Wiener Acad. LXVL 3. Abth. und Arch. f. d. ges. Physiol. VII. 1S73.\n2 Preyer, Centralbl. f. d. med. Wiss. 15. M\u00e4rz 1S73.","page":301},{"file":"p0302.txt","language":"de","ocr_de":"302 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. Anatomische Vorbemerkungen.\nth\u00fcmlichen bewegungslosen Zustande eine Wirkung der Angst zu bemerken, eine Deutung, welche, wenn wir uns von dem Begriff der rein geistigen Affecte frei halten wollen, wohl dahin zu verstehen ist, dass dieser Zustand mit zu jenen physiologischen Aeusserungen geh\u00f6rt, deren Inbegriff gemeinhin mit dem Namen Angst bezeichnet wird. Peeyer schl\u00e4gt, seiner Anschauung entsprechend, statt des Namens Hypnotismus den Namen Kataplexie vor.1 Die Temperatur sinkt in diesem Zustande um mehrere Grade ; auch geblendete Thiere oder solche, welche durch eine Kopfkappe am Sehen verhindert sind, gerathen in diesen Zustand.\nHeubel2, der sich auch mit unserem Gegenst\u00e4nde besch\u00e4ftigte, fand, dass Fr\u00f6sche bis sechs Stunden im hypnotischen Zustande erhalten werden k\u00f6nnen, wenn nur \u00e4ussere Reize, so weit dies m\u00f6glich ist, fern gehalten werden. Entfernt man ihnen das Grosshirn, so gerathen sie ebenso leicht wie fr\u00fcher, entfernt man auch die Lobi optici und Yierh\u00fcgel, gerathen sie weniger leicht in den hypnotischen Zustand. Die hypnotischen Thiere fand Heubel in vieler Beziehung sich \u00e4hnlich den schlafenden verhalten, und meint demnach, dass man es hier mit einem wahren normalen Schlaf zu thun hat.\nPHYSIOLOGIE.\nB.\nAnatomische Yorbemerkungen.\nDie Gehirnrinde bildet einen Mantel grauer Substanz, welcher die radi\u00e4r aus dem Gehirnstamm ausstrahlenden Fasern der weissen Markmasse einh\u00fcllt und in sich aufnimmt. Sie enth\u00e4lt s\u00e4mmtliche Enden, beziehungsweise Anf\u00e4nge jener Markfasern.\nOhne uns hier n\u00e4her auf die feinere Anatomie der Hemisph\u00e4re einlassen zu k\u00f6nnen, sei nur hervorgehoben, welche Faserz\u00fcge es\n1\tSammlung physiol. Abhandl. Herausg. v. Preyer. 2. Reibe. 1. Heft. Diese Abhandlung entb\u00e4ltpbotograpbiscbe Abbildungen von hypnotischen Thieren. die theils von Czermak (diese in lithographischer Reproduction), theils vom Autor herr\u00fchren.\n2\tHeubel, Ueber die Abh\u00e4ngigkeit des wachen Gehirnzustandes von \u00e4usseren Erregungen. Arch. f. d. ges. Physiol. XIY.","page":302},{"file":"p0303.txt","language":"de","ocr_de":"Schema der Nervenz\u00fcge, welche in die Bildung der Hirnrinde eingehen. 303","page":303},{"file":"p0304.txt","language":"de","ocr_de":"304 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. Anatomische Vorbemerkungen.\nsind ; die in die Bildung der Grosshirnrinde eingehen 1 (vergl. das Schema Fig. 4).\na) Die motorischen Stabkranzfasern, welche von den vier grossen Gehirnganglien Thalamus opticus, Corpus quadrigeminum, Corpus striatum und Nucleus lentiformis (Sehh\u00fcgel, Vierh\u00fcgel, Streifenh\u00fcgel und Linsenkern) nach der Hirnrinde ausstrahlen. Diese Fasern zerfallen ihrer Herkunft und ihrer physiologischen Bedeutung nach in zwei Gruppen. Die erste Gruppe (2, 2) besteht aus den dem Sehh\u00fcgel (T) und Vierh\u00fcgel ( V) angeh\u00f6rigen Fasern; sie verlaufen, nachdem sie diese Ganglien passirt haben, in der Haube des Hirnschenkels nach abw\u00e4rts, betheiligen sich nicht an der Pyramidenkreuzung, kreuzen sich aber wahrscheinlich weiter unten (bei K) im R\u00fcckenmarke. Sie treten in die graue Substanz desselben ein, erleiden auch hier ihre centralen Umwandlungen, und verlassen dann diese wieder, um mit den vorderen Wurzeln (i>. TU.) aus dem R\u00fcckenmarke auszutreten. Es stellen diese Fasern die Bahnen f\u00fcr die unwillk\u00fcrlichen Bewegungen dar (Meynert). Die zweite Gruppe (1, 1) geh\u00f6rt dem Streifenh\u00fcgel (S) und Linsenkern (L) an; die Fasern derselben verlaufen, nachdem sie diese Ganglien unter entsprechender centraler Ver\u00e4nderung durchsetzt, im Fusse des Hirnschenkels, bilden dann die untere Pyramidenkreuzung2 (u. P.), treten ebenfalls in die graue Substanz des R\u00fcckenmarkes ein, und verlassen dieselbe wieder, um auch als motorische Fasern mit den vorderen Wurzeln die Peripherie zu gewinnen. Es sind diese die Bahnen f\u00fcr die willk\u00fcrlichen Bewegungen (Meynert). Die Thatsache, dass von der Hirnrinde her durch den Stabkranz viel mehr Fasern in die Stammganglien ein-treten als auf der peripheren Seite derselben durch die Pedunculi austreten, wird so gedeutet, dass in den Ganglien eine Reduction der Fasern stattfindet, und \u00e4hnlich die Thatsache, dass durch die Medulla oblongata weniger Fasern in das R\u00fcckenmark gelangen, als durch die Wurzeln dasselbe verlassen, so, dass in der grauen Substanz des R\u00fcckenmarkes eine Vermehrung der Fasern statt hat.3\nEin analoges Verhalten wie die hier beschriebenen R\u00fccken-\n1\tVergl. hier\u00fcber Meynert's Abhandl. in Strieker\u2019s Handb. der Lehre von den Geweben. S. 695. Leipzig 1871.\n2\tNach Flechsig (Die Leitungsbahnen im Gehirn und R\u00fcckenmark. Leipzig 1876) nimmt nur ein Theil dieser Fasern an der Pyramidenkreuzung Theil. Dieser Forscher hat auch \u00fcber die Stellung der Stammganglien Ansichten ausgesprochen, welche von den hier mitgetheilten abweichen. (Vergl. weitere Beobachtungen \u00fcber den Faserverlauf innerhalb der nerv\u00f6sen Centralorgane. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1877. S. 35 u. \u00fcber Systemerkrankungen im Arch. d. Heilk. 1877.)\n3\tVergl. Woroschiloff, Der Verlauf der motor, und sensibl. Bahnen durch das Lendenmark des Kaninchens. Leipzig, Ges. d. Wiss. 1874 u. in d. Arbeiten d. physiol. Anstalt zu Leipzig. 1874.","page":304},{"file":"p0305.txt","language":"de","ocr_de":"Faserz\u00fcge, welche in die Bildung der Hirnrinde eingehen.\n305\nmarksnerven, zeigen im Allgemeinen die motorischen sogenannten Gehirnnerven, f\u00fcr welche die centrale Fortsetzung der grauen Substanz des R\u00fcckenmarkes dieselbe Bedeutung hat, wie diese graue Substanz selbst f\u00fcr die R\u00fcckenmarksnerven.\nb)\tDie durch die hinteren Wurzeln (h. W.) in das R\u00fcckenmark eintretenden sensibeln Bahnen erfahren eine erste Endigung in der grauen Substanz desselben, kreuzen sich fr\u00fcher oder sp\u00e4ter, zum Theile in der oberen Pyramidenkreuzung (0. P.) und strahlen dann, ohne in ein Stammganglion \u00fcberzugehen, nach der Rinde aus (Meynert). Auch hier zeigen die sensibeln Gehirnnerven ein Verhalten, das den sensibeln R\u00fcckenmarksnerven entspricht.\nFerner treten die Fasern aus dem Tractus olfactorius theils nach ihrer Kreuzung1, theils ohne auf die andere Seite zu treten, zur Rinde (\u00f6, 5); ebenso Fasern aus dem Tractus opticus, nachdem sie theils den Thalamus opticus, theils die Corpora geniculata, theils den vorderen Vierh\u00fcgel passirt haben (4, 4). Einen directen Eintritt von Acusticusfasern in die Rinde kennen wir nicht, auch \u00fcber einen indirecten haben wir keine sichere Kenntniss.\nc)\tFasern, welche aus dem Kleinhirn durch den Bindearm (B) gekreuzt nach der Rinde des grossen Gehirns ziehen (6, 6).\nd)\tDie Fasern der Commissuren, deren gr\u00f6sste der Balken ist (7, 7). Er verbindet symmetrisch gelegene Partien der Rinde beider Seiten mit einander.\ne)\tDie Bogenfasern, welche unter der Rinde verlaufend je zwei Rindenstellen einer Seite mit einander verbinden (8, 8).\nDer mikroskopische Bau der Grosshirnrinde2 3 ist nach den Oert-lichkeiten derselben ein verschiedener. Wenn wir abseh en vom St\u00fctzgewebe und den Blutgef\u00e4ssen, so haben wir es hier mit einem \u00fcberaus schwer verst\u00e4ndlichem Gewebe feinster Nervenfasern und im Allgemeinen sehr kleiner Ganglienzellen zu thun. Jene Verschiedenheit manifestirt sich dadurch, dass die Anordnung der Nervenzellen sowie ihre Gr\u00f6sse variirt.\nMeynert 3 unterscheidet f\u00fcnf Typen der Grosshirnrinde :\n1.\tDer gemeinsame Typus der Convexit\u00e4t der Hemisph\u00e4re. Er betrifft den gr\u00f6ssten Theil der Rinde.-\n2.\tDer Typus der Hinterhauptsspitze.\n3.\tDer Typus der SYLvi\u2019schen Grube.\n1\tDiese Kreuzung wird von vielen Autoren geleugnet.\n2\tYergl. Meynert, Der Bau der Grosshirnrinde und seine \u00f6rtliche Verschiedenheit etc. Vierteljahrschr. f. Psychiatrie. 1S67. 1. Heft.\n3\tStrieker\u2019s Handb. d. Lehre v. d. Geweben. S.703. Die hier mitgetheilte Schilderung des Baues der Hirnrinde h\u00e4lt sich streng an Meynert.\nHandbuch der Physiologie. Bd. 11a.\n20","page":305},{"file":"p0306.txt","language":"de","ocr_de":"I Schichte der zerstreuten kleinen Rindenk\u00f6rper. 2 Schichte der dichten kleinen pyramidalen Rindenk\u00f6rper. 3 Schichte der grossen pyramidalen Rindenk\u00f6rper. 4 Schichte der kleinen dichten unregelm\u00e4ssigen Rindenk\u00f6rper, \u00f6 Schichte der spindelf\u00f6rmigen Rindenlcorper. m Mai meiste.\n306 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. Anatomische Vorbemerkungen.\n\n4.\tDer Typus des Ammons-homes.\n5.\tDer Typus des Bulbus olfactorius.\nEs kann hier nicht unsere Aufgabe sein, alle diese \u00f6rtlichen Verschiedenheiten kennen zu lernen. Es sei deshalb nur von dem ersten Typus als dem verbreitetsten die Rede.\nHier lassen sich in der Hirnrinde f\u00fcnf Schichten erkennen (vergl. Fig. 5).\nDie \u00e4usserste ernte Schichte enth\u00e4lt in ihrem granulirten\nGrunde verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig sp\u00e4rliche unregelm\u00e4ssig gestaltete und ebenso gelagerte Nervenzellen mit feinen verzweigten Forts\u00e4tzen. Sie hat eine Dicke von 0,25 Mm. und soll der Hauptsache nach aus St\u00fctzgewebe bestehen. Es stimmt hiermit die Angabe Meynert\u2019s \u00fcberein, dass bei vielen Thieren diese Schichte nicht nur relativ, sondern auch absolut m\u00e4chtiger -entwickelt ist, als beim Menschen.\nDie zweite Schichte, ebenso dick wie die erste, und von dieser nicht scharf getrennt, ist durch eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig grosse Menge pyramidenf\u00f6rmiger, mit ihrer Spitze nach aussen sehender ziemlich kleiner Ganglienzellen charakterisirt. Das Wort Pyramide ist hierbei nicht im strengsten Sinne zu nehmen, vielmehr hat man es","page":306},{"file":"p0307.txt","language":"de","ocr_de":"Schichten der Hirnrinde.\n307\nliier mit l\u00e4nglichen Zellen zu thun, welche einen relativ starken Fortsatz gegen die erste Schichte schicken, aber ausser diesem noch eine Reihe von Vorspr\u00fcngen und Forts\u00e4tzen haben.\nDie dritte Schichte, zwischen 0,7\u20140,8 Mm. schwankend, ist noch weniger scharf von der zweiten geschieden, als diese von der ersten. Sie enth\u00e4lt \u00e4hnliche Pyramidenzellen wie die zweite Schichte, diese aber sp\u00e4rlicher vertheilt, gr\u00f6sser und nach der Tiefe an Gr\u00f6sse stetig zunehmend.\nDie vierte Schichte, von \u00e4hnlicher M\u00e4chtigkeit wie die erste und zweite, enth\u00e4lt ziemlich dicht aneinander gedr\u00e4ngt polygonale Zellen von geringer Gr\u00f6sse (8\u201410^), mit verzweigten, schwer sichtbaren Forts\u00e4tzen.\nDie f\u00fcnfte Schichte ist charakterisirt durch Spindelzellen, welche an beiden Enden deutliche Forts\u00e4tze haben. Sie liegen mit ihrer L\u00e4ngsaxe immer in der Richtung der sogenannten Bogenfasern, d. i. der Fasern, welche der Hauptmasse nach hart unter der Rinde verlaufend, die Verbindung eines Rindenbezirkes mit einem benachbarten herstellen. Feine Forts\u00e4tze, welche von ihrem K\u00f6rper senkrecht auf dessen L\u00e4ngsaxe abgehen, sah Meynert immer nach den \u00e4usseren Schichten der Rinde streben, so dass diese Zellen, da auch die beiden Hauptforts\u00e4tze sich nie nach dem Stabkranz wenden, mit diesem direct nichts zu thun zu haben scheinen. Dieser Forscher h\u00e4lt sie vielmehr f\u00fcr Schaltzellen der Bogenfasern.\nEs braucht kaum erw\u00e4hnt zu werden, dass die s\u00e4mmtlichen Schichten einen Filz feinster Nervenfasern, eben der Forts\u00e4tze \u2018der geschilderten Zellen enthalten. In demselben werden in der dritten Schichte B\u00fcndel parallel verlaufender F\u00e4serchen sichtbar, welche der weissen Substanz zustreben und indem sie die vierte und f\u00fcnfte Schichte^ durchsetzen, deutlicher und m\u00e4chtiger werden. Sie treten als deutliche B\u00fcndel in Abst\u00e4nden von 0,05\u20140,15 Mm. aus der Rinde in das Mark \u00fcber, um hier die Stabkranzfasern zu bilden.\nVon der \u00e4usseren Form des Gehirnes, sowie von gewissen histologischen Vorkommnissen soll dann die Rede sein, wenn uns die physiologischen Besprechungen zu denselben f\u00fchren.\n20*","page":307},{"file":"p0308.txt","language":"de","ocr_de":"308 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nERSTES CAPITEL.\nSpecielle Physiologie der Grosshirnrinde der Thiere.\nDie Lehren Gall\u2019s1, welche im Anf\u00e4nge unseres Jahrhunderts alle Gem\u00fcther erregten, hatten unter den exacten Forschern die Frage nach der Localisation der Gehirnfunctionen so sehr in Misscredit gebracht, dass sie bis vor wenigen Jahren gar nicht mehr ernstlich discutirt wurde. Man hatte sich an den Gedanken gew\u00f6hnt, dass die verschiedenen Bezirke der Gehirnrinde ihrer Function nach gleicli-werthig seien, und wurde in demselben durch viele, unten ausf\u00fchrlicher zu erw\u00e4hnende, F\u00e4lle von Gehirnverletzungen an Menschen best\u00e4rkt, welche gr\u00f6sstentheils ohne Ausfall irgend einer speciellen dem Gehirn zugeschriebenen Function verliefen und heilten.\nAuch Versuche an Thieren schienen diese Anschauung zu best\u00e4tigen, so dass sich die hervorragendsten Experimentatoren aus der ersten H\u00e4lfte unseres Jahrhunderts Flourens2 und Longet3 in demselben Sinne aussprachen.\nEbenso \u00e4usserte sich noch in den letzten Jahren Goltz4, obwohl in der Zwischenzeit Umst\u00e4nde bekannt wurden, welche, freilich in ganz anderem Sinne als es den GALL\u2019scken Lehren entsprach, auf eine Localisation der Hirnfunctionen deuteten. Es waren dies der Nachweis Broca\u2019s5 und anderer, dass mit der Degeneration einer gewissen ziemlich eng umgrenzten Region der Hirnrinde das Spracli-verm\u00f6gen verloren geht, sowie die auf anatomischen Studien beruhende Anschauung Meynert\u2019s, der entsprechend, die vordereren Antheile der Gehirnrinde mehr den motorischen, die hinteren Antheile derselben mehr den sensiblen Functionen vorstehen. Hieran reiht sich noch eine Anzahl von Krankheitsf\u00e4llen, welche f\u00fcr die Localisation sprach.\n1\tGall und Spurzheim , Anatomie et physiologie du syst\u00e8me nerveux. Paris 1810\u20141819, undAnat. u. Physiol, d. Nervsyst. imAllgem. u. d. Gehirns insbes. Mit Beobachtung, \u00fcb. d. M\u00f6glichk. d. Anlagen mehrerer Geistes- u. Gem\u00fcthseigenschaften a. d. Bau d. Kopfes d. Menschen u. d. Thiere zu erkennen. Paris u. Strassburg, Trenttel u. W\u00fcrtz. 1812.\n2\tFlourens, Rech, exp\u00e9rim. sur les propr. et les fonct. du syst. nerv. Paris l S42.\n3\tLonget, Anat. u. Physiol, d. Nervensystems. Uebers. v. Hein. 1847. Vergl. insbes. Bd. I. S. 559 ff.\n4\tGoltz, In den oben(S. 203) besprochenen Abhandlungen. Arch. f. d. ges. Physiol. XIII. u. XIV.\n5\tVon dem unten noch ausf\u00fchrlicher die Rede sein wird.","page":308},{"file":"p0309.txt","language":"de","ocr_de":"Die Localisation der Rindenfunctionen.\n309\nSo standen die Dinge als im Jahre 1870 Fritsch und Hitzig1 mit ihren epochemachenden Versuchen \u00fcber die elektrische Erregbarkeit der Grosshirnrinde hervortraten, welchen eine Reihe von Untersuchungen Hitzig\u2019s2, die dasselbe oder einschlagende Themata behandelten, folgten.\nDie Thatsachen, welche Fritsch und Hitzig fanden, sind so vieldeutig, die Fragen, welche sich an dieselben kn\u00fcpften, so mannigfaltig, die Versuche, welche alsbald von einer grossen Anzahl Experimentatoren zu ihrer Beantwortung ausgef\u00fchrt wurden, in so abweichenden Richtungen angestellt, dass die Darstellung alles dessen auf grosse Schwierigkeiten st\u00f6sst, auf Schwierigkeiten, die alsbald schwinden w\u00fcrden, wenn der leitende Faden, der alle diese Thatsachen zusammenh\u00e4lt, schon gefunden w\u00e4re. Dies ist bisher nicht der Fall.. Wie so oft in dem Grenzgebiet zwischen Physiologie und Psychologie stehen auch hier die verschiedensten Anschauungen nebeneinander und die Neuheit des Gegenstandes sowie seine Wichtigkeit lassen t\u00e4glich neue Untersuchungen erwarten. Unter diesen Verh\u00e4ltnissen ist es nicht zu vermeiden, dass die folgende Darstellung nur eine h\u00f6chst unvollkommene ist. Sie sucht sich auf das Thats\u00e4chliche zu beschr\u00e4nken und alle eigentlichen Erkl\u00e4rungsversuche bei Seite zu lassen oder doch nur so weit es die Vollst\u00e4ndigkeit der Angaben erfordert, zu erw\u00e4hnen. Es d\u00fcrfte zweckm\u00e4ssig sein, von den fundamentalen Versuchen Hitzig\u2019s auszugehen, diese etwas genauer ins Auge zu fassen und erst dann von den \u00fcbrigen Untersuchungen auf diesem Gebiete zu sprechen.\nI. Motorische Rindenfelder hei Thieren.\n1. Die Versuche von Hitzig und Fritsch.