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{"created":"2022-01-31T12:59:27.327472+00:00","id":"lit38474","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 1: 1-108","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\nVon\nCarl Stumpf.\nErstes Kapitel\nv. Helmholtz\u2019 Definitionen.\nUnter den Werken der neueren naturwissenschaftlichen Litteratur ist wohl keines so oft als klassisch bezeichnet worden wie Helmholtz\u2019 \u201eLehre von den Tonempfindungen\u201c ; und dieser Bezeichnung kann Niemand widersprechen, der die Schwierigkeit des Gegenstandes mit der Ruhe und Eleganz der Darstellung, der \u00fcberredenden Kraft der Grundgedanken, der F\u00fclle des durch sie bezwungenen Materials vergleicht. Dennoch d\u00fcrfen wir uns heute nicht verhehlen, dass eine feste Grundlage f\u00fcr die Theorie der Musik damit keineswegs gewonnen, dass vielmehr der Mittelpunkt des Ganzen, die Theorie der Konsonanz, unhaltbar ist. Die im Folgenden aufgef\u00fchrten Gr\u00fcnde haben mich bereits vor zwei Jahrzehnten zum Suchen nach einer neuen Grundlegung angetrieben. Ich wollte sie aber nur zusammen mit dieser selbst ver\u00f6ffentlichen \u2014 on ne d\u00e9truit que ce qu\u2019on remplace \u2014, habe daher nur gelegentlich Einiges davon erw\u00e4hnt.\nNun ist gegen Helmholtz l\u00e4ngst bald dieses bald jenes Bedenken geltend gemacht.1 Sei es aber, dass die Form nicht\n1 A. v. Oettingen, Lotze, Hqstinsky, Mach, Hugo Riemann, P\u00e4eyer, Wundt, G. Engel, Melde und besonders Th. Lipps (1883, 1885, 1895) sind unter den Kritikern zu nennen.\nUebrigens muss man nicht meinen, dass Helmholtz\u2019 Erkl\u00e4rungs-prinzip\u00eeen ganz neu gewesen wT\u00e4ren. Die von ihm allerdings in vollkommenster Weise durchgef\u00fchrten Lehren gehen ebenso wie die Polemik Stumpf, Beitr\u00e4ge I.\t^","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"2\nG. Stumpf.\nimmer \u00fcberzeugend war oder dass man einzelnen Einw\u00e4nden und Schwierigkeiten durch Hilfshypothesen abhelfen zu k\u00f6nnen glaubte \u2014 genug, die Naturforscher sind noch heute fast allgemein der Theorie zugethan, und von den Musikern, die sich zuerst reservirt verhielten, fangen manche gerade jetzt an, gegen\u00fcber einer physiologischen Theorie von so ungew\u00f6hnlicher Lebensdauer ihre Zweifel schwinden zu lassen. Daher wird eine eingehende Formulirung der durchschlagendsten Argumente immer noch n\u00fctzlich sein, um den Versuch einer Neubegr\u00fcndung zu rechtfertigen.\nHelmholtz giebt, genau zugesehen, nicht eine, sondern zwei verschiedene Definitionen von Konsonanz und Dissonanz, die zwar in der Durchf\u00fchrung vielfach miteinander verkn\u00fcpft werden, aber in sich selbst betrachtet durchaus verschieden sind und ein verschiedenes Anwendungsgebiet besitzen.\nDie Hauptdefinition lautet: \u201eKonsonanz ist eine kon-tinuirliehe, Dissonanz eine intermittirende Tonempfindung\u201c (S. 370 der 4. Aull,). Diese Definition ruht auf der Erscheinung der Schwebungen (einschliesslich der von den Obert\u00f6nen herr\u00fchrenden), welche bei Dissonanzen stark, bei Konsonanzen weniger stark oder gar nicht auftreten. Es ist der\ndagegen tief ins vorige Jahrhundert zur\u00fcck. Sauveur erkl\u00e4rte bereits 1700 die Dissonanz aus den Schwebungen, Est\u00e8ve 1751 die Konsonanz aus zu-sammenfallenden Theilt\u00f6nen, wenn auch mit anderer Wendung des Gedankens als bei Helmholtz. Sauveur\u2019s Lehre wurde durch Robert Smith 1749 weitergebildet (vgl. Mach\u2019s Pop.-wiss. Vorlesungen S. 4SI). A\u00fcch bei dem wackeren Andreas Sorge, Vorgemach der musikal. Komposition (1745 bis 1747) findet man S. 334 Hierhergeh\u00f6riges. Er sagt \u00fcber die Dissonanzen: \u201eStatt eines lieblichen Tons entsteht in der Tiefe ein donnerndes und ersch\u00fctterndes Brausen, in der H\u00f6he ein verdriessliches Geschwirre.\u201c Offenbar bezieht sich dies auf die Schwebungen. Sorge leitet u. a. daraus ab, warum selbst Terzen in der Tiefe \u00fcbel klingen : in C seien die Obert\u00f6ne c1 und g1 enthalten, in E h und gis1, welche mit jenen Schwebungen geben. Ebenso erw\u00e4hnt Sulzer (1786) das \u201eganz unertr\u00e4gliche Geschwirre\u201c bei Dissonanzen wie 99 : 100.\nRousseau tr\u00e4gt in seinem Dictionnaire de musique, Art. Consonnance, die Erkl\u00e4rungen Sauveurs und Est\u00e8ve\u2019s vor, verwirft die erstere, findet dagegen die zweite einfach und gl\u00fccklich, wenngleich nicht v\u00f6llig befriedigend.\nAusdr\u00fcckliche Ablehnung und Kritik der Obertontheorie f\u00fcr die Konsonanzlehre vor Helmholtz\u2019 Zeit bei A. Eximeno 1774, M. Young 1784, Chladni 1802, Gottfried Weber 1817 f., Moritz Hauptmann 1853. Doch wurde fr\u00fcher fast nur der Umstand geltend gemacht, dass unter den Theilt\u00f6nen auch dissonante, wie der 7., 9., 11., Vorkommen und sogar \u00f6fters recht stark sind.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n3\nGrad der dadurch bedingten Rauhigkeit, welcher den Grad der Konsonanz oder Dissonanz bestimmt. Helmholtz hat unter gewissen, freilich ganz speziellen, Voraussetzungen hierf\u00fcr sogar eine graphische Darstellung, eine Rauhigkeitskurve, abgeleitet (S. 318).\nDa nun aber Schwebungen nur bei gleichzeitigen T\u00f6nen auftreten, so w\u00fcrde bei bloss melodischerFolge der Unterschied hinwegfallen. Helmholtz f\u00fchrt hier den Begriff der Verwandtschaft ein (S. 423, 584), und zwar deckt sich die \u201edirekte Verwandtschaft\u201c der T\u00f6ne mit der Konsonanz, w\u00e4hrend dissonante T\u00f6ne nur indirekt verwandt sein k\u00f6nnen. Die direkte Verwandtschaft ist aber gegeben durch gemeinschaftliche Theil-t\u00f6ne. Je mehr und je kr\u00e4ftigere Theilt\u00f6ne zwei Grundt\u00f6nen gemeinschaftlich sind, um so st\u00e4rker ist ihre Verwandtschaft. Hieraus ergeben sich wiederum die bekannten Unterschiede der Konsonanz zwischen Oktaven, Quinten, Terzen u. s. w. Diese Verwandtschaft wird nach Helmholtz nicht etvra erkannt durch die bewusste Analyse eines Klanges, da das gew\u00f6hnliche Geh\u00f6r Theilt\u00f6ne nicht wrahrnimmt : sondern sie wird als Aehnlich-keit der beiden Grsammtkl\u00e4nge unmittelbar erfasst, ebenso wie wir z. B. Gesichter als verwandt bezeichnen, ohne sogleich angeben zu k\u00f6nnen, worauf ihre Aehnlichkeit beruht (S. 595, vgl. auch 584). Hiernach kann man also kurz sagen: Konsonanz ist die durch gemeinschaftliche Theilt\u00f6ne gegebene Aehnlichkeit zweier T\u00f6ne, Dissonanz der Mangel einer solchen Aehnlichkeit, bezw. ein relativ geringer Grad derselben (wde denn auch nach dem ersten Prinzip graduelle Abstufungen von der Konsonanz zur Dissonanz hinf\u00fchren).\nDieses Prinzip passt nun wiederum nicht auf gleichzeitige T\u00f6ne; denn wenn zwei gleichzeitige Kl\u00e4nge, wie G und G, einen gemeinschaftlichen Theilton, hier g% haben, so sind f\u00fcr (fas Ohr nun eben drei T\u00f6ne gegeben, zwei relativ starke (die Grundt\u00f6ne) und ein relativ schwacher. Dass dieser aber den beiden starken gemeinschaftlich ist, k\u00f6nnen wir ihm nicht anh\u00f6ren. Das ist eine rein physikalische Thatsache, die dem H\u00f6renden gemeinhin nicht einmal als solche bekannt ist, und wrenn sie es w\u00e4re, nur sein Wissen, aber nicht seine Empfindung angehen w\u00fcrde. F\u00fcr die Empfindung kann sich der gemeinschaftliche Ton nicht als gemeinschaftlicher, sondern nur etwra","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\n\u25a0d Stumpf.\nals dritter Ton neben jenen geltend machen, und es ist durchaus unerfindlich, wie die beiden anderen in dem Bewusstsein des H\u00f6renden durch ihn miteinander eine Verwandtschaft ein-gehen sollen. Zum Ueberfluss k\u00f6nnen wir dieselben Empfindungen auch so hersteilen, dass wir zwei einfache T\u00f6ne nehmen und dazu einen dritten schw\u00e4cheren selbst\u00e4ndig erzeugen, in welchem Fall also nicht einmal physikalisch irgend ein Zusammenhang der drei T\u00f6ne besteht.\nWir haben also in der That zwei verschiedene Prinzipien bei Helmholtz, das eine ausschliesslich f\u00fcr gleichzeitige, das andere ausschliesslich f\u00fcr aufeinanderfolgende T\u00f6ne g\u00fcltig. Dieser Sachverhalt scheint ihm selbst seltsamer Weise entgangen zu sein, und weil er selbst die Doppelheit seiner Definition nirgends hervorgehoben hat, ist sie auch nicht allgemein und von Anfang an als Uebelstand empfunden worden. Etwas Missliches hat sie doch sicherlich. Man wird schwer zugeben, dass der Name \u201eKonsonanz\u201c f\u00fcr gleichzeitige T\u00f6ne etwas total anderes bedeutet als f\u00fcr aufeinanderfolgende. Schlimmer ist aber, dass keines der beiden Merkmale auch nur in seinem Gebiete Stand h\u00e4lt.\n1. Die Definition durch Schwebungen.\nSchwebungen bestehen in periodischen St\u00e4rkever\u00e4nderungen, im \u201eIntermittiren\u201c der Tonempfindung.1 Solche St\u00e4rkeschwankungen entstehen regelm\u00e4ssig, wenn zwei an H\u00f6he nicht zu sehr verschiedene T\u00f6ne einunddasselbe Geh\u00f6rorgan zugleich erregen. Wir k\u00f6nnen aber periodische St\u00e4rkever\u00e4nderungen in beliebiger Frequenz auch bei einem einzigen Ton, etwa durch eine vor der Tonquelle rotirende durchbrochene Scheibe, erzeugen, und in\n1 Helmholtz folgerte aus gewissen Voraussetzungen, dass ausser den St\u00e4rkever\u00e4nderungen auch kleine H\u00f6heschwankungen stattfinden m\u00fcssen, die er auch zu beobachten glaubte; und Sedley Taylor meint, dass erst darauf die \u201eeigenth\u00fcmliche Bitterkeit\u201c dissonanter Intervalle beruhe. Diese theoretisch berechneten H\u00f6heschwankungen kommen jedoch in Wirklichkeit nicht vor ; statt ihrer erscheint unter gewissen Umst\u00e4nden ein Mittelton, der aber auch wieder eine konstante H\u00f6he hat. Vgl. meine Tonpsychologie II, 474 f. Die Existenz dieses Mitteltones ist inzwischen von Melde u. a. best\u00e4tigt (Pel\u00fcger\u2019s Archiv f. d. gestimmte Physiologie 1895, Bd. 60, S. 623f.). Aber mit der Dissonanz hat er nichts zu thun. Bei einem Ganzton in mittlerer Lage ist er schon nicht mehr h\u00f6rbar, noch weniger bei gr\u00f6sseren Intervallen.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n5\ndiesem Fall entsteht nicht dasjenige, was der Musiker als Dissonanz bezeichnet. Zur Dissonanz geh\u00f6ren durchaus zwei T\u00f6ne, ebenso wie auch die Konsonanz nicht durch Einen gleich-massig abfliessenden Ton, sondern nur durch zwei gegeben sein kann.\nDie Definition also : \u201eKonsonanz ist eine gleichm\u00e4ssige, Dissonanz eine intermittirende Tonempfindung\u201c, m\u00fcsste zum mindesten so umgeformt oder so verstanden werden : \u201eKonsonanz besteht in dem gleichm\u00e4ssigen, Dissonanz in dem intermittirenden Abfluss zweier T\u00f6ne.\u201c\nAber auch so kehrt der Einwand wieder : Wir k\u00f6nnen Intermissionen in beliebiger Frequenz auch bei zwei konsonanten T\u00f6nen k\u00fcnstlich hersteilen, ohne dass sie dissonant w\u00fcrden. Ein Geigentremolo mit Oktaven oder mit Quinten verwandelt diese Intervalle nicht in dissonante. Es geh\u00f6ren durchaus zwei bestimmte T\u00f6ne, nicht zwei beliebige dazu, um konsonant oder dissonant zu sein.\nNun kann man sich freilich dahin entschliessen und verst\u00e4ndigen, den Namen Dissonanz nur f\u00fcr die F\u00e4lle und f\u00fcr alle die F\u00e4lle zu gebrauchen, wo Intermittenz stattfindet, auch selbst wenn es sich nur um Einen Ton handelt, wie dies z. B. der verdienstvolle Physiker Alebed Mayee in allzu konsequentem Festhalten an Helmholtz gethan hat.1 Aber Niemand wird glauben, dass durch ein Dekret \u00fcber den Gebrauch eines Wortes die sachliche Schwierigkeit aus der Welt geschafft wird. Der Musiker, der doch in erster Linie hier mitzureden hat, wird einfach sagen: das ist Eure Dissonanz, aber nicht meine.\nEs giebt aber nicht bloss Schwebungen ohne Dissonanz, sondern auch Dissonanz ohne Schwebungen. So liefert die auf einem Resonanzkasten stehende Stimmgabel von 500 oder auch 490 mit der von 700 Schwingungen, oder die von 700 mit der von 1000 Schwingungen, oder die von 780 mit der von 1100 eine Dissonanz, ungef\u00e4hr mit dem Tritonus zusammenfallend und als solcher kenntlich, ohne dass von Schwebungen, von Rauhigkeit etwas zu bemerken w\u00e4re. Nach Helmholtz sind die Schwebungen am merklichsten und sch\u00e4rfsten, wenn ihre Anzahl pro Sekunde (in mittlerer\n1 A. M. Mayer, Researches in Acoustics, American Journ. of Science and Arts VIII (1874) S. 252. Mayer folgert auch, dass in der dreigestrichenen Oktave das kleinste konsonante Intervall der Ganzton sei.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nG. Stumpf.\nTonlage) etwa 33 betr\u00e4gt; sie wird dagegen v\u00f6llig unmerklieh, wenn \u00fcber 132 in der Sekunde erfolgen; der Zusammenklang erscheint dann glatt.1 Wohlan, hier m\u00fcssten 200\u2014300 in der Sekunde stattfinden, da die Zahl der Schwebungen gleich der Differenz der Schwingungszahlen ist. Sie k\u00f6nnen also nicht mehr merklich sein und sind es nicht. Auch Schwebungen der Obert\u00f6ne sind ausgeschlossen, da solche Gabeln bei nicht zu starkem Anschlag nur eine schwache Oktave und kaum eine Spur der Duodezime enthalten, die Oktaven-Schwebungen aber die doppelte Frequenz h\u00e4tten wie die der Grundt\u00f6ne, also wieder jenseits der Merklichkeitsgrenze l\u00e4gen.\nIch habe sogar einen dissonanten F\u00fcnfklang hergestellt, worin jederTonmitjedem anderen merklich dissonirt, ohne dass Schwebungen bemerklich w\u00e4ren. Er wird erzeugt durch f\u00fcnf Gabeln auf Resonanzk\u00e4sten, die auf folgende Schwingungszahlen (theilweise durch Laufgewichte oder aufgeklebtes Wachs) abgestimmt sind: 172, 330, 472, 676, 1230. In Noten w\u00e4re er, wenn a1 = 440 gesetzt wird, ziemlich genau so zu schreiben:\n\nSchwebungen der f\u00fcnf T\u00f6ne untereinander sind hier ausgeschlossen, weil die Schwingungszahlen zu weit voneinander abstehen (die kleinste Differenz 142 zwischen e1 und b1 liegt schon jenseits der von Helmholtz angegebenen und f\u00fcr diese Region\n1 Wundt meinte sogar, allerdings irrth\u00fcmlich, dass die Grenze schon bei 60 l\u00e4ge. In der dreigestrichenen Oktave kann man noch bis zu 300, bei noch h\u00f6heren T\u00f6nen bis \u00fcber 400 Schwebungen als Spur von Rauhigkeit wahrnehmen. Ygl. Tonpsych. II, 462. Die damals bereits von zwei ge\u00fcbten Mitbeobachtern best\u00e4tigten Angaben sind inzwischen auch durch Dr. M. Meyek, als wir den damals benutzten Jenenser Apparat f\u00fcr h\u00f6chste T\u00f6ne nachpr\u00fcften, richtig gefunden. Ich bemerke hier, dass die Unzuverl\u00e4ssigkeit dieses Apparates in Hinsicht der eingeschriebenen Schwingungszahlen, die wir dabei konstatirten (Wiedemann\u2019s Annalen d. Physik. N. F., Bd. 61, S. 774) sich nicht auf die hierbei in Frage kommenden, sondern nur auf die noch h\u00f6heren Gabeln erstreckte.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n7\nzutreffenden Merklichkeitsgrenze).1 Die durch den ersten Oberton der Gabeln entstehenden Schwebungen sind zwar an sich nicht v\u00f6llig ausgeschlossen (Oktave von eis mit e\\ Oktave von e1 mit /es2 3), aber sie werden nur einigermassen bemerkbar, wenn die bez\u00fcglichen Intervalle einzeln angegeben werden, verschwinden dagegen in dem ganzen Zusammenklang oder sind dann nur bei sehr scharfem Horchen noch zu entdecken.2 Will aber einer, um sein Gewissen zu beruhigen, auch diese letzten Erdenreste von Rauhigkeit noch tilgen, so braucht er nur e1 wegzulassen, dann kommt kein Intervall mehr vor, bei welchem ein Oberton schweben k\u00f6nnte, zugleich w\u00e4chst auch die Minimaldifferenz der T\u00f6ne selbst auf 204 Schwingungen; es ist dann auch theoretisch und auf dem Papier alles ganz \u201ereinlich und zweifelsohne\u201c.\nD.ieser Zusammenklang ist also absolut glatt, und doch eine ausgesprochene Dissonanz, auch von abscheulicher Wirkung. Er ist schwebungsfreier als der konsonanteste Akkord der Musik in mittlerer Tonlage, und doch zugleich dissonanter als der dissonanteste Akkord der Musik. Schwebungsfreier als der konsonanteste : denn die T\u00f6ne c1 e1 g1\n1 Rudolf K\u00f6nig hat allerdings angegeben, dass er mit elektromagnetisch erregten Gabeln noch bei sehr weiten Intervallen, die der Oktave, der Duodezime, der Doppeloktave nahelagen (wie sie hier also zwischen dem tiefsten Ton und den drei n\u00e4chsten bestehen), Schwebungen beobachtet\nhabe und dass jene Gabeln keine Obert\u00f6ne besessen h\u00e4tten; also direkte Schwebungen. Aber der Nachweis des letzteren Punktes scheint mir nicht \u00fcberzeugend genug erbracht. Die elektromagnetischen Gabeln, die ich zu untersuchen Gelegenheit hatte, gaben alle eine grosse Reihe von Obert\u00f6nen. Als dagegen bei Resonanzgabeln oder bei Pfeifen die wenigen vorhandenen Obert\u00f6ne durch Interferenzr\u00f6hren ganz ausgel\u00f6scht wurden, verschwanden auch die Schwebungen jener weiten Intervalle vollst\u00e4ndig (s. meine Abhandlung \u201eUeber die Ermittelung von Obert\u00f6nen\u201c, Wiedemann\u2019s Annalen der Physik, N. F., Bd. 57, S. 660 f. Dazu auch die Bemerkungen M. Meyer\u2019s, Zeitschr. f. Psych. XVI, S. 9. Diese Beitr\u00e4ge, 2. Heft, S. 33). Nach Helmholtz\u2019 Anschauung \u00fcber das Zustandekommen von Schwebungen sind ohnedies bei so weiten Intervallen keine direkten Schwebungen m\u00f6glich.\n3 Wie schwach die Obert\u00f6ne von Resonanzgabeln und darum auch die durch sie veranlassten Schwebungen sind, geht schon daraus hervor, dass noch Helmholtz selbst solche Gabeln im Allgemeinen f\u00fcr obertonfrei hielt. Man muss auch, um ihre Obertonschwebungen deutlich h\u00f6rbar zu machen, die tiefere Gabel (z. B. eis) sehr stark und die h\u00f6here (e1) sehr schwach angeben, w\u00e4hrend in unserm Fall gleiche und nicht zu grosse St\u00e4rke vorausgesetzt ist.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nC. Stumpf.\nz. B. machen untereinander immer noch 66 Schwebungen, und ebensoviele werden auch durch ihre kollidirenden Obert\u00f6ne her den gebr\u00e4uchlichsten musikalischen Klangfarben erzeugt, so dass also eine noch recht merkliche Rauhigkeit entsteht. Dissonanter aber als der dissonanteste Akkord: denn die sog. dissonanten Akkorde enthalten immer auch konsonante Intervalle, w\u00e4hrend hier jeder mit jedem Ton dissonirt.\nFreilich muss nun, was die Dissonanz und die \u00fcble Wirkung dieses speziellen Zusammenklangs angeht, der Leser, der nicht \u00fcber die n\u00f6thigen Gabeln verf\u00fcgt, mir und den Wenigen, die ihn geh\u00f6rt haben, Glauben schenken. Aber \u00e4hnliche Mehrkl\u00e4nge kann man doch in den meisten physikalischen, physiologischen, psychologischen Instituten durch Umstimmung vorhandener Gabeln erzeugen. Soll nicht gerade jeder Ton mit jedem anderen dissoniren, so kann man noch auf sehr viele Arten die ausgesprochensten dissonanten Vielkl\u00e4nge herstellen, die, mit nicht zu stark t\u00f6nenden Resonanzgabeln ausgef\u00fchrt, selbst f\u00fcr das feinh\u00f6rigste und ge\u00fcbteste Ohr bei langem Hinh\u00f6ren kaum Spuren von Schwebungen zeigen und dennoch von jedem nicht g\u00e4nzlich unmusikalischen Geh\u00f6r schon im ersten Moment als dissonirend erkannt werden, z. B.\n_\u00c4_ -p\u2014fl35'\u2014I\t\t8va\t \tg-o\u2014|X\n&:\t- \u00e4 dl Ii\u00e4 \u25a0\t\u00e4 ::\nw\t\u00fc\t\t\t\n\t\t\nH-:\u2014\tf-\u2014-H--\td\tr ^\n/ ti\tI\t!\t\n\t\t\nDie T\u00f6ne aus der grossen und der dreigestrichenen Oktave kann man dabei, wenn die Gabeln fehlen, auch weglassen oder durch gedackte Pfeifen erzeugen, der Versuch wird immer \u00fcberzeugend genug sein.\nEin besonderes Mittel, Dissonanz ohne Schwebungen herzu-stellen, und zwar auch schon bei Ganz ton- und Halbton-intervallen, liegt in der Vertheilung zweier Stimmgabeln auf beide Ohren. Die Gabeln (diesmal nicht auf Resonanzk\u00e4sten stehend) m\u00fcssen einer bestimmten mittleren Tonregion angeh\u00f6ren, von etwa 450 bis 1250 Schwingungen, am besten zwischen 800 und 1200. Bei den tieferen Gabeln wird der Ton","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\nvon jedem Ohr durch die Kopfknochen zu stark nach dem anderen Ohr geleitet, bei den h\u00f6heren geht er durch die Luft hin\u00fcber. Aber nehmen wir z. B. 800 und 900 oder 900 und 960, so ist bei nicht zu starkem Anschlag nur bei gespannter Aufmerksamkeit noch etwas von den Schwebungen zu h\u00f6ren ; jedenfalls ist die fast unmerkliche Rauhigkeit gar nicht zu vergleichen mit dem schrillen Eindruck, welchen beide Gabeln, vor einund-dasselbe Ohr gehalten, erzeugen. Dennoch bilden auch die vertheilten Gabeln zweifellos eine Dissonanz und werden sofort von jedem musikalischen Ohr als solche aufgefasst. Nichts kann deutlicher zeigen, dass die Rauhigkeit nicht das Wesen der Dissonanz ausmacht, welche Bedeutung sie auch als accessorisches Moment haben mag. Nehmen wir vollends T\u00f6ne, die um eine Septime oder None voneinander abstehen, z. B. e1 und dis2, d'2 und es3, a1 und b2, wobei selbst vor einem Ohr nur ganz schwache Obertonschwebungen auftreten, so ist bei vertheilten Gabeln auch mit h\u00f6chster Aufmerksamkeit keine Spur von Schwebungen mehr zu h\u00f6ren \u2014 und doch die ausgesprochenste Dissonanz.1)\n1 N\u00e4heres Tonpsych. II. 458 und 470. Ich machte diese Beobachtung etwa 1875, und sie war f\u00fcr mich das erste zwingende Motiv, die Helm-\nholtz\u2019sehe Lehre aufzugeben. Wie ich sp\u00e4ter erfuhr, haben Terquem und Bo\u00fcssinesq 1875 dieselbe Beobachtung gemacht und ver\u00f6ffentlicht, Journal de Physique IV, S. 199 f. Diese Forscher gehen jedoch zu wTeit, wenn sie ohne Einschr\u00e4nkung den Wegfall der Schwebungen bei vertheilten Gabeln behaupten. Nur unter besonderen Umst\u00e4nden gelingt es, sie ganz zum Wegfall zu bringen. Fr\u00fchere Beobachter, welche das Verhalten der Schwebungen bei vertheilten Gabeln untersuchten (zuerst Dove 1839, dann Fechner, Maci-i und andere), hoben sogar den Umstand, dass hierbei deutliche Schwebungen zu Stande kommen, viel mehr hervor, als dass sie so viel schw\u00e4cher werden. Daher kommt es, dass man in diesen Versuchen nicht schon fr\u00fcher einen entscheidenden Einwand gegen Helmholtz fand. Freilich w\u00fcrde im Grunde doch schon die bedeutende Abschw\u00e4chung gen\u00fcgen, um die Folgerung zu ziehen; denn die Dissonanz wird eben nicht abgeschw\u00e4cht.\nIn Wundt\u2019s Philosophischen Studien VII, S. 630 findet man die vereinzelte Angabe von Scripture, dass ihm die Schwebungen zweier Gabeln von etwa 300 Schwingungen bei Vertheilung eher st\u00e4rker als schw\u00e4cher erschienen. Die Knochenleitung von Ohr zu Ohr sei hierbei ausgeschlossen, weil man bei Verschluss des einen Ohrs die an das andere- Ohr gehaltene Gabel nicht hin\u00fcberh\u00f6re. Der Verfasser scheint damals nicht gewusst zu haben, dass man einen Schall, der auf beiden Ohren mit erheblich ungleicher St\u00e4rke geh\u00f6rt wTird, ausschliesslich in das st\u00e4rker affizirte Ohr zu verlegen pflegt. Vgl. K. L. Schaefer in der Zeitschr, f. Psychol. IV, 348.","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nC. Stumpf.