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{"created":"2022-01-31T15:28:04.934591+00:00","id":"lit37399","links":{},"metadata":{"alternative":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane","contributors":[{"name":"Stratton, George M.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Zeitschrift f\u00fcr Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane 28: 42-45","fulltext":[{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nDer linear-perspectivische Factor in der Erscheinung des Himmelsgew\u00f6lbes.\nVon\nGeorge M. Stratton.\n(Mit 3 Fig.)\nIn seiner anregenden Er\u00f6rterung des Ph\u00e4nomens der Himmelsw\u00f6lbung1 hat Professor von Zehender den Gedanken vertreten, dafs die flach gew\u00f6lbte Gestalt des Himmels, wenn derselbe ,.in weiter Ausdehnung ganz \u00fcbers\u00e4et mit kleinen von der Erdoberfl\u00e4che gleich weit entfernten W\u00f6lkchen\u201c, nicht eine optische T\u00e4uschung, sondern ,.die wahre und wirkliche Form der Wolkenschicht\u201c sei. \u201eDie Wolken liegen wirklich in einer mit der Erdoberfl\u00e4che concentrischen Schicht\u201c, und daraus soll die Erscheinung in diesem besonderen Falle erkl\u00e4rt werden. Seiner Meinung nach kommt uns ein directer und unmittelbarer Eindruck, dafs der Himmel gew\u00f6lbt ist, nur bei bew\u00f6lktem Himmel vor. Damit ist die angebliche Erkl\u00e4rung der Form des wolkigen Himmels gewissermaafsen der Kernpunkt seiner ganzen Theorie.\nDiese Anschauung von Zehender\u2019s, dafs die Concavit\u00e4t des Wolkenhimmels nicht eine T\u00e4uschung, sondern die wahre Form der Wolkenschicht sei, scheint mir nicht ganz einwandfrei zu sein. Einerseits ist die scheinbare Rundung des Wolkengew\u00f6lbes zu stark und auf einem zu kurzen Radius gebildet, um eine solche Erkl\u00e4rung zu rechtfertigen. Die Wolken sollten nach dieser Theorie immer noch flacher gekr\u00fcmmt erscheinen als die Erdoberfl\u00e4che selbst, da sie eine derselben concentrische Schicht bilden und also mit einem gr\u00f6fseren Halbmesser beschrieben sind.\n1 Die Form des Himmelsgew\u00f6lbes und das Gro-fser-Erscheinen der Gestirne am Horizont. Diese Zeitschrift \u201824, 218.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Der linear-perspectivische Factor in der Erscheinung des Himmelsgew\u00f6lbes. 43\nFactisch scheint die regelm\u00e4fsig vertheilte Wolkenschicht viel st\u00e4rker gebogen als die Erdoberfl\u00e4che und deswegen zu con-cav, um durch die wirkliche Rundung erkl\u00e4rt zu werden. Andererseits ist die Erscheinung leicht erkl\u00e4rlich ohne eine solche fragliche Annahme.\nDie richtige Erkl\u00e4rung wird, meiner Ansicht nach, ohne Weiteres gefunden, wenn man die Thatsachen nach den Principien der linearen Perspective betrachtet. Wenn man von einer gewissen Entfernung aus eine gerade Linie betrachtet, die weit nach dem Horizont in beiden Richtungen sich hinausdehnt, so scheint diese Linie ihre Richtung merklich zu \u00e4ndern. Sie bildet eine sehr flache Curve um den Beobachter herum. Diese Kr\u00fcmmung ist besonders dort bemerkbar, wo die Linie so zu\nFig. 1.\tFig. 2.\tFig. 3.\nsagen an dem Beobachter vorbeigeht, um von dem einen Fluchtpunkt nach dem anderen zu gelangen. Ist die Linie in beiden entgegengesetzten Richtungen unendlich ausgedehnt, so scheinen ihre Enden die Fluchtpunkte zu erreichen, welche auf den beiden Enden des Durchmessers eines Kreises liegen, in dessen Mittel punkt der Beobachter steht. Eben weil die betrachtete Linie ex hypothesi nicht mit der Blicklinie zusammenf\u00e4llt, und doch die Endpunkte dieses Durchmessers verbindet, so mufs sie nothwendig als eine ungerade Linie erscheinen.\nIn Figur 1 wird die Sache veranschaulicht. Die unendliche Linie L L1 wird von dem Punkte B aus betrachtet. Perspec-tivisch scheint die Strecke K L nach dem unendlich fernen","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nGeorge M. Stratton.