\nSetzt man bei lebenden Thieren auf die freigelegte Grosshirnrinde nahe aneinander zwei Elektroden auf und tastet mit denselben die Oberfl\u00e4che ab, so gewahrt man, dass in Folge des elektrischen Reizes sich gewisse Muskelgruppen der der gereizten Hemisph\u00e4re entgegengesetzten K\u00f6rperh\u00e4lfte contrahiren, und dass zu gewissen Reizstellen gewisse Muskelgruppen geh\u00f6ren. Exstirpirt man die Stelle der Rinde, bei deren Durchstr\u00f6mung eine Muskelgruppe, z. B. die eines Vorder-\n1\tFritsch und Hitzig, Ueber die elektrische Erregbarkeit der Grosshirnrinde. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1870.\n2\tHitzig, Untersuchungen zur Physiologie d. Gehirns. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1S71. 1873. 1874. 1875. 1876. Zum Theil zusammengestellt in dem Werke Hitzig\u2019s, Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. Abhandlungen physiol, u. pathol. Inhaltes. Berlin bei Hirschvrald. 1874.","page":309},{"file":"p0310.txt","language":"de","ocr_de":"310 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. l.Cap. Grosshfrnrinde der Thiere.\nbeines in Bewegung kam, so gewahrt man, nachdem sich das Thier von der Operation erholt hat, eine eigenth\u00fcmliche Bewegungsst\u00f6rung im Vorderbein.\nA Stammuskeln.\nV Yorderextremit\u00e4t.\nf I\n# Hinterextremit\u00e4t.\nCD Gerade Augenmuskeln u. Facialis (oberer Tlieil des letzteren).\no Facialis.\n-&\u2022 Facialis (unterer Theil).\nO Einstichpunkt um in die vordere Spitze des Linsenkernes zu kommen.\nCl Sulc. cruciate.-.\nFig. 6. Die motorischen Rindenfelder des Hundeliirns. Die linke Hemisph\u00e4re geh\u00f6rt einem Pinscher, die rechte einem Bulldoggenbastard an.\nWir fassen zuerst die Reizungsversuche ins Auge.\nIn Fig. 6 ist (nach Hitzig1) ein Hundegehirn von oben gesehen dargestellt, dessen linke Hemisph\u00e4re einem Pinscher und dessen rechte einem Bulldoggenbastard angeh\u00f6rt. Es ist die mit einem Dreieck bezeichnete Stelle diejenige, von welcher aus die Stammmuskeln der anderen Seite in Erregung versetzt werden k\u00f6nnen, mit einem Kreuzchen ist der Riudenort f\u00fcr die Beugung und Rotation der Vorderbeine bezeichnet, mit dem Kreuzchen nebst Punkt der f\u00fcr die Extensoren und Adductoren derselben Extremit\u00e4ten. Das mit einem Gleichheitszeichen gekreuzte Paralellzeichen steht am Rindenort f\u00fcr die Muskeln der hinteren Extremit\u00e4ten. Alle diese Rindenorte liegen im vorderen Theil der Hemisph\u00e4re um das Ende des sogenannten Sulcus cruciatus (a). Die oberhalb der SvLVi\u2019schen Grube gezeichneten Orte bedeuten die vom Facialis versorgten Muskeln nebst den Augenmuskeln, und zwar die ganze von Punkten umgebene Fl\u00e4che die des ganzen Facialis, die mit doppelt geschw\u00e4nzten Punkten umgebene Fl\u00e4che den Theil der Facialismuskulatur, welcher um das Auge gelegen ist, nebst den geraden Augenmuskeln.2 Diese in der Peripherie\n1\tHitzig, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1873. Taf. IX B.\n2\tEs verdient besonders hervorgehohen zu werden, dass auch bei den Augenmuskeln die Wirkung eine gekreuzte ist, und dass im Gegensatz zu der Wirkung, welche Reizung der Vierh\u00fcgel hat, das Auge derselben Seite in Ruhe bleibt.","page":310},{"file":"p0311.txt","language":"de","ocr_de":"Die motorischen Felder des Hundehirns.\n311\ndurch getrennte Nerven vertretenen Muskeln sind n\u00e4mlich von diesem gemeinschaftlichen Rindenfeld aus zu innerviren. Endlich umstellen die vierfach geschw\u00e4nzten Punkte das Rindenfeld f\u00fcr die dem Facialis angeh\u00f6renden Muskeln der unteren Gesichtsh\u00e4lfte. Reizung dieses Facialis-feldes ruft, wie K\u00fclz1 gezeigt hat, keine Speichelsecretion hervor.\nDie Art der Reizung ist folgende: Zwei mit kleinen Kn\u00f6pfchen versehene Platindr\u00e4hte werden, nachdem die Dura entfernt ist, vorsichtig auf die pia mater aufgesetzt. Die beiden Dr\u00e4hte sind in einem passenden gemeinschaftlichen Tr\u00e4ger befestigt und der Abstand ihrer Kn\u00f6pfchen betr\u00e4gt gew\u00f6hnlich 2\u20143 Mm. Die Oeffnung eines du Bois\u2019schen Schl\u00fcssels l\u00e4sst durch dieselben einen Strom kreisen, der gew\u00f6hnlich nicht st\u00e4rker ist, als dass er, wenn die Kn\u00f6pfchen auf die Zunge gesetzt werden, in derselben eine eben merkliche Schliessungs-Empfindung hervorruft.\nBei jeder Schliessung des Stromes (also Oeffnung des Schl\u00fcssels) entsteht in der zu dem betreffenden Rindengebiete geh\u00f6rigen Muskelgruppe eine ziemlich schnell vor\u00fcbergehende Zuckung. Schliesst man den Strom durch Aufsetzen der Elektroden, so braucht man, um denselben Reizeffect zu erzielen, einen etwas st\u00e4rkeren Strom. Metallische Umkehrung des Stromes ergiebt eine relativ starke Muskelzuckung bisweilen sogar Tetanus. Jede Elektrode macht den Ort ihrer Wirkung f\u00fcr sich selbst unerregbarer, und erregbarer f\u00fcr die andere Elektrode. Der Effect der Anode ist ein kr\u00e4ftigerer als der der Kathode, ja bei minimalen Stromst\u00e4rken scheint \u00fcberhaupt nur die Anode zu wirken. Setzt man z. B. die Anode auf den Rindenort der Strecker, die Kathode auf den der Beuger der vorderen Extremit\u00e4t, so ergiebt Schliessung des Stromes, Streckung des Beines; kehrt man jetzt den Strom um, so erh\u00e4lt man Beugung und so kann man oftmals ab wechseln. Es kommt dieser Umstand bei genauer Ausf\u00fchrung der in Rede stehenden Versuche wesentlich in Betracht, weil man mit schwachen Str\u00f6men arbeiten muss, den Rindenort f\u00fcr eine gewisse Bewegung also immer an der Stelle der Anode zu suchen bat.\nReizt man nicht durch einmalige Schliessung, sondern mit teta-nisirenden Inductionsstr\u00f6men, so ist das Ergebniss, wenn man auch hier bei den schw\u00e4chsten wirksamen Reizen bleibt, kein ganz constantes. H\u00e4ufig erzeugt diese Reizung tonische Contraction in der betreffenden Muskelgruppe, h\u00e4ufig aber l\u00e4sst diese Contraction so-\n1 K\u00fclz, Steht das sogenannte Facialiscentrum in Beziehung zur Speichelsecretion? Centralbl. f. d. med. Wiss. 1875. Vergl. hier\u00fcber auch L\u00e9pine, Gaz. m\u00e9d. d. Paris. 1875. Ko. 27 und Eckhard , in dessen Beitr\u00e4ge z. Anat. u. Physiol. VII; ferner Bochfontaine, Compt. rend. Vol. 83 und Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1876.\n","page":311},{"file":"p0312.txt","language":"de","ocr_de":"312 Exner, Grossliirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\ngleich nach ihrem Beginne an Intensit\u00e4t nach, oft schwindet sie trotz weiterer Reizung fast vollst\u00e4ndig. H\u00f6rt man zu reizen auf, so zeigen sich gelegentlich Nachbewegungen, die betreffende Muskelgruppe zittert noch eine Weile fort, ja es kommt vor, dass sich diese Bewegungen auf andere Muskelgruppen fortsetzen und dass sie zu Kr\u00e4mpfen, epileptischen Anf\u00e4llen f\u00fchren.1\nEs ist schon erw\u00e4hnt worden, dass eigenthiimliche Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen eintreten, wenn man einem Thiere ein St\u00fcck Hirnrinde exstir-pirt, welches ein motorisches Feld enth\u00e4lt. Entfernt man z. B. das Rindenfeld f\u00fcr die vordere Extremit\u00e4t, so zeigt das Thier, nachdem es sich von der Operation erholt hat, Erscheinungen, welche in hohem Grade mit jenen Bewegungsst\u00f6rungen \u00fcbereinstimmen, die wir bei Gelegenheit der GoLTz\u2019schen Hirn-Zerst\u00f6rungsversuche (S. 204) kennen gelernt haben. Die Thiere setzen beim Laufen das Bein der der operirten Seite entgegengesetzten K\u00f6rperh\u00e4lfte ungeschickt auf, sie stossen mit demselben an einem wenige Centimeter \u00fcber dem Boden gespannten Seile an, beim Stehen und Sitzen rutscht dasselbe leicht nach aussen, es wird mit dem Dorsum statt mit der Volarseite aufgesetzt u. s. w. Es ist also der Schluss gerechtfertigt, dass jene St\u00f6rungen in den GoLTz\u2019schen Versuchen ihren Grund in der Vernichtung eben jenes kaum mehr als linsengrossen Rindenfeldes haben.\nEine Reihe von Versuchen2 ergab, dass jene Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen nicht eintraten, wenn die Verwundung und die derselben folgenden destruirenden Consecutiverkrankungen, auf die vor den angegebenen Rindenfeldern gelegenen Gehirnwindungen beschr\u00e4nkt blieben. Hingegen zeigt sich hier, sowie bei gr\u00f6sseren Verletzungen im Hinterhirn auch ein auf Motilit\u00e4t bez\u00fcgliches Symptom, das (Hitzig als Defect der Willensenergie bezeichnet, und] darin besteht, dass das Thier einer passiven Bewegung des der operirten Seite entgegengesetzten Beines zwar keinen merklichen Widerstand entgegensetzt, dass es dasselbe aber, sobald es wieder freigelassen wird, maschinenm\u00e4ssig in die nat\u00fcrliche Stellung zur\u00fcckbringt. Griff aber die Verletzung oder die durch dieselbe gesetzten Insulten in das Bereich jener Rindenfelder, so traten die viel auffallenderen, oben geschilderten Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen auf, die Beine wurden ungeschickt aufgesetzt, die Thiere traten mit der betreffenden Vorderpfote \u00fcber den Tischrand ; h\u00e4lt man sie an zwei Hautfalten des R\u00fcckens frei in der Luft, so\n1\tDiese epileptiformen Kr\u00e4mpfe sind sp\u00e4ter von Albertoni genauer studirt worden. (Influenza del cervello nella produzione dell\u2019 epilepsia. Rendiconto del gabin. di fisiol. d. Siena. II. 1876.) Vergl. auch Luciani e Tamb\u00fcrini, Ric. sperim. sulle funzioni del cervello. Riv. sperim. di Freniatria n di Medic, p. 69 u. 225. by 1878.\n2\tHitzig, Arch. f. Anat. u Physiol. 1874.","page":312},{"file":"p0313.txt","language":"de","ocr_de":"Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen nach Rindenexstirpationen beim Hunde.\n313\nzeigen die kranken Extremit\u00e4ten eine eigent\u00fcmliche Abweichung von der normalen Richtung und l\u00e4sst man sie so auf die vier Beine nieder, so k\u00f6nnen sie sich im ersten Momente nicht aufrecht erhalten, sondern fallen auf die der Verletzung entgegengesetzte Seite.\nDie Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen verlieren sich nach Tagen, Wochen, oft erst nach Monaten. Von was f\u00fcr Umst\u00e4nden die Geschwindigkeit der Restitution abh\u00e4ngt, ist noch nicht vollkommen aufgekl\u00e4rt, sowie ob eine solche \u00fcberhaupt immer zu erwarten ist. Merkw\u00fcrdig ist, dass die Thiere oft lange Zeit nach der Operation, wenn alles geheilt ist, epileptisch werden.1\nAm schlagendsten tritt die Bedeutung der Rindenfelder in folgendem Versuche2 zu Tage. Man legt die Rindenfelder f\u00fcr die Extremit\u00e4ten frei, entledigt das Thier seiner Fesseln und \u00fcberzeugt sich, dass die betreffenden Extremit\u00e4ten vollkommen normal sind. Darauf sticht man mit einem Scalpell, das 2 Mm. von der Spitze mit einem Wachsk\u00fcgelchen armirt ist, in das Feld ein, und alsbald zeigen sich die Symptome, die oben besprochen wurden. Auf welche Muskelgruppen sie sich erstrecken, h\u00e4ngt zum Theil vom Zufall ab, da es nicht m\u00f6glich ist, mit Sicherheit ein specielles Feld allein zu treffen. Die Symptome nehmen an Deutlichkeit zu, wenn man jene Rindenstelle skarificirt oder ganz heraushebt. Zwischen der ersten Untersuchung des noch gesunden Thieres und der zweiten nach der Gehirnverletzung braucht keine halbe Minute zu vergehen.\nEhe wir weiter gehen, m\u00fcssen einige Fragen, welche sich noth-wendig an die geschilderten Versuche kn\u00fcpfen, erledigt werden. \u2014 Zun\u00e4chst kann aus den Reizversuchen die Vorstellung erwachsen, als w\u00fcrde es sich hier um Reizung der Ganglienzellen der Gehirnrinde handeln. Wir haben vorl\u00e4ufig kein Recht die Erfolge jener Versuche auf diese Weise zu erkl\u00e4ren, vielmehr reichen wir zu ihrer Erkl\u00e4rung mit der Thatsache aus, dass Nervenfasern durch den elektrischen Strom erregt werden. Es hat sich n\u00e4mlich bei Versuchen von Braun3, Hermann4, sowie von Hitzig5 gezeigt, dass die Reizerfolge dieselben sind, ob das Rindenfeld, auf welchem die Elektroden aufgesetzt werden, intact ist oder ob die oberfl\u00e4chlichen Schichten desselben durch Aetzung functionsunf\u00e4hig geworden sind. Es geht daraus hervor,\n1\tYergl. Hitzig, Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. S. 271. Berlin 1874.\n2\tHitzig, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1875. S. 445.\n3\tBraun, Beitr\u00e4ge zur Frage von der elektrischen Erregbarkeit des Grosshirns. Eckhard\u2019s Beitr\u00e4ge zur Anat. u. Phys. 1874.\n4\tHermann, Ueber elektrischeReizversuche an der Grosshirnrinde. Archf. d. ges. Physiol. X.\n5\tHitzig, Arch. f. Anat. u. Physiol. 1875. S. 431.","page":313},{"file":"p0314.txt","language":"de","ocr_de":"314 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\ndass Nervenfasern, welche unter der ge\u00e4tzten Stelle liegen, vom Strom gereizt werden. Werden also \u00fcberhaupt bei diesen Versuchen und bei den angewendeten Stromintensit\u00e4ten Nervenfasern gereizt, so ist die Annahme, dass bei Aufsetzung der Elektroden auf die intacte Hirnrinde nebst den in derselben vorkommenden Nervenfasern auch noch Ganglienzellen gereizt werden, eine \u00fcberfl\u00fcssige. Hermann hat ein Rindenfeld durch abwechselnde Aetzung und Abtragung mit dem Messer zu einer Grube bis zu 1 Cm. Tiefe ausgeh\u00f6hlt, und immer noch durch Aufsetzen der Elektroden auf den Boden der Grube denselben Reizeffect erzielt. Er hat also die Fasern, welche von der Rinde kamen, in die Tiefe verfolgt.1 Braun hat sie hier durch einen schr\u00e4gen Schnitt durchtrennt, und fand nun die Reizung vom sonst unversehrten Rindenfeld aus wirkungslos.2 Bedenkt man, dass jene Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen momentan eintreten, wenn in dem betreffenden Rindenfeld eine auch nur zwei Millimeter tiefe Verletzung angebracht wird, so ergiebt sich folgende Vorstellung. In dem Grau des Rindenfeldes sind Nervenbahnen vertreten, welche in inniger Beziehung zu der betreffenden Muskelgruppe stehen. Ob die Bahnen hier aus Ganglienzellen entstehen, ob sie von einem anderen Orte, und von welchem sie herkommen, ob sie hier durch Ganglienzellen unterbrochen sind u. dgl. m. muss dahingestellt bleiben. Von hier aus gehen sie in die Tiefe. Car ville \u00abund Duret3 fanden, dass sie nach Zerst\u00f6rung des Corpus striatum noch erhalten sind und Gliky4 studirte durch Reizung ihren Verlauf auf Schnittfl\u00e4chen durch Aufsuchen der wirksamen Reizstellen und fand, dass sie das Corpus striatum umziehen und sich bis in den Fuss des Hirnschenkels verfolgen lassen. Ihre Bahn wird nicht unterbrochen, wenn man die Medulla oblongata am Tuberculum acusticum halbseitig auf der der Reizstelle entgegengesetzten Seite durchschneidet, so dass die Kreuzung also erst tief unten stattfinden muss. Auf diesem ihrem Wege, vielleicht noch in der Hirnrinde, werden sie durch den elektrischen Strom erregt. Durch die Verletzung des Rindenfeldes werden diese Bahnen unterbrochen\n1\tHermann deutete diesen Versuch anders, als er hier aufgefasst ist. Er denkt n\u00e4mlich daran, dass der Effect der Reizversuche \u00fcberhaupt nur durch in die Tiefe gehende Stromschleifen erzeugt wird.\n2\tVergl. auch den Fall von Corville und Duret (Note sur une l\u00e9sion pathologique du centre oval chez un chien. Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1875), in welchem d. Reizversuche in Folge eines apoplektischen Herdes erfolglos blieben; sowie Alber-toni e Michieli, Lo sperimentale. Vol. 37..\n3\tCarville et Duret, Sur les fonctions des h\u00e9misph\u00e8res c\u00e9r\u00e9brales. Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1875.\n4\tGliky, Ueber die Wege auf denen d. dr. elektr. Reiz. d. Grosshirnrinde erregt, mot. Th\u00e4tigkeiten dr. d. Geh. hindurch fortgeleitet werden. Eckhard\u2019s Beitr. z. Anat. u. Physiol. VII.","page":314},{"file":"p0315.txt","language":"de","ocr_de":"Reizung der motorischen Rindenfelder.\n315\nlind Folge dieser Unterbrechung sind jene eigenthtimlichen Bewegungsst\u00f6rungen.. Ein Umstand muss erw\u00e4hnt werden, der darauf hindeutet, dass bei Reizung des Rindenfeldes Nervenfasern in Erregung versetzt werden, welche in der Rinde noch eine centrale Station haben. Fran\u00e7ois-Franck und Pitres 1 haben n\u00e4mlich gefunden, dass die Erregung bei Reizung der Rindenoberfl\u00e4che um 0,015 Secunden l\u00e4nger braucht um zum Muskel zu gelangen, als wenn nach Entfernung der Rinde die darunterliegende weisse Substanz gereizt wurde. Auch soll der Effect bei gleicher Reizst\u00e4rke im ersten Falle ein gr\u00f6sserer sein.\nUm das Missverst\u00e4ndnis, als handelte es sich in diesen Versuchen um Reizung von gangli\u00f6sen Apparaten, zu vermeiden, ist im Vorstehenden der oft gebrauchte Name \u201emotorisches Centrum\u201c oder \u201eRindencentrum\u201c vermieden, und statt desselben der Name \u201eRindenort\u201c oder \u201eRindenfeld\u201c gew\u00e4hlt.