\nMan kann auch umgekehrt eine Konsonanz, wie die durch die Gabeln von 620 und 775 Schwingungen gebildete grosse Terz, einmal mit vertheilten, das anderemal mit zusammengehaltenen Gabeln pr\u00fcfen: sie erscheint beidemale in gleicher Weise konsonant, das erstemal aber ohne Schwebungen, das zweitemal mit einer sehr merklichen Rauhigkeit, die trotz der grossen Zahl der Schwebungen das Intervall unter diesen Umst\u00e4nden nach Helmholtz\u2019 Definition in eine entschiedene Dissonanz um wand ein m\u00fcsste.\nEs sei noch erw\u00e4hnt, dass ich auch bei subjektiven Tonempfindungen, wovon ich im Laufe der Jahre viele Hunderte von F\u00e4llen an mir beobachtet und notirt habe, oft genug zwischen einem Ton des rechten Ohres, welchen ich daselbst ziemlich konstant vernahm (/?s3), und einem vor\u00fcbergehend auftretenden Ton des linken Ohres oder auch einem gleichzeitig auf tretenden Ton im rechten Ohre Dissonanz wahr nahm, auch das Intervall sogleich als Sekunde, None u. s. w. erkannte, ohne irgend welche Schwebungen. Auch in einem Falle von sogenanntem Doppelth\u00f6ren, wo nach Durchstechung des einen Trommelfells das kranke Ohr alle T\u00f6ne der mittleren Region um einen \u00ae/4-Ton tiefer als das andere h\u00f6rte, empfand ich jeden objektiven Ton aus dieser Region als eine bestimmt oharakterisirte Dissonanz, ohne hei gr\u00f6sster Aufmerksamkeit von Schwebungen etwas bemerken zu k\u00f6nnen (Tonpsych. II, 460).\nNicht mit Unrecht hat ferner bereits v. Dettingen darauf hingewiesen, dass auch in der blossen Vorstellung die Dissonanz erhalten bleibt, w\u00e4hrend die Schwebungen getilgt sind. Wenigstens haften diese nicht nothwendig in der Erinnerung, w\u00e4hrend wir die beiden T\u00f6ne selbst gar nicht in der Vorstellung reproduziren k\u00f6nnen, ohne dass ihre Dissonanz mitreproduzirt w\u00fcrde.1 * Physiologen mag dieses Argument zuerst weniger\n1 A. Faist betont (Zeitschr. f. Psych. XV, 131), dass er in der Phantasie die Intervalle innerhalb der kleinen Terz ebenso mit Schwebungen h\u00f6re wie in der Wahrnehmung, auch nicht f\u00e4hig sei, ein Intervall beliebig\nmit langsamen oder schnellen Schwebungen vorzustellen, obgleich er nicht behaupten k\u00f6nne, dass die Schwebungen gerade in der Anzahl auftreten wie in der Wahrnehmung. Andere, die er ausgefragt, behaupteten allerdings, eine kleine Sekunde ohne Schwebungen vorstellen zu k\u00f6nnen.\nIch habe nun selbst nicht gesagt, dass \u201edie Vorstellung der Schwebungen in die Phantasievorstellung nicht \u00fcbergehe\u201c, sondern nur, dass sie nicht","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n11\nzwingend erscheinen; aber wenn man bedenkt, dass die blosse Vorstellung von Zusammenkl\u00e4ngen bei Musikern einen solchen Grad der Lebhaftigkeit gewinnen kann, dass Komponisten und Partiturenleser im Stande sind, ohne wirkliches H\u00f6ren die Wirkung der mannigfaltigen harmonischen Kombinationen eines Tonst\u00fccks sich vollkommen deutlich zu vergegenw\u00e4rtigen, und wenn wir weiter bedenken, dass Vorstellungen ebensogut wie Empfindungen ihre physiologische Grundlage haben m\u00fcssen, so wird man sich der Forderung nicht verschliessen k\u00f6nnen, dass eine ausreichende Definition der Konsonanz auch auf blosse Vorstellungen Anwendung finden muss, mindestens soweit sie eine derartige sinnliche Lebendigkeit besitzen.\nEndlich kommt in Betracht, dass die Schwebungen, auch wo sie vorhanden und merklich sind, \u00e4nZahl und St\u00e4rke bei e.inunddemselben Intervall in den weitesten Grenzen variiren. Man braucht nur zu bedenken, dass das n\u00e4mliche Intervall d\u2014e, welches in der eingestrichenen Oktave 33 Schwebungen macht, in der zweigestrichenen 66, in der dreigestrichenen 132 liefert, und dass die Schwebungen bei 33 pro Sekunde nach Helmholtz das Maximum der Rauhigkeit besitzen, bei 132 bereits \u00fcberhaupt verschwinden. Nie und nimmer kann man vom musikalischen Standpunkt zugeben, dass die kleine Sekunde in der eingestrichenen Oktave einer anderen Dissonanzstufe angeh\u00f6re als in der zweigestrichenen, und dass sie in der dreigestrichenen zur Konsonanz werde. Die grosse\nnothwendig \u00fcbergehe (Tonpsych. II, 139). Und dies steht durchaus fest. Man kann sich freilich auch Schwebungen in der Phantasie vorstellen, und wenn man eine Zeit lang viel auf Schwebungen bei kleinen Intervallen geachtet hat, so kann es auch dahin kommen, dass man diese Intervalle zun\u00e4chst immer mit Schwebungen vorstellt. Aber diese Gewohnheit wird wieder verschwinden, w7enn man sein Interesse wieder mehr den T\u00f6nen als solchen zuwendet und von den Nebenerscheinungen abwendet, wie dies beim wirklichen Musikh\u00f6ren der Fall ist. Die meisten Menschen wissen \u00fcberhaupt nichts von Schwebungen, und wenn man sie, ohne ihnen vorher die Erscheinung sinnlich demonstrirt zu haben, fragt, ob sie an zwei T\u00f6nen, die sie sich bloss vorstellen, nicht ein eigenth\u00fcmliches Rollen oder Schwdrren wahrnehmen, so werden sie \u00fcber die Frage nur verwundert sein.\nAuch P. Rostosky h\u00e4tte sich hiernach meine Behauptung wohl erst genauer ansehen sollen, ehe er ein Ausrufungszeichen dahinter setzte (in G. Maetius\u2019 Beitr\u00e4gen zur Psychologie u. Philosophie I, 2, S. 190).","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nC. Stumpf.\nTerz c-\u2014e macht in der kleinen Oktave ebenfalls 33 Schwebungen, sie m\u00fcsste also hier als die ausgesprochenste Dissonanz erscheinen, und weiterhin w\u00fcrde sich bei ihr, wenn wir von da um zwei Oktaven in die H\u00f6he gehen, derselbe Umwandlungsprozess zeigen wie bei der kleinen Sekunde.\nEndlich selbst wenn wir in einundderselben Oktave bleiben, ist die Rauhigkeit des n\u00e4mlichen Intervalls immer noch je nach der gew\u00e4hlten Klangfarbe verschieden, w\u00e4hrend sein Konsonanz- oder Dissonanzgrad davon unabh\u00e4ngig ist. Die Beobachtungen an einfachen T\u00f6nen, die wir anf\u00fchrten, bilden nur den Grenzfall all der Ver\u00e4nderungen, die von den sch\u00e4rfsten (obertonreichsten) bis zu den mildesten (oberton\u00e4rmsten) Klangfarben hin f\u00fchren. Hierbei kann das n\u00e4mliche Intervall auf der n\u00e4mlichen Tonstufe alle Rauhigkeitsgrade vom Maximum bis zu Null durchmachen, indem die Obertonschwebungen successive hinwegfallen, \u2014 der Dissonanz- oder Konsonanzgrad bleibt unver\u00e4ndert.\nHelmholtz f\u00fchrt als einen besonders starken Beweis seiner Lehre den Umstand an, dass die \u201eherbsten und k\u00fchnsten Dissonanzen bei einfachen T\u00f6nen (gedackter Pfeifen) gleichm\u00e4ssig weich und wohlklingend, eben deshalb auch unbestimmt, langweilig, charakterlos werden\u201c (S. 337). Er sagt ferner, dass \u201ezwei gedackte Pfeifen, deren Intervall zwischen grosser und kleiner Terz liegt, eine ganz ebenso gute Dissonanz geben als wenn das Intervall genau einer grossen oder genau einer kleinen Terz entspr\u00e4che\u201c (S. 332). Auch Mach erw\u00e4hnt dies einmal als ein \u201esehr sch\u00f6nes Experiment\u201c. Der Musikprofessor L. A. Zellner, ein bewanderter Akustiker, stellte in seinen am Wiener Konservatorium gehaltenen Vortr\u00e4gen die gleiche Behauptung sowohl f\u00fcr Terzen als f\u00fcr Sexten auf, gest\u00fctzt auf Versuche an angeblasenen Flaschen, die noch einfachere T\u00f6ne geben als die gedackten Pfeifen; ja er behauptet, dass wir nicht im Stande seien zu sagen, ob das Intervall zu gross oder zu klein ist.1\nDieses letztere ist nun zun\u00e4chst total unrichtig. Ich kann nicht glauben, dass Zellner den Versuch systematisch angestellt hat. Im ersten Moment mag einer durch die ungewohnte Klangfarbe \u00fcberrascht werden; aber dass das Intervall in Bezug auf die Richtung seiner Verstimmung unerkennbar w\u00fcrde, davon\n1 Zellner, Vortr\u00e4ge \u00fcber Akustik 1892, II, S. 58.","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n13\nkann nicht die Rede sein. Man kann es sogar sehr gut und sehr sicher beurtheilen. Am beweiskr\u00e4ftigsten sind hier nicht einzelne Versuche, deren Ergebniss immerhin Zufall sein k\u00f6nnte, sondern Versuchsreihen. In ausgedehnten Versuchsreihen im Berliner Psychologischen Seminar1, wobei auf Resonanzk\u00e4sten stehende Stimmgabeln benutzt wurden, deren Ton an Einfachheit den Flaschent\u00f6nen gleichkommt, konnte von einem guten Geh\u00f6r bei grossen Terzen der mittleren Region (480 : 600) mit gleichzeitiger Angabe beider T\u00f6ne eine Vertiefung von 4 Schwingungen in 82 % der F\u00e4lle richtig erkannt werden, und zwar als Verkleinerung, nicht bloss als Verstimmung \u00fcberhaupt. Das zwischen einer grossen und kleinen Terz in der Mitte liegende Intervall aber w\u00fcrde einer Verstimmung von 12 Schwingungen entsprechen. Eine solche wird nach obigem Ergebniss von ge\u00fcbten Ohren, unfehlbar als Verstimmung erkannt. Schwebungen sind hei diesen Versuchen nicht als Anhaltspunkt benutzt worden; sie w\u00fcrden dem Urtheilenden ohnedies auch keine Auskunft dar\u00fcber geben, ob die Verstimmung in einer Verkleinerung oder Ver-gr\u00f6sserung des Intervalls besteht.\nHelmholtz stellt nun allerdings seine Behauptung nur auf hinsichtlich des Gef\u00fchlswerthes, w\u00e4hrend er ausdr\u00fccklich zugiebt, dass ein ge\u00fcbtes Ohr solche Intervalle immerhin als \u201efremd und ungewohnt\u201c erkennen w\u00fcrde. Aber er sagt uns nicht, woran das Ohr die Abweichung erkennt, wenn die Schwebungen weggefallen sind. Ausserdem hat die Langweiligkeit und Charakterlosigkeit der Mehrkl\u00e4nge aus einfachen T\u00f6nen ihren Grund nicht bloss in den fehlenden Schwebungen, sondern auch und vorzugsweise darin, dass schon einzelne Kl\u00e4nge aus einfachen T\u00f6nen bei l\u00e4ngerem H\u00f6ren zu matt wirken. Auf die Frage: \u201eWas ist langweiliger als eine Fl\u00f6te?\u201c antwortete bekanntlich Rossini: \u201eZwei Fl\u00f6ten 1\u201c Handelt es sich aber nicht um die Ausf\u00fchrung eines ganzen St\u00fcckes, sondern um einen isolirten Akkord, so klingt im Gegentheil ein reingestimmter Dreiklang aus einfachen T\u00f6nen ganz entz\u00fcckend sch\u00f6n- und wird auch in Hinsicht des Gef\u00fchlswerthes sehr bestimmt von dissonanten oder verstimmten Akkorden unterschieden.\nWir bestreiten im Uebrigen nicht, dass die Schwebungen von Einfluss sind auf die Annehmlichkeit bezw. Unannehmlichkeit\n1 S. den Bericht in einem der n\u00e4chstfolgenden Hefte.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nC. Stumpf.\ndes Zusammenhangs. Man wird dies namentlich bei den sch\u00e4rferen Farben der Zungeninstrumente, wie bei dem Harmonium, welches Helmholtz mit Vorliebe zu seinen Studien benutzte, in mannigfacher Weise best\u00e4tigt finden. Derselbe Durakkord ist viel angenehmer in der H\u00f6he als in der grossen Oktave, ja er kann hier geradezu unangenehm werden, indem wir vor dem lauten Schnattern der schwebenden Zungen fast den Eindruck der T\u00f6ne selbst verlieren. Ebenso ist der Molldreiklang in allen Regionen in dieser Beziehung merklich weniger angenehm als der Durdreiklang. In der Tiefe wird durch den ungleichen Rhythmus der Schwebungen der beiden Tonpaare C\u2014Es (13 Schwebungen) und Es\u2014G (19 Schwebungen) die Verwirrung vermehrt. Bei hoher Lage entstehen Differenzt\u00f6ne, welche untereinander St\u00f6sse geben. Viel andere Unterschiede solcher Art hat Helmholtz auch bei anderen Klangfarben verfolgt.\nSolche Einfl\u00fcsse von Seiten der Schwebungen wollen wir also nicht leugnen. Allein erstlich l\u00e4uft der Grad der Rauhigkeit nicht schlechthin dem Grade der Unannehmlichkeit parallel: giebt doch, wie Helmholtz selbst bemerkt, eine gewisse Rauhigkeit schon dem einzelnen Klang etwas Markiges, das wir ungern vermissen. Zweitens ist die Annehmlichkeit eines Zusammenklanges ausser von diesem Faktor noch von sehr vielen anderen abh\u00e4ngig, nicht am wenigsten von dem augenblicklichen Zusammenhang. Und selbst wenn die verschiedenen Unannehmlichkeits-Grade durch die verschiedene Betheiligung der Schwebungen ausreichend erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnten, so w\u00fcrde, wie Lotze richtig bemerkt hat, das ganz positive Lustgef\u00fchl an einem reinen Dreiklang durch den blossen Mangel von Schwebungen noch nicht erkl\u00e4rt sein. Ein Mangel an Schwebungen ist am entschiedensten vorhanden, wenn wir gar nichts h\u00f6ren. Endlich darf man den Grad der Annehmlichkeit \u00fcberhaupt nicht mit dem Grad der Konsonanz verwechseln. Da wir auf diesen Unterschied nachher (3. Kap.) noch zu sprechen kommen, mag hier nur darauf verwiesen sein.\nSelbstverst\u00e4ndlich behalten die Schwebungen auch ihre Wichtigkeit als das feinste Mittel, Abweichungen von der Reinheit eines Intervalls zu erkennen, vorausgesetzt, dass Zeit genug gegeben ist, sie zu beobachten; \u2014 weshalb sie ebenso wie die Differenzt\u00f6ne und in Verbindung mit ihnen l\u00e4ngst vielfach auch","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n15\nin der musikalischen Praxis zu Abstimmungen benutzt wurden. Auch die Schwebungen der Obert\u00f6ne dienen demselben Zweck. Aber ein n\u00fctzliches H\u00fclfsmittel des geschulten Ohres zur Feststellung von Abweichungen braucht darum nicht zugleich das Merkmal zu sein, durch welches das musikalische Ohr \u00fcberhaupt ein bestimmtes Intervall nach Konsonanz oder Dissonanz unterscheidet.\n2. Die Definition durch das Zusammenfallen von\nTheilt\u00f6nen.\nDas zweite Merkmal der Konsonanz bei Helmholtz, das Zusammenfallen von Theilt\u00f6nen, welches, wie wir sahen, nur bei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen wirksam werden kann, versagt auch hier sofort, wenn wir T\u00f6ne w\u00e4hlen, die entweder \u00fcberhaupt keine Obert\u00f6he oder wenigstens nicht diejenigen besitzen, die zusammenfallen sollen. Gewisse Instrumente, wie die Klarinette, haben nach Helmholtz nur ungeradzahlige Theilt\u00f6ne. Wenn nun ein solches Instrument den tieferen Ton einer grossen Terz, ein beliebiges anderes Instrument aber den h\u00f6heren angiebt, so kann der f\u00fcnfte Theilton des ersten Klanges, da er nicht vorhanden ist, auch nicht mit dem vierten des zweiten Klanges zusammenfallen, wie dies f\u00fcr die grosse Terz erforderlich sein soll. Dennoch tr\u00e4gt das Intervall seinen eigenth\u00fcmlichen Konsonanzcharakter und wird als grosse Terz erkannt. Hat man Bedenken, ob der f\u00fcnfte Theilton vollst\u00e4ndig genug ausgeschlossen sei, so l\u00e4sst sich durch Interferenzr\u00f6hren daf\u00fcr sorgen. Wir k\u00f6nnen aber auch Stimmgabeln auf Resonanzk\u00e4sten w\u00e4hlen, die weder den vierten noch den f\u00fcnften Theilton besitzen. Ebenso konnte ich es wieder bei subjektiven T\u00f6nen vielfach beobachten, die zweifellos v\u00f6llig einfach sind.\nHelmholtz, dem wir die Einf\u00fchrung der Resonanzgabeln in die Akustik verdanken, hat sicherlich selbst bemerkt, dass der Unterschied hier nicht verschwindet. Doch mochte er auch hier wenigstens eine geringere Sicherheit des Urtheils annehmen oder an einen Ausweg denken, den Sp\u00e4tere \u00f6fters versucht haben : dass n\u00e4mlich unser Urtheil \u00fcber Konsonanz und Dissonanz bei einfachen T\u00f6nen auf der Erinnerung an die zusammengesetzten T\u00f6ne beruhe, c1\u2014e1 der Stimmgabeln ruft mir etwa das gesungene e1\u2014e1 oder das der Violine ins Ged\u00e4chtniss,","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nC. Stumpf.\nund nach diesen erkenne ich auch die Stimmgabelt\u00f6ne als Terzenintervalle und als konsonant.\nAber zun\u00e4chst die geringere Sicherheit entspricht wieder nicht den Tbatsachen. Bei den schon erw\u00e4hnten Versuchen im Berliner Psychologischen Seminar sind auch vergleichende Reihen in dieser Hinsicht angestellt worden, indem das n\u00e4mliche Intervall und die n\u00e4mliche Verstimmung einmal mit nahezu einfachen, ein anderesmal mit obertonreichen Kl\u00e4ngen vorgelegt wurden. Es hat sich herausgestellt, dass umgekehrt die Urtheile im letzteren Fall schlechter oder zum mindesten unregelm\u00e4ssiger ausfielen, indem die unvermeidlichen kleinen Verschiedenheiten der Klangfarbe, die auch beim Gebrauch einunddesselben Instruments einzelnen Kl\u00e4ngen nothwendig anhaften, das Urtheil \u00fcber so feine H\u00f6 h en Verschiedenheiten st\u00f6ren. Wie sehr auch der Experimentator die Klangfarbenunterschiede auszugleichen trachtet, ganz gelingt es selten, w\u00e4hrend sie bei den einfachen T\u00f6nen von vornherein beseitigt sind.\nDer Ausweg aber, dass das Urtheil \u00fcber die Konsonanz einfacher T\u00f6ne auf der Erinnerung an zusammengesetzte beruhe, ist vollkommen illusorisch. Wenn Konsonanz nur durch Obert\u00f6ne zu Stande kommt und die gegenw\u00e4rtigen T\u00f6ne keine Obert\u00f6ne besitzen, so ist die einzig m\u00f6gliche Konsequenz, dass sie eben nicht konsoniren; und je genauer der H\u00f6rer beobachtet, um so genauer muss er dies erkennen. Die Erinnerung daran, dass zwei andere Kl\u00e4nge von gleichen Grundt\u00f6nen seinerzeit konsonirten, kann mir die Nichtkonsonanz der gegenw\u00e4rtigen durch den Kontrast nur st\u00e4rker zum Bewusstsein bringen. Eine Speise, der das Salz mangelt, wird man niemals bloss der Erinnerung oder Gew\u00f6hnung wegen als eine wohlgesalzene bezeichnen, im Gegentheil, je st\u00e4rker die Gewohnheit und je lebhafter die Erinnerung, um so deutlicher der gegenw\u00e4rtige Mangel. Oder sollen wir gar auch die fehlenden Obert\u00f6ne aus der Erinnerung hinzudenken? Ist es schon nicht leicht, Obert\u00f6ne wahrzunehmen, wenn sie vorhanden sind, so \u00fcberschreitet es sicherlich die F\u00e4higkeit musikalischer Individuen gew\u00f6hnlichen Schlages, sie auch noch, wo sie fehlen, hinzuzudenken, und zwar in hinreichender Schnelligkeit, um dem Urtheil als Grundlage zu dienen, welches in der Regel momentan mit der Erscheinun gegeben ist. Und wie vollends soll man aus der Erinnerun erkennen, ob die gegenw\u00e4rtige Konsonanz (die nach dieser Lehre\nbe be","page":16},{"file":"p0017.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n17\neine blosse Scheinkonsonanz w\u00e4re) eine vollkommen reine ist oder um einen so winzigen Bruchtheil von der Reinheit abweicht, wie man ihn noch faktisch erkennt? Die Selbstbeobachtung zeigt auch aufs deutlichste, dass wir in solchen F\u00e4llen die gegenw\u00e4rtigen einfachen T\u00f6ne ohne derartige Umschweife beurtheilen, und alle Beobachter stimmen ausnahmslos darin \u00fcberein.1\n1 E. Mach stellte eine H\u00fclfshypothese auf, die haupts\u00e4chlich zur L\u00f6sung einer anderen Schwierigkeit bestimmt war, aber auch die eben erw\u00e4hnte mitbeseitigen sollte (Beitr\u00e4ge zur Analyse der Empfindungen 1886, S. 131 f.). Die Hauptfrage ist f\u00fcr Mach, wie man nach Helmholtz schon bei Kl\u00e4ngen mit Obert\u00f6nen ein bestimmtes Intervall als solches erkennen soll. Wenn die grosse Terz einmal auf c, ein andresmal auf f angegeben wird, so muss etwas Gemeinschaftliches in beiden F\u00e4llen sein, das uns beidemale die Tonkombination als grosse Terz erkennen l\u00e4sst. Nach Helmholtz liegt es in dem Zusammenfallen des 4. Theiltons des h\u00f6heren mit dem 5. des tieferen Klanges. Aber dieser koinzidirende Theilton, sagt Mach, ist im einen Fall e2 3, im anderen a2. Was ist also den beiden Terzen f\u00fcr unsere Empfindung gemeinschaftlich?\nMach glaubt \u201eZusatzempfindungen\u201c oder \u201eZusatzf\u00e4rbungen\u201c annehmen zu m\u00fcssen, die dadurch entstehen, dass eine bestimmte Faser der Basilar-membran der Schnecke in Folge der Gesetze der Resonanz nicht bloss auf einen ihrer Eigenschwingung konformen Ton 11, sondern auch auf 2 n, 3 n . . ., sowie auf w/2, n/3 . . . reagirt. Jenachdem sie nun durch n oder durch 2 n,\n3 n etc. in Erregung versetzt wird, ist nach Mach\u2019s Yermuthung die Empfindung zwar der Tonh\u00f6he nach dieselbe, aber sonst irgendwie anders \u201egef\u00e4rbt\u201c.\nF\u00fcr die grosse Terz sind nun charakteristisch die Zusatzempfindungen\nZ\u00b1 und Zn, sowie Z\\ und Z\\ (man versteht die Bezeichnungen ohne weitere T\t5\nErl\u00e4uterung), und sie m\u00fcssen hervortreten, auch wenn die bez\u00fcglichen Kl\u00e4nge gar keine Obert\u00f6ne enthalten, werden aber allerdings st\u00e4rker sein, wenn solche vorhanden sind. Dadurch b\u00f6te die H\u00fclfshypothese zugleich einen Ausweg f\u00fcr die im Text besprochene Schwierigkeit bei einfachen T\u00f6nen. Aber leider erscheint sie, genauer betrachtet, \u00fcberhaupt nutzlos.\nDa jeder beliebige Ton n nach Mach alle Fasern 2 n, 3 n, ... n'2, nlz .. . erregt, so werden durch jeden beliebigen einzelnen Ton auch schon alle Zusatzf\u00e4rbungen hervorgerufen, und durch die Kombination je zweier beliebiger T\u00f6ne, einerlei in welchem Intervall sie stehen, m\u00fcssen auch die Zusatzf\u00e4rbungen Zi; Z5, Zx Z\\ neben allen \u00fcbrigen doppelt (ver-\n4)\t%\nst\u00e4rkt) hervorgerufen werden. Das Einzige, was die grosse Terz von anderen\nIntervallen unterschiede, w\u00e4re, dass hier Z.4 und Zh, sowie Z\\ und Z\\\nTS\ndurch gleichzeitige Reizung einundderselben individuellen Membranfaser erzeugt werden. Aber dies ist ein rein physischer Umstand, und es wird von Mach in keiner Weise angedeutet, wie er sich in der Empfindung kundgeben sollte. Gerade dies aber wollte Mach zeigen; er be-Stumpf, Beitr\u00e4ge I.\t^","page":17},{"file":"p0018.txt","language":"de","ocr_de":"18\nC. Stumpf.\nEine weitere Schwierigkeit liegt nun auch bei der Obertondefinition wie hei der Schwebungsdefinition darin, dass die Zusammensetzung der Kl\u00e4nge bei gleichen Grundt\u00f6nen aufs Mannigfaltigste wechselt, w\u00e4hrend der Grad der Konsonanz derselbe bleibt. Nach jener Lehre m\u00fcssten folgerichtig zwei Grundt\u00f6ne, welche f\u00fcr die Violine noch konsoniren, wie c1 und es1, f\u00fcr die Fl\u00f6te schon dissoniren. Auch auf einem und demselben Instrument sind die Obert\u00f6ne bei tiefen Kl\u00e4ngen st\u00e4rker, bei hohen schw\u00e4cher : also sind auch die zusammenfallenden Obert\u00f6ne dort st\u00e4rker, hier schw\u00e4cher, und es m\u00fcsste die Sexte, ja Septime in der Tiefe denselben Konsonanzgrad haben, den in der H\u00f6he die Oktaven besitzen. Eine st\u00e4rkere Tongebung, eine ver\u00e4nderte Art des Anblasens, ein Drehen des Kopfes von Seiten des H\u00f6renden, ein Schritt r\u00fcckw\u00e4rts oder vorw\u00e4rts gen\u00fcgt, um wesentliche Verschiebungen in der relativen St\u00e4rke der Obert\u00f6ne zu erzeugen: alle diese Umst\u00e4nde m\u00fcssten den Konsonanzgrad eines Intervalls ver\u00e4ndern. Endlich giebt es doch auch Kl\u00e4nge, und zwar in der Musik vielgebrauchte, in welchen der siebente, neunte, ja elfte und noch h\u00f6here disharmonische Theilt\u00f6ne eine vorz\u00fcgliche St\u00e4rke besitzen (selbst bei guten Fl\u00fcgeln wird man dies beobachten): bei diesen m\u00fcssten folgerichtig die Septime, None und erh\u00f6hte Undezime fast eben so vollkommene Dissonanzen darstellen wie bei anderen Instrumenten die Oktave.