\nPunkte F gerichtet und demnach in der Richtung K F sich hin zu strecken. Gleichfalls scheint der Theil K L1 in der Richtung K F1 sich hin zu strecken.\nNach der \u00fcblichen Praxis des perspectivischen Zeichnens, bei welcher nur ein sehr begrenzter Theil des ganzen successiv zusammengesetzten Sehfeldes in Betracht kommt, k\u00f6nnte man die Fortsetzungen der Linien von F und F1 aus nach Ii so denken, als ob sie dort stumpfwinklig zusammentr\u00e4fen, wie in Figur 2.\nThats\u00e4chlich kommt uns aber, wenn das Auge von F bis F1 schweift, die Verbindung der zwei verschieden gerichteten Linien gar nicht wie ein Winkel, sondern wie ein Bogen vor (s. Figur 3). Je weiter die Person von der zu betrachtenden Linie steht (d. h. je gr\u00f6fser die Distanz B K ist), um so st\u00e4rker kommt diese scheinbare Rundung zum Ausdruck.\nSelbstverst\u00e4ndlich ist dasselbe Princip ebensogut auf eine Fl\u00e4che wie auf eine Linie anwendbar. So erscheint irgend eine entfernte Ebene, z. B. die Wand eines sehr langen Geb\u00e4udes, das man nur bei einer Drehung des Kopfes um ann\u00e4hernd 180\u00b0 zu \u00fcberblicken vermag, als flach gekr\u00fcmmt und nicht eben. Deswegen scheint auch die Erdoberfl\u00e4che, wenn man sie in weiter Ausdehnung zu sehen im Stande ist, aufw\u00e4rts gebogen anstatt abw\u00e4rts, wie ihre wirkliche Kr\u00fcmmung uns erwarten lassen m\u00f6chte. Gew\u00f6hnlich ist die T\u00e4uschung hier sehr schwach, weil das Auge sich nahe an der zu betrachtenden Fl\u00e4che befindet. Liegt aber der Standpunkt weit in der H\u00f6he \u2014 wenn z. B. die See von einem an der K\u00fcste gelegenen Berge \u00fcberschaut wird \u2014 so kommt die scheinbare Concavit\u00e4t der Erdoberfl\u00e4che sehr frappant zum Bewusstsein. Der Horizont scheint \u00fcberraschend hoch zu liegen, und das Entfernte sieht in Wahrheit als das hohe Meer aus.\nDie Form des Himmelsgew\u00f6lbes, jedenfalls bei wolkigem Himmel, ist nur ein besonderer Fall desselben Thatbestandes. Dafs die Concavit\u00e4t sich hier so stark zeigt, h\u00e4ngt von der Entfernung der Wolken ab. Wegen dieser Distanz, welche \u00f6fters mehrere Kilometer betr\u00e4gt, und weil die perspeetivische T\u00e4uschung mit ihr zunimmt, darf man schliefsen, dafs die W\u00f6lbung haupts\u00e4chlich eine Wirkung rein perspectivischer Factoren sei.\nAllerdings mag die wirkliche Rundung der zur Erdoberfl\u00e4che concentrischen Wolkenschicht vielleicht ein wenig dazu beitragen.","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Der linear-perspectivische Factor in der Erscheinung des Himmelsgew\u00f6lbes. 45\nDafs aber dieses Moment im Vergleich mit dem perspectivischen fast vernachl\u00e4fsigt werden d\u00fcrfe, wird in der scheinbaren Con-cavit\u00e4t der Fnfsebene ersichtlich. Hier stehen die zwei Factoren, n\u00e4mlich die wirkliche Kr\u00fcmmung und die perspectivische Wirkung, in Conflict; aber auch, wenn die Bedingungen dem zweiten Factor nicht besonders g\u00fcnstig sind, weil das Auge nicht gen\u00fcgend weit von der zu betrachtenden Ebene liegt, \u00fcberwindet er den anderen v\u00f6llig. Demnach ist es h\u00f6chst unwahrscheinlich, dafs die Form des wolkigen Himmels der wirklichen Kr\u00fcmmung desselben zuzuschreiben ist. Vielmehr ist sie, wie schon gesagt, haupts\u00e4chlich aus linear-perspectivischen Gr\u00fcnden zu erkl\u00e4ren.\n(Eingegangen am 30. November 1901.)","page":45}],"identifier":"lit37399","issued":"1902","language":"de","pages":"42-45","startpages":"42","title":"Der linear-perspectivische Factor in der Erscheinung des Himmelsgew\u00f6lbes","type":"Journal Article","volume":"28"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:28:04.934596+00:00"}