\nEine zweite Frage, die sich aufdr\u00e4ngt, ist die, was ist die Folge davon, wenn zur Reizung st\u00e4rkere Str\u00f6me angewendet werden? Geschieht dies, so werden auch Muskelgruppen innervirt, deren Rindenfelder der gereizten Stelle zun\u00e4chst liegen, bei noch st\u00e4rkeren Str\u00f6men verbreitet sich die Reizung \u00fcber immer gr\u00f6ssere Antheile der Muskulatur, bis schliesslich allgemeiner Tetanus eintritt.1 2 Selbstverst\u00e4ndlich kann man in diesen F\u00e4llen auch kaum mehr ann\u00e4herungsweise beurtheilen, wo die Erregung gesetzt wird. Nur so viel ist kaum zweifelhaft, dass man es hier mit der Wirkung von Stromschleifen zu thun hat, welche sich bis gegen die Basis des Gehirns erstrecken. Es ist dies auch der Grund, aus welchem beim Aufsuchen der Rindenfelder die schw\u00e4chsten Str\u00f6me verwendet werden m\u00fcssen, welche \u00fcberhaupt eine Wirkung hervorbringen. Nur dadurch sowie unter Ber\u00fccksichtigung des oben erw\u00e4hnten Ueberwiegens der Wirkung an der Anode kann man sicher gehen, das Feld nicht f\u00fcr bedeutend gr\u00f6sser zu halten als es ist.\nDrittens ist zu erw\u00e4hnen, dass die Reizversuche wie am normalen so auch am narkotisirten Thiere mit Erfolg ausgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, ja dass die meisten derselben an narkotisirten Thieren angestellt wurden. Morphium scheint die Reizerfolge sogar regelm\u00e4ssiger zu machen. Aether eignet sich f\u00fcr diese Versuche weniger; in dem Stadium der Aethernarkose, in welcher die Reflexerregbarkeit g\u00e4nzlich\n1\tFran\u00e7ois - Franck u. Pitres, Gaz. hebd. d. Paris. 1878. No. 1.\n2\tDie Verkeilung der Str\u00f6me im Gehirn haben Weliky und Schepowalow einer Untersuchung unterzogen. Arbeit, d. Petersburg. Ges. d. Naturforscher. Zoolog. Abth. 28. Februar 1876 (russisch). Vergl. Schwalbe\u2019s Jahresb. f. Anat. u. Physiol. II. S. 40. 1876.","page":315},{"file":"p0316.txt","language":"de","ocr_de":"316 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nerloschen ist, zeigt sich die Erregbarkeit f\u00fcr die Hirnreizung theils erhalten, theils erloschen. Bei noch st\u00e4rkerer Aetherisirung schwindet sie, wenn auch nur auf kurze Zeit, ganz (Hitzig1, Braun2). Durch Chloroform wird nach Schiff3 die Erregbarkeit aufgehoben. Auch Chloralhydrat eignet sich (wenigstens bei Kaninchen) zu diesen Versuchen und scheint sich \u00e4hnlich wie Aether zu verhalten.4\nDie Erregbarkeit der Kindenfelder sinkt viertens ausserordentlich schnell, sobald die normale Blutzufuhr abgesperrt ist.\nF\u00fcnftens kann man fragen, ob physiologisch so ausgezeichnete Rindenstellen, wie die motorischen Felder es sind, sich nicht anatomisch von anderen Rindenstellen unterscheiden lassen.\nIn der That hat Betz5 den Hirnlappen des Hundes, der den Sulcus cruciatus begrenzt und der, wie wir wissen, den einen Theil der HiTZiG\u2019schen Felder enth\u00e4lt, dadurch ausgezeichnet gefunden, dass in der vierten Schichte seiner Rinde ausserordentlich grosse pyramidenf\u00f6rmige Ganglienzellen Vorkommen. Sie bilden keine dichte Lage, sondern stehen zwischen den gew\u00f6hnlichen Zellen dieser Schichte wie es scheint in zerstreut liegenden Gruppen und haben zwei grosse Forts\u00e4tze und mehrere kleine, wie die gew\u00f6hnlichen Pyramidenzellen der Hirnrinde. Sie sind gr\u00f6sser als irgendwelche Ganglienzellen des ganzen Nervensystemes des Hundes, weshalb sie Betz mit dem Namen der Riesenpyramiden belegt. Das Gebiet, in dem sie Vorkommen, erstreckt sich noch auf die vordere H\u00e4lfte der hinter unserem Lappen gelegenen Windung und, wie Obersteiner6 fand, auch auf die mediale Fl\u00e4che des Gehirns, da wo der Sulcus cruciatus sich in die Fissura calloso-marginalis fortsetzt. Betz hat diese Riesenpyramiden auch im Gehirn des Menschen nachgewiesen \u2014 es wird sp\u00e4ter hiervon die Rede sein \u2014 und Bevan Lewis7 an den entsprechenden Stellen bei der Katze und dem Schafe.\n2. Anderweitige Versuche.\nAn Hunden. Auch Ferriers hat gelegentlich seiner weitl\u00e4ufigen Untersuchungen \u00fcber das Gehirn Rindenreizungen beim Hunde\n1\tHitzig 1. c. 1873. S. 401.\n2\tBraun 1. c. Eckhard\u2019s Beitr. z. Anat. u. Physiol. VIL 1S74.\n3\tSchiff, Untersuch, \u00fcber d. motor. Functionen d Grosshirnes. Arch. f. exper. Pathol. III. Dasselbe in Lezioni sopra il sistema nervoso encephalico Firenze. 1S74.\n4\tYergl. Albertoni e Michieli , Sui centri cerebrali di movimenti. Lo Speri-mentale. Vol. 37.\n5\tBetz, Anatomischer Nachweis zweier Gehirncentra. Centralbl. f. d med. Wiss. 1S74. S. 57S u. 595.\n6\tObersteiner, Die mot. Leistung, d. Grosshirnrinde. Wien. med. Jahrb. 1878.\n7\tLewis, On the comparative structure of the cortex cerebri. Brain 1873.\nS Die Arbeiten Ferrier\u2019s : Experim. Bes. in cerebral physiology and pathology. The West Riding lunatic asylum Medic. Reports. Ill; Localisation of function in","page":316},{"file":"p0317.txt","language":"de","ocr_de":"Anatomische Charakterisirung der motorischen Rindenfelder.\n317\nvorgenommen. Er unterscheidet zweierlei Effecte dieser Reizung, die erste Art ist analog dem, was Hitzig durch seine Reizung der motorischen Rindenfelder erzielt hat; die zweite Art sind Bewegungen, welche durch das Zustandekommen einer Sinnesempfindung reflecto-risch ausgel\u00f6st werden sollen, betreffen also Reizungen der sensibeln Rindenfelder, von denen unten ausf\u00fchrlich gehandelt werden soll. Bez\u00fcglich der motorischen Felder stimmen die Erfahrungen Ferrier\u2019s im Allgemeinen mit denen Hitzig\u2019s \u00fcberein, und was gewisse Ein-zelnheiten, in welchen sie ab weichen, betrifft, so erh\u00e4lt man den Eindruck, dass Ferrier nicht in gleicher Weise wie Hitzig vorsichtig in den Versuchen und seinen Folgerungen vorgegangen ist. Es mag deshalb hier auf die Differenzen zwischen den beiden Angaben nicht n\u00e4her eingegangen werden. Nur das ist hervorzuheben, dass Ferrier von einem vor dem HiTziG\u2019schen Facialisfeld gelegenen Orte aus Kaubewegungen ausl\u00f6sen konnte \u2014 ein Umstand, auf welchen auch Wundt4 selbstst\u00e4ndig aufmerksam geworden war.* 1 2 Bei Schakalen (canis aureus) fand Ferrier Verh\u00e4ltnisse, welche sich g\u00e4nzlich denen anschliessen, die er beim Haushunde fand. Nothnagel3 4 5 6 hat nach einer unten zu beschreibenden Methode einige Exstirpationsversuche an Hunden ausgef\u00fchrt, deren Resultate im Allgemeinen mit jenen Hitzig\u2019s \u00fcbereinstimmen.\nDas Rindenfeld f\u00fcr die hintere Extremit\u00e4t konnten Luciani und Tamburini noch in zwei antagonistisch wirkende Zerf\u00e4llen.4\nEine andere grosse Versuchsreihe \u00fcber Reizung der Hirnrinde r\u00fchrt von Balogh0 her. Er reizte, wie Ferrier, mit tetanisirenden Inductionsstr\u00f6men und fand eine grosse Anzahl Rindenfelder, von welchen aus eombinirte Bewegungen erzielt werden konnten.0\nthe brain. 1S74. Proc. Roy. Soc. 151; Experim. on the brain of Monkeys. I. Serie. Proc. Roy. Soc. 161. 1875 ; dasselbe II. Serie. Philos. Transact.IL 1875 unci Proc. Roy. Soc. 162. 1875; The Goulstonian lectures on the Localisation of cerebral disease. Brit. med. journ. 187S, sind abgesehen von Versuchsprotocollen u. dergl. zusammengestellt in dem k\u00fcrzlich erschienenen Werk: Die Function des Gehirns von Ferrier \u00fcbersetzt von H. Obersteiger. Braunschweig 1879, einer nach Ferrier\u2019s Wunsch ge\u00e4nderten und vervollst\u00e4ndigten Uebersetzung seines Werkes : The Function of the brain. London 1876.\n1 Wundt, Grundz. einer physiolog. Psychologie. S. 168. Anm. 2. Leipzig 1873.\n- VergL auch Bochefontaine und Viel, Sur des exp\u00e9riences montrant que la m\u00e9ningo- enc\u00e9phalite de la convexit\u00e9 du cerveau d\u00e9termine des sympt\u00f4mes diff\u00e9rents suivant les points de cette r\u00e9gion qui sont atteints. Compt. rend. Vol. 85.\n3\tNothnagel, Fxperim. Untersuch, \u00fcber die Functionen des Gehirns Arch f pathol. Anat. LVII.\n4\tLuciani e Tamburini, Ric. sperim. sulle Funzioni del Cervello. Riv speri-mentale di Freniatria e di Medic leg. p. 69 u. 225.1878.\n5\tBalogh, Untersuchungen \u00fcber die Function der Grosshirnhemisph\u00e4ren und des kleinen Hirns. Sitzgsber. d. k. ungar. Acad. d. Wiss. VII.\n6\tDa das Original dieser Untersuchung ungarisch ist (deutsch referirt im Jahres-ber. f. Anat. u. Physiol. IL S. 35.1876.), konnte ich mir kein Urtheil dar\u00fcber bilden, in","page":317},{"file":"p0318.txt","language":"de","ocr_de":"318 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nDie Versuche Munk\u2019s , welche sich auf die hier besprochenen Rindenfelder beziehen, sollen gelegentlich der sensoriellen Felder im Zusammenh\u00e4nge besprochen werden.\nDass Soltmann Reizung der Rindenfelder an Neugeborenen erfolglos fand, ist schon oben S. 206 hervorgehoben worden.\nEine Reihe von Autoren beobachtete in Folge von Hirnrindenreizung auch Ver\u00e4nderungen im Bereiche des Circulations- und Ath-mungsapparates. Nachdem schon Danilewsky 1 bei Reizung von Stammganglien derartige Beobachtungen gemacht 2, und Brown-Se-quard3 4 nach Cauterisation der Convexit\u00e4t des Vorderhirns am gleichseitigen Auge und Ohr Erscheinungen hervorgerufen hatte, welche den bei der Durchschneidung des Halssympathicus auftretenden glichen-1, fand Balogh5 6 sieben Punkte an der Gehirnrinde des Hundes deren elektrische Behandlung Beschleunigung des Herzschlages hervorrief, und einen, bei dem Verlangsamung desselben die Folge der Reizung war. Die Entfernung der Hirnhemisph\u00e4ren verlangsamt den Puls. Beim Kaninchen fand Balogh vier Punkte an jeder Hemisph\u00e4re deren Reizung beschleunigend, und einen, dessen Erregung hemmend wirkt. Die Entfernung der Hemisph\u00e4ren ruft hier den gegenteiligen Erfolg wie beim Hunde hervor.\nReizungen der Rindenfelder f\u00fcr die Extremit\u00e4ten durch tetani-sirende Inductionsstr\u00f6me fand Bochfontaine0 von Erh\u00f6hung des arteriellen Blutdruckes and Verlangsamung, gelegentlich auch Beschleunigung des Pulses gefolgt.\nAuch Temperatursteigerungen k\u00f6nnen von der Grosshirnrinde aus hervorgerufen werden. In der Gegend des motorischen Rindenfeldes giebt es Orte, deren Reizung Verminderung, deren Zerst\u00f6rung Erh\u00f6hung der Temperatur der gegen\u00fcberliegenden Extremit\u00e4ten erzeugt\nwieweit durch dieselbe der Nachweis geliefert ist, dass jene Bewegungen \u201eRindenfeldern\u201c angeh\u00f6ren.\nL Danilewsky , Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Physiol, d. Gehirns. Arch. f. d. ges. Physiol. XI. S. 128.\n2\tDenen HiLAREWSKi (Arbeit d. Petersb. Ges. d. Naturf. Sitzg. d. zoolog. Abth.) widerspricht. Yergl. Jahresber f. Anat. u. Physiol. 1876. II. Abth. S. 39.\n3\tBrown-S\u00e9quard, Rech, sur l\u2019excitabilit\u00e9 des lobes c\u00e9r\u00e9braux. Arch. d. physiol. norm, etpathol. 1875.\n4\tYergl. auch Nothnagel, Betheiligung des Sympathicus bei cerebraler Hemiplegie. Arch. f. pathol. Anat. LXYIII.\n5\tBalogh, Untersuch, \u00fcber den Einfluss des Gehirns auf die Herzbewegungen. Sitzgsber. d. k. ungar. Acad. d. Wiss. VII. (ungarisch). Yergl. Jahresber. f. Anat. u. Physiol. 1876. II. Abth. S. 38.\n6\tBochfontaine , Sur quelques ph\u00e9nom\u00e8nes d\u00e9termin\u00e9s par la faradisation de l\u2019\u00e9corce grise du cerveau. Compt. rend. LXXXIII, u. \u00c9tude exp\u00e9rim. de l\u2019influence exerc\u00e9epar la faradisation de l\u2019\u00e9corce grise du cerveau sur quelques fonctions de la vie organique. Arch, de physiol, norm, et path. 1867.","page":318},{"file":"p0319.txt","language":"de","ocr_de":"Wirkung der Rindenreizung auf die vegetativen Organe.\n319\n(Eulenburg und Landois1, Hitzig2). Letztere ist oft noch nach Mopaten zu erkennen und kann bis zu 13\u00b0 C. betragen.3\nAn Affen, deren Rindenfelder zu kennen nat\u00fcrlich am meisten Interesse bietet, hat Ferrier4 eine grosse Anzahl von Versuchen ausgef\u00fchrt. Auch hier unterscheidet dieser Forscher zweierlei Bewegungen, die sich durch Reizung von der Hirnrinde aus hervorrufen lassen, solche, die auf eigentliche Rindenfelder zu beziehen sind, und solche, die er als Reflexbewegungen, eingeleitet durch eine Sinnesempfindung, auffasst, also auf sensible Rindenfelder bezieht. Exstirpirt man ein den motorischen Rindenfeldern angeh\u00f6riges St\u00fcck grauer Substanz, so tritt nach Ferrier L\u00e4hmung ein, thut man dasselbe an einem sensibeln Rindenbezirk, so tritt An\u00e4sthesie ein, beides nat\u00fcrlich gekreuzt.\n(Wir werden spater sehen, dass es mit dem, was hier L\u00e4hmung genannt wird, nach Ferrier\u2019s Anschauungen eine eigent\u00fcmliche , nicht bei allen Thierclassen gleiche Be-wandtniss hat, und dass auch die L\u00e4hmungserscheinungen auftreten k\u00f6nnen, wo man es nur mit Empfindungsst\u00f6rungen zu thun haben soll.)\nDie Rindenfelder, welche Ferrier am Affenhirn fand, hat er in der Zeichnung Fig. 7 dargestellt.5 Sie sind durch Kreise markirt; das Centrum je-\nz m\n\\ f,1\nFig. 7. Bindenfelder des Affen nach Fermes. Bei Beizung tritt ein: 1. Vorw\u00e4rtsbewegung des Beines. 2. Vorw\u00e4rtsbewegung desselben gegen die Mittellinie des K\u00f6rpers wie zum Kratzen der Brust. 3. Schweifbewegungen combinirt mit den vorigen. 4. Betraction und Adduction des Armes. 5. Ausstrecken des Armes, a, b, c, d Fingerbewegungen. 6. Flexion und Supination des Armes. 7. Hebung und Betraction des Mundwinkels. 8. Hebung der Oberlippe und Senkung der Unterlippe, y Oeffnen des Mundes mit Vorstrecken, 10 ebenso mit Zur\u00fcckziehen der Zunge. 11. Betraction des Mundwinkels und Neigung des Kopfes nach der nicht gereizten Seite, 12. Oeffnen der Augen, Dilatation der Pupillen, Kopf und Augen wenden sich nach der nicht gereizten Seite. 13. Drehung der Augen nach der nicht gereizten Seite und oben, 13' Drehung der Augen nach der nicht gereizten Seite und unten. 14. Wendung der Augen nach der nicht gereizten Seite, ebenso des Kopfes, Erweiterung der Pupillen, Spitzen des entgegengesetzten Ohres. 15. Hebung der Lippeu und des Nasenfl\u00fcgels auf der gereizten Seite.\n1\tEulenburg und Landois, Ueber thermische von d. Grosshirnhemisph\u00e4re ausgehende Einfl\u00fcsse. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1876 und ausf\u00fchrlicher im Arch. f. pathol. Anat. LXVI1I.\n2\tHitzig, Ueber Erw\u00e4rmung der Extremit\u00e4ten nach Grosshirnverletzungen. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1876. S. 323.\n3\tVulpian widerspricht dieser letzteren Behauptung. Destruct. de la substance grise du gyr. sigmoid, du c\u00f4t\u00e9 droit sur un chien. Arch. d. physiol, norm, etpathol. 1876.\n4\tFerrier, Function d. Geh. Uebers. von Obersteiner. S. 152. Braunschweig\nI879.\n5\tFerrier 1. c. S. 156.","page":319},{"file":"p0320.txt","language":"de","ocr_de":"320 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\ndes Kreises bedeutet den Ort, von welchem aus die betreffende Bewegung am reinsten ausgel\u00f6st wird1; \u00fcbrigens sind die Felder nicht scharf getrennt, denn von der Gr\u00e4nze zweier lassen sich beide Bewegungen anregen, wie sogleich einleuchtet, wenn man erw\u00e4gt, in welcher Art die Vertheilung der erregenden Str\u00f6me sich gestalten muss. Steigt man n\u00e4mlich mit der Stromesintensit\u00e4t, so wird man selbstverst\u00e4ndlich zu einem Punkt kommen, bei welchem jene Strom-antheile, welche je ein Feld treffen, hinreichen, eine Erregung zu setzen.\nDie motorischen Felder sind auf Fig. 7 mit den Zahlen 1\u20148 und 11, 12, ferner mit den Buchstaben a, b, c, d bezeichnet.\nDie von hier auszul\u00f6senden Bewegungen, s\u00e4mmtlich die der Reizstelle entgegengesetzte K\u00f6rperh\u00e4lfte betreffend, sind:\n1.\tVorw\u00e4rtsbewegung der hinteren Extremit\u00e4t, wie beim Gehen; gelegentlich blos Beugung im Sprunggelenk, und Ausbreitung der Zehen.\n2.\tCombinirte Bewegung des Ober- und Unterschenkels, sowie der Hand der hinteren Extremit\u00e4t, mit passenden Bewegungen des Rumpfes, wodurch das Bein in die Mittellinie des K\u00f6rpers gebracht wird, als ob das Thier etwas ergreifen, oder die Brust oder den Unterleib kratzen wollte.\n3.\tBewegungen des Schweifes, combinirt mit den sub 2 genannten Bewegungen.2\n4.\tRetraction und Adduction des Armes, wobei die Palma manus nach r\u00fcckw\u00e4rts sieht; eine Bewegung, welche mit einer Schwimmbewegung verglichen wird.\n5.\tExtension des Armes und der Hand nach vorw\u00e4rts, wie um etwas zu erreichen.\n6.\tSupination und Flexion des Vorderarmes, wodurch die Hand gegen den Mund gef\u00fchrt wird, h\u00e4ufig combinirt mit:\n7.\tRetraction und Hebung des Mundwinkels.\n1\tMit Ferrier\u2019s Worten (Function of the brain. London 1876) heisst dieser Satz: \u201eThe area of limited action is most correctly indicated by the centre of the circle\u201c, was wohl bedeutet, dass die schw\u00e4chsten Str\u00f6me, die \u00fcberhaupt jene Bewegung noch hervorrufen k\u00f6nnen, hier wirken m\u00fcssen. Wenn man also davon absieht, dass Fermer mit tetanisirenden Inductionsstr\u00f6men gearbeitet hat, die \u00fcberwiegende Wirkung der Anode demnach nicht ben\u00fctzen konnte, um die Genauigkeit der Localisi-rung zu erh\u00f6hen, so sind diese FERRiER\u2019schen Kreiscentren den HiTZiG\u2019schen Rindenorten zu analogisiren.