\ntont nachdr\u00fccklich, dass ein bloss physisches Verhalten ohne entsprechende Modifikation der Empfindung uns keine Aufkl\u00e4rung giebt.\nSeine H\u00fclfshypothese verfehlt also ihren Zweck; abgesehen davon, dass sie ein ganz neues nicht direkt gegebenes Empfindungsmoment einf\u00fchrt, und dass die Resonanzhypothese selbst, auf die sie gebaut ist, nicht wohl mehr zu halten sein wird.\nBei Kl\u00e4ngen mit Obert\u00f6nen w\u00fcrde \u00fcbrigens die von Mach erw\u00e4hnte Schwierigkeit f\u00fcr Helmholtz, soviel ich sehe, nicht einmal vorhanden sein. Das wodurch das Terzintervall sich von anderen unterscheidet, ist nach Helmholtz ein bestimmter Grad der durch die Theilt\u00f6ne gegebenen Aehn-lichkeit, den wir wahrnehmen k\u00f6nnen, auch wenn wir die Theilt\u00f6ne nicht f\u00fcr sich wahrnehmen, und der in gleicher Weise vorhanden ist, mag der koinzidirende Theilton c2 oder a2 sein. Der Aehnlichkeitsgrad ist nur abh\u00e4ngig von der St\u00e4rke der koinzidirenden Theilt\u00f6ne, und diese nimmt (bei einer sozusagen idealen Klangzusammensetzung wenigstens) ab mit ihrer Ordnungszahl.\nDie Schwierigkeit w\u00fcrde also, scheint mir, f\u00fcr Helmholtz doch nur bei einfachen T\u00f6nen bestehen und f\u00e4llt dann mit der im Text diskutirten\nzusammen.","page":18},{"file":"p0019.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n19\nKurz die Klangfarbe ist bei dem gleichen Intervall \u00e4usserst ver\u00e4nderlich, der Konsonanzgrad aber konstant. Beides kann daher nicht aus einunddemselben Prinzip erkl\u00e4rt werden, und gerade die gl\u00fcckliche Erkl\u00e4rung der Klangfarbe, die Helmholtz f\u00fcr alle Zeiten der Akustik errungen hat, macht seine Erkl\u00e4rung der Konsonanz aus demselben Prinzip zur Unm\u00f6glichkeit.\nAlso auch diese zweite Definition ist aufzugeben. Dennoch soll auch hier das thats\u00e4chlich Richtige nicht \u00fcbersehen werden. Bei aufeinander folgenden Kl\u00e4ngen wird in der That durch die gemeinschaftlichen Theilt\u00f6ne, wo sie eben vorhanden und stark genug sind, eine Art von Verwandtschaft hergestellt. Bei der Oktave wenigstens ist dies nicht zu leugnen. Wenn uns der h\u00f6here Oktaventon dem tieferen \u00e4hnlich zu sein scheint, so ist bei zusammengesetzten Kl\u00e4ngen sicherlich der Umstand mit daran Schuld, dass der hohe im tiefen schon als Theil enthalten ist. Als allgemeines Erkl\u00e4rungsprinzip unbrauchbar, ist die Verwandtschaft durch Obert\u00f6ne doch unter besonderen Umst\u00e4nden und f\u00fcr einzelne Erscheinungen, auf die wir im Zusammenhang der Theorie (6. Kap.) gef\u00fchrt werden, heranzuziehen, und es ist Helmholtz\u2019 Verdienst, darauf hingewiesen zu haben.\nZweites Kapitel.\nDie Definitionen durch das Unbewusste.\n1. Sollen wir nun, da Helmholtz\u2019 Lehre aufgegeben werden muss, etwa zu Leibniz und Euler zur\u00fcckkehrend die unbewusste Wahrnehmung einfacher SchwingungsVerh\u00e4ltnisse als Grund der Konsonanz und die Musik selbst als eine \u201eunbewusste Uebung der Seele in der Arithmetik\u201c definiren?\nHelmholtz, der Euler\u2019s Theorie wegen der Ueberein-stimmung ihrer Ergebnisse mit den seinigen r\u00fchmend erw\u00e4hnt, vermisst doch den Nachweis, \u201ewie die Seele eines nicht in der Physik bewanderten H\u00f6rers, der sich vielleicht nicht einmal klargemacht hat, dass T\u00f6ne auf Schwingungen beruhen, es anstellt, um die Verh\u00e4ltnisse der Schwingungszahlen zu erkennen und zu vergleichen\u201c (S. 27, 375 f.). Neuere Philosophen haben\n2*","page":19},{"file":"p0020.txt","language":"de","ocr_de":"20\nC. Stumpf.\naber bekanntlich in der Annahme unbewusster Erkenntnisse keine Schwierigkeit gefunden, und Helmholtz sprach selbst anderw\u00e4rts von unbewussten Schl\u00fcssen, wenn er auch die Pr\u00e4missen dieser Schl\u00fcsse durch die Erfahrung gegeben sein liess. So erscheint es nicht ganz \u00fcberfl\u00fcssig, das Bedenkliche dieser Erkl\u00e4rungsweise im vorliegenden Fall etwas n\u00e4her auseinanderzusetzen, zumal eine nur wenig modifizirte Form derselben, die wir sogleich (2) erw\u00e4hnen, auch gegenw\u00e4rtig noch Freunde findet.\nMan sieht zun\u00e4chst nicht ein, warum das unbewusste Z\u00e4hlen so unterhaltend sein soll. ' Denn das bewusste pflegt man im allgemeinen nicht zu den h\u00f6chsten Kunstgen\u00fcssen zu rechnen. Am wenigsten sollte man sich davon versprechen, wenn es sich immer nur bis 5 erstreckt, und dieses glaubt Leibniz annehmen zu sollen, da alle prim\u00e4ren Konsonanzen durch die Zahlen bis zu 5 gegeben seien (die kleine Terz 5 : 6 und die kleine Sext 5 : 8 lassen sich als Umkehrungen der grossen Sext 3 : 5 und der grossen Terz 4 : 5 fassen).1\nMan sieht ferner nicht ein, warum die Grenze der Konsonanz gegen die Dissonanz so niedrig hegt und die Uebung in der Arithmetik so langsam fortschreitet, dass man in vielen tausend Jahren h\u00f6chstens um eine Einheit weitergekommen ist (wenn wir hierbei an die Einf\u00fchrung der Terzen unter die Konsonanzen denken wollen). Dieser geringe Fortschritt muss namentlich bei so grossem Vergn\u00fcgen an der Sache Wunder nehmen.\nEbenso ist nicht einzusehen, Avarum ganz schwache Verstimmungen vor Konsonanzen unbemerkt bleiben, w\u00e4hrend die\n1 Man k\u00f6nnte hier einen Widerspruch bei Leibniz finden wollen, insofern doch die Schwingungen seihst, die in diesen kleinen Zahlenverh\u00e4ltnissen stehen, Adele Tausende in der Sekunde betragen k\u00f6nnen, also das unbewusste Z\u00e4hlen doch h\u00f6her hinaufreichen m\u00fcsse. Aber man wird eben voraussetzen m\u00fcssen, dass das Z\u00e4hlen hier nur in den kleinsten Zeit-theilen stattfindet, innerhalb deren sich das Schwingungsverh\u00e4ltniss noch -zwischen ganzen Schwingungen geltend macht, also z. B. bei der Terz von 4000 : 5000 Schwingungen innerhalb Viooo Sekunde ; denn in diesem Zeitraum kommen immer 4 Schwingungen des tieferen auf 5 des h\u00f6heren Tones. Hiernach w\u00fcrde sich also auch durch die Untersuchung der h\u00f6chsten noch als Terzen erkennbaren T\u00f6ne das Geschwindigkeitsmaximum T\u00fcr das unbewusste Z\u00e4hlen experimentell bestimmen lassen. Jedenfalls w\u00fcrde es in dieser Hinsicht das bewusste Z\u00e4hlen ebenso \u00fcbertreffen als es in Hinsicht seiner Ausdehnung dahinter zur\u00fcckst\u00e4nde.","page":20},{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n21\nZahlenyerh\u00e4ltnisse hier gerade am komplizirtesten sind; jedenfalls bedarf es hier einer H\u00fclfshypothese.\nFerner sollte man doch erwarten, dass wir auch bei den Schwingungen des Lichtes die Zahlenverh\u00e4ltnisse unbewusst erkennen und an den n\u00e4mlichen einfachen Verh\u00e4ltnissen die n\u00e4mliche Freude haben m\u00fcssten. Aber bei den Farben sind diese Schwingungsverh\u00e4ltnisse, wenn wir sie k\u00fcnstlich hersteilen, keineswegs in gleicher Weise ausgezeichnet und merkliche Abweichungen davon uns nicht weniger angenehm als die reinen Verh\u00e4ltnisse selbst, w\u00e4hrend kleine merkliche Abweichungen bei den T\u00f6nen gerade das h\u00f6chste Missfallen erregen, mehr als die eigentlichen Dissonanzen.1 Dass man \u00fcberhaupt erst ausrechnen muss, wo Konsonanzen liegen m\u00fcssten, beweist schon, dass ein der Konsonanz vergleichbares sinnliches Ph\u00e4nomen hier nicht vorliegt und die sogenannte Farbenharmonie auf ganz anderen Faktoren beruht. Sucht man diesen Unterschied etwa dadurch zu erkl\u00e4ren, dass im optischen Nerven aus den Schwingungen eine gleichm\u00e4ssige, einheitliche Erregung entsteht, so m\u00fcssten wir fragen, woher man denn weiss, dass im akustischen Nerven-prozess die Periodizit\u00e4t der Tonschwingungen erhalten bleibt.2 Das Unbewusste d\u00fcrfte hier wie dort nur in den peripherischen Sinnesorganen, nicht in dem Nerven seihst Gelegenheit haben, seinem Z\u00e4hlvergn\u00fcgen zu fr\u00f6hnen. Aber es mag ja selbst wissen,\n1\tProf. F. W. TTnger in G\u00f6ttingen hat (1854) Tafeln herausgegehen, auf welchen die Regenbogenfarben in Kreissektoren aufgetragen waren. Diesen Tafeln waren eine Reihe von schwarzen Scheiben beigef\u00fcgt, auf welchen je zwei oder drei Sektoren ausgeschnitten waren. Bedeckte man mit einer solchen Scheibe die farbige Tafel, so erhielt man ein Farbenintervall oder einen Farbendreiklang. Ich bin im Besitze dieser Einrichtung, muss aber sagen, dass der sogenannte \u201e\u00fcberm\u00e4ssige Dreischein\u201c (der dem \u00fcberm\u00e4ssigen. Dreiklang c\u2014e\u2014gis entspricht) nicht unangenehmer ist als der \u201eharte Dreischein\u201c (der dem Durdreiklang c\u2014e\u2014g entspricht),-^.\n2\tIn der neueren Physiologie wird fast einstimmig das Gegentheil angenommen. Nur Wundt hat den Versuch gemacht, die Existenz zentraler Schwebungen nachzuweisen, welche bei vertheilten Gabeln zu Stande kommen sollen und auf einer Fortpflanzung periodischer Erregungen im Akustikus beruhen m\u00fcssten. Aber diese Schwebungen vertheilter Gabeln entstehen, wie oben erw\u00e4hnt, durch die Knochenleitung von Ohr zu Ohr. Einer vereinzelten Angabe aus dritter Hand \u00fcber Schwebungen bei sogenanntem Doppelth\u00f6ren muss ich auf Grund eigener Beobachtungen aufs Bestimmteste widersprechen (vgl. Tonpsych. II, 458 f.).","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nwarum es bei den Farben darauf verzichten muss. Vielleicht wohnt es in der Trommelh\u00f6hle, im Augapfel aber nicht, vielleicht gehen ihm auch die Aetherschwingungen zu schnell vor\u00fcber.\nWenn wir ein Rechteck von dem Seitenverh\u00e4ltnis^ 4: 5 mit einem von dem Verh\u00e4ltniss 4 : 5,2 (= 10 :13) vergleichen: warum sollte nicht auch hier eine unbewusste Messung und eine Freude am einfacheren, ein Missfallen am komplizirteren Zahlenverh\u00e4ltniss stattfinden ? Aber die beiden Rechtecke machen keinen \u00e4sthetisch verschiedenen Eindruck.\nUnsere ersten Bedenken fallen nun allerdings speziell f\u00fcr Euler hinweg, da er unter den unbewusst erfassten Zahlverh\u00e4ltnissen auch solche wie 1 : 512 anf\u00fchrt und eine bestimmte Grenze der Z\u00e4hlf\u00e4higkeit \u00fcberhaupt nicht statuirt.1 Aber nirgends besser als in der Musikschrift des grossen Mathematikers zeigt sich, in welches uferlose Meer eine solche Betrachtungsweise f\u00fchrt. Er bildet 10 Klassen von Zusammenkl\u00e4ngen, je nach der Einfachheit der Verh\u00e4ltnisse, von welcher die Leichtigkeit der Perzeption und die Wohlgef\u00e4lligkeit abh\u00e4ngig sein soll. Die Einfachheit des Verh\u00e4ltnisses selbst l\u00e4sst er im allgemeinen gegeben sein durch die Gr\u00f6sse des gemeinschaftlichen Dividenden der beiden Zahlen.2 Hiernach f\u00fchrt er z. B. die grosse Dezime erst in der sechsten Klasse ein, dagegen das Verh\u00e4ltniss 1: 9, die um drei Oktaven erweiterte grosse Sekunde, schon in der f\u00fcnften, sie w\u00e4re also konsonanter als die Dezime I Die grosse Terz erscheint gar erst in der siebenten Klasse und hier gemeinschaftlich mit 1:15 (der um drei Oktaven erweiterten grossen Septime), mit 1: 27 und mit 1 : 36 ! So kommt er in die sch\u00e4rfsten Konflikte mit den Aussagen des musikalischen Bewusstseins. Man wird dabei an Rousseau\u2019s bitteres Wort gemahnt: \u201eEs giebt keine Absurdit\u00e4t, f\u00fcr die bei der Untersuchung der sch\u00f6nen K\u00fcnste nicht die Physik Veranlassung war\u201c. Die Mathematik kann man\n1\tTentamen novae theoriae musicae 1739. Euler spricht allerdings nicht von unbewusster Wahrnehmung, aber er gebraucht den Ausdruck percipere im Sinne von Leibniz, auf dessen Philosophie die seinige gebaut ist, und man weiss, dass Perzeption im Gegensatz zu Apperzeption hei Leibniz das unbewusste Wahrnehmen bedeutet.\n2\tHier\u00fcber sind schon verschiedene willk\u00fcrliche Festsetzungen m\u00f6glich, und Euler selbst bedient sich noch einiger H\u00fclfsprinzipien, die ihm erlauben, z. B. 1 : 3 und 1 : 4 unter dieselbe Klasse und 1 : 15 zwei Klassen tiefer als 1 : 16 zu rechnen.","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\ngetrost hinzuf\u00fcgen. Sonst heisst es freilich: nil tarn absurdum quod non dixerit philosophus \u2014 und ganz unschuldig ist diesmal die Philosophie auch nicht.\nMan kann also mit einer solchen Hypothese alles und nichts erkl\u00e4ren. Man kann Ergebnisse ableiten, die mit der Erfahrung stimmen, und solche, die mit ihr in schreiendem Widerspruch stehen, je nachdem man eben die Hypothese selbst formt, dehnt und knetet. Und sie l\u00e4sst sich kneten nach Belieben, da man \u00fcber die F\u00e4higkeiten des unbewussten Henkapparats annehmen kann, was man will.\n2. Aehnliche Bedenken stehen nun auch der Lehre von der unbewussten Wahrnehmung des Schwingungsrhythmus entgegen, in welcher (abgesehen von \u00e4lteren Autoren, die theil-weise bloss die Analogie, theilweise aber auch schon die Identit\u00e4t von Rhythmus und Harmonie betont haben) neuerdings Opelt, G. Engel, Lipps u. A. die L\u00f6sung des R\u00e4thsels finden.1\nDiese Lehre unterscheidet sich, so viel ich sehe, von der eben erw\u00e4hnten dadurch, dass es nicht die abstrakten Zahlenverh\u00e4ltnisse, sondern die periodische Koinzidenz der empfundenen Impulse ist, auf welcher die Befriedigung bei Konsonanzen beruht. Wir k\u00f6nnen auch zwei Haufen von Aepfeln, die an verschiedenen Orten liegen und keine sonstige Beziehung zu einander haben, abz\u00e4hlen und das Verh\u00e4ltnis der beiden Mengen gleich\n1 F. W. Opelt, Allgemeine Theorie der Musik, auf den Rhythmus der Klangwellenpulse gegr\u00fcndet, 1852. G. Engel, Aesthetik der Tonkunst, 1884. Th. Lipps, Psychologische Studien, 1885, S. 92 f.\nVgl. ferner Bindseil, Akustik (1839) und Zamminee, Musik und musikal. Instrumente (1855, S. 116 f.). Auch Jean Paul sagt (Levana, Reclam S. 100): \u201eDie Musik ist .... ein unsichtbarer Tanz, wie dieser eine stumme Musik.\u201c Aus dem Alterthum z. B. Poephyr\u2019s Kommentar zu Ptolemaeus\u2019 Harmonik, S. 220 (nach Dionysius).\nMoritz Hauptmann (Natur der Harmonik und Metrik, 1853) zieht zwar sehr vielf\u00e4ltige Parallelen zwischen Rhythmus und Harmonie, aber seine Erkl\u00e4rungen \u00fcber die Grundintervalle, Oktave, Quinte und Terz (S. 22), w\u00fcrden, wenn man sie psychologisch fassen wollte, mehr auf die Theorie des unbewussten Z\u00e4hlens hinauslaufen. Freilich sind sie wesentlich metaphysisch gedacht. Gelegentlich flicht jedoch Hauptmann eine Erkl\u00e4rung ein, welche vollkommen deutlich auf das Merkmal hinweist, das wir selbst unten vertreten wollen. S. 44 sagt er: \u201eDer Charakter des Konsonanten ist das bestimmte Zusammenklingen in der Harmonie, der des Dissonanten das bestimmte Auseinanderklingen.\u201c","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nG. Stumpf.\n4 : 5 finden, ohne davon besonders ger\u00fchrt zu sein. Nicht also darauf kommt es an \u2014 sagt man \u2014, dass zwei Mengen in solchem Zahlenverh\u00e4ltniss stehen und dass wir dies unbewusst erkennen, sondern dass in unserem Ohr die Maxima zweier gleichzeitiger Tonwellen periodisch zusammenfallen und dass wir diese periodische Koinzidenz unbewusst empfinden. Bei der Oktave kommen auf je einen Stoss des tieferen zwei des h\u00f6heren Tones u. s. w.\nLipps hat der Lehre den best,form uhrton Ausdruck gegeben. Aus der Diskontinuit\u00e4t der Tonreize, die sich bei den tiefsten T\u00f6nen in der Empfindung merklich mache, folgert er, dass alle Tonempfindungen (bezw. die den bewussten Empfindungen zu Grunde liegenden \u201eseelischen Gebilde\u201c) nothwendig dis-kontinuirlich und von gleichem Rhythmus wie die objektiven Schwingungen seien. Sollen wir nun bei langsameren Rhythmen, deren Schl\u00e4ge wir noch getrennt vernehmen, mehrere Rhythmen zugleich auffassen, so ist uns dies schwerer und weniger angenehm, wenn sie in komplizirten als wenn sie in einfachen Verh\u00e4ltnissen zueinander stehen. Und so muss dies auch bei den schnellen Rhythmen, die wir unbewusst erfassen, zutreffen.\nWie man sieht, liegt hier die Voraussetzung zu Grunde, dass die akustischen Empfindungen nicht durch die Einwirkung der ganzen Tonschwingungen auf den Nerven entstehen, sondern nur durch die Maxima der Schwingungen, d. h. durch die \u00e4usserste Elongation, welche das schwingende Th eil dien nach der einen Richtung hin erreicht. Mathematisch genau k\u00f6nnte dies nun selbstverst\u00e4ndlich nicht gelten, da das Maximum nur einem Moment entspricht, in einem Moment aber eine endliche Wirkung nicht entstehen kann. Doch k\u00f6nnte ein sehr kleiner Bezirk der Schwingung in der Maximalgegend als das Wirksame angesehen werden. Infolge dieser diskontinuirlichen Einwirkung soll nun auch der Prozess im Geh\u00f6rsnerven selbst ein dis-kontinuirlicher sein, ebenso oft in der Sekunde unterbrochen als der Ton Schwingungen hat.\nNun ist aber weder jene physikalische Voraussetzung noch diese physiologische Konsequenz eine nothwendige. Wir haben \u00fcberhaupt, wie schon erw\u00e4hnt, keinen Grund zu der Annahme, dass der akustische Nervenprozess ein diskontinuirlicher ist. Die Diskontinuit\u00e4t tiefer T\u00f6ne, auf welche Lipps hinweist, d\u00fcrfte nicht eine wesentliche Eigenschaft der T\u00f6ne als solcher, sondern","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n25\nnur eine je nach der Beschaffenheit der Klangquelle mehr oder weniger hervortretende Begleiterscheinung sein.1 H\u00e4lt man freilich z. B. eine tiefste schwingende Stimmgabel, die noch einen Ton von 20 Schwingungen giebt, dicht vor das Ohr (wie man es wegen der Schw\u00e4che des Tones thnn muss), so entstehen durch die starken Ausschl\u00e4ge der Zinken starke intermittirende Tasteindr\u00fccke auf das Trommelfell und ausserdem intermittirende Luftger\u00e4usche, so dass schon dadurch auch der Ton inter-mittirend erscheint. Aber wenn und soweit es gelingt, durch die Aufmerksamkeit diese einzelnen Erscheinungen zu trennen, erkennen wir den Ton selbst hier als kontinuirlich.\nJedenfalls aber muss bestritten werden, dass die Diskontinuit\u00e4t der Tonempfindungen \u201evon vornherein einleuchtend\u201c sei. Erstlich ist nicht einmal die Luftschwingung etwas Diskon-tinuirliches, zweitens, wenn sie es w\u00e4re, w\u00fcrde auf dem Wege bis zur Empfindung die Diskontinuit\u00e4t sich an vielen Stellen in Kontinuit\u00e4t verwandeln k\u00f6nnen. Sind nicht die h\u00f6heren Tonempfindungen nach Lipps selbst kontinuirlich, wenigstens f\u00fcr unser Bewusstsein? Irgendwo innerhalb dieser Kette von Vorg\u00e4ngen, welche die Klangwelle mit unseren Empfindungen verbinden, geht also faktisch hier Diskontinuit\u00e4t in Kontinuit\u00e4t \u00fcber.\nAber auch die weitere Voraussetzung, dass ein unbewusst empfundener Rhythmus uns angenehm ber\u00fchren m\u00fcsse, weil ein bewusst empfundener es thut, hat nichts Ueberzeugendes. Damit ein Rhythmus angenehm wirke, scheint unter anderem ein gewisser mittlerer Grad der Wahrnehmbarkeit erforderlich. Ein allzu aufdringlicher Rhythmus wirkt ebenso ung\u00fcnstig wie ein nur schwer zu fassender. Bei Geh\u00f6rsrhythmen kommt schon die absolute Intensit\u00e4t der Eindr\u00fccke, aber auch ihr Zeitabstand in Betracht, der nicht zu gross und nicht zu klein sein darf, und noch anderes. N\u00e4hert sich ein Rhythmus aus irgend efnem Grunde der Unwahrnehmbarkeit so weit, dass er auch bei ausdr\u00fccklich darauf gerichteter Aufmerksamkeit nur schwer zu entdecken ist, so h\u00f6rt er auf, uns Vergn\u00fcgen zu machen; und hieraus w\u00e4re f\u00fcr die ganz unbewusst empfundenen Rhythmen, wenn man auf solche \u00fcberhaupt einen Schluss ziehen will, eher\n1 Max Meyer, Ueber die Rauhigkeit tiefer T\u00f6ne. Zeitschr. f\u00fcr Psychologie XIII, S. 75 f.","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nC. Stumpf.\ndie Folgerung zu ziehen, dass sie uns kalt lassen. Ich w\u00fcrde freilich vorziehen, auf Rhythmusempfindungen dieser Art \u00fcberhaupt nicht zu schliessen.\nAber legen wir auch in dieser Hinsicht Lipps\u2019 Voraussetzungen einmal zu Grunde. Wie kommt es, dass wir gerade hei den tiefsten T\u00f6nen, wo wir den Schwingungsrhythmus noch, wenn auch nur als Begleiterscheinung, wahrnehmen k\u00f6nnen, die konsonanten Intervalle keineswegs angenehmer finden als dissonante, w\u00e4hrend gerade bei den h\u00f6heren T\u00f6nen, wo der Schwingungsrhythmus sicherlich nicht mehr wahrgenommen wird, der Unterschied hervortritt? Sollte es wirklich am Rhythmus liegen? \u2014 Man mag nun wieder andere Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnde suchen, warum gerade der einzige Fall, in dem wir dis-kontinuirliche Tonempfindungen zu haben glauben, uns bei der Durchf\u00fchrung der Hypothese im Stich l\u00e4sst. \\ ielleicht bedarf die unbewusste Empfindung gr\u00f6sserer Geschwindigkeiten, um das Rhythmusgef\u00fchl zu erzeugen. Aber misslich ist dieser Ungehorsam der Thatsachen sicherlich.\nNehmen wir ferner akustische Rhythmen aus unserer Erfahrung, so ist wohl richtig, dass die Koinzidenz zweier gleichzeitiger Rhythmen, wenn sie in multiplen Verh\u00e4ltnissen 1:2, 1:3, 1 : 4 u. s. w. stehen, angenehm empfunden wird. Aber anders steht es schon mit 2 : 3, 4 : 5 u. dergl. Wo in der Musik selbst die Aufgabe gestellt wird, einen %-Takt durch zwei Viertelt\u00f6ne oder umgekehrt einen 2/4- oder 4/4-Takt durch drei Viertelt\u00f6ne auszuf\u00fchren, da ist sie bekanntlich nicht leicht exakt zu l\u00f6sen und hat zun\u00e4chst f\u00fcr den Ausf\u00fchrenden wie f\u00fcr den H\u00f6renden etwas Widerstrebendes. Sie geh\u00f6rt zu den rhythmischen Erschwerungen, in denen die neuere Musik zwar einen gewissen Reiz findet, aber doch nur weil und solange sie ausnahmsweise und vor\u00fcbergehend auftreten. Von diesem Gesichtspunkt aus w\u00fcrde ich also die Konsonanz der Quinten, Quarten, Terzen und Sexten nicht begreifen k\u00f6nnen, sondern nur die der Oktave, Duodezime, Doppeloktave u. s. w.\nDiese Schwierigkeit ist Lipps nicht entgangen. Er glaubt sie (S. 97) mit Berufung auf das allgemeine Prinzip zu l\u00f6sen, dass \u00fcberall nicht die einf\u00f6rmige Wiederholung, sondern die Mannigfaltigkeit, die mit deutlichen Unterschieden deutliche Uebereinstimmungen verbindet, die reichere Befriedigung gew\u00e4hrt. Darum seien die etwas komplizirteren Schwingungs-","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n27\nVerh\u00e4ltnisse sogar angenehmer als die Oktave. Er f\u00fchrt aus dem Gebiet des bewussten Rhythmus die Erfahrung an, dass bei einer Art des Walzers, die er dem Kundigen nicht n\u00e4her zu bezeichnen brauche, zwei Tanzschritte auf je drei Taktschl\u00e4ge der Musik fallen, und dass die spielende Ueberwindung dieser Hemmung dem Tanz einen besonderen Reiz gehe.\nIch geh\u00f6re nun leider l\u00e4ngst nicht mehr zu diesen Kundigen. Vielleicht kommt es daher, dass mir die Quinte auch nicht so hervorragend angenehm ist. Aber die M\u00f6nche des neunten Jahrhunderts, die die Quinte als den s\u00fcssesten aller Zusammenkl\u00e4nge bezeichneten ? Sie m\u00fcssen wohl in unbewussten T\u00e4nzen die bewusste Erfahrung gemacht haben.\nEs scheint mir aber auch, soweit ein Nichtkundiger hier mitreden darf, zweifelhaft, ob die zwei Tanzschritte sich so gleichm\u00e4ssig auf den 3/4-Takt vertheilen wie die drei Schwingungs-maxima des h\u00f6heren Tones bei der Quinte auf die zwei des tieferen Tones.1 Wenn man mit der einen Hand einen 2/4- und gleichzeitig mit der anderen Hand einen s/4-Takt angiebt, so dass die ersten Takttheile immer zusammenfallen, so wird man, nach meiner Beobachtung wenigstens, das Ganze nicht als eine Verbindung der beiden Taktarten miteinander auffassen, sondern ausschliesslich als einen 3/4-Takt, in welchem aber das zweite Viertel in zwei Achtel zerlegt ist:\nJ\t1\t1\nRechts 0\t\u00e9\t\u00e9\nI h P I\nLinks\t^ \u00e9 \u00e9_j \u00ea\nEs scheint daher, dass die Auffassungsf\u00e4higkeiten der unbewussten Seele nach Lipps sich hier nicht bloss graduell \u00fcber die des Bewusstseins bedeutend erheben, sondern sich auch spezifisch von ihnen unterscheiden m\u00fcssen. Freilich muss man es Lipps \u00fcberlassen, oh er darin eine Widerlegung erblicken will, da er zwar S. 96 das Prinzip auf stellt: \u201eWas von den im Bewusstsein sich abspielenden Rhythmen gilt, muss auch f\u00fcr die nur unbewusster Weise vorhandenen Geltung haben\u201c, aber doch auf derselben Seite hinzuf\u00fcgt: \u201eWas sich in der Hinsicht (wie einfach die Schwingungsverh\u00e4ltnisse sein m\u00fcssen, um das Ge-\n1 Ygl. auch S. 129, wo Lipps auf die Regelm\u00e4ssigkeit der Vertheilung\nselbst Gewicht legt.\n\u00e9\nu. s. f. I","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nC. Stumpf.\nf\u00fchl der Harmonie zn erzeugen) aus der Erfahrung an Takt\u2019 Schl\u00e4gen und Bewegungen oder Bewegungsvorstellungen ergeben mag, beweist daf\u00fcr nichts.\u201c Das ist eben die vortheilhafte Taktik, welche die Anh\u00e4nger solcher Erkl\u00e4rungen befolgen k\u00f6nnen: Wo die Analogie der Bewusstseinserscheinungen einigermassen zutrifft, da gestattet sie einen \u201ezwingenden Schluss\u201c auf das Unbewusste, wo sie aber im Stich l\u00e4sst, da ist es eben -\u2014 etwas anderes.\nEine neue Schwierigkeit ergiebt sich, wenn wir in Betracht ziehen, dass eine Koinzidenz der Schwingungsmaxima bei Konsonanzen doch \u00fcberhaupt nur in dem speziellen Falle stattfindet, wo keine Phasendifferenz vorhanden ist. Nehmen wir an (und dies ist doch die Grundvoraussetzung der ganzen Anschauung), dass jeder der beiden konsonanten T\u00f6ne f\u00fcr unsere unbewusste Empfindung in einer bestimmten Anzahl gleich-m\u00e4ssig aufeinander folgender diskontinuirlicher Theilempfin-dungen besteht, so kann der Rhythmus bei der Oktave allerdings dieser sein:\naber ebensogut auch dieser:\n-\u2014\u2022-----\u2022 iT-\t^ - jfc\u2014<3*- \u2022-\u2022----\u2022-----\u2022----\nDie objektiven Phasenunterschiede zweier Klangwellen machen sich allerdings gem\u00e4ss Helmholtz\u2019 Nachweisung und gew\u00f6hnlicher Erfahrung f\u00fcr das Ohr nicht geltend. Aber wenn sich nach obiger Lehre die aus den beiden Klangquellen entstehende zusammengesetzte Luftbewegung im Ohr oder im Gehirn wieder so aufl\u00f6st, dass zwei unabh\u00e4ngig voneinander verlaufende Reihen von Impulsen auftreten, so ist zun\u00e4chst keine Nothwendigkeit, dass sie hier stets ohne Phasendifferenz verlaufen m\u00fcssen. Sogar wenn objektiv keine solche vorhanden ist, k\u00f6nnte sie nach dieser Vorstellung von der Sache durch die geringste zuf\u00e4llige Einwirkung im Organ oder Gehirn entstehen.\nSolche Phasenverschiebungen m\u00fcssten nun aber f\u00fcr die unbewusste Erfassung des Rhythmus eine betr\u00e4chtliche Erschwerung bedeuten und das Vergn\u00fcgen merklich herabstimmen. Jenen Zweischrittwalzer noch zu tanzen, wenn die drei Taktschl\u00e4ge","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n29\nder Musik oder gar die drei Schritte der Partnerin nicht einmal auf den ersten Takttheilen mit dem eigenen Schritt zusammenfallen, das macht vielleicht auch noch Vergn\u00fcgen, aber gewiss nicht des Rhythmus wegen.\nAuch hei den kleinen Verstimmungen von Intervallen, wie solche best\u00e4ndig in der Musik Vorkommen, theils durch die nothwendigen zuf\u00e4lligen Abweichungen, wenn dieser Ausdruck erlaubt ist, theils in Folge der temperirten Stimmung, ergiebt sich dieselbe Schwierigkeit. Es tritt n\u00e4mlich hierbei mit jeder Schwingung eine kleine Phasenverschiebung der beiden T\u00f6ne gegeneinander ein, die von einem Minimum bis zu einem Maximum steigt und dann wieder abnimmt. Die Schwebungen geben uns davon Kunde.\nDie Schwierigkeit, die aus diesen kleinen Verstimmungen f\u00fcr seine Theorie erw\u00e4chst, hat Lipps selbst bemerkt. Er sucht sie einfach mit dem Hinweis auf die Thatsache der Schwelle zu l\u00f6sen. Es bed\u00fcrfe eben einer gewissen Gr\u00f6sse der Abweichung, nicht bloss damit Verschiedenes als solches erkannt werde, sondern auch damit es verschieden wirke ; und so mache sich auch eine geringe Abweichung von dem einfachen Verh\u00e4ltnis s der Rhythmen f\u00fcr das Gef\u00fchl nicht geltend.\nDurch diese Antwort k\u00f6nnte man vielleicht die Euler\u2019sehe Fassung der Lehre mit der Thatsache vers\u00f6hnen, die ihr bereits von Helmholtz entgegengehalten wurde, dass die kleinen, noch unbemerkten Abweichungen gerade die komplizirtesten Zahlenverh\u00e4ltnisse ergeben. Aber ich sehe nicht, wie die Rhythmuslehre damit fertig werden k\u00f6nnte; denn es ist hier ein grosser Unterschied zwischen beiden Fassungen. Wenn die beiden T\u00f6ne z. B. 400 und 601 sind (unmerklich erh\u00f6hte Quinte), so kommen doch auf zwei Schwingungen des einen Tones immer nur um 0,0025 mehr als drei des anderen Tones, was von dem unbewussten Z\u00e4hlmechanismus Euler\u2019s wohl ignorirt werden k\u00f6nnte. Die Phasenverschiebung bei kleinen Verstimmungen macht sich in Hinsicht des Verh\u00e4ltnisses derSchwingungs-zahlen in kleinsten Zeitabschnitten in der That so gut wie nicht geltend. Dagegen macht sie sich fortw\u00e4hrend geltend in Hinsicht des Rhythmus. Mit jeder Schwingung w\u00e4chst der Unterschied, f\u00fchrt schnell zu einem v\u00f6lligen Durcheinander der beiden Rhythmen, dann wieder zum Zusammenfallen u. s. w. (wie wir es beim Ticken zweier Taschenuhren beobachten). Das Zahlen-","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nC. Stumpf.\nverh\u00e4ltniss besitzt eine konstant bleibende, sehr geringe Differenz von den genauen Werthen 2 : 3, die Rhythmen aber nehmen sukzessiv alle m\u00f6glichen Differenzen an, von den kleinsten bis zu den gr\u00f6ssten. Die scheinbar plausiblere Form der Lehre steht also den Thatsachen noch h\u00fclfloser gegen\u00fcber.\nZum Schluss dieser Polemik unterlasse ich nicht zu versichern, dass ich \u201eunbewusste\u201c psychische Zust\u00e4nde keineswegs in jedem Sinne des Wortes unannehmbar finde und eine solche allgemeine These, gegen die ich auch fr\u00fcher niemals gestritten, hier ganz ausser Spiel lasse. Um so nachdr\u00fccklicher aber musste betont werden, dass mit unbewussten Empfindungen und Auffassungen in dieser Form und in uns er m Falle nicht geholfen ist. Im Uebrigen ist es wohl auch eine methodische Regel, dass der Rekurs auf Unwahrnehmbares hinwegf\u00e4llt, sobald wir ein Wahrnehmbares als gen\u00fcgenden Erkl\u00e4rungsgrund auf zeigen k\u00f6nnen, wie wir es unten versuchen werden. Doch glaubte ich der Autorit\u00e4t der Forscher, welche jene Erkl\u00e4rungsweise vertreten, und dem ehrw\u00fcrdigen Alter der Rhythmustheorie eine solche Auseinandersetzung schuldig zu sein.\nWas aber die einfachen Zahlenverh\u00e4ltnisse betrifft, deren auffallendes Zusammentreffen mit den Konsonanzerscheinungen immer wieder zu \u00e4hnlichen Vorstellungen hinf\u00fchrt, so ist wohl kein Zweifel, dass hier ein Zusammenhang besteht, und nicht bloss eine zuf\u00e4llige Begegnung zweier Thatsachen. Aber der Zusammenhang kann sehr verschiedener Art sein, er kann direkter aber auch weniger direkt sein, als er hier gefasst wird.\nDrittes Kapitel.\nDie Definitionen durch das Aiinehnilichkeitsgef\u00fclil.\nMan kann von allen bisher untersuchten Definitionen sagen, dass sie die Dissonanz durch das Gef\u00fchl definiren, insofern sie die Schwebungen, die Verwandtschaft oder die unbewusst erfassten Schwingungsverh\u00e4ltnisse eben darum heranziehen, um den Unterschied in der Annehmlichkeit gewisser Tonkombinationen gegen\u00fcber anderen dadurch zu erkl\u00e4ren. Immerhin liesse sieh","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n31\nin allen diesen F\u00e4llen der Gef\u00fchlsunterschied auch als eine blosse Folge, nicht als das Wesensmerkmal der Konsonanz selbst an-sehen, welches letztere vielmehr in den schwachen oder fehlenden Schwebungen selbst, in der starken Verwandtschaft, in der Einfachheit der empfundenen Schwingungsverh\u00e4ltnisse oder Rhythmen, also in gewissen Merkmalen der Sinnesempfindungen als solcher l\u00e4ge.\nDagegen giebt es andere Definitionen, welche direkt und ausschliesslich Gef\u00fchlsmerkmale anf\u00fchren, sei es nun, dass sie den Gef\u00fchlsunterschied als einen ganz unerkl\u00e4rlichen betrachten, oder dass sie ihn als Produkt einer historischen Entwickelung, aber nicht als Folge bestimmter psychologischer oder physiologischer Bedingungen zu verstehen behaupten.\nDie Lehrb\u00fccher der Harmonie begn\u00fcgen sich seit langer Zeit vielfach damit, Konsonanz als angenehme, Dissonanz als unangenehme Tonverbindung zu definiren, ohne sich weiter um den Grund zu k\u00fcmmern.\nDies ist nun ein offenbarer Missgriff, und die darin liegende Seichtigkeit nicht genug zu tadeln. Nichts ist variabler als der Gef\u00fchlseindruck. Es kann eine Konsonanz abstossend und eine Dissonanz s\u00fcss und entz\u00fcckend sein, je nach dem Zusammenhang. Sagt man, in solchen F\u00e4llen liege ein h\u00f6heres \u00e4sthetisches, nicht rein sinnliches Gef\u00fchl vor, so ist sehr fraglich, ob die Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit der Intervalle im isolirten Zustand nicht auch schon durch andere als rein sinnliche Faktoren mitbedingt ist, und ob sich die Nachwirkung des Zusammenhangs in unserm musikalischen Bewusstsein ganz abtrennen l\u00e4sst, auch wenn wir Intervalle augenblicklich isolirt vernehmen.\nHierzu kommt, dass die isolirten Intervalle ihren Gef\u00fchlswerth seit dem Alterthum wesentlich ver\u00e4ndert haben. Bei den Alten finden wir die Oktave als angenehmste und sch\u00f6nste Konsonanz bezeichnet.1 Im Mittelalter wurde eine Zeit lang die Quinte als sch\u00f6nster Zusammenklang gepriesen. Gegenw\u00e4rtig werden wir geneigt sein, die Terz als das s\u00fcsseste, wohllautendste Intervall zu bezeichnen, w\u00e4hrend fr\u00fcher von einer solchen Eigenschaft bei den Terzen nichts verlautete. Noch vor wenigen Jahrhunderten waren Terzenschl\u00fcsse verp\u00f6nt, auch dann noch, als man die Terz bereits unter die Konsonanzen aufgenommen\n1 Vgl. beispielweise die pseudo-aristotelischen Probleme, Sectio XIX Probl. 35.","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"G. Stumpf.\nhatte. Es scheint also eine Verschiebung des Lustgef\u00fchls von der vollkommensten Konsonanz gegen die unvollkommenen hin stattzufinden. Aber eine Verschiebung der Konsonanzverh\u00e4ltnisse selbst findet nicht Statt; denn wir erkennen heute noch wie die Alten die Oktave als vollkommenste Konsonanz an, die Quinte als zweitvollkommenste, die Terz als \u201eunvollkommene\u201c. Also f\u00e4llt Konsonanz nicht mit Annehmlichkeit zusammen.\nIn einer besonderen Form wird das Gef\u00fchlsmerkmal in neuerer Zeit \u00f6fters vertreten. Es sei das Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfnis s, sagt man, welches Dissonanz von Konsonanz scheide.\nAuch diese Fassung kann nicht als Definition gelten. Abgesehen davon dass man nat\u00fcrlich fragen muss, warum das eine Intervall Aufl\u00f6sung verlangt, das andere aber nicht, und dass auch eine tiefere historische Untersuchung sich nicht damit begn\u00fcgen wird, die thats\u00e4chliche Entwickelung zu schildern, sondern die Gr\u00fcnde dieser Entwickelung in der Natur der bez\u00fcglichen Tonempfindungen suchen wird, muss man doch jedenfalls verlangen, dass dasselbe Merkmal, das Konsonanz und Dissonanz scheidet, auch die einzelnen Grade der Konsonanz bestimme. Nun aber kann man Terzen ebensowohl wie Quinten oder Oktaven h\u00f6ren, ohne eine Aufl\u00f6sung zu verlangen. Es giebt zwischen diesen drei Intervallen keine Gradunterschiede in Hinsicht des Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfnisses.\nEtwas anders verh\u00e4lt es sich allerdings mit der Quarte, wenn sie isolirt geh\u00f6rt wird; und, wie mir scheint, tr\u00e4gt gerade der Umstand, dass man das Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss als das definirende oder wenigstens als ein charakteristisches Merkmal der Konsonanz ansah, eine Hauptschuld an dem Jahrhunderte langen Streit \u00fcber die Konsonanz der Quarte. Wenn wir den isolirten Zusammenklang c\u2014f h\u00f6ren, so klingt f\u00fcr unsere musikalischen Gewohnheiten f leicht wie ein Vorhalt vor e. Der Dreiklang in erster Lage und die ihn konstituirenden Intervalle sind es nun einmal, auf die wir alles andere beziehen. Wir k\u00f6nnen nun freilich c\u2014f auch auffassen als obersten Bestandteil eines Vierklanges F\u2014A\u2014c\u2014f und dann f\u00e4llt das Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss hinweg. Aber diese Auffassung muss erst k\u00fcnstlich hervorgerufen werden, die andere scheint n\u00e4her zu liegen. Daher bleibt an der Quarte, von diesem Standpunkt .aus betrachtet, etwas Dissonirendes haften.\nDer Zweiklang e\u2014gis, auf dem Klavier gespielt, klingt uns","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonant und Dissonanz.\nangenehm, weil wir e als Grundton, gis als Durterz fassen. Er klingt uns aber unangenehm, sobald wir gis als as fassen, womit es ja auf dem Klavier zusammenf\u00e4llt. Unser Gef\u00fchl verlangt dann dringend eine Aufl\u00f6sung. Dass aber einunddieselbe Tonkombination sowohl entschieden konsonant als entschieden dissonant sei, je nach der daran gekn\u00fcpften Vorstellung, widerstreitet allem, was seit alter Zeit hier\u00fcber feststeht. Die Grundintervalle m\u00fcssen ihren Konsonanzcharakter in und durch sich selbst haben, sonst schwebt alles in der Luft. Also kann die Konsonanz nicht durch den Mangel eines Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfnisses definirt werden.\nUeberdies ist das Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss historisch viel sp\u00e4ter entstanden als die Unterscheidung von Konsonanz und Dissonanz und setzt offenbar die Entwickelung eines bestimmten Tonsystems, einer Auswahl fester Tonstufen, in welche die Aufl\u00f6sung erfolgen soll, bereits voraus. Es ist zwar anzunehmen, dass schon die griechische Musik in allen F\u00e4llen, wo die Instrumentalbegleitung von der Melodie ab wich (bei der \u201eheterophonen Krusis\u201c), eine Melodie doch mit einem konsonanten Mehrklang, Oktave oder Quinte, niemals aber mit einem dissonanten schloss, Und dass auch bei anderen V\u00f6lkern, soweit sich Anf\u00e4nge von Mehrkl\u00e4ngen finden, einigermassen (wenn auch mit Ausnahmen) dieser Zug wahrnehmbar sein wird. Aber Was wir Aufl\u00f6sung nennen und als solche empfinden, ist nicht die Vertauschung dissonanter mit konsonanten Intervallen \u00fcberhaupt, sondern der Ueber-gang bestimmter T\u00f6ne eines dissonanten Intervalls in bestimmte T\u00f6ne eines konsonanten. Eine regelwidrige Aufl\u00f6sung, z. B. f\u2014h in c\u2014g oder in c\u2014c (wenn wir auch nur innerhalb der Tonart verbleiben), beleidigt uns mehr als eine ungel\u00f6ste Dissonanz, zu der wir schliesslich die Aufl\u00f6sung doch in Gedanken erg\u00e4nzen k\u00f6nnen. Von Aufl\u00f6sung in diesem Sinne aber, also von Regeln der Stimmf\u00fchrung, ist im Alterthum keine Rede, und sie konnte nicht in Frage kommen, bevor nieht die Polyphonie zu solchen Gesetzen dr\u00e4ngte.\nSchliesslich steht allen Gef\u00fchlsdefinitionen doch auch entgegen, dass wir bei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen ebenfalls von konsonanten und dissonanten Intervallen sprechen, und dass sich hier die Gef\u00fchlsmerkmale stark ver\u00e4ndern. Man kann freilich sagen, wir stellen uns zwei aufeinanderfolgende T\u00f6ne, um ihre Konsonanz zu erkennen, als gleichzeitige vor, aber da\nStumpf, Beitr\u00e4ge I.\t3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nC. Stumpf.\nan die Succession der T\u00f6ne als solche doch nicht minder lebhafte Gef\u00fchle gekn\u00fcpft sind als an die Gleichzeitigkeit, sollte man doch meinen, es l\u00e4ge n\u00e4her, die Konsonanz aufeinanderfolgender T\u00f6ne nach dem Gef\u00fchlseindruck bei der Aufeinanderfolge zu bestimmen. Nun ist bei einer kleinen Sekunde aufeinanderfolgender T\u00f6ne von Unannehmlichkeit nichts zu bemerken, der Eindruck vielmehr so befriedigend, als er nur immer von zwei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen hervorgerufen werden kann.1 Anders ist es allerdings beim Tritonus oder der Septime. Immerhin w\u00fcrde das Gef\u00fchlsmerkmal hier seltsame Verschiebungen ergeben, wenn auch nur die Sekunde zu den Konsonanzen k\u00e4me.\nAus allen diesen Erw\u00e4gungen geht hervor, dass das prim\u00e4re Kriterium der Konsonanz nicht in den Gef\u00fchlswerthen der Intervalle gesucht werden kann. Dass und wie gleichwohl diese Gef\u00fchlswerthe beitragen, die Unterschiede, nachdem sie einmal begr\u00fcndet sind, zu versch\u00e4rfen, werden wir unten (7. Kap.) auseinandersetzen und damit auch dieser so weit verbreiteten Definition ihr Recht widerfahren lassen.\nViertes Kapitel.\nDefinition durch die Verschmelzungsstufen.\nWir wollen hier vorl\u00e4ufig die Kritik beschliessen und mit der positiven Darlegung beginnen.2 3\nWir sind bereits gewissermassen durch Exklusion auf das Prinzip hingef\u00fchrt, das wir nun vortragen wollen. Kann der Unterschied konsonanter und dissonanter T\u00f6ne weder in unbewussten Funktionen noch in den Gef\u00fchlen liegen, so wird man ihn in den Tonempfindungen als solchen zu suchen haben, wo ihn denn auch Helmholtz suchte. Da er nun aber nicht in den begleitenden Obert\u00f6nen und nicht in den Schwebungen liegen\n1 Schon Plutarch bezeichnete diese kleinen Intervalle als emmelische,\nd. h. zur Melodie geeignete, und stellte sie in Hinsicht der Annehmlichkeit in der Aufeinanderfolge den Konsonanzen gleich.\n3 Ueber neuere Darstellungen, nach welchen eigentlich nicht zwei T\u00f6ne, sondern erst drei konsonant oder dissonant gegeneinander genannt w\u00fcrden (v. Oettingen, H. Riemann), siehe im 8. Kap.","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n35\nkann, so muss er eben in den beiden T\u00f6nen selbst liegen, welche wir konsonant oder dissonant nennen. Es ist, soviel ich sehe, nur Ein Merkmal, das sich hier darbietet : die Verschmelzung-gleichzeitiger T\u00f6ne.\nDer Zusammenklang zweier T\u00f6ne n\u00e4hert sich bald mehr, bald weniger dem Eindruck Eines Tones, und es zeigt sich, dass dies um so mehr der Fall ist, je konsonanter das Intervall ist. Auch dann, wenn wir die T\u00f6ne als zwei erkennen und auseinanderhalten, bilden sie doch ein Ganzes in der Empfindung, und dieses Ganze erscheint uns bald mehr, bald weniger einheitlich. Wir finden diese Eigenschaft bei einfachen T\u00f6nen ebenso wie bei Kl\u00e4ngen mit Obert\u00f6nen. Dass die Oktave dem wirklichen Unisono \u00e4hnlich klingt, auch wenn wir deutlich zwei T\u00f6ne darin unterscheiden k\u00f6nnen, ist allezeit anerkannt worden, obschon es nichts weniger als selbstverst\u00e4ndlich, sondern eine h\u00f6chst merkw\u00fcrdige Thatsache ist. Dieselbe Eigenschaft kehrt aber in abgeschw\u00e4chter Weise auch bei Quinten und Quarten, ja bei Terzen und Sexten wieder.\nDas ist der Stein, den die Bauleute verworfen haben, den wir zum Eckstein machen.1\nDie Thatsache ist durch die \u00fcbereinstimmende Beobachtung solcher, die musikalisches Geh\u00f6r und zugleich psychologische Beobachtungsf\u00e4higkeit besitzen, nunmehr wohl ausser Zweifel gestellt2, wie sie denn auch in fr\u00fcheren Zeiten den Theoretikern keineswegs g\u00e4nzlich unbekannt war. Um sie noch auf einem indirekten Wege zu kontrolliren, hatte ich versucht, die Ver-\n1\tIch muss in diesem und dem folgenden Abschnitt des Zusammenhangs halber Verschiedenes einflechten, das man bereits in meiner Tonpsychologie findet. Dort handelte es sich zun\u00e4chst um die Feststellung der Verschmelzungserscheinungen, unabh\u00e4ngig vom Problem der Konsonanz, obschon ich nat\u00fcrlich bereits mit K\u00fccksicht auf dieses so ausf\u00fchrlich darauf eingegangen bin. Dass die Konsonanz durch die Verschmelzung zu definiren sei, ist mir zuerst 1880 am Klavier klar geworden, als ich immer wieder den Eindruck der verschiedenen Intervalle untereinander verglich, in der Ueberzeugung, dass irgend ein Moment der Empfindung sie in Hinsicht der Konsonanz und Dissonanz unterscheiden m\u00fcsse. Ausgesprochen habe ich es zuerst 1883, dann 1886 und 1890.\n2\tVgl. meinen Aufsatz \u201eNeueres \u00fcber Tonverschmelzung\u201c, Zeitschr. f. Psychol. XV, S. 280 f. Der Aufsatz wird auch im 2. Hefte gegenw\u00e4rtiger Sammlung erscheinen.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\n36\nschmelzungsstufen durch l\u00e4ngere systematische Versuchsreihen \u00e0n einer gr\u00f6sseren Anzahl von Personen in folgender Weise zu best\u00e4tigen. Wenn zwei T\u00f6ne zugleich angegeben werden, werden sie unter Umst\u00e4nden f\u00fcr einen gehalten, und die Zahl dieser falschen Urtheile wird mit wachsender Verschmelzung des Inter-v\u00e4lls zunehmen, die Zahl der richtigen Urtheile, in welchen die T\u00f6ne als zwei erkannt werden, entsprechend abnehmen. Hierzu sind aber musikalische Personen nicht zu brauchen, weil sie h\u00f6chstens bei Oktaven hie und da, bei anderen Intervallen so gut wie niemals falsche Urtheile liefern. Ich w\u00e4hlte daher Unmusikalische von \u00fcbrigens m\u00f6glichst gleichem Grade der Amusie.