\n2\tFerrier ist in diesem Punkte nicht ganz klar : Er sagt dass diese Schweifbewegung \u201egenerally associated\u201c mit jener anderen Bewegungsgruppe ist. Gleich darauf aber folgt der Satz : \u201eI have not been able to dissociate the two from each other completely\u201c (Function of the brain, p. 141. London 1876). Ich glaube den wahren Sinn getroffen zu haben, wenn ich annehme, dass dies kein Rindenfeld ist, von dem nur Schweifbewegungen auszul\u00f6sen m\u00f6glich ist.","page":320},{"file":"p0321.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische Rindenfelder des Affen.\n321\n8. Erhebung des Nasenfl\u00fcgels und der Oberlippe, verbunden mit Herabzieben der Unterlippe, so dass der Eckzahn sichtbar wird.\n11.\tRetraction des Mundwinkels unter gleichzeitiger Contraction des Platysma myoides, wodurch der Kopf ein wenig nach der der Reizung entgegengesetzten Seite geneigt wird.\n12.\tOeffnung und Wendung der Augen, sowie des Kopfes nach der der Reizung entgegengesetzten Seite.\n\u00ab, b} c,d, Bewegung einzelner oder mehrerer Finger, auch Ballen der Faust.\nDie Felder f\u00fcr die Bewegungen je eines Fingers konnten nicht gefunden werden, sind aber hier zu ver-muthen.1\nSetzt Fermer eine Zerst\u00f6rung der Hirnrinde, wie sie in Fig. 8 dargestellt ist, so ist unter Erhaltung der vollen Empfindlichkeit die entgegengesetzte K\u00f6rperh\u00e4lfte \u201e hemiplegisch Es sind in diesem Falle alle oben als motorisch angef\u00fchrten Felder zerst\u00f6rt, mit Ausnahme des gr\u00f6sseren Theiles von Feld 12 und Zuziehung der Felder 9 und 10.2\n1 Da Fermer nirgends ausdr\u00fccklich und definitiv sagt, welche von seinen Rindenfeldern er f\u00fcr motorisch und welche er f\u00fcr sensibel h\u00e4lt, so ist die obenstehende Zusammenstellung von mir theils nach Angaben, theils nur (so gut ich es konnte) im Geiste Ferrier\u2019s gemacht. Dabei stiess ich auf nicht unbedeutende Schwierigkeiten. Von jedem der Punkte 7, 8, 9, 10, 11 (Fig. 7) lassen sich Mundbewegungen anregen, von zweien (9, 10) derselben sind die Bewegungen aber bilateral, sollten also wohl im Sinne Ferrier\u2019s Bewegungen sein, welche reflectorisch von Gef\u00fchlsfeldern ausgel\u00f6st sind. (Ob ich hier Fermer richtig verstanden habe, weiss ich nicht. Vergl. auch Fermer, Experim. Researches in cerebr. Physiology and Pathology. West Riding Lunatic. Asyl. Med. Rep. III. 1873.) Ich liess deshalb beide Felder oben weg. Doch sind sie in dem Fig. 8 dargestellten Fall mit zerst\u00f6rt, und doch sagt Ferrier von demselben, dass keine St\u00f6rung der Empfindlichkeit vorhanden war. Auch was den Punkt 12 anbelangt, so verstehe ich hier Ferrier nicht vollst\u00e4ndig. Er betrachtet ihn gewissermaassen als das Feld, welches den Bewegungen der sinnlichen Aufmerksamkeit, dem Lauschen und Hinschauen angeh\u00f6rt, nennt es auch motorisch (1. c. S. 255) und trotzdem l\u00f6st es bilaterale Bewegungen aus. Im oben genannten Falle, in welchem totale Hemiplegie eingetreten sein soll, ist dieses Feld nicht mit zerst\u00f6rt, ist auch nicht erw\u00e4hnt, dass bilaterale L\u00e4hmungen, welche den Feldern 9 und 10 entsprechen, ein-getreten sind. Sie scheinen vielmehr, wie der Ausdruck Hemiplegie andeutet, nicht eingetreten zu sein. Wir werden sp\u00e4ter sehen, dass Ferrier andererseits sensible Felder hat, welche nur einseitige \u201eReflexbewegungen\u201c ausl\u00f6sen, wo man doppelseitige erwarten sollte, wenn man sich seinen Anschauungen anschliesst.\n2 Vergl. die vorstehende Anmerkung.\nHandbuch der Physiologie. Bd.IIa.\nFig. 8. Der schraffirte Theil der rechten Hemisph\u00e4re ist zerst\u00f6rt. Folge davon : vollst\u00e4ndige Hemiplegie der gegen\u00fcberliegenden Seite ohne Beeintr\u00e4chtigung der Empfindlichkeit. Nach Ferrier.\n21","page":321},{"file":"p0322.txt","language":"de","ocr_de":"322 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. l.Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nNebst diesen Versuchsobjecten experimentirte Feeeier noch an Katzen. Er fand auch hier eine Reihe von motorisch wirksamen Rindenfeldern, deren Wirkung sich der der entsprechenden Felder am Affen- und Hundehirn analogisiren Hess. Auch Hitzig 1 und Burdon-Sanderson2 experimentirten an diesem Thiere.1 2 3 4\nAm Schafe fand Marcacci 4 motorische Rindenfelder, und zwar eines f\u00fcr die Flexion des Vorderbeines, eines f\u00fcr Drehung des Nackens, eines f\u00fcr die Bewegungen des Leckens, und eines f\u00fcr die Kaubewegungen. Durch Rindenverletzungen wies Munk:5 6 beim Pferde Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen nach.\nZu Schulversuchen eignet sich besonders das Kaninchen, bei welchem eine Reihe motorischer Felder von Ferrier0 (vgl. Fig. 9),\nF\u00fcrstner7 8 u. Nothnagel s nachgewiesen wurden. Letzterer experimentirte in einer von den bisher beschriebenen Methoden abweichenden Weise. Auf den Rath Heidenhain\u2019s n\u00e4mlich zerst\u00f6rte\nFig. 9. Gehirn des Kaninchens nach Ferrier : Auf er eDg begrenzte GchirUparticCIl\nbetreffenden Ort aus der Canitle\ntreten Hess. Die Bohrung der Can\u00fcle macht eine verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig geringe Zerst\u00f6rung, der Chroms\u00e4uretropfen aber zerst\u00f6rt alles, was in sein Bereich f\u00e4llt. Er diffundirt aber nicht weiter im Gewebe, findet sich sogar nach einiger Zeit scharf abgekapselt.\n1\tHitzig, Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. S. 94. Berlin 1874.\n2\tBurdon-Sanderson, Notiz \u00fcber d. directe elektr. Reizung d. Corpus striatum. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1874.\n3\tDieser Autor erhob auf Grund seiner Versuche Bedenken \u00fcber Hitzig\u2019s Auffassung, gegen welche sich letzterer verwahrt. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1874.\n4\tMarcacci, Determinazione della zona eccitabile nel cervello pecorino. Rendi-conto del gabin. di fisiol. di Siena 1876. II und Arch. ital. per le mal. nerv\u00f6se. 1877.\n5\tMunk, Zur Physiologie der Grosshirnrinde. Berliner physiol. Gesellsch. M\u00e4rz 1877 ; Arch. f. Physiol. 1878. S. 599.\n6\tVergl. die Abbildungen in Functions of the brain, pag. 157 u. in der deutschen Uebersetzung dieses Buches, herausgeg. v. Obersteiner, S. 172.\n7\tF\u00fcrstner, Experim. Beitr\u00e4ge zur elektr. Reizung der Hirnrinde. Arch. f. Psychiatrie. VI.\n8\tNothnagel, Experim. Untersuch, \u00fcber die Functionen des Gehirns. Arch. f. pathol. Anat. LVII.","page":322},{"file":"p0323.txt","language":"de","ocr_de":"Motorische Rindenfelder des Kaninchens.\n323\nAuf diese Weise fand Nothnagel zwei Stellen der Hirnrinde, deren Zerst\u00f6rung charakteristische Erscheinungen nach sich zieht. Die Zerst\u00f6rung der ersten bewirkt Erscheinungen an der entgegengesetzten Vorderpfote, welche jenen entsprechen, welche Fritsch und Hitzig \\ Goltz u. A. bei Exstirpationsversuehen sahen, n\u00e4mlich jene schon besprochene Ungeschicklichkeit im Aufsetzen des Beines und die Eigenth\u00fcmlichkeit, dass dasselbe nicht zur\u00fcckgezogen wird, wenn man es sachte in eine unbequeme Lage bringt, z. B. w\u00e4hrend das Thier ruhig sitzt ad maximum nach vorne zieht. Dieses Rindenfeld liegt an der convexen Seite der Hemisph\u00e4re, sein Centrum etwas vor der Mitte ihrer L\u00e4nge, und scheint identisch zu sein mit einer Hirnstelle, in welcher Ferrier auf Grund seiner Reizversuche zwei Felder unterscheidet (s. die vorstehende Figur), deren erstes der Retraction und Adduction, deren zweites der Streckung nach vorne und Schultererhebung des betreffenden Vorderbeines vorsteht.\nDas zweite Rindenfeld, das Nothnagel auf dem angef\u00fchrten Wege fand, liegt im vorderen Theil der unteren Hemisph\u00e4renfl\u00e4che. Zerst\u00f6rung desselben hat eine starke Abweichung beider entgegengesetzter Extremit\u00e4ten nach innen, und eine weniger ausgepr\u00e4gte Abweichung beider gleichseitiger nach aussen zur Folge. Diese Abweichungen zeigen sich nicht nur beim Springen, auch beim ruhigen Sitzen sind sie so bedeutend, dass die Zehen der der operirten entgegengesetzten Seite, auf der operirten Seite unter der Brust zum Vorschein kommen k\u00f6nnen.\nDiese St\u00f6rungen verschwanden, wenn die Thiere am Leben blieben, im Laufe von einigen Wochen wieder. Auch Obersteiner1 2 experimentirte an Kaninchen.\nWeniger Rindenfelder als beim Kaninchen lassen sich (nach Ferrier) beim Meerschweinchen und bei der weissen Ratte nach-weisen ; kaum mehr als Spuren von Rindenfeldern bei der Taube (Ferrier) und beim Frosche (Ferrier, Langendorff3), und nur mehr unverst\u00e4ndliche Bewegungen sind es, welche durch Reizung an den Hemisph\u00e4ren der Fische hervorgerufen werden k\u00f6nnen (Ferrier).\nEs scheint aus Ferrier\u2019s weitl\u00e4ufigen Versuchen mit Bestimmt-\n1\tFritsch u. Hitzig, Ueb. d. elektr. Erregbark. d. Grossbirns. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1870.\n2\tObersteiner, Die motorischen Leistungen d. Grosshirnrinde. Strieker\u2019s med. Jahrb\u00fccher. 1878.\n3\tLaxgendorff, Ueber die elektr. Erregbarkeit der Grosshirnhemisph\u00e4ren des Frosches. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1876. Yergl. auch die Angaben Heubel\u2019s, Das ..Krampfcentrum\u201c des Frosches und sein Verhalten zu gewissen Arzneistoffen. Arch, f d. ges. Physiol. IX u. d. Versuche von Sigm. Exner, Exper. Unters, d. einf. psych. Processe. Arch. f. d. ges. Physiol. VIII u. Arch. f. Anat. u. Physiol. 1877. S. 570 Anm.","page":323},{"file":"p0324.txt","language":"de","ocr_de":"324 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. l.Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nheit hervorzugehen, dass an einem Gehirn um so mehr und um so sch\u00e4rfer getrennte Rindenfelder nachweisbar sind, einem je h\u00f6her psychisch organisirtem Thiere dasselbe angeh\u00f6rt.\nII. Sensible Rindenfelder bei Thieren.\nSo wie motorische St\u00f6rungen durch Verletzung gewisser Rindenbezirke erzeugt werden k\u00f6nnen, lassen sich auch St\u00f6rungen, zum Theil sehr eingreifender Natur, durch Ausschaltung von Rindenpar-tieen hervorrufen, St\u00f6rungen, welche die Sinnesgebiete betreffen ; und zwar zeigt sich auch hier eine Beziehung gewisser Rindenwindungen zu bestimmten Sinnesorganen. Wir wollen dem entsprechend, wie wir oben von motorischen Rindenfeldern gesprochen haben, jetzt den Namen \u201e sensible Rindenfelder \u201c verwenden. Dort waren es zwei Methoden, die, sich gegenseitig erg\u00e4nzend, zum Aufsuchen der Rindenfelder gedient haben : die Reizmethode und die Exstirpationsmethode ; hier kann von der ersteren nicht leicht Gebrauch gemacht werden, nur Ferrier 1 bedient sich auch der Reizmethode f\u00fcr die sensibeln Felder.1 2 Er giebt n\u00e4mlich an, dass von jenen Rindenfeldern, deren Zerst\u00f6rung eine Beeintr\u00e4chtigung der Sinnestk\u00e4tigkeiten bewirkt, durch tetanische Reizung Bewegungen ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen, die sich erkl\u00e4ren, wenn man annimmt, die Reizung erwecke die betreffende Sinnesempfindung, und diese l\u00f6se jene Bewegungen als Reflexbewegungen aus. Wir werden alsbald die einzelnen F\u00e4lle hierzu kennen lernen, hier sei nur erw\u00e4hnt, dass Ferrier durch seine zwei Methoden zu Resultaten kommt, welche nicht unbetr\u00e4chtlich von jenen abweichen, welche Munk3 blos auf dem Wege der Exstirpation erhielt, und dass die Vorstellungen, welche sich Ferrier \u00fcber das Entstehen jener Bewegungen macht, vorl\u00e4ufig hypothetisch sind, indem nicht, wie dieses bei den Reizversuchen der motorischen Felder geschehen ist, nachgewiesen wurde, dass man es mit keiner Wirkung des elektrischen Stromes in der Tiefe zu thun habe.\nDie erste Kenntniss \u00fcber sensible Rindenfelder hat Hitzig ge-\n1\tS. die S. 316 angef\u00fchrten Arbeiten dieses Autors, zusammengestellt in: Die Functionen des Gehirnes, von Ferrier, \u00fcbersetzt von Obersteiner. Braunschweig 1879 nach : The Fonctions of the brain by Ferrier. London 1876.\n2\tIn einem gleich zu erw\u00e4hnenden Falle auch Hitzig.\n# 3 Munk, Zur Physiologie der Grosshirnrinde. Vortrag in der physiolog. Ges. zu Berlin vom 23. M\u00e4rz 1877, abgedruckt in Arch f. Anat. u. Physiol. 1878. S. 599 ; ferner Vortrag ebendas, vom 6. April 1877, abgedr. ebendas. S. 602; vom 27. Juli 1877, abgedruckt in der Berl. klin. Wochenschr. 1877. S. 505 ; ferner Vortr. ebendas, v. 15. M\u00e4rz 1878, abgedruckt in Arch. f. Anat. u. Physiol. S. 162 ; ferner Vortrag ebend. v. 29. Nov. 1878, abgedruckt ebendas. S. 547.","page":324},{"file":"p0325.txt","language":"de","ocr_de":"Sensible Rindenfelder bei Thieren.\n325\nhabt. Er fand, dass Abtragungen im Bereiche der Hinterlappen beim Hunde (der Gyri o und n in Fig. 11, S. 327) Blindheit des gegen\u00fcberliegenden Auges, combinirt mit paralytischer Dilatation der entsprechenden Pupille hervorruft.1 Reizung dieser Rindenstelle erzeugt Verengerung der Pupille.\nUnabh\u00e4ngig von dieser Untersuchung Hitzig\u2019s und einige Monate vor Publication derselben ver\u00f6ffentlichte Ferrier2 seine Untersuchungen \u00fcber denselben Gegenstand, welchen sp\u00e4ter die ausf\u00fchrlichen Studien Munk\u2019s folgten. Die beiden letztgenannten Forscher kamen zu Schl\u00fcssen, welche darin \u00fcbereinstimmten, dass den einzelnen Sinnesorganen Rindenfelder entsprechen, die aber, was die Localisation dieser Rindenfelder anbelangt, nicht unbetr\u00e4chtlich voneinander abweichen.\n1. Das Rindenfeld des Auges.\nFerrier3 4 gibt an, dass Affen, an welchen der Gyrus angularis (Fig. 7, S. 319, 13,13') zerst\u00f6rt (meistens durch Cauterisation) ist, am entgegengesetzten Auge blind sind. Sie verlieren schon nach einem Tage die Blindheit wieder, wenn der Gyrus angularis der anderen Seite intact ist. War aber auch dieser zerst\u00f6rt, so kehrte das Sehverm\u00f6gen in der Zeit, in welcher sie in Beobachtung blieben, nicht wieder.\nReizt man einen Gyrus angularis durch tetanisirende Str\u00f6me, so werden beide Augen nach der anderen Seite und nach aufw\u00e4rts (bei 13) oder nach abw\u00e4rts (bei 13') bewegt. Die Augenlider schliessen sich zwinkernd, die Papille ist gew\u00f6hnlich verengt. Oft dreht sich auch der ganze Kopf nach der anderen Seite. Diese Bewegungen sind nach Ferrier Reflexbewegungen, hervorgerufen durch eine in Folge der Reizung eintretende subjective Gesichtserscheinung, welche auf der der gereizten Stelle gegen\u00fcberliegenden Seite localisirt wird.\nMunk 4 verlegt beim Affen das Rindenfeld des Auges in die convexe Fl\u00e4che des Occipitallappens (Fig. 10 \u00c4). Exstirpirt man beiderseits kreisrunde Rindenst\u00fccke von 10 \u2014 15 Mm. Durchmesser, so bemerkt man am 2. oder 3. Tage nach der Operation, dass die Thiere schlecht sehen. Sie lassen manche ihnen vorgeworfene St\u00fccke Nah-\n1\tHitzig, Untersuchungen \u00fcber das Gehirn. Centralbl. f. d. med. Wiss. 1874. S. 548.\n2\tFerrier, The Localisation of the functions in the brain. Proceedings of the Roy. Soc. y. 5. M\u00e4rz 1874. XXII.\n3\tFerrier 1. c. Details der Versuche : Philosophical Transactions. II. 1875.\n4\tMunk, Yerh. d. Berl. physiol. Ges. v. 15. M\u00e4rz 1878; Arch. f. Anat. u. Physiol. 1878. S. 168 u. 533.","page":325},{"file":"p0326.txt","language":"de","ocr_de":"326 Exner, Grosshirnri\u00fcde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nrung liegen, oft diejenigen, welche ihnen zun\u00e4chst sind, verfehlen dieselben auch beim Greifen, und fahren sich mit den H\u00e4nden gelegentlich \u00fcber die Augen, als wollten sie etwas wegwischen, was sie am Sehen hindert.\nFig. 10. Affengehirn nach Munk. Rindenfelder: A des Anges, B des Ohres, C der Empfindungen des Hinterheines, I) des Vorderbeines, E des Kopfes, F des Schutzapparates des Auges, G der Ohrregion, H des Nackens, J des Rumpfes.\nIst beiderseits die ganze convexe Rinde der Occipitallappen ex-stirpirt, so ist das Thier vollkommen blind. Es bewegt sich freiwillig nicht von der Stelle, getrieben st\u00f6sst es an jedes Hinderniss an. Mit der Zeit bessert sich das Sehen, aber nur soweit, dass der Affe langsam gehen kann, ohne anzustossen.\nWird diese Operation nur auf einer Seite ausgef\u00fchrt, so wird der Affe \u2014 und dadurch unterscheidet er sich vom Hunde \u2014 hemiopisch. Und zwar ist er blind f\u00fcr die auf der Seite der Verletzung liegenden H\u00e4lften beider Netzh\u00e4ute. Diese Hemiopie bleibt Monate lang bestehen.\nDer Gyrus angularis, das Augenfeld Ferrier\u2019s, ist nach Munk, wie wir sp\u00e4ter noch n\u00e4her sehen werden, das Rindenfeld f\u00fcr die Tastempfindungen des Auges.