\nAus den fr\u00fcher ausf\u00fchrlich mitgeth eilten Ergebnissen m\u00f6gen hier nur folgende Tabellen zusammengestellt werden, die jedesmal von einer anderen Gruppe von Personen herr\u00fchren:\nOctave\tQuinte\n76\t22\n76\t62\n\u2014\t56\nQuarte\tgr. Terz\tTritonus\tgr. Sekunde\n\u2014\t5\t__\t0\n86\t30\t15\t9\n40\t28\t23\t\u2014\nDies sind die Prozentzahlen der falschen Urtheile. Es wurden also z. B. Oktaven unter 100 F\u00e4llen 76 mal f\u00fcr Einen Ton erkl\u00e4rt. Man sieht, wie die Einheitsurtheile abnehmen mit abnehmendem Konsonanzgrade. Man kann auch, wenn man darauf Gewicht legt, eine Kurve hiernach konstruiren, \u00e4hnlich der Dissonanzkurve von Helmholtz.1\nWenn es auch paradox klingt, dass die Grundlage der Musik an Unmusikalischen aufgezeigt werden soll, so ist der Zusammenhang bei n\u00e4herer Ueberlegung doch durchsichtig genug: dieselbe Eigenschaft der Zusammenkl\u00e4nge, welche f\u00fcr den Musiker, indem er sie wahr nimmt, den Konsonanzunterschied ausmacht, dieselbe bedingt, ohne f\u00fcr sich wahrgenommen zu werden, die Unterschiede in den Prozentzahlen der falschen Urtheile \u00fcber die Anzahl der gleichzeitig geh\u00f6rten T\u00f6ne.\nNeuerdings wurden diese Versuche von A. Faist in Graz\n1 Die Tabellen finden sich Tonpsych. II, 145, 148, 168. Die letzte ist die auf S. 167 f. mit \u00df bezeichnete, welche aus dem dort angegebenen Grunde als die zuverl\u00e4ssigste gelten darf. Die Konsonanzkurve daselbst S. 176;","page":36},{"file":"p0037.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\t^\nwiederholt und f\u00fchrten zu dem gleichen Ergebniss. Ich setze wieder die Prozentzahlen der falschen Urtheile hierher :1\nOctave Quinte Quarte gr. Terz Tritonus gr. Sekunde 71\t41\t23\t18\t19\t7\nNur steht hier der Tritonus der grossen Terz so gut wie gleich, was wahrscheinlich darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren ist, dass er mit dem Verh\u00e4ltniss 5 : 7 nahezu zusammenf\u00e4llt und dass dieses in der That eine st\u00e4rkere Verschmelzung besitzt als die eigentlichen sogenannten Dissonanzen.2\nMan hat ausser bei Unmusikalischen auch bei Kindern Gelegenheit, den Eindruck der Intervalle hinsichtlich der Einheit oder Mehrheit von T\u00f6nen zu studiren, und es zeigt sich hier wie in anderen F\u00e4llen von Nutzen, auch das unentwickelte Bewusstsein heranzuziehen. Eine kleine Statistik ergab das Eigen-th\u00fcmli'che, dass Kinder zwischen 5 und 11 Jahren, die noch keinen Musikunterricht genossen hatten, zwei gleichzeitige T\u00f6ne nicht bloss als einen oder zwei, sondern auch vielfach als drei, vier oder f\u00fcnf T\u00f6ne zu h\u00f6ren vermeinten. Aber es zeigte sich nun wieder mit grosser Regelm\u00e4ssigkeit, dass die Anzahl der angeblich geh\u00f6rten T\u00f6ne mit abnehmender Verschmelzung zunahm. Es wird eben eine deutlichere Mehrheit f\u00fcr eine gr\u00f6ssere Mehrheit gehalten.3 Die folgenden Zahlen bedeuten die Summe der T\u00f6ne, welche bei einem Intervall in einer Versuchsreihe geh\u00f6rt wurden, alle F\u00e4lle dieses Intervalls zusammengerechnet:4\nOctave\tQuinte\tgr. Terz\tTritonus\tgr. Sekunde\n21\t32\t50\t\u2014\t\u2014 in je 20 F\u00e4llen\n25\t31\t41\t43\t49j\n26\t33\t34\t43\t5l[\t\u201e \u201e 16\t\u201e\n16\t37\t40\t48\t6ll\n76\t84\t99\t103\t117\t\u201e \u201e 40\t\u201e\n1 Nach Zeitschr. f. Psych. XV, S. 121, wo die s\u00e4mmtlichen Versuchsreihen zusammengerechnet sind, so dass auf jedes Intervall im Ganzen 768 Urtheile entfallen.\n* Siehe die oben erw\u00e4hnte Abhandlung \u201eNeueres \u00fcber T\u00f6nverschmelzung\u201c S. 284 f. Im Abdruck S. 51\n3\tAehnliehes auch gelegentlich bei Fa\u00efst\u2019s Versuchspersonen, Zeitschr. /: Psych. XV, S. 113.\n4\tDie Uebersicht ist aus den einzelnen Tabellen, Tonpsych. II, 371,375, 377, 378, 381 zusammengestellt.","page":37},{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\nC. Stumpf.\nHier mag man nun wiederum paradox finden, dass Individuen, die zu wissenschaftlicher Beobachtung ganz unf\u00e4hig sind, als Zeugen angerufen werden sollen. Aber wir rufen sie nicht als Zeugen verm\u00f6ge ihrer eigenen wissenschaftlichen Beobachtung sondern insofern sie Gegenst\u00e4nde unserer Beobachtung bilden. Wie man die psychische Entwickelung sogar von S\u00e4uglingen aus ihren Bewegungen und sonstigen Aeusserungen zu erschlossen\u2019 sucht, so registriren wir hier Aussagen, um die darin vorfindlichen Regelm\u00e4ssigkeiten zu Schl\u00fcssen zu benutzen. F\u00fcr Naturforscher mag dies Vorgehen auch so betrachtet immer noch etwas Widerstrebendes haben : sie k\u00f6nnen mit ihrem todten und lebendigen Material ganz anders schalten und die Umst\u00e4nde viel genauer fixiren als es bei psychologischen Versuchen und vollends an Kindern m\u00f6glich ist. Ich erkenne dies wohl an und bin weit entfernt, den Ergebnissen allzuviel Gewicht beizumessen. Immerhin sind die gefundenen Regelm\u00e4ssigkeiten gerade hier, wo man sie am wenigsten erwarten mochte, gr\u00f6sser und auffallender als die, mit denen man sonst bei psychologischen Versuchen zufrieden sein muss. Man wird schwerlich umhin k\u00f6nnen, daraus auf irgendwelche konstante Ursachen zu schliessen ; zumal da vielfach auch schon bei den einzelnen Individuen, deren Aussagen hier summirt sind, die gleiche Regelm\u00e4ssigkeit auf trat. Nat\u00fcrlich ist die Erkl\u00e4rung durch die Verschmelzungsgrade auch nicht von vornherein die einzig m\u00f6gliche. Vielleicht findet Jemand eine andere ; vorl\u00e4ufig liegt sie am n\u00e4chsten. Zieht man aber vor, in allem nur ein Spiel des Zufalls zu finden, so kann man auch daran Niemand verhindern; am einfachsten bleibt dies immer.\nUebrigens stehen mit der Verschmelzung, wie ich ausf\u00fchrlich gezeigt habe, eine F\u00fclle von Tliatsachen des gleichzeitigen H\u00f6rens in Zusammenhang1, beispielsweise die von Theoretikern so heftig angegriffene Anwendung von Mixturregistern in den Orgeln, ferner die Erfahrung, dass in einem Einzelklang der zweite Theilton, obgleich er besonders stark ist, am schwersten, dagegen der siebente und neunte besonders leicht herausgeh\u00f6rt werden k\u00f6nnen, ein Faktum, das sich fortw\u00e4hrend aufdr\u00e4ngt, und auf keine andere Weise zu erkl\u00e4ren ist.\n1 S. die im II. Bd. der Tonpsych. S. 581 unter \u201eVerschmelzung c)(\u2018 angef\u00fchrten Stellen, wozu noch S'. 225 und 227 zu f\u00fcgen.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n39\nNoch m\u00f6gen folgende Beobachtungen erw\u00e4hnt sein, die sich k\u00fcrzlich mir und einem Mitbeobachter (Giebing) aufdr\u00e4ngten, als es galt, die gegenseitige Beeinflussung zweier gleichzeitiger T\u00f6ne hinsichtlich ihrer St\u00e4rke zu untersuchen. Es ist bei der Quinte viel schwerer, die St\u00e4rken des einen und anderen Tons gegeneinander abzusch\u00e4tzen, als bei der Septime, und am schwersten ist es bei der Oktave. Man hat den Eindruck, als ob die Intensit\u00e4ten der beiden T\u00f6ne bei den stark konsonirenden Intervallen ineinander \u00fcberfl\u00f6ssen, w\u00e4hrend man bei der Septime, wo die T\u00f6ne vollkommen auseinandertreten, auch ihr St\u00e4rke-verh\u00e4ltniss leichter und genauer beurtheilen kann (es wurde die ,,nat\u00fcrliche\u201c Septime 4 : 7 angewandt, bei der gew\u00f6hnlichen kleinen oder grossen Septime w\u00e4re der Gegensatz wohl noch st\u00e4rker hervorgetreten). Ferner scheint bei Oktave und Quinte der Gesammtklang st\u00e4rker zu sein oder zum mindesten voller als bei der Septime. Es entsteht dort eben \u00fcberhaupt mehr ein Gasammtklang als bei der Septime ; man kann dort eher zugeben, dass eine Summirung der Intensit\u00e4ten stattfinde (wenn dies auch immer nicht in gleichem Sinne wie beim Uni-sono geschieht), w\u00e4hrend bei der Septime, wo der Zusammenklang sich mehr einem blossen Aggregat, einem Nebeneinander indifferenter Theile n\u00e4hert, die ihre Kr\u00e4fte nicht zusammen-schiessen, das Ganze als solches d\u00fcnner, d\u00fcrftiger erscheint. Es ist eben nicht ein Ganzes in gleichvollkommener Weise. Im einen Fall gleichsam ein Bundesstaat, im anderen Fall ein Staatenbund : der Bundesstaat ist kr\u00e4ftiger.\nHieraus sind auch wohl die Ergebnisse einer weiteren Versuchsreihe zu erkl\u00e4ren, \u00fcber welche, wie \u00fcber die ebenerw\u00e4hnte, Dr. M. Meyee in sp\u00e4teren Heften berichten wird. Er hatte einem Beobachter die Aufgabe gestellt, Intervalle zu erkennen oder wenigstens zu sagen, ob Zweiklang oder Einklang vorliege, wobei die Dauer des Eindrucks ausserordentlich verk\u00fcrzt wurde. Dazu wurde nat\u00fcrlich ein gut musikalischer Beobachter gew\u00e4hlt. Ich hatte fr\u00fcher die Vermuthung ausgesprochen (Tonpsych. II, 335), dass auf diesem Wege sich vielleicht die Verschmelzungsstufen gleichfalls experimentell pr\u00fcfen Hessen, indem ich dachte, dass man bei Oktaven \u00f6fter irren, bez. einer l\u00e4ngeren Klangdauer bed\u00fcrfen w\u00fcrde, um ein richtiges Urtheil abzugeben. Das Er* gebniss war nun seltsamer Weise im Ganzen gerade das umgekehrte. Aber der Beobachter selbst gab zu, dass er in der","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nc C. Stumpf.\n\u00e4usserst kurzen Zeit (etwa !/4 Sekunde) zu einem direkten Ur-theil \u00fcber den Fragepunkt gar nicht gekommen sondern durch eine gewisse F\u00fclle des Eindrucks zu der Aussage \u201ezwei T\u00f6ne\u201c bestimmt worden .sei. Es lag also nicht eine Wahrnehmung \u00fcber Einheit oder Mehrheit der T\u00f6ne vor, sondern ein Schluss-Verfahren, und dieses gr\u00fcndete sich auf ein Merkmal, das zwar eine Folge der Verschmelzung ist, aber unter den angegebenen Umst\u00e4nden zu Fehlschl\u00fcssen f\u00fchren musste. So kann man indirekt auch dieses Ergebniss als Best\u00e4tigung ansehen. Doch bed\u00fcrfte es wohl noch weiterer Kontrolle.\nMag man nun auch immer noch experimentelle Pr\u00fcfungen nach verschiedenen Methoden f\u00fcr w\u00fcnschenswerth halten und mag der eine diesem, der andere jenem Argument den Vorzug geben : dass die Grundthatsachen, wie wir sie oben ausgesprochen, im allgemeinen zutreffen, scheint, unter den Psychologen wenigstens, jetzt anerkannt. Und so d\u00fcrfen wir weitergehen: wie verhalten sie sich zur Konsonanz?\nAn sich betrachtet, k\u00f6nnten sie zwar blosse Begleit- oder blosse Folgeerscheinungen der Konsonanzunterschiede sein und sich dazu verhalten etwa wie die Seife zur Civilisation. Wenn ich sie geradezu f\u00fcr das Wesen der Konsonanzunterschiede selbst, f\u00fcr ihr definirendes Merkmal ansehe, so geschieht es schon darum, weil kein anderes sinnenf\u00e4lliges Merkmal zur Definition sich finden will, und weil die wichtigsten und allgemeinsten Thatsaehen der Musik aus dieser Definition abgeleitet werden k\u00f6nnen. Dies letztere werden wir weiter unten (6. und 7. Kap.) zu zeigen versuchen und dann auch die Definition selbst in diesem Zusammenhang noch genauer formuliren.\nAls eine wesentliche und erw\u00fcnschte Best\u00e4tigung f\u00fcr die Uebereinstinunung der Definition mit dem musikalischen Bewusstsein darf es aber auch angesehen werden, dass nicht bloss die Ausdr\u00fccke Konsonanz (av^cptovia = Zusammenklingen) und Dissonanz (diacpwvia \u2014 Auseinanderklingen) augenscheinlich auf Grund dieses Merkmals gebildet sind, sondern dass auch bereits die alten griechischen Schriftsteller, von denen wir zahlreiche Aeusserungen zur Konsonanztheorie besitzen, ausdr\u00fccklich dieses Merkmal als das wesentliche hervorhoben. Von den Pytha-goreern bis zur sp\u00e4testen Zeit des Alterthums finden wir immer klarer und immer einstimmiger die x\u00e7\u00e2ot\u00e7 gleichzeitiger T\u00f6ne als das Charakteristische der \u201eSymphonie\u201c angegeben. Ich will","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n41\naus der Gesammtmasse der Aeusserungen, die ich anderw\u00e4rts zusammengestellt und besprochen habe *, nur die eine Definition des Mathematikers Nikomachus anf\u00fchren: \u201eSymphon sind die Intervalle, wenn ihre ungleich hohen Grenzt\u00f6ne zusammen anschlagen oder sonstwie (zusammen) ert\u00f6nend so miteinander verschmelzen, dass der aus ihnen entstehende Klang einartig und wie ein einziger wird \u2014, diaphon dagegen, wenn der aus beiden entstehende Klang als ein gewissermassen zerschnittener und unverschmolzener geh\u00f6rt wird.\u201c Klarer und sch\u00e4rfer k\u00f6nnen wir auch heute den Unterschied kaum beschreiben.\nSp\u00e4ter ist dieses Merkmal mehr und mehr in Vergessenheit gerathen, indem man immer mehr auf den Gef\u00fchlseindruck der Intervalle achtete. Dadurch entstand unter anderem der heute noch fortdauernde Streit \u00fcber die Konsonanz der Quarte. Wer den Gef\u00fchlseindruck als massgebend ansieht, wjrd hier\u00fcber niemals zu einer eindeutigen Auffassung gelangen (s. o. S. 32), w\u00e4hrend in Hinsicht der Verschmelzung die Quarte zweifellos unter die Konsonanzen, direkt nach der Quinte, zu stehen kommt, wohin sie denn auch von den Alten einstimmig gerechnet wurde. Auch die Verwunderung dar\u00fcber, dass die Alten die Terzen nicht unter die Konsonanzen rechneten, ist nur vom Standpunkt des Gef\u00fchlseindruckes motivirt. Sie stehen in Hinsicht der Verschmelzung in der That den Dissonanzen nahe und es ist an und f\u00fcr sich, ohne Nebenr\u00fccksicht auf andere Kriterien, willk\u00fcrlich, ob man sie mit den vorausgehenden oder mit den darauffolgenden Verschmelzungsstufen unter einem gemeinsamen Sammelnamen zusammenfasst. Erst nachdem der Gef\u00fchlseindruck gleichzeitiger T\u00f6ne in Folge der Entwickelung der mehrstimmigen Musik sich mehr und mehr aus- und umbildete, fand man sich veranlasst, sie zu den Konsonanzen her\u00fcberzunehmen, wo sie allm\u00e4hlich immer mehr zu Ehren gekommen ist. Die Rangordnung der Intervalle in Hinsicht der Verschmelzung ist dadurch aber in keiner Weise ber\u00fchrt worden, es sind nur die\n1 Geschichte des Konsonanzbegriffes, I. Theil. Abhandlungen der M\u00fcnchener Akademie. Phil.-Hist. Kl. 1897. Der zweite Theil wird eine Gesammt\u00fcbersicht einschliesslich der Entwickelung im Mittelalter und der neueren Zeit enthalten und die im Text weiterhin ausgesprochenen Behauptungen rechtfertigen. Auch in meiner Schrift \u201eDie pseudo-aristotelischen Probleme \u00fcber Musik\u201c in den Abhandlungen der Berliner Akademie 1897 ist S. 5\u201411 die antike Krasis-Lehre besprochen..","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nC. Stumpf.\nHauptgruppen allm\u00e4hlich in mehr Untergruppen zerlegt worden, als es anf\u00e4nglich der Fall war.\nDass aber auch in neuerer Zeit dieses Merkmal nicht ganz unbeachtet geblieben ist, zeigen gelegentliche Aeusserungen, wie die des freilich vergessenen Aesthetikers Bendavid : \u201eT\u00f6ne, die zu gleicher Zeit angegeben das Ohr ganz deutlich als verschiedene T\u00f6ne unterscheidet, nannte man Dissonanzen, sowie diejenigen den Namen der Konsonanzen erhielten, bei welchen das Ohr aus der Zusammenstimmung derselben nur Einen Ton zu h\u00f6ren glaubt.\u201c1 Oder die des unvergessenen Begr\u00fcnders der gegenw\u00e4rtigen Musiklehre, Moritz Hauptmann-s, wenn er den Charakter der Dissonanz als ein \u201eAuseinanderklingen\u201c beschreibt (s. o. S. 23). Ich m\u00f6chte sagen, dass selbst einige meiner unmusikalischen Versuchspersonen das Merkmal neu entdeckten, als sie nach dem Grunde ihrer Einheits- und Mehrheitsurtheile gefragt wurden. Sie fanden keinen Unterschied in der Annehmlichkeit der Zusammenkl\u00e4nge. \u201eAber manche T\u00f6ne\u201c, sagten sie, \u201eheben sich besser ab, streben gleichsam auseinander.\u201c Oder : die einen seien \u201ezusammen\u201c, die anderen \u201enebeneinander\u201c (Tonpsyeh: II, 152, 172). Vielleicht \u2022waren diese Personen gerade darum, weil die Gef\u00fchlsunterschiede f\u00fcr sie hinwegfielen, veranlasst und im Stande, den reinen Empfindungsunterschieden gr\u00f6ssere Beachtung zu schenken.\nF\u00fcnftes Kapitel.\nZur Deutung und Erkl\u00e4rung der Yersclimelzungs-erscheinungen.\n1. Ueber die genauere Definition des Verschmelzungsbegriffes selbst ist in den letzten Jahren mancherlei verhandelt worden. Da ich die vorgeschlagenen Modifikationen auch schon selbst in Erw\u00e4gung gezogen hatte, sind meine Bedenken dagegen bereits in den fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen gegeben. Doch will ich kurz noch einmal darauf zur\u00fcckkommen.\n1 L. Bendavid, Versuch einer Geschmackslehre 1799, S. 435.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n43\nGar nichts hat die Verschmelzung, von der hier die Rede ist, mit dem alten Psychologenbegriff der \u201eBewusstseinseinheit\u201c gemein.1 Die Bewusstseinseinheit ist nicht gr\u00f6sser bei 1: 2 als hei 4:5. Wenn sie \u00fcberhaupt Grade besitzt, so stehen diese doch in keiner nothwendigen Beziehung zu den Schwingungs-Verh\u00e4ltnissen der T\u00f6ne.\nFerner geht es nicht an, den Begriff der Tonverschmelzung, wenn anders damit das Grundph\u00e4nomen der Konsonanz bezeichnet sein soll, mit \u201eNichtunterscheidung\u201c zusammenzuwerfen, Zwrar steht es Jedem frei, das Wort Verschmelzung in diesem Sinne zu gebrauchen, aber dann ist eben das eigenth\u00fcmliche Faktum, um das es sich hier handelt, nicht dadurch ausgedr\u00fcckt, und es muss daf\u00fcr wieder ein anderer Ausdruck gesucht werden. W\u00e4re Konsonanz soviel wie Nichtunterscheidung zweier gleichzeitiger T\u00f6ne, so w\u00fcrde in dem Augenblick, wo wir die T\u00f6ne einer Quinte auseinanderzuhalten verm\u00f6gen, ihre Konsonanz in Dissonanz \u00fcbergehen. Nun aber statuiren wir Konsonanz auch da oder vielmehr nur da, wo die beiden T\u00f6ne deutlich als zwei erkannt werden. Indem wir sie unterscheiden, nehmen wir doch zugleich wahr, dass sie in geringerem oder gr\u00f6sserem Grade ein einheitliches Ganzes bilden. Die Verschmelzung ist einer der Faktoren, welche die Nichtunterscheidung zur Folge haben k\u00f6nnen, wie beispielsweise unsere obigen Versuche zeigen. Aber neben diesem Faktor giebt es noch sehr viele andere, wie die Abstufungen der Aufmerksamkeit, das Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltniss, die Dauer der T\u00f6ne, gleich- oder ungleichseitiges H\u00f6ren beider T\u00f6ne u. s. w.\nMit dem genannten Missverst\u00e4ndniss h\u00e4ngt es auch zusammen, wenn man den Verschmelzungsgrad vom Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltniss abh\u00e4ngig sein l\u00e4sst. Eine Dissonanz geht doch nicht in eine Konsonanz \u00fcber, wenn der eine Ton schw\u00e4cher wird. Ist er so schwach geworden, dass wir ihn gar nicht mehr vom anderen unterscheiden k\u00f6nnen, dann finden wir freilich keine Dissonanz, aber auch keine Konsonanz mehr. Ebenso kann der Konsonanzgrad einer Terz nicht durch die blosse Ver\u00e4nderung des Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisses in den einer Oktave verwandelt\n1 Auf welchen sie ein Rezensent meiner Tonpsychologie zur\u00fcckf\u00fchren wollte (M. Dessoir, Zeitschrift f\u00fcr Psychiatrie, Bd. 48).","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nC. Stumpf.\nwerden. Dadurch kann nur die Leichtigkeit der Unterscheidung, aber nicht der Grad der Verschmelzung ver\u00e4ndert werden.\nDie Wahrnehmung des Konsonanz- und Dissonanzgrades ist nat\u00fcrlich insofern von der relativen St\u00e4rke der T\u00f6ne abh\u00e4ngig, als St\u00e4rke-Gleichheit zwischen beiden T\u00f6nen f\u00fcr die Wahrnehmung am g\u00fcnstigsten ist. Aber der Konsonanzgrad, welchen man wahrnimmt, ist in keiner Weise dadurch bedingt.\nEs scheint \u00fcberhaupt nicht, dass wir im Stande sein werden, den Verschmelzungsbegriff tiefer oder verst\u00e4ndlicher zu fassen, als indem wir die Verschmelzung als das Verkn\u00fcpftsein zweier Empfindungsinhalte zu einem Ganzen, oder als Einheitlichkeit, als Ann\u00e4herung des Zweiklanges an den Einklang beschreiben. Wie sich dies ausnimmt, muss man eben h\u00f6ren und kann es Niemand klarmachen, der nicht h\u00f6ren oder Geh\u00f6rserscheinungen nicht beobachten kann.\nZieht man vor, einen Zusammenklang psychologisch \u00fcberhaupt nur als Eine Klangempfindung und die darin unterscheidbaren T\u00f6ne als Theile dieser Empfindung zu bezeichnen, so wird auch dagegen nichts einzuwenden sein, und vielleicht w\u00e4re diese Redeweise noch korrekter ; aber man muss hinzuf\u00fcgen, dass die Theile in mehr oder weniger inniger Weise untereinander verkn\u00fcpft sein k\u00f6nnen, und das ist f\u00fcr uns hier das Wesentliche.\nNur insofern ist eine weitergehende Erl\u00e4uterung denkbar, als man dieses Verh\u00e4ltnis zweier Empfindungen, wonach sie sich zu einem Ganzen zusammenschliessen, innerhalb des umfassenden Rahmens einer allgemeinen Verh\u00e4ltnisslehre betrachtet, das Gemeinsame und das Unterscheidende gegen\u00fcber anderen Grundverh\u00e4ltnissen hervorhebt, vielleicht auch verschiedene Arten der Verschmelzung an Beispielen auf weist. In \u00e4hnlicher Weise k\u00f6nnen wir auch das Wesen einer einfachen Empfindung, z. B. \u201eblau\u201c nicht d\u00e9finir en, man muss es eben sehen; aber wir k\u00f6nnen ihre Stellung innerhalb des Systems der Farben- und Gesichtsempfindungen eharakterisiren. Indessen ist hier nicht der Ort, uns in eine derartige Untersuchung bez\u00fcglich der Empfindungsverh\u00e4ltnisse oder der m\u00f6glichen Verh\u00e4ltnisse zwischen mehreren Elementen \u00fcberhaupt zu vertiefen.1\n1 Am. meisten hat es sich Lipps angelegen sein lassen, den Begriff der Tonverschmelzung besser Als ich es vermochte ins Klare zu bringen (\u201eDer","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n45\n2. Eine andere Frage, auf die ich zur\u00fcckkommen muss, betrifft die M\u00f6glichkeit, die Verschmelzungsthatsaehen auf ihre Ursachen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Zwei Wege sind hier denkbar. Man kann die Ursache zun\u00e4chst noch im psychologischen Gebiet suchen oder sogleich direkt an physiologische Bedingungen denken.\na) Psychologisch scheint mir nur ein Erkl\u00e4rungsversuch unter denen, die ich fr\u00fcher als unannehmbar bezeichnete, noch immer der Erw\u00e4gung werth, obschon die Erw\u00e4gung auch diesmal nur zur Ablehnung f\u00fchrt : es ist der auf die Aehnliehkeit der bez\u00fcglichen T\u00f6ne gegr\u00fcndete. Oktaven, k\u00f6nnte man sagen, sind sich in hervorragendem Masse \u00e4hnlich, auch wenn wir einfache T\u00f6ne w\u00e4hlen, und eben darum m\u00fcssen sie bei gleichzeitigem Erklingen nahezu wie Ein Ton erscheinen.\nEine solche Anschauung wird in der That gegenw\u00e4rtig von verschiedenen Psychologen festgehalten, und sie wird neuerdings von Ebbinghaus geltend gemacht mit der Begr\u00fcndung, dass wir eben dasjenige als \u00e4hnlich bezeichnen, was leicht miteinander verwechselt wird, wenn es getrennt gegeben ist, oder nicht leicht unterschieden werden kann, wenn es zusammen vorliegt.1\nBegriff der Verschmelzung und damit Zusammenh\u00e4ngendes in St.\u2019s Ton-psychologie1, , Philos. Monatshefte XXVIII, 547 f.). Er besch\u00e4ftigt sich zuerst mit meiner Theorie der Aufmerksamkeit, die indessen mit der Verschmelzungslehre nichts zu thun hat, versucht und verwirft dann verschiedene Definitionen des Begriffes, die nicht die meinigen sind, und gelangt schliesslich zu einer Formulirung, die sich von der meinigen kaum noch unterscheidet : Verschmelzung sei Unvollkommenheit der Analyse, (cf. Tonpsych. II, 127), zu unterscheiden von der blossen Erschwerung der Analyse durch mangelhafte Aufmerksamkeit u. dgl. \u201eIch bem\u00fche mich, eine Mehrheit von T\u00f6nen zu analysiren d. h. sie als Mehrheit wahrzunehmen. Diese Bem\u00fchung gelingt bald schwerer bald leichter . . . Gelingt sie aber auch, so gelingt sie doch bald mehr bald weniger vollkommen\u201c (S. 569f.). \u2014 Das nahe Zusammentreffen des Ergebnisses mit dem meinigen kann mich nur erfreuen, wenngleich ich nicht einsehe, warum die dahin f\u00fchrenden Ueberlegungen des Autors in die Form einer fortlaufenden Polemik gekleidet sind.\n1 Ebbinghaus, Grundz\u00fcge der Psychologie I (1897), S. 278 f. Bereits Lipps hatte (a. a. 0. 577) von einer Aehnliehkeit der konsonirenden Tone in diesem Sinne gesprochen. Die Anwendung dieser Aehnlichkeitstheorie auf den Verschmelzungsbegriff soll allerdings erst Ebbinghaus\u2019 zweiter Halb-","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nG. Stumpf.\nIch kann zun\u00e4chst diese Definition der Aehnlichkeit nicht unterschreiben. Aehnlichkeit ist wohl einer der Faktoren, die daran schuld sein k\u00f6nnen, wenn wir zwei Eindr\u00fccke nicht unterscheiden. Aber es giebt noch andere. Wenn z. B. zwei gleichzeitige Eindr\u00fccke sehr kurz dauern, werden sie nicht so leicht unterschieden, als wenn sie l\u00e4nger dauern, ohne darum einander \u00e4hnlicher zu sein. Ja selbst ein momentanes Nachlassen der Aufmerksamkeit kann uns die n\u00e4mlichen zwei Empfindungen, die wir sonst leicht unterscheiden, als Eine erscheinen lassen. Oder sollen wir sagen, dass in solchen F\u00e4llen nur die n\u00e4mlichen Tonschwingungen, nicht aber die n\u00e4mlichen Empfindungen wie sonst vorliegen ? Nun kann es sich doch aber auch um bloss graduelle Unterschiede zweier F\u00e4lle handeln : c und fi% k\u00fcrzer angegeben oder mit weniger gespannter Aufmerksamkeit vernommen, werden vielleicht nicht so deutlich auseinandergehalten, aber doch auch nicht gerade bestimmt als Ein Ton aufgefasst. Haben sie sich dabei f\u00fcr unsere Empfindung in c und des oder in f und fis oder in sonstweiche einander n\u00e4her liegende, \u00e4hnlichere T\u00f6ne verwandelt? Schwerlich m\u00f6chte sich dies durchf\u00fchren lassen, und folglich k\u00f6nnen wir Aehnlichkeit nicht in obiger Weise definiren.\nVergegenw\u00e4rtigen wir uns nun weiter die Konsequenzen jener psychologischen Erkl\u00e4rung. Bei Kl\u00e4ngen mit Obert\u00f6nen ist allerdings eine Aehnlichkeit der konsonanten Grundt\u00f6ne durch die gemeinsamen Theilt\u00f6ne hergestellt, soweit eben solche in gen\u00fcgender St\u00e4rke vorhanden sind. Da aber Verschmelzung sich ebenso auch bei einfachen T\u00f6nen findet, so muss auch bei diesen eine mit den Verschmelzungsgraden parallel gehende Abstufung der Aehnlichkeit angenommen werden. Eine unerl\u00e4ssliche Bedingung hierf\u00fcr ist die Statuirung einer neuen Grundeigenschaft der T\u00f6ne, eines neuen \u201eEmpfindungsmoments\u201c neben der Tonh\u00f6he. Nach der Tonh\u00f6he sind sich c und d unstreitig \u00e4hnlicher als c und e. Dennoch verschmelzen sie weniger. Ebenso e und fis gegen\u00fcber c und g. Die Aehnlichkeit, welche der Verschmelzung zu Grunde hegt, muss also eine Aehnlichkeit in anderer Beziehung sein wie die, welche der H\u00f6henordnung zu Grunde liegt, sonst m\u00fcsste ja auch c3 irgendwie\nband bringen. Doch d\u00fcrfte sie nicht wesentlich von der obigen Fassung abweichen.\nZu dem im Text Folgenden \u00fcber die Aehnlichkeit konsonanter T\u00f6ne vgl. auch meine fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen Tonpsych. II, S. 193 f.","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n47\nzwischen c und des untergebracht werden k\u00f6nnen, da es mit e st\u00e4rker verschmilzt als des. Wir m\u00fcssen also ein besonderes Moment der Tonempfindung annehmen, nennen wir es beispielsweise Toncharakter oder wie man will, in Bezug auf welches Aehnlichkeiten stattfinden, die unabh\u00e4ngig sind von der Schwingungsdifferenz, dagegen abh\u00e4ngig vom Schwingungsver-h\u00e4ltniss.1\nDies kann man nun immerhin thun, wenn auch solche Annahmen dem Prinzip der wissenschaftlichen Sparsamkeit nicht entsprechen, so lange sie nicht durch direkte Beobachtung gest\u00fctzt oder durch fruchtbare Konsequenzen empfohlen werden. Die Beobachtung scheint aber von Aehnlichkeiten solcher Art kein gen\u00fcgendes Zeugniss zu geben. Zwar bei Oktaven haben wir unstreitig diesen Eindruck, und ich muss gestehen, dass ich selbst hier immer wieder versucht bin, auf die fragliche Auffassung zur\u00fcckzukommen. Immerhin kann der Eindruck der Aehnlichkeit hier auch wohl auf Erfahrung beruhen statt auf direkter Empfindung. Oktavent\u00f6ne gelten uns in Folge der musikalischen Gewohnheiten als \u00e4quivalent untereinander, wie sie ja darum auch mit denselben Buchstaben bezeichnet werden. Sie nehmen eine gleiche Stellung zu den \u00fcbrigen Leitert\u00f6nen ein. Dieser Umstand gr\u00fcndet in dem musikalischen System, und dieses selbst wieder in Konsonanzverh\u00e4ltnissen.\n1 Dieses Moment stellt Lipps ausdr\u00fccklich in Abrede: \u201eEs giebt nun einmal f\u00fcr das Bewusstsein kein den harmonischen T\u00f6nen eigent\u00fcmliches, zur H\u00f6he, St\u00e4rke, Tonfarbe hinzutretendes Moment, hinsichtlich dessen die harmonischen T\u00f6ne mit Bewusstsein verglichen, das also als das Aehn-liche in den harmonischen T\u00f6nen oder als die Basis oder das spezifische Objekt des Aehnlichkeitsbewusstseins erscheinen k\u00f6nnte. Dies hindert doch nicht, dass das Aehnlichkeitsbewusstsein oder die Gefahr der Iden-tifizirung besteht\u201c (a. a. 0 . 578).\nF\u00fcr mich w\u00fcrde das Nichtvorhandensein einer solchen Eigenschaft, in Bezug auf welche die Aehnlichkeit stattfinden soll, ein entscheidender Beweis sein, dass die behauptete Aehnlichkeit selbst nicht vorhanden ist. Es erscheint mir \u2014 und soviel ich sehe, bis jetzt allen, die dar\u00fcber nachgedacht haben, ausser Lipps \u2014 als eine logische Unm\u00f6glichkeit, dass wir eine Aehnlichkeit zweier Dinge erfassen sollen, ohne die Eigenschaft mitzuerfassen, worin diese Aehnlichkeit gr\u00fcndet. Wenn wir f\u00fcr diese Eigenschaft nicht sogleich den richtigen Begriff und Namen finden : in unserem Bewusstsein muss sie doch vorhanden und auffindbar sein. So lange es dem scharfsinnigen Forscher nicht gelingt, irgend ein Beispiel f\u00fcr Aehnlichkeiten ohne Fundament zu erbringen, sind sie f\u00fcr mich nur Worte.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nC. Stumpf.\nDie Verschmelzung ist also Ursache der Aehnlichkeit (Aequi-valenz), nicht aber die Aehnlichkeit Ursache der Verschmelzung. So wenigstens l\u00e4sst sich das Verli\u00e4ltniss fassen.1\nGehen wir nun aber zu den Quinten, Terzen, Sexten \u00fcber, so d\u00fcrfte kaum Jemand noch eine besondere Aehnlichkeit der beiden T\u00f6ne finden. Die Quintent\u00f6ne werden im Gegentheil vielfach (wie im Alterthum \u00f6fters auch die Oktavent\u00f6ne) als eine Art Gegensatz bezeichnet, so bei M. Hauptmann und G. Engel. Auch in der Darstellung des Tonreiches durch eine Spirale bei Deobisch kommt dies zum Ausdruck, und Lotze behauptet gleichfalls, dass wir bei der Quinte den Eindruck h\u00e4tten, uns am weitesten von der Tonika entfernt zu haben. James Sully und K\u00fclpe, beide zugleich musikalisch und psychologisch bewandert, finden ausdr\u00fccklich nur bei den Oktaven etwas von Aehnlichkeit.2 Die Gegens\u00e4tzlichkeit der Quintent\u00f6ne ist allerdings, wenn ich recht sehe, auch nur eine Auffassungsweise, die sich erst entwickelt hat, nachdem bereits auf Grund der wahrgenommenen Konsonanzverh\u00e4ltnisse der Kunstbau der Musik entstanden war. Jedenfalls scheint aber aus solchen Aeusserungen hervorzugehen, dass das gegenw\u00e4rtige Musikbewusstsein eine besondere Aehnlichkeit der Quintent\u00f6ne untereinander nicht anerkennt.\nSelbst bei der Oktave ist doch auch noch zu bedenken, dass kaum jemals einer der fr\u00fcheren Beobachter mit vollkommen einfachen T\u00f6nen operirt hat. Sobald auch nur der erste Oberton vorhanden ist, haben wir es bei der Oktave mit einer zusammengesetzten Aehnlichkeit zu thun, die hier nichts beweist. Aus demselben Grunde sind die vorkommenden Verwechselungen zwischen Oktavent\u00f6nen und gelegentlich auch zwischen Quintent\u00f6nen vorl\u00e4ufig ohne Beweiskraft.\nAuch die historische Betrachtung kann hier wieder herangezogen werden. W\u00e4hrend von der Verschmelzung schon bei den alten Pythagereern die Rede ist, wird von der Aehnlichkeit der Oktavent\u00f6ne erst bei viel sp\u00e4teren Schriftstellern gesprochen,\n1\tAuch Helmholtz spricht von Aequivalenz der Oktaven (S. 532\u2014533) und l\u00e4sst bei ihnen keine andere Art von Aehnlichkeit zu als die \u201eVerwandtschaft\u201c. wie sie auch bei Quinten und Terzen gegeben ist, die er durch Obert\u00f6ne erkl\u00e4rt. Die einfachen T\u00f6ne sind ihm also bei der Oktave nicht \u00e4hnlich, wenigstens nicht mehr als bei der Septime.\n2\tJ. Bully, Sensation and Intuition. VII. Essay. K\u00fclpe a. a. O. 317.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n49\nund sie wird dort, wo man sich n\u00e4her damit besch\u00e4ftigt, in den pseudo-aristotelischen Problemen \u00fcber Musik, als blosse Analogie gedeutet.1 Von einer Aehnlichkeit der Quinten- oder Quartent\u00f6ne vollends ist nirgends die Rede. Nur im allgemeinen definirt Ptolem\u00e4us an einer Stelle konsonante T\u00f6ne als \u00e4hnliche T\u00f6ne, macht aber seihst von dieser Definition nirgends wieder Gebrauch, setzt vielmehr alsbald eine andere, auf der Verschmelzung ruhende, daf\u00fcr ein, die dann allem Weiteren zu Grunde liegt. Wenn die Aehnlichkeit das Grundph\u00e4nomen, die Verschmelzung nur die Folge w\u00e4re, so w\u00e4re es bei den Alten doppelt seltsam, dass sie wenig davon sprechen, da ihre Musik vorwiegend melodisch war, die Beobachtung der aufeinanderfolgenden T\u00f6ne also im Vordergr\u00fcnde stehen musste.\nMan m\u00fcsste also, um die Hypothese durchzuf\u00fchren, etwa annehmen, dass die Aehnlichkeit, welche der Verschmelzung zu Grunde liegt, in der Aufeinanderfolge der T\u00f6ne nur eben bei den Oktaven merklich hervortritt, w\u00e4hrend die Aehnlichkeiten schw\u00e4cheren Grades sich erst in ihren Wirkungen beim gleichzeitigen Erklingen geltend machen, f\u00fcr sich allein aber der Wahrnehmung vorl\u00e4ufig noch entgehen. Vielleicht werden sie, k\u00f6nnte man hinzuf\u00fcgen, sp\u00e4teren Jahrhunderten merklicher werden, wenn das Geh\u00f6r sich noch mehr versch\u00e4rft hat, wie ja auch die Konsonanzgrade nach \u2022 und nach deutlicher und differenzirter in die Wahrnehmung getreten sind.\nDiese Aehnlichkeitsunterschiede w\u00fcrden dann aber, wenn wir alles das mit in den Kauf nehmen, ihrerseits doch eine letzte psychologische Thatsache bilden, f\u00fcr die nur etwa physiologisch noch die Grundlage anzugeben w\u00e4re.\nDer Unterschied der beiden Lehren w\u00e4re also, um zusammenzufassen, nur der: dass die eine die Verschmelzung aus einer gewissen Aehnlichkeit der T\u00f6ne herleitet, dabei aber gezwungen ist, zweierlei Aehnlichkeiten zu unterscheiden, die nach der ,,H\u00f6heu und die nach der neuen noch unbenannten Eigenschaft der T\u00f6ne; w\u00e4hrend die andere Lehre die Verschmelzung als ein nicht weiter ableitbares Grundverh\u00e4ltniss neben der Aehnlichkeit anerkennt, dabei aber mit der ersten und unbezweifel-baren Art der Aehnlichkeit von T\u00f6nen auskommt. Man sieht,\n1 S. meine oben S. 41 erw\u00e4hnte Abhandlung \u00fcber die pseudo-aristotelischen Musikprobleme S, 12 f.\nStumpf, Beitr\u00e4ge I.\t^","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nC. Stumpf.\ndass die Zur\u00fcckf\u00fchrung der Verschmelzung auf dies zweifelhafte oder ganz hypothetische zweite Aehnlichkeitsverh\u00e4ltniss nicht einmal aus dem Gesichtspunkt der wissenschaftlichen Sparsamkeit eine Minderausgabe bedeutet.\nWir statuiren daher zwei unabh\u00e4ngige Grandverh\u00e4ltnisse.. Auf dem Aehnlichkeitsverh\u00e4ltniss beruht die stetige Reihenfolge der T\u00f6ne von der Tiefe zur H\u00f6he, auf der Verschmelzung die Gliederung des Tonreiches, die Aussonderung bestimmter \u201eIntervalle\u201c aus der unendlichen Menge der blossen Tonverschiedenheiten. Die Aehnlichkeit h\u00e4ngt ah von den Differenzen, die Verschmelzung von den Verh\u00e4ltnissen der Schwingungszahlen.\nh) Demgem\u00e4ss bleibt uns nur Eine Art der Erkl\u00e4rung: die Angabe der physiologischen Ursachen der Verschmelzung. Wir haben anzunehmen, dass beim gleichzeitigen Erklingen (oder blossen Vorstellen) zweier T\u00f6ne, die ein relativ einfaches Schwingungsverh\u00e4ltnis s zueinander haben, im Gehirn zwei Prozesse stattfinden, die in einer engeren Verkn\u00fcpfung miteinander stehen, als wenn weniger einfache Schwingungsverh\u00e4ltnisse vorliegen. Diose besondere Verkn\u00fcpfungsform oder dieses eigenth\u00fcmliche Zusammenwirken zweier Prozesse habe ich als \u201espezifische Synergie\u201c bezeichnet und damit einiges Aegerniss erregt, zumal bei solchen, denen schon die spezifischen Energien einzelner Nerven-elemente unbequem sind. Gewiss ist mit. einem solchen Ausdruck hier wie dort noch keine Erkl\u00e4rung gegeben. Aber es ist ein ganz bestimmtes Postulat ausgesprochen, dessen man sich bewusst bleiben muss, so lange bis man es erf\u00fcllen kann. Assimilation, Dissimilation, Schwarzprozess, Rothprozess, Nerven-prozess \u00fcberhaupt, und so viele andere Ausdr\u00fccke der Gehirnphysiologie sind nicht von gr\u00f6sserer Dignit\u00e4t.\nUebrigens entsteht die Forderung bestimmter Formen des Zusammenwirkens zweier oder mehrerer Prozesse noch in vielen Gebieten der Gehirnphysiologie, beispielsweise beim Einfachsehen mit nahezu korrespondirenden Punkten beider Netzh\u00e4ute (Punkten von geringer Querdisparation). Es wird in diesem Falle, wie das Stereoskop lehrt, ein einheitlicher Punkt hinter oder vor dem \u201eKernpunkt\u201c gesehen, je nachdem gekreuzte oder gleichseitige Disparation vorliegt. Dieses vollkommen plastisch gesehene Relief ist eine anschauliche Modifikation unserer Empfindung und muss nach den Grunds\u00e4tzen eines gereinigten Nativismus, der","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n51\nmir wenigstens unabweisbar scheint und jetzt unverkennbar immer mehr in das wissenschaftliche Bewusstsein eindringt, auf einem physiologischen Prozess beruhen, den man wiederum als eine Synergie der bez\u00fcglichen Netzhautstellen, bezw. ihrer zentralen Repr\u00e4sentanten, bezeichnen mag. Damit kehren wir nicht zur alten Lehre von den identischen Netzhautstellen zur\u00fcck; denn wir lassen nicht eine bestimmte Netzhautstelle nur mit einer Stelle der anderen Netzhaut Zusammenwirken, sondern mit verschiedenen in verschiedener Weise, wenn auch nach bestimmten Gesetzen, ebenso wie ein Ton nicht mit einem anderen, sondern mit verschiedenen in verschiedener Weise verschmilzt. Mit allem dem ist doch immer nur der Forderung Ausdruck gegeben, dass jeder Modifikation der Empfindung eine physiologische Modifikation der Gehirnprozesse entspricht.\nDiejenigen, welche an der Ausmalung von m\u00f6glichen Vorstellungsweisen Gefallen finden, werden unschwer auch f\u00fcr die Verschmelzungs-Synergien konkretere Vorstellungen einsetzen. Freilich die blosse Uebersetzung der psychologischen Verschmelzung der T\u00f6ne in eine physiologische Verschmelzung zweier akustischer Nervenprozesse in Einer Ganglienzelle w\u00fcrde mir nicht viel aufkl\u00e4render scheinen als Onkel Br\u00e4sig\u2019s Erkl\u00e4rung der grossen Armuth aus der grossen pauvret\u00e9. Aber auf den besonderen Umstand k\u00f6nnte man beispielshalber verweisen, dass jeder Ton gem\u00e4ss der Resonanztheorie des H\u00f6rens ausser der auf ihn abgestimmten Faser auch die seinen Untert\u00f6nen entsprechenden Fasern der Basilarmembran (anders gesagt : die Fasern, in deren Schwingung er selbst als Oberton enthalten ist) unter Bildung von Knotenpunkten in Schwingungen versetzt. Diesen Umstand benutzt neuerdings Ebbinghaus 1 zur Erkl\u00e4rung der oben besprochenen Aehnlichkeit der konsonirenden T\u00f6ne. Man kann ihn aber ebensowohl auch zur direkten Erkl\u00e4rung der Verschmelzung heranziehen.1 2 Aber leider kann die Lehre von den mitschwingenden Fasern \u00fcberhaupt nur noch als Bild, nicht als Ausdruck des wirklichen Sachverhaltes gelten, schon weil es\n1\tNach brieflicher Mittheilung im Anschluss an seine noch unvollst\u00e4ndigen \u201eGrundz\u00fcge der Psychologie\u201c.\n2\tIch habe selbst darauf gelegentlich hingewiesen, um daraus in Verbindung mit anderen Faktoren eine generelle Entwickelung der Verschmelzungsstufen hypothetisch abzuleiten. Tonpsych. II, 218.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nC. Stumpf.\nphysikalisch so gut wie unm\u00f6glich erscheint, dass so winzige Gebilde auf die f\u00fcr uns h\u00f6rbaren T\u00f6ne noch mitschwingen sollen ; aber auch wegen der Schwierigkeiten im Gebiete der Difterenz-t\u00f6ne.1 Auch ist ohne Zweifel der letzte physiologische Grund der Verschmelzung nicht im Organ, sondern im Zentrum zu suchen, schon darum, weil die Verschmelzung sich auch bei ungleichseitigem H\u00f6ren sowie bei der blossen Vorstellung der T\u00f6ne geltend macht.\nEine andere Hypothese w\u00e4re, dass die zentralen Prozesse bei den verschiedenen Verschmelzungsstufen eine Art Mosaik darstellen, ein feineres bei den h\u00f6heren, ein gr\u00f6beres bei den niederen Verschmelzungsstufen. F. Brentano hat angedeutet, dass die Verschmelzung der Tonempfindungen schon innerhalb des psychologischen Gebietes auf einem solchen Mosaik der Empfindung beruhe.2 Zwei Tonempfindungen k\u00f6nnten in unserem Bewusstsein nur unter der Bedingung gleichzeitig existiren, dass sie sich \u00e4hnlich wie zwei gleichzeitige Farben in einen gewissen Raum theilen, was dann eben in verschiedener Weise geschehen kann. Von einem solchen Nebeneinander der T\u00f6ne zeigt uns freilich das Bewusstsein nichts, und darum d\u00fcrfte die Lehre in dieser Form schwerlich Eingang finden. Aber es steht nichts im Wege, sich eine analoge Vorstellung in Hinsicht der physiologischen Prozesse zu machen, auf denen gleichzeitige Tonempfindungen und ihre Verschmelzungsgrade beruhen.\nG. E. M\u00fcller wiederum meint, \u201ees d\u00fcrfte nicht allzu schwer sein, die Thatsache der Klangempfindung und Klanganalyse an der Hand der modernen Neurontentheorie befriedigender zu erkl\u00e4ren, als dies durch ein Operiren mit dem Wort Verschmelzung geschieht.\u201c 3 Aber vorl\u00e4ufig sind dies erst recht nur Worte. Ich meine nicht die Neuronten, aber das Versprechen einer be-\n1\tSiehe M. Meyer, \u201eZur Theorie der Differenzt\u00f6ne und der Tonempfindungen \u00fcberhaupt.\u201c Zeitschr. f. Psych. XVI, S. 1. Die Abhandlung wird im n\u00e4chsten Hefte dieser Sammlung abgedruckt.\n2\tBericht \u00fcber den III. Internationalen Kongress f\u00fcr Psychologie zu M\u00fcnchen (1896), S. 117.\n3\tZeitschr. f. Psych. X, 48. Vielleicht denkt der Verfasser an eine mehr oder weniger innige Umklammerung der Ausl\u00e4ufer (Dendriten) einer Ganglienzelle durch die einer anderen, etwa noch in Verbindung mit dem Umstand, dass, wie behauptet wird, auf solche Weise eine Zelle bald mit dieser bald mit jener anderen in Zusammenhang treten kann.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n53\nfriedigenden Erkl\u00e4rung aus ihnen. M\u00f6chte baldigst die That folgen ! \u2014 Mir scheint die Sache noch in dem Stadium zu liegen, in welchem es besser ist, mit Newton kurzweg zu sagen: hypotheses non fingo.\nEs d\u00fcrfte sich empfehlen, bei der Nachforschung hier\u00fcber auch die anderen Sinne im Auge zu behalten, und zwar weniger vielleicht den Farbensinn, als den Geschmacks- und Geruchssinn. Wie ich bei Zwaaedemakee 1 lese, entwarf der englische Parfumeur Piesse 1877 eine chromatische Geruchsleiter von 6l/2 Oktaven, die bei Fachgenossen Zustimmung fand. Darin sind einerseits die nur wenig verschiedenen Ger\u00fcche nebeneinander-gestellt (so unterscheidet sich die Rose und das Pelargonium odoratissimum nur um einen sog. Halbton), andererseits aber finden sich in weiterem Abstand voneinander gewisse Ger\u00fcche, \u201edie sich ausgezeichnet vermischen lassen\u201c. So liegen der Vanille-, der Heliotrop- und der Mandelgeruch jedesmal \u201ezwei Oktaven\u201c auseinander. Zwaaedemakee, der dieses Gebiet zuerst streng wissenschaftlich durchforscht hat, glaubt, dass man mit H\u00fclfe der neueren Chemie diese Ideen noch besser ausgestalten k\u00f6nne. Danach werden die chemischen Grundstoffe in homologe Reihen geordnet, deren physikalische Eigenschaften eine periodische Funktion der Atomgewichte sind, und es scheint, dass sich auch die Geruchseigenschaften dieser Anordnung f\u00fcgen. Damit w\u00e4re freilich zun\u00e4chst nur eine exakte physische Unterlage f\u00fcr die Anordnung und die Verschmelzung der Ger\u00fcche gefunden, vergleichbar der Entdeckung der Schwingungsdifferenzen und Schwingungsverh\u00e4ltnisse in der Tonlehre. Aber bei der einfacheren Struktur und allgemeineren Verbreitung des Geruchssinnes k\u00f6nnte die Spur hier leichter auf das physiologische Gebiet verfolgt und die Vorg\u00e4nge bei Thieren vielleicht sp\u00e4ter einmal seihst experimentell untersucht werden.\nUehrigens sind wir in physiologischer Hinsicht bei der Konsonanz oder Verschmelzung der T\u00f6ne keineswegs schlimmer daran als sonst fast \u00fcberall, wo es sich um die physiologischen Bedingungen elementarer Bewusstseinsthatsachen handelt. Wissen wir etwas \u00fcber die Gehirnvorg\u00e4nge, die einem einzelnen Ton, einer Farbe, einem Geruch entsprechen? Ueber die der r\u00e4umlichen Lokalisation, der Vertheilung der Farbeneindr\u00fccke im\n1 Physiologie des Geruches 1895, S. 268.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nC. Stumpf.\nGesichtsfeld? Oder \u00fcber die der Vorstellungsverkn\u00fcpfung und der Erinnerung? Oder des Zeitbewusstseins? Wenn man ehrlich sein will, muss man mit Nein antworten.