\nBeim Hunde fand Munk das Rindenfeld des Auges ebenfalls im Hinterlappen: Fig. 11, AL; in den mit n und m bezeichneten Windungen hatte Ferrier die Punkte gefunden, welche seinen mit 13 und 13J bezeichneten Stellen des Affengehirns (Fig. 7) entsprechen, also als Rindenfeld des Auges angesprochen werden. Und zwar liegen Fer-rier\u2019s Punkte zum Theil vor der vorderen Grenze von Munk\u2019s Rindenfeld. Es ist schon erw\u00e4hnt, dass Hitzig in Folge von Exstirpationen \u201eim Bereiche des Hinteriappens\u201c, welche die Windungen o","page":326},{"file":"p0327.txt","language":"de","ocr_de":"Das Rindenfeld des Auges.\n327\nund n treffen, Blindheit eintreten sah, eine Angabe, die sich mit den Begrenzungen dieses Rindenfeldes, welche Fermer angiebt, sowie mit jenen Munk\u2019s vereinigen l\u00e4sst.\nFig.ll. Hundegehirn nach Munk. Rindenfelder : A des Auges, B des Ohres, C der Empfindungen des Hinterheines, IX des Vorderbeines, E des Kopfes, F des Schutzapparates des Auges, G der Ohrregion, H des Nackens, J des Rumpfes.\nHatte Munk das Feld A in gr\u00f6sstm\u00f6glicher Ausdehnung vernichtet, so war der betreffende Hund auf dem gegen\u00fcbergelegenen Auge vollst\u00e4ndig blind, er stiess, wenn das gleichseitige Auge verbunden war, an Hindernisse an, und wagte sich deshalb kaum von der Stelle. Nach Wochen besserte sich dieser Zustand soweit, dass das Thier beim langsamen Gehen Hindernissen ausweichen konnte. Wurde nur ein Theil des Rindenfeldes exstirpirt und das gleichseitige Auge verbunden, so war an einem solchen Hunde nur bei genauerer Untersuchung Sehst\u00f6rung nachzuweisen. Die Art dieser St\u00f6rung war so, als h\u00e4tte das Thier an einer Stelle der Netzhaut die Sehf\u00e4higkeit verloren. In der That hat Munk durch diese Versuche die Ueberzeugung bekommen, dass sich in dem Rindenfeld A gewisser-","page":327},{"file":"p0328.txt","language":"de","ocr_de":"328 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nmaassen eine Projection der Netzhaut findet; auch der Ort des deutlichsten Sehens 1 ist hier vertreten (in der Abbildung als schraffirter Kreis wiedergegeben), hat aber eine andere Bedeutung, als in der Netzhaut. Exstirpirt man n\u00e4mlich dieses Rindenstiick, so verh\u00e4lt sich das Thier nicht wie ein blindes, auch nicht so, als w\u00e4re es auf der correspondii'enden Netzhautstelle blind, sondern es verh\u00e4lt sich so, als h\u00e4tte es alle Erinnerungsbilder der fr\u00fcheren Gesichtsvorstellungen vergessen \u2014 nat\u00fcrlich immer nur f\u00fcr das gegen\u00fcberliegende Auge. Hat man das gesunde Auge verbunden oder hat man jene centrale Stelle des Rindenfeldes beiderseits exstirpirt, so findet sich das Thier Hindernissen gegen\u00fcber noch ganz gut zurecht, es kriecht unter einem Schemel durch, steigt \u00fcber den vorgehaltenen Fuss etc. Jedoch freut es sich nicht mehr beim Anblick eines sonst lebhaft begr\u00fcssten Menschen, es k\u00fcmmert sich nicht um andere Hunde, es findet nicht mehr den Futtertrog und den Wassernapf; Feuer vor das Auge gehalten macht das Thier nicht blinzeln, die Peitsche schreckt es nicht mehr. Ein solches Thier war abgerichtet die Pfote zu geben, wenn man die Hand vor seinem Auge vorbeibewegt hatte. Nach der Operation that es auch dies nicht mehr. Kurz wir haben es hier mit Erscheinungen zu thun, welche jenen entsprechen, die Goltz bei seinen ausgedehnteren Hirnverletzungen gefunden hat.\nMunk beobachtete auch, wie in solcher Weise operirte Hunde wieder sehen lernten, d. h. die ihnen verloren gegangenen Erinnerungsbilder wieder erwarben. Hat man einem solchen Thiere ein paar Male die Schnauze in den Wasserk\u00fcbel gesteckt, so sucht es ihn dann selbst wieder auf, es lernt wieder die Menschen kennen etc. Wor\u00fcber es keine neuen Erfahrungen zu machen Gelegenheit hatte, das ist ihm auch noch nach Wochen neu und fremdartig. Es stutzt noch vor der Treppe, es f\u00fcrchtet sich nicht vor der Peitsche, auch nach Wochen, wenn es \u00fcber erstere noch nicht gegangen und letztere noch nicht gef\u00fchlt hat. Munk unterscheidet demnach zwei Arten der Blindheit : 1 ) die Rindenblindheit, hervorgerufen durch die Vernichtung des um den schraffirten Theil von A gelegenen Feldes. Sie beruht darauf, dass das Thier wirklich keine Gesichtsvorstellungen erh\u00e4lt ; 2) die S e e 1 en b 1 i n d h e i t, hervorgerufen durch Exstirpation jener schraffirten Stelle, beruht darauf, dass das Thier die Gesichtseindr\u00fccke nicht versteht, weil es keine Erinnerungsbilder mehr hat.\nAnaloge Rindenfelder f\u00fcr den Gesichtssinn, wie die besprochenen,\n1 Der, so viel man weiss, anatomisch in der Netzhaut beim Hunde nicht charak-terisirt, aber nach Munk\u2019s Angabe in der \u00e4usseren H\u00e4lfte derselben liegt.","page":328},{"file":"p0329.txt","language":"de","ocr_de":"Die Rindenfelder des Auges, Ohres und der niederen Sinne.\n329\nhat Fermer bei der Katze, dem Schakal, dem Kaninchen und bei der Taube 1 nachgewiesen.\n2. Das Rindenfeld des Ohres.\nDieses Rindenfeld wird beim Affen von Ferrier in die obere Schl\u00e4fenwindung verlegt (Fig. 7,14). Haupts\u00e4chlich sind es Reizversuche, welche ihn zu dieser Localisation f\u00fchren, doch hat er auch Exstirpationsversuche gemacht. Munk verlegt bei diesem Thiere das Rindenfeld des Ohres in den Schl\u00e4felappen bei \u00df Fig. 10.\nVersuche, welche Munk am Hunde ausgef\u00fchrt hat, Hessen ihn das Rindenfeld des Ohres in den ganzen Schl\u00e4felappen verlegen. Beiderseitige Functionsunf\u00e4higkeit von dessen Rinde machte die Hunde vollkommen taub, so dass sie auf jede Art von Ger\u00e4uschen nicht mehr die Ohren spitzten. Analog der fr\u00fcheren Bezeichnung der \u201eRindenblindheit\u201c nennt sie Munk in diesem Zustande \u201erindentaub\u201c. Auch eine \u201eSeelentaubheit\u201c l\u00e4sst sich nachweisen. Die in B Fig. 11 gelegene schraffirte Stelle verh\u00e4lt sich analog der betreffenden Stelle des Rindenfeldes f\u00fcr das Auge. Sie allein auf beiden Seiten zerst\u00f6rt, macht den Hund nicht taub, er h\u00f6rt noch Ger\u00e4usche, d. h. er spitzt noch die Ohren, aber er versteht nicht mehr was man will, wenn man ihm \u201e bst \u201c, \u201e komm \u201c, \u201e hoch \u201c, \u201e sch\u00f6n \u201c, \u201e Pfote \u201c etc. zuruft, obwohl er vor der Operation auf diese Worte h\u00f6rte. Auch dieser Hund kann seine Geh\u00f6rsvorstellungen wieder erwerben, so dass er sich nach 4\u20145 Wochen wie ein normaler verh\u00e4lt.\n3. Rindenfelder der niederen Sinne.\nWas die Rindenfelder der \u00fcbrigen Sinnesorgane anbelangt, so gehen die Angaben der beiden Experimentatoren Ferrier und Munk g\u00e4nzlich auseinander. Ersterer verlegt das Rindenfeld f\u00fcr die Tastempfindungen der gegen\u00fcberliegenden Seite in den Hippocampus major und den Gyrus hippocampi (das Subiculum). Im Gyrus uncinatus (Fig. 7, 15) sieht er das Rindenfeld f\u00fcr Geschmack und Geruch, und vom Hinterhauptlappen vermuthet Ferrier, dass er das Rindenfeld f\u00fcr das Gemeingef\u00fchl (Hunger, Missbehagen u. s. w.) darstellt.\nMunk hingegen ist der Ansicht, dass die Rindentheile der convexen Oberfl\u00e4che des Gehirns, welche nicht dem Auge und Ohre angeh\u00f6ren, dem Tastgef\u00fchle, den Muskel- und Innervationsempfin-\n1 Ferrier scheint sich hei diesen Angaben nur auf die Reizversuche zu st\u00fctzen. F\u00fcr die Taube hat Me. Kendrick (Observations and Experiments on the corpora striata and Cerebral Hemispheres of Pigeons. Roy. Soc. Edinburg 1873) gezeigt, dass die Exstirpation der Rindenstelle, deren Reizung Verengerung der Pupille ergiebt, das betreffende Auge blind macht.","page":329},{"file":"p0330.txt","language":"de","ocr_de":"330 Exner. Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 1. Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\nd\u00fcngen vorstehen ; und zwar lassen sich den Bezirken der Hautoberfl\u00e4che und den darunter liegenden Muskeln entsprechend Unterabtheilungen dieses grossen Rindenfeldes unterscheiden.\nEs geh\u00f6rt die in ihren Grenzen durch Schraffirung in der Fig. 11 \u2014 sowie f\u00fcr den Affen in Fig. 10 \u2014 bezeichnete Stelle C den Tast-, Muskel- und Innervationsempfindungen des Hinterbeines; die Stelle B dem Vorderbeine, E dem Kopfe, F dem Schutzapparat des Auges und der Cornea, G der Ohrregion, H dem Nacken, und J dem Rumpfe an.\nIst im Rindenfeld D eine Exstirpation vorgenommen, so reagirt der Hund auf Druck, Stechen u. dergl. der Vorderpfote der anderen Seite weniger als ein normaler1, er l\u00e4sst sich dieses Bein, wie schon \u00f6fter besprochen, in unbequeme Stellungen bringen, ist ungeschickt, und der Hund kann die Pfote nicht mehr geben.\nWird beim Affen das Feld E verletzt, so zeigen sich Bewegungsst\u00f6rungen an der gegenseitigen Zungenh\u00e4lfte, sowie an den um den Mund gelegenen Muskeln, ferner Mangel des Druckgef\u00fchles dieser Seite. Tritt dieselbe Verletzung in F ein, so verh\u00e4lt sich das Thier so, als w\u00fcsste es von Insulten, welche die Hornhaut treffen, nichts, es wehrt sich nicht und macht keine Fluchtversuche, es blinzelt auch nicht, wenn man mit der Hand hart vor dem Auge vorbeif\u00e4hrt. Das Blinzeln bei Ber\u00fchrung der Hornhaut aber, als Reflexbewegung, ist erhalten.\nExstirpationen in G machen beim Affen Bewegungslosigkeit der Ohrmuschel, beim Hunde auch Herabsetzung der Tastempfindungen ebenda ; in H beim Hunde ein Schief halten des Kopfes, so dass derselbe nach der verletzten Seite gewendet ist, und verminderte Tastempfindung an der der Exstirpationsseite gegen\u00fcberliegenden Fl\u00e4che der Halshaut.\nVernichtung des Rindenfeldes J hat zur Folge, dass der Hund die R\u00fcckenmuskeln der anderen Seite nicht mehr willk\u00fcrlich bewegen kann. Ist die Operation z. B. links ausgef\u00fchrt, so dreht sich der Hund, wenn er sich umkehren will, immer links, er kann sich nicht mehr nach rechts wenden. Ist die Operation beiderseits ausgef\u00fchrt, so kr\u00fcmmt sich der R\u00fccken katzenbuckelartig und bleibt in dieser Stellung, w\u00e4hrend der Hund im \u00fcbrigen ganz wohl beweglich ist, Kopf und Hals in normaler Weise wendet.\nI Solche Erscheinungen hat zuerst Schiff (Sui pretesi centri mot. degli emisferi cerebrali. Riv. sperim. di freniatria e di med. leg. d. Reggio-Em\u00fcia. 1876) gefunden.","page":330},{"file":"p0331.txt","language":"de","ocr_de":"Sensible Rindenfelder bei Thieren.\n331\nEs ist liier nicht der Ort auf alle jene Vorstellungen einzugehen, welche man sich \u00fcber die psychischen Vorg\u00e4nge gebildet hat, welche in einem Thiere statthaben, dem ein Rindenfeld exstirpirt ist, oder an welchem ein solches gereizt wird. Es gen\u00fcgt, noch einmal die Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass man es hier nicht mit gew\u00f6hnlichen L\u00e4hmungen und An\u00e4sthesieen zu thun hat; was wir an dem untersuchten Thiere beobachten, sind immer nur Bewegungen oder Bewegungsst\u00f6rungen \u2014 von seinen Empfindungen wissen wir nichts \u2014 und deren sind uns durch anderweitige Beobachtungen zweierlei gel\u00e4ufig, die hier in Betracht kommen k\u00f6nnen : Bewegungen, welche von Aussen veranlasst ohne Willensimpuls zu Stande kommen k\u00f6nnen, wie Reflexbewegungen. In der That h\u00e4lt Schiff (J. c.) und in gewissem Sinne auch Brown-Sequard1 2 die von den motorischen Rindenfeldern ausgel\u00f6sten Bewegungen f\u00fcr reflectorisch. Ferner Bewegungen, welche von Aussen veranlasst durch, den Willensimpul-sen analoge, centrale Innervationen, aber gezwungen zu Stande kommen. Hierher geh\u00f6ren die Bewegungen, die wir bei Schwindel, hervorgerufen z. B. durch die Durchleitung eines elektrischen Stromes durch den Kopf ausf\u00fchren, hierher geh\u00f6ren aller Wahrscheinlichkeit nach gewisse Bewegungen bei Thieren, denen eine Verletzung im Bereiche des Nervensystemes beigebracht ist, z. B. jene Verdrehungen der Augen bei Kaninchen, die von MEXi\u00c8RE\u2019seher Krankheit befallen sind-, hierher geh\u00f6rt weiter eine grosse Anzahl von Zwangsbewegungen, die aus pathologischen F\u00e4llen bekannt sind.3\nAehnlick verh\u00e4lt es sich mit den L\u00e4hmungserscheinungen. Wir kennen solche, bei welchen der Muskel unvollkommen oder gar nicht in Contraction ger\u00e4tk, obwohl eine willk\u00fcrliche Innervation gesetzt wird. In den Scheinbewegungen, welche bei L\u00e4hmungen der Augenmuskelnerven eintreten, liegt der Beweis, wenu ein solcher noch n\u00f6thig w\u00e4re, dass die centrale Innervation gesetzt wird.\nAndererseits kennen wir aus pathologischen F\u00e4llen Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen, die dadurch bedingt sind, dass es dem betreffenden Individuum unm\u00f6glich ist, jenen centralen Willensimpuls zu setzen. Als Beispiel kann hier die Aphasie dienen.4 Manches aphasische Individuum kann ein Wort wohl schreiben, es kann aber die Innerva-\n1\tBrown-S\u00e9quard , Introduction \u00e0 une s\u00e9rie de m\u00e9moires sur la physiologie de divers, port, de l\u2019enc\u00e9phale. Arch. d. physiol, norm, et pathol. 1877.\n2\tVergl. Sigm. Exner, Kleine Mittheilung, physiol. Inhaltes. Sitzgsb. d. Wiener Acad. d. Wiss. 1874.\n3\tVergl. den Fall in Br\u00fccke\u2019s Vorlesungen \u00fcber Physiologie. 2. Aufl. II. S. 63.\n4\tVergl. Br\u00fccke 1. c. S. 58.","page":331},{"file":"p0332.txt","language":"de","ocr_de":"332 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. l.Cap. Grosshirnrinde der Thiere.\ntionen der Mundmuskeln nickt treffen, welche zum Aussprechen des Wortes f\u00fchren.\nEs fragt sich, welcher von diesen beiden L\u00e4hmungsarten wir die bei Exstirpation eines Rindenfeldes beobachteten, und welcher der beiden unwillk\u00fcrlichen Bewegungsweisen, wir jene Bewegungen zuz\u00e4hlen wollen, welche auf Reizung eines Rindenfeldes eintreten.\nMit den Beobacktungstkatsaeken stimmt die letztere Auffassung besser \u00fcberein, so dass wir wohl anzunehmen haben, es fallen bei den Exstirpationsversuchen Innervationsimpulse weg, welche sonst willk\u00fcrlich gesetzt wurden, es seien die centralen Verbindungen zwischen den Tr\u00e4gern der Vorstellungen und jenen Innervationsbahnen unterbrochen ; und es werden bei den Reizversuchen Innervationsimpulse gesetzt, welche, wenn sie auch nat\u00fcrlich nicht gleich jenen bei Zwangsbewegungen sind, doch ihnen nahe stehen. N\u00e4heres l\u00e4sst sich wohl nicht \u00fcber diese Bewegungen aussagen; ob sie die Folge von wachgerufenen Vorstellungen sind und in welcher Weise sich Bewusstsein und die Empfindung der Willk\u00fcr an ihrer Ausf\u00fchrung betheiligt, wird man wohl erst dann erfahren, wenn es m\u00f6glich sein wird, solche Reizversuche an einem Menschen auszuf\u00fchren.1\nEine besondere Schwierigkeit f\u00fcr die Deutung der in Rede stehenden Versuche bietet die Verg\u00e4nglichkeit der Erscheinungen nach der Exstirpation. Je gr\u00f6sser die L\u00e4sion ist, desto l\u00e4nger w\u00e4hren im Allgemeinen die Erscheinungen, deren Dauer theils nur Tage, theils Monate betr\u00e4gt. Es wird auch angegeben, dass nach gewissen L\u00e4sionen eine Restitution \u00fcberhaupt nur spurweise eingetreten ist, doch ist wohl heute die Anzahl und zeitliche Ausdehnung der Versuche noch zu gering, um in dieser Beziehung feste S\u00e4tze aussprechen zu k\u00f6nnen. Die einen meinen, dass die Restitution der Functionen auf vicariirendes Eintreten der anderen Hemisph\u00e4re beruht, die anderen, dass die Functionen der exstirpirten Stelle von den unversehrten umliegenden Gehirntheilen desselben Rindenfeldes \u00fcbernommen werden.\n1 Ein solcher Versuch ist schon einmal angestellt worden (Bartholow, Am. Journ. of the med. sc. April 1S74). Ich kann nicht entscheiden, ob der Schrei der Entr\u00fcstung, welcher sich an diesen Versuch kn\u00fcpfte, f\u00fcr jedes derartige, aber sorgsamer ausgef\u00fchrte, Experiment am Menschen berechtigt w\u00e4re. Aus jenem aber ergibt sich, so weit ich dieses aus Referaten entnehmen kann \u2014 das Original ist mir nicht zug\u00e4nglich \u2014 nichts, was uns in der angedeuteten Beziehung belehren w\u00fcrde.","page":332},{"file":"p0333.txt","language":"de","ocr_de":"Hirnl\u00e4sionen beim Menschen.\n333\nZWEITES CAPITEL.\nSpecielle Physiologie der Grosshirnrinde des Menschen.\nEs ist schon darauf hingewiesen worden, dass ein wesentlicher Umstand, der dem Durchgreifen der Anschauungen \u00fcber localisirte Functionen der Hirnrinde im Wege stand, in einer Reihe von Erfahrungen \u00fcber zum Theil sehr bedeutende Gehirnverletzungen besteht, bei welchen eine merkliche St\u00f6rung der geistigen Functionen nicht eingetreten ist. Aus der grossen Anzahl in der Literatur ver-zeichneter F\u00e4lle 1 m\u00f6gen hier einige kurz angef\u00fchrt werden.\nBerenger de Carpi2 erz\u00e4hlt von einem jungen Manne, dem ein vier Querfinger breiter und ebenso langer K\u00f6rper soweit in die Hirnmasse getrieben war, dass er von dieser verdeckt wurde. Beim Entfernen ging Gehirn verloren, ein zweiter Antheil desselben l\u00f6ste sich nach 13 Tagen von selber. Der Mensch genas, zeigte keine krankhafte Erscheinung, lebte noch lange und gelangte zu den h\u00f6chsten geistlichen W\u00fcrden.\nLonget (1. c.) kannte einen General, der durch eine Sch\u00e4delwunde in der Scheitelgegend einen starken Gehirnverlust erlitten hatte. Dieser Defect manifestirte sich dauernd durch eine Einsenkung dieses Sch\u00e4delbezirkes. Der General behielt die Lebhaftigkeit seines Geistes, sein richtiges Ur-theil zeigte auch sonst keinerlei krankhafte Erscheinungen, nur gab er an, bei geistiger Arbeit rasch zu erm\u00fcden.\nQuesnay3 erz\u00e4hlt von einem alten Diener, dessen rechtes Scheitelbein zertr\u00fcmmert wurde. T\u00e4glich quoll Hirnmasse aus der Wunde und wurde abgetragen. Am 18. Tage st\u00fcrzte der Kranke aus dem Bette, was weitere betr\u00e4chtliche Gehirnverluste zur Folge hatte. Am 35. Tage betrank er sich: neuer Austritt von Gehirnmasse, welche sich der Betrunkene mit dem Verband losriss. Am folgenden Tage war zu consta -tiren, dass der Defect fast bis zum Balken reichte. Der Kranke genas, seine psychischen Functionen stellten sich vollkommen wieder her, doch blieb er auf der linken Seite gel\u00e4hmt.\nBei einer Felsensprengung traf einen jungen Mann eine 3' 7\" lange und 1 V-i\" dicke Eisenstange, drang demselben in der N\u00e4he des linken Kiefergelenkes ein, durchbohrte den Sch\u00e4del und kam in der Stirngegend derselben Seite wieder zum Vorschein, wobei sie die Hemisph\u00e4re dureh-\n1\tVergl. die Zusammenstellung in Longet, Anat. et Physiol, du syst\u00e8me nerveux de l\u2019homme et des animaux vert\u00e9br\u00e9s. I. Paris 1842; Duperthuis et Masson, Revue m\u00e9d. 1853; Bouillaud, Trait\u00e9 de l\u2019Enc\u00e9phalite, p. 331; Trossueau, de l\u2019Aphasie. Gaz.hebdm. 1864; Congreve Selvyn, Lancet. 1838; Marot, Soc. anatom. 1876; eine Zusammenstellung derartiger F\u00e4lle in Pitres, Lesions du Centre ovale. Paris 1877.\n2\tBerenger de Carpi, De fractura cranii. Leydael715. Cit. nach Longet.\n3\tQuesnay, Remarques sur les plaies du cerveau. M\u00e9m. de l\u2019Acad. de Chirurgie. I. 1819. Cit. nach Longet.","page":333},{"file":"p0334.txt","language":"de","ocr_de":"334 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\nbohren musste. Der Mann genas, lebte noch 1212 Jahre, und zeigte,, abgesehen von der durch Verletzung des Auges bedingten Blindheit, keine abnormen Erscheinungen, mit Ausnahme eines gewissen Eigensinnes, Launenhaftigkeit und Widerspenstigkeit.1\nEs kann eine ganze Hemisph\u00e4re verk\u00fcmmert sein ohne Beeintr\u00e4chtigung der psychischen Functionen. Doch scheinen dann regelm\u00e4ssig Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen der gegen\u00fcberliegenden Seite zu bestehen.\nEin psychisch normales Individuum, das \u2014 wie es angab \u2014 seit seiner Geburt linksseitig gel\u00e4hmt war, starb an Phthisis. Bei der Section zeigte sich der Platz der rechten Hemisph\u00e4re von einer ser\u00f6sen Fl\u00fcssigkeit ausgef\u00fcllt.2\nDerlei F\u00e4lle Hessen sich noch eine grosse Menge anf\u00fchren. Es muss eingestanden werden, dass das Verst\u00e4ndniss derselben durch die neuen Forschungen eher erschwert als erleichtert wurde. Trotzdem aber ergibt sich bei genauerem Studium pathologischer F\u00e4lle eine Best\u00e4tigung der Anschauung, dass verschiedene Hirnrinden-An-theile verschiedenen Functionen dienen.\nEs ist dies der einzige Weg, der uns offen steht, wenn wir uns Kenntnisse \u00fcber die physiologische Bedeutung der verschiedenen Bindengebiete des Menschen verschaffen wollen. In erster Linie handelt es sich hier um die Vergleichung der im Leben bestehenden Symptome mit dem Obductionsbefund in jenen F\u00e4llen, in welchen eine gut begrenzte, nicht bis in die Stammganglien reichende Erkrankung der Rinde vorliegt. Es steht uns eine ziemlich reichhaltige Casuistik solcher F\u00e4lle zu Gebote.3\nNoch wichtiger, freilich auch viel seltener, sind jene F\u00e4lle, in welchen wegen Jahre fortgesetzten Nichtgebrauches von Muskelgruppen (z. B. eines Beines wegen Verk\u00fcrzung) oder Sinnesorganen (z. B. Erblindung) Atrophie von Gehirnwindungen nachweisbar ist.\n1\tDieser Fall geht unter dem Namen American crow-bar-case und ist zuerst von Bigelow (Amer, journ. of the med. scienc. Juli 1850), dann von Harlow (Recovery from the passage of an iron bar through the head. Boston 1869) beschrieben, und von Fermer (Ferrier\u2019s Functionen des Gehirnes. Uebers. v. Obersteiner. Braunschweig 1879) reproducirt und erg\u00e4nzt.\n2\tLallemand, Rech. anat. pathol. sur l\u2019enc\u00e9phale, lettre VIII. und Triar-di\u00e8re, La clinique. III. Cit. nach Longet. Cruveilhier giebt eine Abbildung eines Falles, in welchem die eine Hemisph\u00e4re kaum mehr als ein Dritttheil des normalen Volumens der anderen hatte (Anat. path. 8. Livr. Taf. 5).\n3\tVergl. die Zusammenstellungen: Mangliano, Le localizzazione motrici nella corteccia cerebrale. Rivista sperimentale di freniatria e di medic, ley. 1878; Charcot und Pitres in der Revue mensuelle 1877 und 1878; L\u00e9pine, De la localisation dans les maladies c\u00e9r\u00e9brales. Paris 1875; Charcot, Le\u00e7ons sur les localisations dans les maladies du cerveau. Paris 1876 ; Ferrier, The localisation of cerebral disease. London 1878; Bernhardt, Arch. f. Psychiatrie 1874; Hughlings-Jackson, Med. Times and Gaz. 1875, 1877. Die genannten Quellen k\u00f6nnen zur ersten Orientirung auf diesem Felde dienen. Es ist hier nicht der Ort noch weitere Literatur dieses Gegenstandes anzuf\u00fchren.","page":334},{"file":"p0335.txt","language":"de","ocr_de":"Die Rindenfelder des Menschen.\n335\nWas auf diesem Wege bisher mit Sicherheit hat constatirt werden k\u00f6nnen, ist in Folgendem zusammengestellt.1\nI. Die nicht motorischen Rindenfelder des Menschen.\nBetrifft eine L\u00e4sion den Stirnlappen, Schl\u00e4felappen, oder den Hinterhauptslappen, so kann sie ohne jede Motilit\u00e4tsst\u00f6rung, ohne Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rung und ohne St\u00f6rung der geistigen Functionen verlaufen.\nEs geh\u00f6rt hierher ein grosser Theil jener F\u00e4lle \u2014 wahrscheinlich alle, es ist dies nicht leicht mit Sicherheit zu constatiren \u2014 in welchen verh\u00e4ltnissm\u00e4ssig grosse Gehirnverletzungen keine dauernden St\u00f6rungen hervorgerufen haben. Einige solche sind oben angef\u00fchrt worden.\nAuch anderweitige Krankheitsf\u00e4lle dieser Art liegen mehrere vor, von denen ich, die wichtigsten Rindenregionen betreffend, einige herausgreife : Einer 2, in welchem der gr\u00f6sste Theil des linken Stirnlappens bis zum Gyrus centr. ant. zerst\u00f6rt war und keine anderen Symptome zeigte als allgemeine epileptiforme Anf\u00e4lle, zum Theil an hysterische Kr\u00e4mpfe erinnernd und einigemale wiederholtes Erbrechen. Ein anderer, von Boyer3 publicirter Fall, betraf ein epileptisches4 Kind, an welchem keinerlei weitere nerv\u00f6se Erscheinungen zur Beobachtung kamen. Bei der Section zeigte sich der ganze linke Schl\u00e4felappen zerst\u00f6rt. In einem dritten Falle hatten vom Sch\u00e4deldach ausgehende Knochenwucherungen die Hirnrinde des rechten Lobul. pariet. sup. und des Gyr. occip. prim. 1,5 Ctm. tief eingedr\u00fcckt; im Leben war keinerlei Symptom, das auf eine Gehirnerkrankung h\u00e4tte schliessen lassen.5 6\nWenden wir unsere an Thieren gewonnenen Anschauungen auf diese und \u00e4hnliche F\u00e4lle an, so m\u00fcssen wir sagen, dass zum mindesten in einem Theil derselben sensible Rindenfelder ohne irgend einen nachweisbaren Effect zerst\u00f6rt wurden. Es sind dies nicht etwa vereinzelte F\u00e4lle, sondern es geh\u00f6rt zu den Seltenheiten, dass bei Rindenl\u00e4sionen gut nachweisbare Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen auftreten.3\n1\tEs soll nicht verschwiegen werden, dass es immer noch Autoren giebt, welche die Idee von der Localisation der Functionen in der Hirnrinde, speciell gest\u00fctzt auf pathologische Befunde, von sich weisen.\n2\tCharcot und Pitres , Rev. mensuelle de m\u00e9d. et de Chirurg. 1878. pag. 810. Observ. XIX.\n3\tBoyer. Bull, de la Soc. anat. p. 612. Paris Dec. 1877.\n4\tSowohl in diesem wie im ersten Falle hatte man es mit allgemeinen epileptischen Anf\u00e4llen zu thun, die nicht mit solchen, welche sich auf bestimmte Muskelgruppen oder nur auf eine Seite beziehen, wie sie bei Erkrankung der motorischen Rindenfelder Vorkommen, verwechselt werden d\u00fcrfen.\n5\tLebec, Progr\u00e8s medical. 1877. p.-887.\n6\tHierher geh\u00f6rt ein von Hughlings-Jackson (Med. Times and Gaz. 5. Juni 1875. p. 606) mitgetheilter Fall, in welchem eine \u00fcbrigens auch motorische St\u00f6rungen zeigende Frau die Empfindungst\u00e4uschung hatte, als l\u00e4ge sie mit dem R\u00fccken imWasser.","page":335},{"file":"p0336.txt","language":"de","ocr_de":"336 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\nAndererseits sind in neuester Zeit F\u00e4lle bekannt geworden, in welchen Atrophie von Hirnwindungen in Folge von Blindheit oder Taubheit eingetreten war.* 1 Erstere betraf den Hinterhauptslappen (die Stelle der Rinde, an welcher die Fissura parieto-occipitalis von der medialen Seiten auf die convexe \u00dcbertritt), letztere den Schl\u00e4felappen. Blindheit eines Auges bewirkte Atrophie in beiden Hemisph\u00e4ren, \u00e4hnlich wie dies bei lebensl\u00e4nglichem Nichtgebrauch einer Extremit\u00e4t geschehen kann.2\nDie F\u00e4lle \u00fcber secund\u00e4re Atrophie in Folge von Nichtgebrauch eines Sinnesorganes sind noch zu sp\u00e4rlich, um die sensibeln Rindenfelder des Menschen bestimmen zu lassen, so viel aber geht aus ihnen schon hervor, dass sie im Grossen und Ganzen \u00e4hnlich liegen, wie nach den Versuchen an Thieren zu erwarten war. Hingegen ist ein wesentlicher Punkt, in welchem die Erfahrungen, die am Menschen gewonnen sind, von jenen des Thierversuches ab weichen: Beim Menschen ergeben einseitige Zerst\u00f6rungen der sensibeln Rindenfelder in der gr\u00f6ssten Mehrzahl der F\u00e4lle keine Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen. Die Sensibilit\u00e4t verh\u00e4lt sich in dieser Beziehung ebenso wie die eigentlichen psychischen Functionen und entgegengesetzt der Motilit\u00e4t.\nAls Paradigma f\u00fcr diesen Satz kann der S. 334 angef\u00fchrte Fall dienen, in dem in Folge Zerst\u00f6rung einer ganzen Hemisph\u00e4re zwar keine psychische und keine dem Sinnesgebiet angeh\u00f6rige Anomalie, wohl aber L\u00e4hmung der entgegengesetzten Seite w\u00e4hrend der ganzen Lebensdauer vorhanden war.3\nWir haben vorl\u00e4ufig nicht das Recht, alle Rindenpartieen des Menschen, welche nicht motorisch sind, als sensibel anzusehen. Deshalb ist hier die etwas sonderbar erscheinende Eintheilnng in nicht motorische und motorische Rindenfelder gew\u00e4hlt.\nBei der Section zeigte sich ein Tumor am Uebergang des Gyrus frontalis sup. in den Gyms central, ant. linkerseits. In einem andern Falle desselben Autors (vergl. Bernhardt, Arch. f. Psychiatrie 1874. S. 713) waren Sensibilit\u00e4tsst\u00f6rungen Folge eines haselnussgrossen Tuberkels der am hinteren Ende des G. front, inf. sass.\n1\tVgl. Huguenin, Beitrag zur Physiologie der Grosshirnrinde. Correspondenzbl. d. schweizer Aerzte 1878. No. 22. u. Centralbl. f. Nervenheilkunde etc. v. Erlenmeyer 1. J\u00e4nner 1879.\n2\tVergl. einen Fall von Oudin, Rev. mensuelle de med. et de chir. 1878. p. 190. Uebrigens war Gudden (Experimentaluntersuchungen \u00fcber das peripherische und centr. Nervensystem. Arch. f. Psych. II. S. 693. 1869) nicht im Stande, an Kaninchen, einem Hunde und einerTaube, denen gleich nach der Geburt je ein Auge exstirpirtwar, sp\u00e4ter Rindenatrophien nachzuweisen.\n3\tJ\u00fcngst ist von Kussmaul (St\u00f6rungen der Sprache. S. 145. Leipzig 1877) ein Fall publicirt worden, welcher dem eben genannten \u00e4hnlich war, aber sich dadurch von ihm unterschied, dass das der gr\u00f6sstentheils geschwundenen Hemisph\u00e4re gegen\u00fcberliegende Auge \u201eerblindet\u201c war. Es ist nicht ausdr\u00fccklich gesagt, ob dies Erblindung von Geburt aus war.","page":336},{"file":"p0337.txt","language":"de","ocr_de":"Die motorischen Rindenfelder des Menschen.\n337\nII. Die motorischen Rindenfelder des Menschen.\nEtwas mehr als \u00fcber die sensibeln Rindenfelder l\u00e4sst sich \u00fcber die motorischen aussagen.\nAehnlich wie beim Hunde um den Sulcus cruciatus herum eine motorische Zone liegt, ist dies beim Menschen um den Sulcus centralis (RoLANDO\u2019sche Furche) der Fall.1 Es handelt sich hier also in erster Linie um den Gyrus centralis ant., den Gyrus centralis post, und ihre Fortsetzung auf die mediale Fl\u00e4che des Gehirns, im Lobu-lus paraeentralis. Ob auch noch Stellen, welche diesen beiden Windungen benachbart sind, mit zu dem motorischen Rindenfeld geh\u00f6ren, ist zwar wahrscheinlich, doch heute noch nicht mit Sicherheit zu entscheiden.\nFig. 12. Seitenansicht des Gehirns (nach Ecker). Die Gyri und Lobnli sind mit Antiqua-Schrift, die Sulci und Fissurae mit Cursiv-Schrift bezeichnet.\nIch habe unter vielen (wohl mehrere Hunderte) F\u00e4llen, welche in der Literatur verzeichnet sind, bisher f\u00fcnfzig ausgelesen, welche sich zur Entscheidung der Fragen Uber Rindenlocalisation eignen, auch hinl\u00e4nglich genau beobachtet und beschrieben sind. Unter\n1 Schon vor mehreren Jahren analogisirte Hitzig die erregbare Zone des Hundehirns dem menschlichen Scheitelhirn (Arch. f. Anat. u. Physiol. 1873. S. 428).\nHandbuch der Physiologie. Bd. II a.\t22","page":337},{"file":"p0338.txt","language":"de","ocr_de":"338\nExner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\nFig. 13. Seitenansicht des Gehirns (nach Ecker). Das motorische Rindenfeld, bestehend ans dem Gyrus centralis anterior und dem Gyrus centralis posterior nehst dem auf Fig. 14 ver-zeichneten Lobulus paracentralis, ist schattirt.\nittal\u00fci\no-t empor:\n^-S'.occ ip\tcm\t'\n^oecipito-i empor, later.\nFig. 14. Ansicht der medialen Grosshirn-Oberfl\u00e4che wie sich dieselbe zeigt, wenn die beiden Hemisph\u00e4ren durch einen sagittalen Schnitt von einander getrennt werden. B Balken. Die\nBezeichnungsweise wie in Fig. 12. Der Lobulus paracentralis als zum motorischen Rindenfeld geh\u00f6rig schattirt. (Copie nach Ecker, nur ist der Lobulus paracentralis sch\u00e4rfer als im Originale hervorgehoben.)","page":338},{"file":"p0339.txt","language":"de","ocr_de":"Die motorische Rindenregion des Menschen.\n339\ndiesen befinden sich 30, bei welchen der Sitz der Krankheit ganz oder zum Theil die genannten Gyri sind. In allen diesen F\u00e4llen waren Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen der der L\u00e4sion gegen\u00fcberliegenden Seite vorhanden, und es ist mir unter allen F\u00e4llen nicht einer vorgekommen, in welchem einigermaassen ausgedehnte1 Zerst\u00f6rung dieser Windungen, ohne Beeintr\u00e4chtigung der Motilit\u00e4t der gegen\u00fcberliegenden Seite, vorhanden gewesen w\u00e4re.2\nDie Schwierigkeiten, welche sich einer sichereren und genaueren Ab-gr\u00e4nzung des motorischen Feldes entgegenstellen, liegen in einer ganzen Reihe von Umst\u00e4nden: man weiss gew\u00f6hnlich nicht, selbst wenn die Um-gr\u00e4nzung der Erkrankung genau angegeben ist, ob und in wieweit die benachbarten grauen und die darunter liegenden weissen Massen trotz ihres normalen Aussehens leistungs- und leitungsf\u00e4hig geblieben sind. Deshalb sind Resultate, zu welchen man per exclusionem gekommen ist, viel vertrauenerweckender als die auf gew\u00f6hnlichem Wege gefundenen. Also nicht die F\u00e4lle, in welchen ein kleiner Erkrankungsherd eine kleine functioneil eng umschriebene Motilit\u00e4tsst\u00f6rung zur Folge hatte, sind die interessantesten F\u00e4lle, sondern die, wo grosse L\u00e4sionen eine kleine Rindeninsel \u00fcbrig gelassen haben, und dem entsprechend nur ein kleiner Rest der Functionen vorhanden ist.\nEine zweite Schwierigkeit liegt darin, dass vermutklieh beim Menschen, so wie diess oben f\u00fcr Thiere erw\u00e4hnt wurde, die Rindenfelder nicht immer genau dieselbe Lage gegen die Gyri haben.\nEndlich wissen wir noch gar nichts dar\u00fcber, ob ein Rindenfeld scharf begr\u00e4nzt ist, oder ob es in Bezug auf seine uns bekannte Function an seiner Gr\u00e4nze allm\u00e4lig ausl\u00e4uft, ob sich die Rindenfelder ungleichartiger Muskelgruppen ganz oder theilweise decken k\u00f6nnen, etc.\nEs darf nicht verschwiegen werden, dass Charcot und Pitres* auf Grund einer grossen Reihe selbst beobachteter, sowie auch frem-\n1\tEs sind mir zwei F\u00e4lle bekannt, in welchen die L\u00e4sion die motorische Zone betrifft, ohne dass Bewegungsst\u00f6rung bemerkt worden war. Der eine r\u00fchrt von Obersteiner (Wiener med. Jahrb\u00fccher 1878. S. 286) her. Es sass eine \u201eganz kleine\u201c Geschwulst, die nicht mehr als 30\u201440 Riesenpyramiden zerst\u00f6rt haben mochte, im Lobu-lus paracentralis. Auffallender ist der zweite Fall (Samt, Arch. f. Psychiatrie V. 1875). Hier waren in einem Gehirn an 40 Cysticercusblasen, von denen eine in der Gr\u00f6sse von 1,5 Cm. Durchmesser in der vorderen Centralwindung sass. Dass sie bei dieser Gr\u00f6sse keine im Leben zur Beobachtung kommenden Symptome hervorbrachte, findet vielleicht in dem langsamen Wachsthum und in dem Umstand seinen Grund, dass hier keine eigentliche Zerst\u00f6rung, sondern nur ein Beiseitedr\u00e4ngen der Gehirnmasse stattfinden konnte. Auch hatte man es hier mit einem an den allerheftigsten Kopfschmerzen schwer darniederliegenden Menschen zu thun, bei welchem eine kleine Motilit\u00e4tsst\u00f6rung wohl der Beobachtung entgehen konnte.