\nAuch wer die Dissonanz auf Schwebungen zur\u00fcckf\u00fchrt, ist in der n\u00e4mlichen Verlegenheit, die Gehirnprozesse bei Schwebungen zu schildern. Wer die Konsonanz als Aehnlichkeit, sei es durch Theilt\u00f6ne, sei es durch die Grundt\u00f6ne selbst, definirt, nicht minder. Und fragen wir : wie kommt es, dass die T\u00f6ne mit wachsender Schwingungszahl f\u00fcr unsere Empfindung ,,in die H\u00f6he steigen\u201c, und dass jeder neue Ton dem Ausgangston weniger \u00e4hnlich wird? \u2014 so bleibt der Gehirnphysiologe uns selbst f\u00fcr diese Grundthatsache der Tonempfindungen ebenso die Erkl\u00e4rung schuldig wie f\u00fcr die der Verschmelzung.\nSetzen wir schliesslich den Fall, dass es einmal gelungen w\u00e4re, die chemischen oder molekular-mechanischen Vorg\u00e4nge in der Hirnrinde, worauf die Tonverschmelzung beruht, aufs Genaueste anzugeben : so muss man auch nicht meinen, dass wir mit dieser sog. \u201eZur\u00fcckf\u00fchrung\u201c des Psychischen aufs Physische \u00fcber die Natur der Tonverschmelzung irgendwie kl\u00fcger geworden w\u00e4ren. Wir w\u00fcrden im Stande sein, ihre Gesetze genauer und vollst\u00e4ndiger zu formuliren, die einzelnen Thatsachen unter allgemeinere Gesichtspunkte zu bringen, auch die Ausnahmen und Beschr\u00e4nkungen (z. B. das Hinwegfallen der Verschmelzungsunterschiede in den h\u00f6chsten Tonregionen) zu verstehen und abzuleiten; und damit w\u00e4re freilich viel gewonnen. Nicht aber k\u00f6nnten wir das Wesen der Verschmelzungserscheinungen selbst, den Eindruck der Oktave, der Quinte f\u00fcr das Bewusstsein, in welchem die Empfindungen doch allein als solche existiren, genauer und verst\u00e4ndlicher beschreiben. In diesem Sinne kann man Bewusstseinserscheinungen nur aus sich selbst verstehen. Und es ist n\u00fctzlich, sich dies recht klar zu vergegenw\u00e4rtigen, damit man nicht das, was wir in der Hand halten, allzu gering sch\u00e4tze gegen\u00fcber dem, was noch auf dem Dache sitzt.","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n55\nSechstes Kapitel.\nScheinbare Hindernisse der Verschmelzungsdefinition.\nNun bleiben zun\u00e4chst gewisse Schwierigkeiten zu l\u00f6sen, welche sich der Durchf\u00fchrung des V erschmelzungsbegriff es in der Konsonanzlehre anscheinend von vornherein entgegenstellen, und auf welche doch weder die alten Schriftsteller noch die neueren, die sich diesen Begriff angeeignet haben, aufmerksam geworden zu sein scheinen.\n1. Die Konsonanz aufeinanderfolgender T\u00f6ne.\nVor allem entsteht die Frage, wie sich der Begriff bei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen anwenden l\u00e4sst. Denn Verschmelzung ist ein Ph\u00e4nomen gleichzeitiger T\u00f6ne, f\u00e4llt also, sollte man denken, hei der blossen Aufeinanderfolge hinweg. Alle T\u00f6ne m\u00fcssten dann dissonant oder vielmehr keins von heidem sein.\nDie Schwierigkeit wird dadurch noch verst\u00e4rkt, dass nach Versuchen, \u00fcber welche demn\u00e4chst berichtet werden soll, die Urtheile \u00fcber die Reinheit von Konsonanzen bei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen ebenso fein, speziell bei Terzen und Oktaven sogar viel feiner sind als wenn dieselben T\u00f6ne zugleich angegeben werden, ein Verhalten, welches der gew\u00f6hnlichen Erwartung zuwiderl\u00e4uft, aber mit voller Deutlichkeit aus den Tabellen hervorgeht. So erfolgten z. B. etwa 70 \u00b0/0 richtige Urtheile bei einer Vergr\u00f6sserung der grossen Terz um 2,18 Schwingungen, wenn die T\u00f6ne auf einanderfolgten, dagegen erst bei einer Vergr\u00f6sserung um 5 Schwingungen, wenn sie gleichzeitig waren. Ebenso erfolgten etwa 90 \u00b0/0 richtige Urtheile bei einer Ver-kleinerung der Oktave um 0,46 Schwingungen, wenn die T\u00f6ne auf einanderfolgten, dagegen ebensoviele erst bei einer Verkleinerung von 3,1 Schwingungen, wenn sie gleichzeitig waren.\nSehen wir zun\u00e4chst von dieser besonderen Thatsache ab und halten uns nur an die allgemeine Frage, wie die Konsonanz aufeinanderfolgender T\u00f6ne \u00fcberhaupt erkannt werden kann, so hat gegen\u00fcber dieser Frage unstreitig die Lehre, welche die Verschmelzung auf Aehnlichkeiten zur\u00fcckf\u00fchrt und sonach die Aehn-lichkeit als das prim\u00e4re Merkmal der Konsonanz betrachtet, einen","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nG. Stumpf.\ngrossen Vortheil; denn die Aehnlichkeit bleibt nat\u00fcrlich auch bei der blossen Aufeinanderfolge bestehen.\nDa wir aber diese Anschauung sonst nicht durchf\u00fchrbar fanden, m\u00fcssen wir doch versuchen, die Antinomie auf Grund des Verschmelzungsbegriffes selbst zu l\u00f6sen. Drei Thatsachen in Verbindung miteinander scheinen mir hierzu den Schl\u00fcssel zu bieten :\na)\tDie Verschmelzung bleibt auch erhalten, wenn wir zwei gleichzeitige T\u00f6ne, statt sie wirklich zu h\u00f6ren, nur vorstellen. Dies ist eine Aussage der Erfahrung, von allen best\u00e4tigt, die hier\u00fcber beobachtet haben. Stellt man sich Oktaven vor, so hat man denselben Eindruck der Einheitlichkeit wie beim wirklichen H\u00f6ren. Man kann sie gar nicht anders als mit dieser Eigenschaft vorstellen. Aehnlich bei der Quinte u. s. w. Nur infolge dieser Thatsache ist ein Komponiren ohne Instrumente m\u00f6glich-\nb)\tJeder Empfindungsinhalt bleibt, nachdem die Empfindung selbst vor\u00fcber ist, noch eine Zeit lang als Vorstellung im Bewusstsein. Wenn wir einen nicht zu langen Satz h\u00f6ren, sind die bereits gesprochenen Worte noch dem Bewusstsein gegenw\u00e4rtig, w\u00e4hrend das letzte ausgesprochen wird. Dadurch ist erst das Verst\u00e4ndniss des Ganzen m\u00f6glich. Ebenso hei einer Melodie, bei einer gesehenen Bewegung.1\nHieraus in Verbindung mit a) folgt ohne weiteres, dass auch\n1 Exner\u2019s \u201eprim\u00e4re Ged\u00e4chtnissbilder\u201c, F. Brentano\u2019s \u201eurspr\u00fcngliche Assoziationen\u201c \u2014 nicht zu verwechseln mit den Naehempfindungen, die heim Ohr nur eine verschwindend kurze Dauer besitzen.\nW. Stern hat k\u00fcrzlich, angeregt durch F. Schumann, gegen die obige, sonst ziemlich allgemein anerkannte Lehre Einspruch erhoben (Zeitschr. f. Psych. XIII, 325 f.). Ich kann mich von der Triftigkeit seiner Ausf\u00fchrungen vorl\u00e4ufig nicht \u00fcberzeugen, muss aber hier von einer Besprechung als zu weit f\u00fchrend absehen. Wenn wirklich die Lehre von den prim\u00e4ren Ge-d\u00e4chtnissbildern, jenen gleichsam abgeschiedenen Seelen der Empfindungen, die auf die lebendigen zur\u00fcckwirken, noch einer Revision bed\u00fcrftig und f\u00e4hig ist und es sich nicht bloss um eine verschiedene Ausdrucksweise f\u00fcr dieselbe Thatsache der inneren Wahrnehmung handelt, so d\u00fcrfte es doch nicht leicht fallen, die einfachste und genaueste Beschreibung f\u00fcr die Bewusstseinserscheinungen in dieser Richtung zu finden. Jedenfalls ist es an den Vertretern der neuen Anschauung, sie mit den Konsonanzthatsachen in Uebereinstimmung zu bringen. Man wird dann eben, wie mir auch F. Schumann m\u00fcndlich andeutet, neben der gleichzeitigen eine successive Verschmelzung annehmen und sie entsprechend definiren m\u00fcssen.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n57\nbei blosser Buccession zweier T\u00f6ne die Verschmelzung stattfindet. Der zweite Ton, der empfunden wird, verschmilzt mit dem ersten, der noch vorgestellt wird; oder sie verschmelzen, nachdem auch der zweite vor\u00fcber ist, beide als Vorstellungen; oder auch es wird, wenn man weiss, um welches Intervall es sich handelt und nur die Reinheit zu beurtheilen ist, der folgende Ton bereits w\u00e4hrend des ersten oder in der Zwischenpause vorgestellt und dann nur die Uebereinstimmung oder Abweichung der Intonation beim wirklichen Eintritt beurtheilt.\nEs kann aber auch die Verschmelzung jedes der beiden aufeinanderfolgenden T\u00f6ne mit einem gemeinschaftlichen dritten, der nur vorgestellt wird, erkannt werden. Wir k\u00f6nnen, wie Helmholtz und schon Fr\u00fchere richtig bemerkt haben, bei dem Schritt von c zu d den Ton g mitvorstellen, mit welchem jeder der beiden T\u00f6ne konsonirt (sogenannte indirekte Verwandtschaft). Welch\u2019' ungeheure Rolle \u00fcberhaupt das gleichzeitige Vorstellen anderer T\u00f6ne ausser den augenblicklich geh\u00f6rten in der Musikauffassung spielt, wollen wir hier nicht n\u00e4her auseinandersetzen. Wer auch nur \u00fcber die Bedeutung der Tonika und Dominante f\u00fcr unsere Auffassung der Melodie nachgedacht hat, wird dar\u00fcber nicht im Zweifel sein. \u201eEs kommen, sagt der alte Ph. Em. Bach, bei der Musik viele Dinge vor, die man sich einbilden muss, ohne dass man sie wirklich h\u00f6rt.\u201c Die Verwandlung der Succession in Gleichzeitigkeit ist also nichts K\u00fcnstliches und Besonderes, sondern ein durchaus allgemeiner und best\u00e4ndiger Zug unseres musikalischen Bewusstseins.\nMan wende nicht ein, dass nach dieser Darstellung die melodische Folge von T\u00f6nen \u00fcberhaupt in eine Art von Zusammenklang verwandelt werde, sei es auch in der blossen Vorstellung, dass es also auf dasselbe hinausk\u00e4me, wie wenn wir die T\u00f6ne einer Melodie von vornherein alle auf einmal angeben. Es ist immer noch ein grosser Unterschied, ob wir etwas gleichzeitig vorstellen und ob wir es als Gleichzeitiges vorstellen. Wir stellen den soeben geh\u00f6rten Ton gegenw\u00e4rtig vor, aber nicht als gegenw\u00e4rtigen, sondern mit dem Zeitindex des \u201eJ\u00fcngstvergangenen\u201c ; ebenso wie wir die Bewegung eines K\u00f6rpers, obschon ihre bereits wahrgenommenen Stadien unserem Bewusstsein noch gegenw\u00e4rtig sind, doch nicht als einen ruhenden K\u00f6rper von der L\u00e4nge der ganzen Bewegung erblicken.\nAuch den Einwand brauchen wir nicht zu f\u00fcrchten, dass wir","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nC. Stumpf.\nuns nun doch zu dem bedenklichen Rekurs auf die Erinnerung gezwungen s\u00e4hen, den wir oben hei der Kritik der Helmholtz-schen Lehre als unthunlich bezeichneten. Einmal sind die prim\u00e4ren Ged\u00e4chtnissbilder, welche sich unmittelbar an die Empfindung schliessen, nicht identisch mit den Erinnerungsbildern, welche erst nach kurzer oder langer Zwischenzeit wieder auftauchen. Sodann und haupts\u00e4chlich ist der Unterschied, dass den einfachen T\u00f6nen gerade jenes Merkmal, auf das es der Helmholtz\u2019sehen Theorie ankam, fehlte und hei der Erinnerung an zusammengesetzte Kl\u00e4nge nur noch deutlicher als fehlend erkannt werden musste, w\u00e4hrend das Merkmal der Verschmelzung den blossen Vorstellungen zweifellos zukommt und direkt an ihnen erfasst werden kann.\nc) Wenn nun aus dem Gesagten begreiflich wird, dass wir \u00fcberhaupt im Stande sind, aufeinanderfolgende T\u00f6ne als konsonante zu erkennen, so bleibt doch noch die besondere Schwierigkeit zu l\u00f6sen, dass die Reinheit eines Intervalls in solchem Fall ebenso gut, ja unter Umst\u00e4nden besser erkannt wird wie bei gleichzeitigen T\u00f6nen. Denn man k\u00f6nnte doch zun\u00e4chst schliessen, dass bei der geringeren Intensit\u00e4t und Deutlichkeit der blossen Vorstellung gegen\u00fcber den Empfindungen das Urtheil in diesem Fall unsicherer w\u00fcrde und dass man \u00fcberhaupt besser Empfindung mit Empfindung als Empfindung mit Vorstellung vergleichen k\u00f6nne.\nDie Erkl\u00e4rung d\u00fcrfte zum Theil wieder in einer allgemeineren Thatsache liegen. Es ist nicht bloss bei Intervall-urtheilen, sondern es ist \u00fcberhaupt so : Zwei Eindr\u00fccke werden, wie schon E. H. Webeb ausgesprochen hat, in jeder Hinsicht besser miteinander verglichen, wenn sie aufeinanderfolgen (oder nur durch eine ganz kurze Pause getrennt sind), als wenn sie gleichzeitig sind.1 Bei gleichzeitigen Eindr\u00fccken finden wir uns oft, um zur vollen Klarheit zu gelangen, geradezu gen\u00f6thigt, die einzelnen Glieder w\u00e4hrend der Dauer der Empfindung in der Vorstellung ab wechseln zu lassen, d. h. die Aufmerksamkeit bald dem einen, bald dem anderen vorzugsweise zuzuwenden und so ein Surrogat der Aufeinanderfolge herzustellen. Auch die Vergleichung zweier Linien im Gesichtsfeld macht, wie man sich leicht \u00fcberzeugen wird, keine Ausnahme hiervon.\n1 Vgl. hier\u00fcber Tonpsych. I, 100; II, 60\u201467.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n59\nOb man nun diese allgemeine Thatsache selbst noch weiter erkl\u00e4ren kann, ist nicht mehr eine Angelegenheit der Tonlehre. F\u00fcr diese gen\u00fcgt es, erkannt zn haben, dass die darin etwa noch liegenden und der Aufkl\u00e4rung bed\u00fcrftigen Paradoxien mit der besonderen Art, wie man die Konsonanz definirt, nichts zu thun haben.\nDoch kommen ausser dieser allgemeinen Thatsache noch manche andere Umst\u00e4nde in Betracht. Der Unterschied zwischen der Sch\u00e4rfe des Reinheitsurtheils bei aufeinanderfolgenden und bei gleichzeitigen T\u00f6nen ist, wie erw\u00e4hnt, von ungleicher Gr\u00f6sse bei verschiedenen Intervallen. Er scheint besonders gross zu sein f\u00fcr die Terzen und f\u00fcr die Oktaven, w\u00e4hrend die Quinten in der Aufeinanderfolge und in der Gleichzeitigkeit nahezu gleich gut beurtheilt werden. Dies d\u00fcrfte mit der geringen Distanz der Terzt\u00f6ne voneinander und mit der starken Verschmelzung der Oktavent\u00f6ne Zusammenh\u00e4ngen. Die Quinten halten in beiden Beziehungen die Mitte und sind zugleich als das haupts\u00e4chlichste Stimm-Intervall vor allen anderen durch die Uebung beg\u00fcnstigt.\nEs ist aber auch keineswegs nothwendig, dass das Kriterium, wonach wir den Konsonanzgrad eines Intervalls erkennen, zugleich f\u00fcr die Reinheit des Intervalls ben\u00fctzt werde. Vielmehr scheint es, dass kleine Abweichungen vom Reinheitspunkte sich uns vor allen Dingen durch ein eigenth\u00fcmliches Gef\u00fchl kundgeben: zu kleine Intervalle ber\u00fchren uns matt, fade, schal, zu grosse scharf, herb, gleichsam versalzen; und dies in gleicher Weise, mag es sich um Oktaven, Quinten oder Terzen handeln.\nAuch die Lehre, welche die Konsonanz auf Aehnlichkeit zur\u00fcckf\u00fchrt, muss hier zu einem H\u00fclfskriterium greifen. Wenn gefragt wird, welcher von dreien, nur ganz wenig verschiedenen T\u00f6nen die reine Quinte zu einem gegebenen Ton bildet, so wird die Entscheidung sicherlich nicht nach dem Prinzip der gr\u00f6sseren Aehnlichkeit getroffen. So gestellt, w\u00fcrde die Frage vielmehr gar nicht verstanden.\nMit diesen etwas fragmentarischen Bemerkungen m\u00fcssen und k\u00f6nnen wir uns hier begn\u00fcgen, wo es nur darauf ankommt zu zeigen, dass die Thatsachen der Beurtheilung aufeinanderfolgender T\u00f6ne nicht von vornherein mit dem Verschmelzungsprinzip unvertr\u00e4glich sind, nicht aber darauf, positiv alle Einzelheiten des Urtheilsherganges zu erkl\u00e4ren.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nC. Stumpf.\n2. Die Priorit\u00e4t der homophonen Musik.\nEine andere, anf\u00e4nglich nicht minder bedenkliche Schwierigkeit gegen die Definition der Konsonanz durch die V er Schmelzung gleichzeitiger T\u00f6ne ist historischer und ethnologischer Art. Wenn das Grundph\u00e4nomen der Musik nur in der Gleichzeitigkeit zu Tage tritt, sollte man da nicht erwarten, dass die Musik zuerst harmonisch, dann melodisch sein m\u00fcsste, w\u00e4hrend der Gang der umgekehrte war? Und wie ist der weitaus \u00fcberwiegende Gebrauch einstimmiger Musik unter den V\u00f6lkerschaften der Erde zu begreifen?\nDass nach den vorangehenden Er\u00f6rterungen die Verschmelzung sich infolge der Gleichzeitigkeit von Empfindung und Vorstellung auch hei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen geltend macht, gen\u00fcgt nicht, um die Schwierigkeit zu heben. Denn es w\u00e4re eine sehr unwahrscheinliche Annahme, dass die Verschmelzungsunterschiede urspr\u00fcnglich schon bei der blossen Aufeinanderfolge sich dem Bewusstsein aufgedr\u00e4ngt h\u00e4tten. Zuerst m\u00fcssen sie doch an wirklichen Empfindungen beobachtet worden sein.\nHier kommt nun eines der Helmholtz\u2019sehen Prinzipien, das der Verwandtschaft durch gleiche Theilt\u00f6ne, zu einer gewissen, wenn auch beschr\u00e4nkten Geltung. S\u00e4mmtliche in der Praxis angewandten Kl\u00e4nge enthalten mehr oder weniger Obert\u00f6ne, und wir haben bereits hervorgehoben, dass mindestens hei der Oktave die dadurch bewirkte Aehnlichkeit der Kl\u00e4nge sich f\u00fcr das Bewusstsein geltend macht. So kann also die Wahrnehmung dieser Klangverwandtschaft zur Aussonderung der Oktave und vielleicht auch noch der Quinte unter der unendlichen Menge m\u00f6glicher Tonkombinationen und zum Gebrauch dieser Intervalle in den urspr\u00fcnglichsten Melodien beigetragen haben.\nAllein, wenn auch h\u00fclfreich, ausreichend ist das Prinzip auch hier nicht ; denn es ist im h\u00f6chsten Masse unglaublich, dass die Urmusik sich bloss in Oktaven- und Quintenintervallen bewegt h\u00e4tte. Und wenn mail auch noch etwa die durch indirekte Verwandtschaft sich daraus ergebende Sekunde, den zweiten Ton unserer auf steigenden Leiter, dazu nehmen wollte : es kommen mit diesem Tonmaterial c, d, <7, c1 immer noch ganz unsangbare Weisen heraus, die mit den primitivsten Melodien (wenn wir uns diese nach Analogie der gegenw\u00e4rtigen Ges\u00e4nge unter den St\u00e4mmen niederster Kultur vorstellen) keine Aehnlichkeit","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n61\nbesitzen. Indirekte Verwandtschaft h\u00f6heren Grades aber, durch welche allerdings auch eine Art von Terz (die pythagoreische) gefunden werden kann, ist \u00fcberhaupt nicht f\u00fcr das Bewusstsein vorhanden, jedenfalls nicht f\u00fcr das urspr\u00fcngliche. Diese Terzen sind ein Produkt des kl\u00fcgelnden Verstandes und der Rechnung. Helmholtz selbst sagt S. 422 : \u201eDas Intervall der Terz ist schon nicht mehr so deutlich durch leicht wahrnehmbare Obert\u00f6ne begrenzt, dass es sich von vornherein dem Ohr unge\u00fcbter Musiziren-der bestimmt aufgedr\u00e4ngt h\u00e4tte.\u201c Vgl. S. 584.\nHierzu kommt noch, dass wir uns, wenn f\u00fcr die melodische Musik nur das Prinzip der Verwandtschaft, f\u00fcr die harmonische aber das der Verschmelzung herangezogen w\u00fcrde, dem Vorwurf einer doppelten Definition, den wir bei Helmholtz bedenklich fanden, gleichfalls aussetzen w\u00fcrden.\nIn der That l\u00e4sst sich nun, wie ich glaube, das Verschmelzungsprinzip doch auch f\u00fcr die fr\u00fcheren Entwickelungsstadien der Musik durchf\u00fchren; doch muss ich mich hier dem ungeheuren Material gegen\u00fcber auf wenige Andeutungen beschr\u00e4nken.\nVor allem verlangt das Prinzip gar nicht, dass die Musik im Anfang harmonisch oder mehrstimmig gewesen sein m\u00fcsste,, sondern nur: dass die Entdeckung und Auswahl der Intervalle, die in der Melodie gebraucht wurden,, durch Ph\u00e4nomene des gleichzeitigen H\u00f6rens veranlasst wurde. Nun ist es gewiss nicht unwahrscheinlich, dass bei den ersten rohen und zuf\u00e4lligen Versuchen des Singens oder der Tonerzeugung mit ausgeh\u00f6hlten Knochen oder sonstigen Hohlr\u00e4umen oder mit gespannten Saiten auch gelegentlich gleichzeitige T\u00f6ne und unter diesen ausser vielen anderen auch die Oktave zum Vorschein kam, deren einheitlicher Klang dann wohl die Aufmerksamkeit fesseln und zur Wiederholung reizen mochte. Auf \u00e4hnlichem Wege, aber von nun an wohl auch durch f\u00f6rmliche Versuche von Seiten tonfreudiger Individuen, konnten dann in langen Zeiten auch die geringeren Verschmelzungs stufen, Quinten, Quarten, Terzen gefunden und auf Instrumenten fixirt werden, mit denen dann dieselben T\u00f6ne auch nacheinander zu Geh\u00f6r gebracht wurden. Die so entstehenden Melodien wurden dann durch die Stimme nachgeahmt, und es begreift sich, dass, nun dieses bequemste und nat\u00fcrlichste Instrument die Oberhand gewann, und dass bei der Schwierigkeit des gleichzeitigen Singens.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nG. Stumpf.\nin abwechselnden Intervallen die Musik zun\u00e4chst einen wesentlich melodischen Charakter annahm.\nWir schreiben also den Instrumenten mit H\u00f6rbaren T\u00f6nen einen sehr wesentlichen Antheil an den ersten Anf\u00e4ngen der Musik zu. Singen ohne feste Stufen, welches schon viel fr\u00fcher ge\u00fcbt sein mochte, kann noch nicht als Musik im eigentlichen und engeren Sinne bezeichnet werden. Diese beginnt, wenn wir \u00fcberhaupt eine Grenzbestimmung geben wollen, erst mit der Einf\u00fchrung fester Intervalle. Und hierf\u00fcr konnte das Singen nur in der eben angef\u00fchrten Weise neben anderen Tonquellen dienen, insofern einzelne Oktaven oder Quinten, z. B. beim gleichzeitigen Ausrufen eines Signals, zum Verschein kamen und dann um des einheitlichen Eindrucks willen wiederholt wurden.\nWeiter ist es nun aber auch keineswegs richtig, die Musik bis zum 9. Jahrhundert n. Chr. und ebenso die gegenw\u00e4rtige Musik unzivilisirter V\u00f6lker kurzweg als eine homophone zu bezeichnen. Streng genommen hat es wahrscheinlich niemals bloss homophone Musik gegeben. Zum mindesten das Singen in Oktaven findet sich, soweit wir verfolgen k\u00f6nnen, \u00fcberall und alle Zeit. Wenn wir solchen Gesang Unisono nennen, so ist er doch genauer gesprochen schon ein Duo, und es ist diese Art des Zusammensingens nichts weniger als selbstverst\u00e4ndlich. Aber nicht bloss das wichtigste aller Intervalle wurde fortw\u00e4hrend in gleichzeitiger Verbindung gebraucht: auch Quinten-und Quartenparallelen finden sich, wenngleich seltener, bei den Naturv\u00f6lkern ; wie ja auch bei uns sogenannte Naturs\u00e4nger \u00f6fters in dieser Weise zusammensingen.1\nAn die Quinten- und Quartenparallelen zur Zeit Hucbald\u2019s m\u00f6gen wir hier gleichfalls denken. Doch ist vielleicht der Unterschied, dass die q\u00fcintirenden Naturs\u00e4nger, die zivilisirten wie die unzivilisirten, meistentheils der Meinung sind, einstimmig zu singen, und mehr unwillk\u00fcrlich, infolge ungleicher Stimmlage, auf die Quinten verfallen, w\u00e4hrend die singenden M\u00f6nche sehr wohl wussten, dass sie nicht einstimmig sangen. Die trotz des Mehrklangs entstehende einheitliche Verschmelzung erschien ihnen als ein grosser Reiz, als eine wahre \u201eS\u00fcssigkeit\u201c, \u00e4hnlich wie uns die Terzenparallelen. Die Motive dagegen, die f\u00fcr uns\n1 Vgl. Tonpsych. II, 179.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n63\ndie Quintenparallelen widerw\u00e4rtig machen, waren f\u00fcr sie noch nicht vorhanden, da sie sich erst in der Entwickelung des modernen Akkordsystems geltend machen konnten.