\n2\tEs ist dieses Resultat durchaus nicht neu. Doch ist angesichts der differenten Ansichten, die \u00fcber diesen Punkt noch herrschen, absichtlich hervorgehoben, dass es auf einer neuen Sammlung von F\u00e4llen beruht, die nur zu einem kleinen Theile identisch sindmit jenen F\u00e4llen, welche andere Autoren (Charcot und Pitres) zu einer \u00e4hnlichen Ansicht f\u00fchrten. Auch mag in dieser Beziehung von Interesse sein, dass ich jene Grenzen in der oben angegebenen Weise ermittelt hatte, ehe ich das Endresultat jener Autoren kannte.\n1 Charcot et Pitres, Revue mensuelle dem\u00e9d. et de chir. Juin 1877. p. 437.\n22*","page":339},{"file":"p0340.txt","language":"de","ocr_de":"340 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\nder F\u00e4lle das motorische Rindenfeld etwas weiter ausdehnen, als dies hier geschehen ist. Diese Autoren rechnen n\u00e4mlich noch die hinteren Antheile der drei Frontalwindungen hinzu, zweifeln aber selbst, ob dies mit Recht geschieht. Auch Lepin1 rechnet den Gyr. front, inf. mit zur motorischen Zone.2\nEs ist oben (S. 316) hervorgehoben worden, dass Betz3 die motorische Zone des Hundegehirns durch eigenth\u00fcmliche grosse Pyramidenzellen ausgezeichnet fand.\nEbensolche Zellen, in gleicher Weise zu Gruppen vereinigt, in der dritten Schichte der Hirnrinde eingebettet, fand nun Betz auch beim Menschen und Affen. Das Verbreitungsgebiet derselben ist die ganze vordere, das obere Ende der hinteren Centralwindung und der Lappen der medialen Gehirnfl\u00e4che, welcher die Fortsetzung der beiden Centralwindungen bildet. Diese Zellen sind in der rechten Hemisph\u00e4re zahlreicher, vielleicht auch gr\u00f6sser als in der linken, sind sp\u00e4rlich vertreten bei ganz jungen Individuen, bei sehr alten Leuten mit gelblichen K\u00f6rnchen theilweise erf\u00fcllt (Degeneration?) und fehlen auch nicht bei Idioten.\nHiernach muss man wohl eine Beziehung zwischen diesen \u201e Riesenpyramiden \u201c und den motorischen Functionen annehmen, denn mit Ausnahme des unteren Theiles des Gyr. centralis post, sind dieselben Rindenantheile physiologisch als motorisch anzusprechen, welche anatomisch durch jene Zellen ausgezeichnet sind.\nEs hat schon Fermer4 auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam gemacht, welcher zwischen den durch Verletzung der motorischen Felder erzeugten (nat\u00fcrlich immer gekreuzten) L\u00e4hmungen besteht, je nachdem man es mit dem Menschen und den Affen, oder mit niedriger stehenden Thieren, vor allem mit dem Hunde, zu.thun hat. Zerst\u00f6rung von Rindenfeldern beim Hunde ergab erstens nur unvollst\u00e4ndige L\u00e4hmung, das Thier machte die gew\u00f6hnlichen Bewegungen des Gehens und Laufens ziemlich gut, und zweitens verschwanden auch diese L\u00e4hmungen mit der Zeit bis auf Spuren. Bei Affen ist die L\u00e4hmung zum mindesten fast vollst\u00e4ndig und besserte sich, so lange sie Ferrier am Leben erhalten konnte (es war dies freilich nicht lange), nicht. Die pathologischen Erfahrungen am Menschen zeigen uns auch eine vollst\u00e4ndige und dauernde gekreuzte L\u00e4hmung jeder Willensbewegung nach Zerst\u00f6rung der motorischen Rindenfelder.\n1\tLepine, La Localisation dans les maladies c\u00e9r\u00e9brales. Paris 1875.\n2\tYergl. auch M. Rosenthal, Wiener med. Presse 1878. S. 657 u. ff.\n3\tBetz, Centralbl. f. d. med. Wiss. 1874. S. 578 u. 595.\n4\tDie Functionen des Gehirns. Uebers. v. Obersteiner. Braunschweig 1879.","page":340},{"file":"p0341.txt","language":"de","ocr_de":"Die motorischen Rindenfelder des Menschen.\n341\nEine genauere Localisation der einzelnen motorischen Functionen in der Rinde scheint mir vorl\u00e4ufig noch nicht mit Sicherheit aufgestellt werden zu k\u00f6nnen.\nNur das d\u00fcrfte ausser Frage sein, dass das Rindenfeld der oberen und das der unteren Extremit\u00e4t im oberen Theile der motorischen Zone (s. Fig. 13 u. 14) liegt, w\u00e4hrend das f\u00fcr einige oder s\u00e4mmtliche Muskeln, die vom N. facialis versorgt werden, im unteren (an die Fissura Sylvii grenzenden) Theile derselben liegt.\nLepine 1 giebt auf Grund von pathologischen F\u00e4llen folgende Localisation an : die Rindenfelder f\u00fcr die beiden Extremit\u00e4ten liegen in der Umgebung des oberen Theiles des Sulcus centralis, das Rindenfeld f\u00fcr die Muskeln der oberen Gesichtsh\u00e4lfte liegt hinter diesem Sulcus und unter dem erstgenannten Felde. Im Gyrus frontalis inferior sind die Muskeln der Lippe und der Zunge localisirt.\nAuf .gleicher Grundlage localisiren Charcot und Pitres 2 in nachstehender Weise: die beiden Extremit\u00e4ten seien vertreten im Lobulus paracentralis und den beiden oberen Dritteln der Gyri centrales, speciell die obere Extremit\u00e4t habe ihr wahrscheinliches Rindenfeld im mittleren Drittel des Gyr. centralis ant. Die Muskeln der unteren Gesichtsh\u00e4lfte seien in den unteren Dritteln der beiden Gyri centrales localisirt.\nFermer1 2 3 \u00fcbertr\u00e4gt die von ihm am Affengehirne gefundenen Rindenfelder nach anatomischen Anhaltspunkten auf das Menschenhirn und findet pathologische F\u00e4lle, welche ihm die so gefundene Localisation zu best\u00e4tigen scheinen. Bei der Vieldeutigkeit jedes einzelnen pathologischen Falles ist es unwahrscheinlich, dass man diese Frage so einfach erledigen kann, wenn man mehr als allgemeine Anhaltspunkte anstrebt.\nEs hat Brown-S\u00e9quard4 und Obersteiner5 darauf aufmerksam gemacht, dass bei Erkrankungen der Hirnrinde viel h\u00e4ufiger Motilit\u00e4tsst\u00f6rungen an der oberen Extremit\u00e4t als an der unteren zur Beobachtung kommen. Letzterer fand in seiner Sammlung von F\u00e4llen die obere Extremit\u00e4t 11 mal, die untere nur 2 mal ausschliesslich betroffen. Man kann dies so deuten, als w\u00e4re das Rindenfeld des Armes entsprechend der functionellen Ausbildung desselben, gr\u00f6sser als das des Beines.\nErw\u00e4hnt mag noch sein, dass bei Erkrankungen motorischer Felder gew\u00f6hnlich nicht einfach L\u00e4hmung der betreffenden Muskeln eintritt, dass\n1\tLepine, La Localisation dans les maladies c\u00e9r\u00e9brales. Paris 1875.\n2\tCharcot et Pitres, Revue mensuelle de m\u00e9d. et de chir. p. 437. Juni 1877.\n3\tFermer, The localisation of cerebral disease. London 1878.\n4\tBrown-S\u00e9quard, On paralysis limited to a limb or to some muscles. Lancet 1877. No. 2-10.\n5\tObersteiner, Die motorischen Leistungen der Grosshirnrinde. Wiener med. Jahrb\u00fccher 1878.","page":341},{"file":"p0342.txt","language":"de","ocr_de":"342 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\nvielmehr oft die ganz oder unvollst\u00e4ndig gel\u00e4hmten Muskeln Anf\u00e4llen von klonischen Kr\u00e4mpfen ausgesetzt sind. H\u00e4ufig stellten sich auch sp\u00e4ter in diesen Muskelgruppen dauernde Contracturen ein.\nIII. Das Kindenfeld der Sprache.\nEs giebt eine Region der Gehirnrinde, deren Verletzung fast immer mit Sprachst\u00f6rungen verbunden ist, und von welcher deshalb jetzt allgemein angenommen wird, dass sie in intimer Beziehung zur Sprache steht. Es ist dies die im Grund der Fossa Sylvii liegende Reil\u2019sche Insel und deren n\u00e4chste Umgebung, insbesondere der Gyrus frontalis infer, und der Gyrus temporalis sup. Es soll sp\u00e4ter von den Erfahrungen noch weiter die Rede sein, welche zur Localisation dieses Rindenfeldes der Sprache gef\u00fchrt haben, uns ist es nicht muais das am l\u00e4ngsten gekannte und ziemlich gut begrenzte Rindenfeld von Interesse, sondern auch noch durch einen anderen Umstand von Bedeutung.\nDie Erfahrungen \u00fcber die zu besprechenden Sprachst\u00f6rungen, die unter dem Namen der Aphasie (im weiteren Sinne) zusammengefasst werden, gestatten einen, wenn auch nur geringen, Einblick in das was im Bereiche der Gehirnrinde vor sich geht, wenn der Mensch Gebrauch von der Sprache macht. Und handelt es sich um das grosse R\u00e4thsel von den Leistungen der Grosshirnrinde, so muss auch der kleinste Beitrag zu dessen L\u00f6sung bewillkommt werden. Hier scheinen \u00fcberdies die Erfahrungen an Aphasischen in mancher Beziehung mit den Vorstellungen gut \u00fcbereinzustimmen, die man sich von dem psychischen Zustande von Thieren, welchen St\u00fccke der Hirnrinde exstirpirt wurden, gemacht hat. Denkt man sich die verschiedenen Modifikationen der Aphasie von den Organen, welche Worte auf nehmen (centrale Verbindungen des N. acusticus, des N. opticus) und produciren (centrale Verbindungen der Nerven, welche die beim Sprechen in Verwendung stehenden Muskeln versorgen) auf anderweitige Organe \u00fcbertragen, so resultiren Erscheinungen wie die des \u201erindenblinden\u201c des \u201eseelenblinden\u201c Hundes, oder jenes, der die Pfote nicht mehr reichen kann u. s. w., ja es d\u00fcrfte kaum fraglich sein, dass gewisse von Hirnl\u00e4sionen des Menschen herr\u00fchrende Erscheinungen in einem geringeren Dunkel erscheinen, wenn man sie von dem angedeuteten Standpunkt auffasst.\nDass ich die Aphasie von diesem etwas weiteren Gesichtspunkte auffasse, als es meines Wissens bisher geschehen ist, ist die Ursache, aus welcher ich im Folgenden, obzwar sie eine rein pathologische Erscheinung ist, n\u00e4her auf sie eingehe.","page":342},{"file":"p0343.txt","language":"de","ocr_de":"Physiologische Bedeutung der Aphasie.\n343\nGiebt ein Mensch auf eine Frage eine passende Antwort, so muss offenbar Folgendes in ihm Vorgehen:\n1)\tEr muss die gesprochenen Worte h\u00f6ren,\n2)\tdiese Worte m\u00fcssen in ihm die ihnen zugeh\u00f6rigen Begriffe erwecken,\n3)\taus der mit H\u00fclfe der Begriffe ausgef\u00fchrten Denkoperation muss sich ein Resultat bilden,\n4)\tdieses in Worte gekleidet werden,\n5)\tes m\u00fcssen die zum Aussprechen derselben n\u00f6thigen centralen Innervationen gesetzt werden, und endlich\n6)\tm\u00fcssen diese Innervationen in richtiger Anordnung und Intensit\u00e4t zu den betreffenden Muskeln gelangen.\nIst die erste Forderung nicht erf\u00fcllt, so hat man es mit einem Tauben, ist die letzte nicht erf\u00fcllt, mit einem h\u00f6chst wahrscheinlich im Gehirnstamm Erkrankten zu thun, kommt die (unter 3 genannte) Denkoperation zu keinem Ende, so liegt eine Geisteskrankheit vor, jede andere St\u00f6rung aber in den oben genannten Processen f\u00fchrt zur Aphasie.\nEs giebt Krankheitsf\u00e4lle, die nur so zu deuten sind, dass das (sub 2 genannte) Verst\u00e4ndnis der Worte verloren gegangen ist. Es handelt sich hier um Kranke, die zwar ganz gut Worte aussprechen k\u00f6nnen, aber nicht mehr verstehen, obwohl sie gut h\u00f6ren. Ein Beispiel soll dies illustriren1:\n\u201eEine 25j\u00e4hrige Frau wurde zehn Tage nach einer Entbindung beim starken Dr\u00e4ngen auf dem Stuhl pl\u00f6tzlich bewusstlos. Nachdem das Bewusstsein wiedergekehrt, war sie nicht gel\u00e4hmt, litt aber an Aphasie und Paraphasie.2 Sie fand die Worte schwierig oder nicht, verkehrte oder verst\u00fcmmelte sie, sagte Butter statt Doctor, warf Buchstaben und Silben aus, setzte andere ein, gebrauchte Infinitive statt der bestimmten Zeitform und conjugirte unregelm\u00e4ssige Zeitw\u00f6rter regelm\u00e4ssig. Man hielt sie f\u00fcr taub, weil sie anfangs kein Wort verstand. Bald \u00fcberzeugte man sich, dass sie das Klopfen an der Th\u00fcr und das Ticken der Taschenuhr so scharf h\u00f6rte wie ein Gesunder, zwei Hausglocken dem Klange nach unterschied u. d. m. Dagegen vernahm sie, wie sie sp\u00e4ter erz\u00e4hlte, die W\u00f6rter als ein verworrenes Ger\u00e4usch. Einzelne Vocale h\u00f6rte sie und sprach sie nach . . . . \u201c\n1\tDieser Fall r\u00fchrt von Schmidt (Allgem.Zeitschr. f. Psychiatrie XXYI1 S. 304. 1871), ich citire ihn nach Kussmaul\u2019s St\u00f6rungen der Sprache. S. 176. Leipzig 1877*. einem Buche, an welches ich mich im Folgenden grossentheils halte, und das jedem zu empfehlen ist, der sich f\u00fcr den heutigen Stand dieses Gegenstandes und seinen ganzen Umfang interessirt.\n2\tMit letzteremWorte bezeichnet man diejenige Sprachst\u00f6rung, bei welcher statt der sinnentsprechenden Worte falsche, oder ganz sinnlos zusammengef\u00fcgte zum Vorschein kommen.","page":343},{"file":"p0344.txt","language":"de","ocr_de":"344 Exnek, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\nBei einer derartigen Aphasie verh\u00e4lt sich also der Kranke \u00e4hnlich wie wir uns ein intelligentes Thier vorstellen, das die Sprache der Menschen wohl h\u00f6rt, aber nicht versteht. Man kann ihn nicht gut mit einem Gesunden vergleichen, der eine fremde Sprache h\u00f6rt, denn dieser merkt sich, wenn ihm der Name eines Gegenstandes gesagt wird, denselben, nicht so der Aphasische. Wie schon Kussmaul1 hervorhebt, beweisen diese Arten der Aphasie, dass die Lo-calit\u00e4t des Gehirns, an welche die Empfindung von Ger\u00e4uschen einzelner Vocale und Consonanten gebunden ist, eine andere ist als die, in welcher ein acustisches Wortbild als Symbol einer Vorstellung aufgefasst wird.\nEs ist mir kein Fall bekannt geworden, in welchem sich diese \u201e Sprachtaubheit \u201c nicht auch mit \u201e Sprachblindheit \u201c combinirt h\u00e4tte, d. h. hat ein Kranker das Verm\u00f6gen verloren die geh\u00f6rten Worte mit den richtigen Begriffen zu verbinden, so kann er dies auch nicht bei geschriebenen Worten, er kann dabei so gut sehen wie ein Gesunder. Es ist in dieser und mancher anderen Beziehung der Krankheitsfall von Lordat von Interesse und zu Ber\u00fchmtheit gelangt; Lordat, selbst Professor der Medicin, litt mehrere Monate an Aphasie und beschrieb den Zustand, in welchem er sich w\u00e4hrend dieser Krankheit befand, ausf\u00fchrlich.2\nWie das Verst\u00e4ndniss f\u00fcr gesprochene und geschriebene Worte verloren gehen kann, kann auch die Auffassungsgabe f\u00fcr Zahlen ein-gebiisst werden. Ein Rechnungsbeamter konnte noch die Zahl 766 Ziffer f\u00fcr Ziffer lesen, wusste aber nicht mehr was es bedeute, dass die Ziffer 7 vor den beiden 6 stehe. Auch das Verst\u00e4ndniss f\u00fcr geschriebene musikalische Noten kann verloren gehen, w\u00e4hrend der Kranke noch gut nach dem Geh\u00f6r spielt.3\nBei einer zweiten Form von Aphasie ist es dem Kranken nicht m\u00f6glich, das Resultat seiner Gedanken in Worte zu kleiden (oben unter 4. genannt), sei es um dieselben auszusprechen, oder sie niederzuschreiben. In den meisten F\u00e4llen ist hier das Wort einfach vergessen. Sagt man es dem Kranken vor, so kann er es nachsagen, auch nachschreiben, hat es aber sogleich wieder vergessen. Durch letzteren Umstand l\u00e4sst sich diese Form der Aphasie leicht von der erstgenannten unterscheiden.\nAuffallend ist, dass bisweilen nur einzelne Worte, oder nur die Hauptworte, sehr h\u00e4ufig Namen dem Ged\u00e4chtnisse entschwunden und\n1\tKussmaul, St\u00f6rungen der Sprache. S. 175. Leipzig 1877,\n2\tLordat, Analyse de parole etc. Montpellier 1843.\n3\tKussmaul, 1. c. S. 181.","page":344},{"file":"p0345.txt","language":"de","ocr_de":"Formen der Aphasie.\n345\nnicht wieder zu acquiriren sind. Auch kommt es vor, dass nur Theile der Worte vergessen sind.\nSo erz\u00e4hlt Graves *, dass ein 56j\u00e4hriger Mann nach einem Schlaganfall die Eigennamen und Substantiva bis auf ihre Anfangsbuchstaben vergessen habe. Er machte sich deshalb ein alphabetisch geordnetes W\u00f6rterbuch der zum Hausgebrauch n\u00f6thigen Substantiva und schlug, so oft er in der Unterhaltung auf ein solches stiess, darin nach. Wollte er z. B. Kuh sagen, so sah er unter K nach. So lange er den Schriftnamen mit dem Auge sah, konnte er ihn aussprechen, im Augenblick nachher war er dazu unf\u00e4hig.\nWie sehr hier die Erkrankung auf das Gebiet der Sprache beschr\u00e4nkt sein kann, geht aus einem Fall von Las\u00e8gue hervor, der einen Musiker betraf, der vollkommen aphasisch und agraphisch (un-verm\u00f6gend zu schreiben) war, aber leicht eine geh\u00f6rte Melodie in Noten niederschrieb.\nEine dritte Form von Aphasie ist dadurch charakterisirt, dass der Kranke seine Gedanken zwar in Worte kleiden, aber nicht die zum Aussprechen derselben n\u00f6thigen centralen Innervationen zu Stande bringen kann (oben mit Process 5 bezeichnet). Dass die Kranken Denkoperationen ausf\u00fchren, die Resultate derselben auch in Worte kleiden, geht daraus mit Bestimmtheit hervor, dass sie dieselben aufschreiben k\u00f6nnen. Hingegen k\u00f6nnen sie auch vorgesprochene Worte nicht nachsprechen, und bei ihren Bem\u00fchungen dies zu thun, zeigen sie, dass ihre Mundtheile willk\u00fcrliche Bewegungen ausf\u00fchren k\u00f6nnen, sie verzerren den Mund, werfen die Zunge hin und her, bringen aber nur unarticulirte Laute hervor.\nEin junger bl\u00fchender Beamter hatte in einem Anfalle von Bewusstlosigkeit die Sprache ganz eingeb\u00fcsst, ohne dass weitere pathologische Erscheinungen zur\u00fcckgeblieben w\u00e4ren. Er f\u00fchrte alle Bewegungen der Zunge und Lippen leicht aus. Da seine Gesch\u00e4fte derart waren, dass sie sich schriftlich besorgen Hessen, stand er seinem Amte weiter vor. Dem behandelnden Arzte \u00fcbergab er eine sorgf\u00e4ltig von ihm abgefasste Geschichte seiner Krankheit.'1 2\nEs handelt sich bei diesen Kranken nicht um das Unverm\u00f6gen, die Innervationen f\u00fcr bestimmte Buchstaben als solche zu finden, sondern es sind die Worte, deren Bildung ihnen unm\u00f6glich ist. Es geht dies erstere daraus hervor, dass viele Kranke, bei welchen noch ein Rest der Sprache zur\u00fcckgeblieben ist, die also noch einzelne, oder noch verst\u00fcmmelte Worte hervorbringen k\u00f6nnen, ein Wort ausspre-\n1\tGraves, Dublin quaterly Journ. XI. p. 1. 1851. Citirt nach Kussmaul 1. c. S. 163.\n2\tTrousseau, Med. Klinik. II. Art. Aphasie. Hier nach Kussmaul, 1. c. S. 157.","page":345},{"file":"p0346.txt","language":"de","ocr_de":"346 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\neben k\u00f6nnen, nicht aber dasselbe Wort mit Weglassung einer Silbe, oder mit Umstellung der Silben, oder eine Silbe mit Umstellung der Buchstaben. Wenn ein Kranker z. B. nur die Silbe \u201etan\u201c sagen kann, ist er doch unverm\u00f6gend \u201enat\u201c zu sagen. Zweitens gebt dies daraus hervor, dass ein Kranker, der noch einige Worte zur Verf\u00fcgung bat, einen Buchstaben in einem Worte, nicht aber in einem anderen ausspreeben kann.1\nZur Illustration des letzteren Umstandes, sowie der F\u00e4lle von unvollkommener Aphasie dieser Art diene folgender, von Broca2 herr\u00fchrende Fall des Kranken Le Long: \u201eLe Long verf\u00fcgte nur \u00fcber f\u00fcnf Worte, die er seinen ausdrucksvollen Geberden erl\u00e4uternd beif\u00fcgte: oui, non, tois statt trois, toujours und Le Lo statt Le Long, also drei unversehrte und zwei verst\u00fcmmelte W\u00f6rter. Mit oui bejahte, mit non verneinte er, mit tois dr\u00fcckte er alle Zahlbegriffe aus, indem er dabei mittelst eines geschickten Fingerspieles die bestimmte Zahl, die er im Sinne hatte, anzugeben wusste; mit Le Lo bezeichnete er sich; das Wort toujours gebrauchte er, wenn er seine Gedanken nicht mit den anderen W\u00f6rtern bezeichnen konnte. Le Long sprach somit das r in toujours richtig aus und elidirte es in trois, wie es Kinder machen, welche die Schwierigkeit der Verbindung des r mit dem vorausgehenden t noch nicht bew\u00e4ltigt haben; er hatte diese articulatorische Fertigkeit dauernd eingeb\u00fcsst. Den Nasenlaut, den er in non articulirte, konnte er hinter seinem eigenen Namen nicht mehr anf\u00fcgen, wie vordem. \u201c\nEine merkw\u00fcrdige Erscheinung ist die, dass Kranke, welchen f\u00fcr gew\u00f6hnlich nur wenige Worte zur Verf\u00fcgung stehen, in der Aufregung mehr, oft einen ganzen langen Fluch wohlarticulirt heraus-stossen. Jackson3 giebt an, dass Aphasische die auf gew\u00f6hnliche Fragen nicht mit \u201enein\u201c antworten k\u00f6nnen, diese Verneinung pl\u00f6tzlich herausstossen, wenn sie durch l\u00e4cherliche Fragen, z. B. ob sie hundert Jahre alt sind, gereizt werden.\nDie bisher besprochenen Vorg\u00e4nge, deren St\u00f6rungen zur eigentlichen Aphasie4 f\u00fchren, laufen in der Hirnrinde ab. Ist die Leitung der in der Gehirnrinde richtig gesetzten Innervationen nach den Muskeln gesch\u00e4digt, so leidet nat\u00fcrlich die Sprache auch, sie wird skan-dirend, es fallen Buchstaben aus, sie wird stotternd, lallend und schliesslich ganz unverst\u00e4ndlich, doch hat man es hier nicht mit dem\n1\tEs d\u00fcrfte kaum ein Zweifel dar\u00fcber obwalten, dass diese Schwierigkeit von gewissen Buckstabencombinationen, mit welchen wir auch Kinder k\u00e4mpfen sehen, in der centralen Innervation, insofern sie noch in der Gehirnrinde stattfindet, ihren Grund hat.\n2\tHier nach Kussmaul, 1. c. S. 159.\n3\tJackson, Brit. med. Journ. Decemb. 1871.\n4\tIch habe oben die Formen von Aphasie hervorgehoben, welche mir physiologisch die wichtigsten erscheinen; es braucht kaum erw\u00e4hnt zu werden, dass die Pathologen zum Theil ganz andere Eintheilungen treffen, doch ist hier nicht der Ort, hierauf n\u00e4her einZugehen.","page":346},{"file":"p0347.txt","language":"de","ocr_de":"Formen der Aphasie.\n347\nzu thun, was man Aphasie nennt. Diese St\u00f6rungen in den Leitungsbahnen kann die Markmasse der Grosshirnhemisph\u00e4ren betreffen1, sie liegt aber am h\u00e4ufigsten in den Nervenkernen der Medulla oblongata, vor allem in dem des N. hypoglossus, sodann im Facialis- und Yago-Aecessoriuskern.\nWas nun die Localisation der Sprackfunctionen in der Gehirnrinde anbelangt, so ist dies eine im Laufe der letzten Decennien so vielf\u00e4ltig discutirte Frage, dass es an diesem Orte unm\u00f6glich ist, eine vollst\u00e4ndige Darstellung der hier aufgestellten Ansichten und Beweise f\u00fcr und wider zu geben. Wir m\u00fcssen uns darauf beschr\u00e4nken, die Resultate, welche aus den Erfahrungen der Pathologen mit Sicherheit hervorgegangen sind, kennen zu lernen.\nDie Anschauung, die man jetzt von der Lage und Ausdehnung des Rindenfeldes der Sprache hat, basirt auf zahlreichen Sectionsbe-funden Apkasiscker. Sie ist allm\u00e4lig durch gegenseitige Erg\u00e4nzung der Erfahrungen verschiedener Forscher entstanden.\nDer erste nach Gall, der, gest\u00fctzt auf Beobachtungen und Sections-befunde, der Sprache eine Localit\u00e4t im Gehirn anwies, war Bouillaud 2, und zwar verlegte er die Articulation der Worte in die Stirnlappen. Es gelang ihm jedoch nicht, trotz eines Jahre lang fortgesetzten Kampfes, diese Idee zum Durchbruch zu bringen, offenbar in Folge des Misscredites, den sie durch ihre Aehnlichkeit mit GALL\u2019schen Anschauungen erweckte. Aehnlich ging es M. Dax3 und seinem Sohne G. Dax4, welche aus einer reichen Sammlung von pathologischen F\u00e4llen nachzuweisen suchten, dass Sprachst\u00f6rungen constant bei L\u00e4sionen der linken Hemisph\u00e4re und nicht bei solchen der rechten Hemisph\u00e4re Vorkommen. Eine Wendung in der allgemeinen Meinung trat ein, als Broca, der urspr\u00fcnglich Gegner Bouil-laud\u2019s war, im Jahre 1861 dessen Lehren der Hauptsache nach adoptirte und genauer dahin pr\u00e4cisirte, dass es der Gyrus frontalis inferior sinister ist, welcher unversehrt sein muss, wenn die Sprache erhalten sein soll.5 Er brachte sp\u00e4ter6 den Umstand, dass die linke Hemisph\u00e4re es ist, wel-\n1\tWie in einem Fall Jolly\u2019s: Arch. f. Psych. III. S. 711. 1872.\n2\tBouillaud, Trait\u00e9 clinique et physiologique de l\u2019enc\u00e9phalite. Paris 1825 und eine Abhandlung im Arch, de m\u00e9d. 1825. In neuester Zeit hat sich Bouillaud den nun gangbaren Ansichten in den wesentlichen Punkten angeschlossen. S. Compt. rend, tom. 85. p. 308\u2014314, 368\u2014373.\n3\tM.Dax, L\u00e9sions de la moiti\u00e9 gauche de l\u2019enc\u00e9phale, coincidant avec l\u2019oubli des signes de la pens\u00e9e. Congr\u00e8s m\u00e9d. de Montpellier 1836, abgedruckt in der Gaz. hebd. Apr. 1865. No. 17.\n4\tG. Dax, Observations tendant \u00e0 prouver la coincidence constante des d\u00e9rangements de la parole avec une l\u00e9sion de l\u2019h\u00e9misph\u00e8re gauche du cerveau. Bull, de l\u2019acad. de m\u00e9d. XXX. 1864\u201465 ; Gaz. m\u00e9d. p. 765. 1864.\n5\tBroca, Sur le si\u00e8ge de la facult\u00e9 du language articul\u00e9 avec deux observations d\u2019aph\u00e9mie. Bull, de la soc. anat. August 1861 und Remarques sur le si\u00e8ge, le diagnostic et la nature de l\u2019aph\u00e9mie. Ebenda Juli 1863.\n6\tBroca, Du si\u00e8ge del\u00e0 facult\u00e9 du language articul\u00e9 dans l\u2019h\u00e9misph\u00e8re gauche du cerveau. Bull, de la soc. d\u2019anthropol. Juni 1865. Vergl. auch Bouillaud, Acad, de m\u00e9d. 4. u. 11. April 1865 u. Banks, Dublin quaterly journ. of med. scienc. XXIX. p. 62.","page":347},{"file":"p0348.txt","language":"de","ocr_de":"348 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\ncher die besondere Beziehung zur Sprache zukommt, damit in Verbindung, dass die Menschen \u00fcberhaupt diese Hemisph\u00e4re mehr ein\u00fcben, sowohl f\u00fcr mechanische Arbeiten, als durch das Schreiben, was ja alles vorz\u00fcglich mit der rechten Hand geschehe.\nVon da an wurde die Lehre von der Localisation des Sprachverm\u00f6gens ziemlich allgemein angenommen, und es handelte sich nur mehr darum, an der Hand neuer und gut untersuchter F\u00e4lle die Gr\u00e4nzen, die individuellen Verschiedenheiten und die Bevorzugung der linken Hemisph\u00e4re genauer festzustellen.\nAls das eigentliche Rindenfeld der Sprache muss der hintere Theil des Gyrus frontalis inferior sinister und die Reil\u2019sche Insel1 der linken Seite angesehen werden: es geh\u00f6rt zu den Ausnahmen, dass L\u00e4sionen dieser Gegenden keine Sprachst\u00f6rungen hervorrufen. Hingegen kommen bisweilen Sprachst\u00f6rungen vor, auch wenn die L\u00e4sion keine dieser beiden Rindenregionen betrifft. Doch liegen dann die L\u00e4sionen fast immer in den angrenzenden Rindenantheilen.2\nEs scheint, dass man es hier mit bedeutenden individuellen Schwankungen zu thun hat und dass das Rindenfeld, wie auch aus anderen Gr\u00fcnden anzunehmen ist, nicht scharf endigt.\nEs giebt eine sehr grosse Reihe von F\u00e4llen, welche die wichtige Rolle der linken unteren Frontalwindung zur Evidenz demonstriren, ich will hier nur einen eclatanten, von Simon3 4 publicirten, anf\u00fchren: Ein Mann hatte sich, wie die Section ergab, bei einem Sturz vom Pferde einen Knochensplitter des Sch\u00e4deldaches in die genannte Windung getrieben. Es war keine andere Sch\u00e4delverletzung nachzuweisen. Dieser Mensch war nach seinem Sturze sogleich aufgestanden und wollte das Pferd wieder besteigen, als ein ihn begleitender Arzt ihn bat, sich untersuchen zu lassen. Es zeigte sich keinerlei Krankheitssymptom als Sprachlosigkeit. Doch machte er sich durch Zeichen verst\u00e4ndlich. Er starb sp\u00e4ter in Folge der entz\u00fcndlichen Affectionen, welche der Gehirnverletzung folgten.\nNach einer Zusammenstellung Lohmeyer\u2019s 4 kommen auf X3 F\u00e4lle von Aphasie ungef\u00e4hr 34, in welchen die untere linke Stirnwindung entweder allein oder doch mit erkrankt ist.\nDie auffallende Thatsache, dass die linke Hemisph\u00e4re beim Zustandekommen der Sprache so wesentlich mehr betheiligt ist, als die rechte, ist sichergestellt: S\u00e9guin5 berechnete nach einer Zusammenstellung von 260 Krankengeschichten, dass die Anzahl der F\u00e4lle, in\n1\tVergl. die voiiMeynert untersuchten und von Chrastina publicirten F\u00e4lle (Allgem. med. Centralzeitung. No. 10. 1867 und Oesterr. Zeitschr. f. prakt. Heilkunde. No. 23 u. 25. 1867); ferner Oedmansson (Dublin quaterly journ. of. med. sc. 1868. p. 482.)\n2\tBourdon (Becherch. sur les centres moteurs. Obs. I.) beobachtete eine Sprachst\u00f6rung, hervorgerufen durch eine L\u00e4sion an dem obersten Ende des Gyr. centr. ant.\n3\tSimon, Berl. klin. Wochenschr. 1871. p. 537. 549. 586. 597.\n4\tLohmeyer, Arch. f. klin. Chirurgie. XIII. 1872.\n5\tS\u00e9guin, Quarterly Journ. of Physiol. Med. Jan. 1868.","page":348},{"file":"p0349.txt","language":"de","ocr_de":"Das Rindenfeld der Sprache.\n349\nwelchen Aphasie durch linkseitige L\u00e4sionen entsteht, sich zu der Anzahl jener, in welchen rechtsseitige Erkrankungen vorliegen, verh\u00e4lt wie 14,3 : 1, wobei bemerkt werden muss, dass, wie aus anderweitigen Z\u00e4hlungen hervorgeht, hier nicht etwa eine T\u00e4uschung vorliegt, dadurch hervorgerufen, dass \u00fcberhaupt mehr linksseitige Erkrankungen Vorkommen als rechtsseitige.\n' Wir m\u00fcssen diese Thatsache, welche nicht ganz zu den Vorstellungen, die wir uns von den Rindenfunctionen im Allgemeinen zu machen pflegen, passt, als solche hinnehmen, und finden nur eine unvollst\u00e4ndige Analogie in dem von Broca1 hervorgehobenen Umstande, dass unsere linke Hemisph\u00e4re f\u00fcr mechanische Arbeiten geschickter und ge\u00fcbter sein muss, als die rechte. Deshalb eine unvollst\u00e4ndige Analogie, weil die direkten Innervationen der rechten Hand eben einseitig von der linken Hemisph\u00e4re besorgt werden, die Innervationen der Sprachmuskeln aber bilateral geschehen.\nDoch l\u00e4sst sich die Analogie bis zu einem gewissen Grade durchf\u00fchren. Fehlt in Folge von fr\u00fchzeitigen L\u00e4sionen oder von Geburt her das motorische Rindenfeld des rechten Armes, so \u00fcben die betreffenden Individuen den linken Arm, d. h. die rechte Hemisph\u00e4re f\u00fcr die mechanischen Arbeiten ein. Solche F\u00e4lle sind von Moneau, von Kussmaul2 u. A. ver\u00f6ffentlicht. Aehnlich, muss man annehmen, ist es mit der Sprache. In den beiden angef\u00fchrten F\u00e4llen war das Rindenfeld der Sprache auch von Kindheit an zerst\u00f6rt; dass diese Menschen doch gut sprechen konnten, ist ungezwungen nur so zu deuten, dass die Insel, unterste Stirn Windung u. s. w. der rechten Hemisph\u00e4re die Sprachfunctionen \u00fcbernommen haben.\nIn dieser Beziehung ist ein Fall, den Schwarz 3 mittheilt, von Interesse. Bei einem gut entwickelten, dreij\u00e4hrigen M\u00e4dchen trat in der Re-convalescenz nach Masern pl\u00f6tzlich Sprachlosigkeit mit einer theilweisen L\u00e4hmung des rechten Armes ein. Die L\u00e4sion lag also in der linken Hemisph\u00e4re. Der Zustand besserte sich, doch musste das M\u00e4dchen ganz von neuem sprechen lernen und verhielt sich dabei wie ein normales Kind, das sprechen lernt.\nEs hat also die linke Seite nicht das ausschliessliche Privilegium, der Sprache vorzustehen.\nDie Analogie geht noch weiter. Es scheint, dass sogenannte linksseitige Individuen, die also im Gegensatz zu der Mehrzahl der Menschen die rechte, nicht die linke Hemisph\u00e4re f\u00fcr mechanische Arbeiten einge\u00fcbt haben, diese rechte Hemisph\u00e4re auch zur Sprache\n1\tBroca, Bull, de la soc. d\u2019anthropol. Juni 1865.\n2\tVergl. dessen St\u00f6rungen der Sprache. S. 136 u. 145. Leipzig 1877.\n3\tSchwarz, Deutsch. Arch. f. klin. Med. XX.","page":349},{"file":"p0350.txt","language":"de","ocr_de":"350 Exner, Grosshirnrinde. Spec. Physiol. 2. Cap. Grosshirnrinde des Menschen.\ngebrauchen. Es haben Pye Smith, Jackson und John Ogle1, Mongi\u00e92, Russel3, W. Ogle4 F\u00e4lle beobachtet, die dies darzuthun scheinen. Linksh\u00e4ndige Menschen waren durch rechtsseitige Hirnl\u00e4sionen apha-sisch geworden und, was mehr beweist, in einer Zusammenstellung, welche William Ogle5 von 100 Aphasief\u00e4llen macht, befanden sich drei linksh\u00e4ndige Menschen, und bei allen dreien betraf die L\u00e4sion die rechte Hemisph\u00e4re.\nEin f\u00fcr den Physiologen naheliegendes Beispiel, die Ein\u00fcbung einer Hemisph\u00e4re auch f\u00fcr die einem Sinnesorgane angeh\u00f6rigen psychischen Vorg\u00e4nge zu demonstriren, ist folgendes: Jedermann weiss, dass Anf\u00e4nger im Mikroskopiren durch subjective und entoptische Erscheinungen vielfach beirrt werden. Man sieht da mouches volantes, die Schatten der Augenwimpern u. dgl. m. Im Laufe der Ein\u00fcbung lernt man von allen diesen Dingen abstrahiren. Ich bin gewohnt ausschliesslich mit dem rechten Auge zu mikroskopiren. Blicke ich aber mit dem linken Auge ins Mikroskop, so befinde ich mich vollkommen in der Lage eines Anf\u00e4ngers; mich behindern die mouches volantes, ich sehe wieder meine Augenwimpern, wie ich mich erinnere, sie als Anf\u00e4nger gesehen zu haben u. s. w. Dass es sich hier nicht um Verschiedenheiten der Augen, auch nicht um Ungeschicklichkeit der Kopfhaltung u. dgl. handelt, geht daraus hervor, dass, wenn ich mit dem linken Auge mikroskopire, auch der Wettstreit der Sehfelder, d. i. das Roth, das durch das Lid meines rechten Auges durchschimmert, in hohem Grade am Sehen des mikroskopischen Objectes hindert. Hier ist also das Spiel der Aufmerksamkeit durch die Uebung nur in der linken Hemisph\u00e4re regulirt worden.\n1\tYergl. Simon, Berl. klin. Wochenschr. 1871.\n2\tMongi\u00e9, De l\u2019aphasie. Th\u00e8se de Paris 1866.\n3\tRussel, Med Times and Gaz. Juli u. Okt. 1874.\n4\tW. Ogle, Dextral prominence. Philos. Transact. Tom. 45.\n5\tW. Ogle, Medico-chirurgical Transactions. XLY. p.279; vgl. auch dessen Abhandl. Aphasia and Agraphia; St. George\u2019s hospital reports. II. p. 83. London 1867.\nDie Lehre von den H i r n b e w e g u n g e n ist im IV., die Lehre von der chemischen Zusammensetzung des Gehirns und R\u00fcckenmarks im V. Bande behandelt; betreffs der Reaction und des Stoffwechsels vergl. auch S. 136 der ersten Abth. dieses Bandes.","page":350}],"identifier":"lit36691","issued":"1879","language":"de","pages":"1-350","startpages":"1","title":"Zweiter Theil: Physiologie des R\u00fcckenmarks und Gehirns","type":"Book Section","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T13:14:24.684044+00:00"}

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