\nNun ist noch in Betracht zu ziehen, dass die den Gesang hegleitenden Instrumente, wo solche im Gebrauch sind, vielfach dazu benutzt werden, durch das gleichzeitige Angeben gewisser Fundamentalt\u00f6ne oder auch nur eines einzigen dem Intervallbewusstsein der Singenden eine St\u00fctze zu gehen. Auch so entsteht eine gewisse Mehrstimmigkeit. Die Instrumente leisten damit der Entwickelung und Festigung des musikalischen Bewusstseins, auch des melodischen, einen zweiten wesentlichen Dienst. Dies l\u00e4sst sich durch sehr zahlreiche Beispiele exotischer Musik nachweisen. Es liegt darin eine Analogie zu dem sogenannten profanen Organum, bei welchem ebenfalls eine Stimme auf dem gleichen Tone liegen bleibt, w\u00e4hrend die andere sich melodisch bewegt und dadurch alle m\u00f6glichen gleichzeitigen Intervalle zur ersten hervorbringt.\nIn ethnologischer Hinsicht ist besonders zu vergleichen : B. Walla-SCHEK, Primitive Music, 1893, Ch. IY. Wenn ich auch diesem Forscher in vielen anderen Punkten, z. B. hinsichtlich der Entstehung der Leitern aus den Eigenth\u00fcmlichkeiten der Instrumente (S. 156 f.), nicht beistimmen kann, so scheint mir doch das meiste, was er in jenem Kapitel \u00fcber den fr\u00fcheren Gebrauch der Harmonie, des Dur und Moll und der diatonischen Leitern auf Grund eines reichen Materials beibringt, richtig zu sein.\nUeber Indianerges\u00e4nge, welche f\u00fcr das Studium bis jetzt weitaus am ergiebigsten und lehrreichsten sind, vgl. Th. Baker, \u201eUeber die Musik der nordamerikanischen Wilden\u201c, 1882. Ferner meine beiden Studien: \u201eLieder der Bellakula-Indianer\u201c, Vierteljahrsschrift f. Musikwissenschaft 1886, und \u201ePhonographirte Indianermelodien\u201c (mit Bezug auf Gilman\u2019s phonographische Aufnahmen) daselbst 1892. Ferner F. Boas in den Berichten der British Association 1890 (Beport VI) und 1895 (Beport X). Journal of American Folk-Lore, Vol. I. 1888, No. 1. Internationales Archiv f\u00fcr Ethnographie IX, 1896, Suppl.\nNeuerdings haben Alice Fletcher, und J. C. Fillmore, letzterer auch mehrfach in Verbindung mit F. Boas, den Versuch gemacht, verschiedenen Indianerst\u00e4mmen ihre eigenen Melodien mit einfachen Har-monisirungen vorzuf\u00fchren, und behaupten, dass die Indianer die Lieder hei bestimmten Harmonisirungen als die ihrigen wiedererkannten, bei anderen","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nG. Stumpf.\ndagegen nicht, und dass jene Harmonisirungen sie sehr befriedigten. Fillmore schliesst daraus, dass eine gewiss er mass en latente Harmonie ihnen vorschwebe. Es ist schwer f\u00fcr Jemand, der solchen Versuch en nicht selbst beigewohnt hat, sich ein entschiedenes Urtheil \u00fcber ihre Beweiskraft zu bilden. Obschon man nach den unz\u00e4hligen Willk\u00fcrlich-keiten und Dilettantismen, welche bei der Wiedergabe exotischer, einstimmig gesungener Melodien durch beigegebene Harmonisirung von jeher begangen wurden, solchen Behauptungen von vornherein das \u00e4usserste Misstrauen entgegenbringen muss, will ich doch gestehen, dass mir der anf\u00e4ngliche Unglaube in diesem Fall angesichts der genauen Beschreibung der Versuchsumst\u00e4nde und der wissenschaftlichen Bef\u00e4higung der Berichterstatter zum Theil geschwunden ist. Mur zum Theil, weil mir die M\u00f6glichkeit von Suggestionen, namentlich bei der Ben\u00fctzung von Dolmetschern, nicht ausgeschlossen scheint.\nSoviel allerdings ist gewiss und musste schon vorher jedem auffallen, dass unter den Indianerges\u00e4ngen, von denen uns jetzt eine grosse Menge in glaubw\u00fcrdigster Form vorliegen (und die den unsrigen, nebenbei gesagt, weit verwandter sind als die erhaltenen altgriechischen Melodien) ein ganz betr\u00e4chtlicher Theil sich ausschliesslich in T\u00f6nen des Dur- oder Moll-Dreiklanges bewegt, und dass die \u00fcbrigen, welche mehr T\u00f6ne enthalten, sich unseren Dur- und Moll-Leitern ohne weiteres f\u00fcgen. Dieser Umstand legt uns in der That nicht bloss die Versuchung der Harmonisirung f\u00fcr unsere eigenen Ohren nahe, sondern l\u00e4sst auch die Behauptung einer \u201elatenten Harmonie\u201c, die freilich psychologisch noch n\u00e4her zu pr\u00e4zisiren w\u00e4re, plausibel erscheinen.\nFillmore erstreckt die Formulirung seiner Behauptung auf alle exotischen Ges\u00e4nge \u00fcberhaupt. Aus theoretischen Gr\u00fcnden k\u00f6nnte man wohl dem zuzustimmen geneigt sein, doch w\u00e4ren vorerst \u00e4hnliche Versuche auch bei anderen V\u00f6lkerst\u00e4mmen vorzunehmen, da die bisherigen allerdings nur unsystematischen Beobachtungen vielmehr dahin gehen, dass Harmonisirungen ihnen widerstreben.\nDie mir bekannt gewordenen Arbeiten der genannten Gelehrten hier\u00fcber sind folgende: 1. die gemeinschaftliche Arbeit von A. Fletcher, La Flesche und Fillmore : A Study of Omaha Indian Music \u2014 Papers, of Peabody Museum, Vol. I. Mo. 5 (1893); 2. die Schriften Fillmore\u2019s : Memoirs Internat. Congr. of Anthropology, Chicago, p. 158. Journal of American Folk-Lore 1893, p. 285; 1895, p. 138. Journal \u201eMusic\u201c V, No. 1, p. 39; Mo. 3, p. 281; VI, Mo. 6, p. 649. In demselben Bande Mo. 2, p. 188 auch ein Aufsatz von A. Fletcher.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n65\nlieber Fillmore\u2019s und andere neue Arbeiten hat sich auch E. Wallaschek ausgesprochen: \u201eMusikalische Ergebnisse des Studiums der Ethnologie\u201c, Globus Bd. 68, Mr. 7.\nDas Verschmelzungsprinzip d\u00fcrfte also, statt den urgeschieht-lichen und ethnologischen Th\u00e4tsachen zu widerstreiten, vieles davon dem Verst\u00e4ndnis n\u00e4her bringen. Diesen Andeutungen .sei nur noch hinzugef\u00fcgt, dass auch f\u00fcr das klassische Alterthum keineswegs streng homophone Musik angenommen werden darf. Die Akten dar\u00fcber d\u00fcrfen nun wohl bald geschlossen werden, wenn nicht etwa noch wesentliches Material entdeckt wird.1 Es w\u00e4re auch, wie schon Boeckh betonte, mehr als wunderlich, dass die Definition der Konsonanz durch das Verschmelzen gleichzeitiger T\u00f6ne gerade bei den Griechen so allgemein zur Geltung gekommen w\u00e4re, wenn sie niemals gleichzeitige T\u00f6ne gebraucht h\u00e4tten. Gevaert, der weit entfernt ist, ihnen eine Harmonie in unserem Sinne zuzuschreiben, sagt doch geradezu: \u2022Chez les anciens comme chez les modernes le syst\u00e8me musical se fonde sur l\u2019harmonie simultan\u00e9e.2 3 Gewiss ist, dass sie ihre Instrumente durch gleichzeitiges Angeben der Quinten, bezw. Quarten stimmten. Ausserdem weisen aber mannigfaltige Aeusse-rungen der Schriftsteller darauf hin, dass durch das Instrument zur Gesangmelodie an verschiedenen Stellen bestimmte Intervalle hinzugef\u00fcgt wurden.\nAls eine Mehrstimmigkeit in unserm Sinn ist dies alles freilich nicht zu fassen. Dazu geh\u00f6ren vor allen Dingen Dreikl\u00e4nge, dazu geh\u00f6rt eine bestimmte Abwechslung von Akkorden, deren Grundschema die Kadenz aus den Dreikl\u00e4ngen der Tonika, Subdominante und Dominante ist, dnzu geh\u00f6rt eine gewisse Stimmf\u00fchrung, welche den Uehergang eines Akkordes in einen anderen, die Aufl\u00f6sung der Dissonanzen bewirkt u. s. w. Von alledem kann bei den Griechen nicht die Rede sein, und insofern wollen wir der Unterscheidung der neueren Musik von der alten durch das Merkmal der Mehrstimmigkeit nicht widersprechen. Aber was trotzdem an Gleichzeitigkeit der T\u00f6ne alle Zeit vorhanden war und bei unzivilisirten V\u00f6lkern vorhanden\n1 Eine vorz\u00fcgliche kritische Sichtung der Ergebnisse findet man bei\nGuhrauer in den \u201eCommentationes Martino Hertz dedicatae\u201c 1888.\n3 F. A. Gevaert, Histoire et th\u00e9orie de la musique de l\u2019antiquit\u00e9 I, 119. Stumpf, Beitr\u00e4ge I.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nC. Stumpf.\nist, d\u00fcrfte gen\u00fcgen, mn die anf\u00e4ngliche Schwierigkeit gegen das aufgestellte Merkmal der Konsonanz zu l\u00f6sen, da es gen\u00fcgt, um f\u00fcr den melodischen Gebrauch der Intervalle die ersten Anl\u00e4sse und die weitere Unterst\u00fctzung zu bieten. Eine best\u00e4ndige wirkliche Gleichzeitigkeit der verschmelzenden T\u00f6ne ist ja, wie wir erkannt haben, keineswegs erforderlich, um den Verschmelzung^-p-rad zu erfassen.\n<D\nSiebentes Kapitel.\nGrundlinien der Konsonanzlehre.\nStehen sonach prinzipielle Hindernisse nicht entgegen, die Yer sehmelziu 1 gsthatsachen zur Definition der Konsonanz zu benutzen, so bleibt noch zu untersuchen, in welcher Form die Definition gegeben werden kann, mn als Grundlage f\u00fcr den Aufbau der Musiktheorie zu dienen. Es muss gezeigt werden, wie die Konsonanzen unter sich und von den Dissonanzen geschieden werden k\u00f6nnen, wie der Begriff des Intervalls, dei \\ ei-wandtschaft, der. Tonleiter gebildet werden kann, und worin neben den gleichbleibenden Grundz\u00fcgen, die aller Musik gemeinsam sind, auch die M\u00f6glichkeit von Ver\u00e4nderungen in den Grund, elementen ihre Wurzel hat; w\u00e4hrend die Erkl\u00e4rung der Ver\u00e4nderungen im einzelnen der historischen und ethnologischen Forschung \u00fcberlassen bleibt.\n1. Wir m\u00fcssen hier zuerst wieder einige bereits anderw\u00e4rts er\u00f6rterte Punkte um des Zusammenhangs willen rekapituliren Halten wir uns innerhalb des Bezirks einer Oktave, so zeigt die direkte Beobachtung mit voller Deutlichkeit folgende. Hauptstufen der Verschmelzung: erstens die der Oktave, zweitens die der Quinte, drittens die der Quarte, viertens die der beiden Terzen und Sexten, f\u00fcnftens die aller \u00fcbrigen Intervalle. Wir haben dabei einstweilen den Ausdruck Intervalle und die gebr\u00e4uchlichen Intervallnamen benutzt, k\u00f6nnen aber auch, wenn man einen logischen Zirkel dahinter wittert, die bekannten \\ ei-h\u00e4ltnisszahlen der objektiven T\u00f6ne daf\u00fcr einsetzen.\nZwischen den Terzen und Sexten, ebenso zwischen grosser und kleiner Terz oder Sexte m\u00f6gen noch feine Verschmelzungs-","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n67\nUnterschiede bestehen, aber dass sie f\u00fcr unser gegenw\u00e4rtiges Geh\u00f6r deutlich und unbestreitbar hervortr\u00e4ten, l\u00e4sst sich kaum behaupten. Eher kann man die Meinung vertreten, dass zwischen dieser und der letzten Gruppe noch eine Uebergangsgruppe einzuschalten sei, bestehend aus den Verh\u00e4ltnissen 4 : 7 (Ton % 5 : 7 und etwa auch 6 : 7. Wir kommen auf diese bald zur\u00fcck.\nDass Meinungsverschiedenheiten in den eben genannten Punkten bestehen k\u00f6nnen, erkl\u00e4rt sich aus dem Gesetz, dass mit der abnehmenden Verschmelzung zugleich auch die Unterschiede der Verschmelzungsstufen untereinander geringer werden. Die gr\u00f6sste Kluft ist zwischen der Oktave und Quinte, eine geringere schon zwischen Quinte und Quarte u. s. w. Wahrscheinlich besitzen selbst die hier unter der niedersten Stufe zusammengefassten Tonkombinationen noch eine Anzahl von Unterschieden der Verschmelzung, die auch dem geschultesten gegenw\u00e4rtigen Ohr entgehen, aber eben darum auch f\u00fcr die Theorie der gegenw\u00e4rtigen und bisherigen Musik irrelevant sind.\nAuf Grund dieser Thatsachen und Erw\u00e4gungen k\u00f6nnte man zun\u00e4chst als Konsonanzen definiren: alle zu den h\u00f6heren Verschmelzungsstufen geh\u00f6rigen Tonkombinationen ; als Dissonanzen : alle zu der niedersten (deutlich unterschiedenen) Verschmelzungsstufe geh\u00f6rigen Kombinationen.\nAber ehe wir diese Definition uns zu eigen machen, m\u00fcssen drei Punkte noch in Erw\u00e4gung gezogen werden :\nErstens: wenn unter den Terzen und Sexten, ebenso unter den grossen und kleinen Terzen keine deutlichen Verschmelzungs-Unterschiede bestehen, was unterscheidet diese Tonstufen noch in unserm Bewusstsein?\nZweitens: wenn unter der letzten Verschmelzungsstufe keine erheblichen Verschmelzungsunterschiede bestehen, wodurch unterscheiden sich die musikalisch brauchbaren Dissonanzen von den blossen Verstimmungen? und wodurch die sch\u00e4rferen und die weniger scharfen Dissonanzen?\nDrittens: worauf beruht das fast allgemeine Urtheil der Musiker, dass zwischen Konsonanz und Dissonanz ein mehr als gradueller, ein spezifischer Unterschied sei?\nDie Er\u00f6rterung dieser Fragen lehrt, dass der Verschmelzungsbegriff nicht f\u00fcr sich allein hinreicht, die Struktur und Leistungen des musikalischen Bewusstseins begreiflich zu machen, dass aber\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"68\nC. Stumpf.\ndie Definition der Konsonanz selbst einer Erg\u00e4nzung gleichwohl nicht bedarf.\n2. Die Untersuchung des ersten Fragepunktes f\u00fchrt uns sogleich auf den Begriff des Intervalls. Terzen und Sexten sowie grosse gegen\u00fcber kleinen Terzen oder Sexten unterscheiden sich voneinander innerhalb der gleichen Verschmelzungsstufe dadurch, dass sie von einem bestimmten Ausgangston aus in bestimmter Richtung ungleiche Abst\u00e4nde repr\u00e4sentieren. Von einem gegebenen konkreten Ton, z. B. e1 *, ausgehend k\u00f6nnen wir innerhalb der Oktave viermal die gleiche Verschmelzungsstufe hersteilen, wenn sich der zweite Ton von jenem Ausgangspunkt successive in gleicher Richtung entfernt. Wir wollen den Abstand der Intervallt\u00f6ne in solchem Fall (also bezogen auf einen bestimmten Ausgangston und eine bestimmte Richtung) kurz den relativen Abstand nennen.\nEin konsonantes Intervall im musikalischen Sinn ist daher ein Tonverh\u00e4ltniss, welches prim\u00e4r durch eine der h\u00f6heren Verschmelzungsstufen, sekund\u00e4r aber, d. h. bei gleicherVerschmelzung, durch den relativen Abstand der beiden T\u00f6ne gegeben ist.\nEs w\u00e4re verkehrt, zu sagen, dass ein Intervall \u00fcberhaupt durch den Abstand zweier T\u00f6ne voneinander (den absoluten Abstand) gegeben sei. Die grosse Terz besitzt nicht schlechthin eine gr\u00f6ssere Distanz der beiden T\u00f6ne als die kleine. Man kann nicht behaupten, der Abstand c3\u2014e1 sei gr\u00f6sser als G\u2014Es. Einunddasselbe Tonverh\u00e4ltniss, z. B. 2 : 3 (Quinte), liefert uns in der tiefen Region T\u00f6ne, die einander viel \u00e4hnlicher sind, d. h. einen geringeren Tonabstand besitzen, als in der mittleren Region. Sagt man, dass doch in beiden F\u00e4llen drei Ganzton-und eine Halbtonstufe zwischen den T\u00f6nen liegen, so fragt sich eben wieder, ob die Ganz- und Halbtonstufen in der Tiefe f\u00fcr unsere Empfindung nicht geringere Abst\u00e4nde repr\u00e4sentiren als in der Mitte. Daher ist es v\u00f6llig verfehlt, das musikali-schelntervall als einen bestimmtenAbstand zweier T\u00f6ne zu definiren, wie dies seit den Zeiten des Aristoxenus fort und fort geschehen ist.\nAuf die vielen Argumente, aus denen hervorgeht, dass beide Begriffe sich nicht decken, brauchen wir wohl nicht noch einmal zur\u00fcckzukommen1, da allm\u00e4hlich hier\u00fcber Ein-\n1 Ygl. Tonpsych. I, 249, 337 f. II, 403, 409; ferner meinen Aufsatz\n\u201elieber Vergleichung von Tondistanzen\u201c, Zeitschr. f\u00fcr Psychol. I, 419 f.","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n69\nhelligkeit, unter den Psychologen wenigstens, erzielt scheint F\u00fcr weitere Kreise mag vielleicht folgende Erw\u00e4gung den Unterschied besonders deutlich machen. Wenn es richtig ist \u2014 was Niemand leugnen wird \u2014, dass die tonale Wirkung einer Melodie wesentlich auf den Intervallen der darin aufeinanderfolgenden T\u00f6ne, nicht auf der absoluten Tonh\u00f6he beruht, und wenn die Intervalle sich nur durch den Abstand der T\u00f6ne voneinander unterschieden, dann m\u00fcssten wir eine Melodie auch in verkleinertem oder vergr\u00f6ssertem Massstabe wiedergeben und verstehen k\u00f6nnen. Wir k\u00f6nnten dann also z. B. die ganze Melodie \u201eLeise, leise, fromme Weise\u201c, welche sich im Tonraum einer Dezime bewegt, in den Tonraum eines Ganztones oder einer Quarte einzw\u00e4ngen, oder wir k\u00f6nnten sie auf eine Duodezime auseinanderdehnen, indem alle vorkommenden Tonabst\u00e4nde in entsprechenden Maassst\u00e4ben verkleinert oder vergr\u00f6ssert w\u00fcrden, der Rhythmus aber derselbe bliebe. Die Melodie m\u00fcsste hierbei durchaus verst\u00e4ndlich bleiben und die Wirkung eine \u00e4hnliche sein wie bei einer verkleinerten oder vergr\u00f6sserten Kopie eines sch\u00f6nen Gem\u00e4ldes: etwas geht dabei wohl an Wirkung verloren, da der K\u00fcnstler auch mit den absoluten Dimensionen rechnet, aber das Wesentlichste, die Verh\u00e4ltnisse, bleibt unge\u00e4ndert. Wir brauchen aber nicht zu sagen, dass eine so verkleinerte oder vergr\u00f6sserte Melodie absolut sinnlos w\u00e4re: ein Zeichen, dass Abstand und Intervall zweierlei ist.1 *\nDie musikalischen Intervalle sind also in erster Linie durch den Yerschmelzungsgrad ihrer T\u00f6ne festgelegt. Dadurch allein sind f\u00fcr unser Ohr die ersten festen Punkte in der an sich ganz stetigen Tonreihe gegeben und ihre Auswahl aller Willk\u00fcr entzogen. Aber die konsonanten Intervalle von gleicher Verschmelzung unterscheiden sich voneinander durch die Verschiedenheit des Abstandes, bezogen auf einen bestimmten Ausgangston und eine bestimmte Richtung. Dies ist die Bedeutung des Distanzbegriffes f\u00fcr den Intervallbegriff.\nMit der obigen Definition des Intervallbegriffes soll nicht gesagt sein, dass sich das musikalische Bewusstsein im einzelnen Fall, v7enn sich\u2019s um die Erkennung und Benennung eines Intervalls handelt, stets der angegebenen beiden Kriterien in dieser\n1 Zu dieser Erw\u00e4gung bin ich, wenn ich mich recht erinnere, durch\nF. Brentano angeregt worden.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"70\nC. Stumpf.\nFolge bediene; sondern nur dass sie logisch gen\u00fcgen, um die Erscheinungen und Begriffe durch Merkmale von unzweifelhafter psychologischer Realit\u00e4t zu definiren.\nInnerhalb einer engbegrenzten Tonregion, z. B. der eingestrichenen Oktave oder nur ihrer oberen H\u00e4lfte, ist nat\u00fcrlich ein bestimmtes Intervall auch durch eine bestimmte Distanz der T\u00f6ne ausreichend charakterisirt, und wir lernen mit fortschreitender Uebung es auch durch dieses Merkmal wiederzuerkennen. Man kann wohl auch dies noch zugeben und hervorheben, dass, innerhalb der zwei bis drei mittleren und meist-gebrauchten Oktaven die Ver\u00e4nderungen der Distanz bei ein-unddemselben Intervall geringf\u00fcgig genug sind, um uns nicht irrezuf\u00fchren. Wie sehr wir in der That gewohnt sind, bei Intervallurtheilen doch auch diese uns bekannten und vertrauten Tonabst\u00e4nde als Kriterium mitzuben\u00fctzen, sieht man daraus, dass bei Intervallen ungewohnter einfacher T\u00f6ne, die eine Distanz von mehr als zwei Oktaven haben, das Urtheil selbst ge\u00fcbter Musiker unsicher werden kann, und dass man dann die beiden T\u00f6ne zuerst in die gleiche mittlere Oktave transponirt ( am besten mit Hilfe des Nachsingens), um dann erst sein Urtheil abzugeben. Ferner ist es in derselben Weise zu deuten, wenn in der Tiefe, in der grossen Oktave und darunter, bei einfachen T\u00f6nen das Intervall leicht zu klein gesch\u00e4tzt, eine grosse Terz etwa als Sekunde bezeichnet wird, weil hier eben die Distanz der beiden T\u00f6ne geringer ist als bei grossen Terzen der mittleren Region (vgl. Tonspyeh. II, 404). In anderen F\u00e4llen freilich, z. B. bei sehr kurzer Dauer der Kl\u00e4nge, verwechselt man auch einmal Terzen mit Sexten, wegen der gleichen Verschmelzung. Es wirken also beide Kriterien in der Praxis zusammen.\nAber die Distanz ist auch nicht das einzige Hilfskriterium. Singgewohnte nehmen ganz wesentlich die mit dem Singen eines Intervalls verkn\u00fcpfte Ver\u00e4nderung des Muskelgef\u00fchls zu H\u00fclfe, die aber wiederum f\u00fcr ein bestimmtes Intervall nur innerhalb eines engbegrenzten Tongebietes die gleiche Gr\u00f6sse besitzt. Ebenso ist ja auch f\u00fcr die Erkennung der absoluten Tonh\u00f6he eines Tons das Nachsingen Vielen eine wesentliche Erleichterung, und doch kann man die Tonh\u00f6he nicht durch Muskelgef\u00fchle definiren.\nDazu kommen gelegentlich noch weitere Anhaltspunkte : Anf\u00e4nger pflegen, um ein Intervall zu erkennen, die Stufen der diatonischen Leiter zu singen (oder sich wenigstens vorzustellen),","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n71\nwelche von einem Ton des Intervalls zum anderen hinf\u00fchren; oder sie denken an eine bekannte Melodie, welche mit diesem Intervall anf\u00e4ngt u. s. w. Aber alle diese nach der individuellen Gew\u00f6hnung wechselnden mittelbaren (sekund\u00e4ren) Kriterien geh\u00f6ren nicht zu den Merkmalen, durch welche das Intervall seinem Wesen nach bestimmt ist, und welche darum auch f\u00fcr das musikalische Bewusstsein, wenn alle \u00fcbrigen versagen oder sich widersprechen, in erster und letzter Instanz entscheidend sein m\u00fcssen.\n3. Die zweite Frage, wie die musikalisch brauchbaren Dissonanzen von den blossen Verstimmungen geschieden werden k\u00f6nnen, f\u00fchrt zum Begriff der Tonverwandtschaft. Bereits Helmholtz hat einen solchen Begriff formulirt und benutzt, aber in der Fassung der Klang Verwandtschaft, da ihm Verwandtschaft eben nur zwischen Kl\u00e4ngen mit Obert\u00f6nen m\u00f6glich und durch die Ohert\u00f6ne gegeben schien. Nunmehr ist es uns aber auch m\u00f6glich, von Verwandtschaft bei einfachen T\u00f6nen zu reden. Der Begriff schliesst sich ohne Weiteres an den der Konsonanz an.\nWir nennen direkt verwandt oder verwandt im ersten Grade zwei T\u00f6ne, welche untereinander konsoniren (in h\u00f6heren Graden verschmelzen). Indirekt verwandt und zwar verwandt im zweiten Grade nennen wir zwei T\u00f6ne, deren jeder mit einem und demselben dritten Ton konsonirt, z. B. c und d oder c und h (durch g verwandt), oder e und eis (durch a oder durch e verwandt).\nAllgemeiner gesprochen kann man indirekt verwandt zwei T\u00f6ne nennen, welche durch einen oder mehrere T\u00f6ne untereinander in der Art verbunden werden k\u00f6nnen, dass jeder Ton in der Reihe mit seinen Nachbarn konsonirt. Die Verwandtschaft ist sovielten Grades als konsonante Intervalle zwischen dem ersten und letzten Gliede der Reihe liegen. So entsteht, wenn wir durch aufsteigende Quinten- und absteigende Quartenschritte von c zu g, \u00e4, c, e fortgehen, zwischen c und diesem e (der pythagoreischen Terz) eine Verwandtschaft vierten Grades. Aber diese indirekten Verwandtschaften h\u00f6heren Grades sind zun\u00e4chst eine rein theoretische M\u00f6glichkeit ; ob sie auch psychologische Realit\u00e4t besitzen, ob wir wirklich jemals zu zw^ei gleichzeitigen oder aufeinanderfolgenden T\u00f6nen, um ihre Konsonanz untereinander zu erkennen, zwei oder drei andere","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nC. Stumpf.\nals Verbindungsglieder hinzudenken, ist fraglich, und in keinem Falle w\u00fcrde ein so umst\u00e4ndlicher Prozess, rasch vollzogen, zu einiger Sicherheit in Bezug auf die Intonation des fraglichen Intervalls f\u00fchren k\u00f6nnen. Mir ist kein Zweifel, dass das Bewusstsein der alten Griechen die Terz niemals in dieser Weise erfasst hat, wenn auch die Theorie das Intervall in solcher Weise deduzirte. Jedenfalls gen\u00fcgen die Verwandtschaften ersten und zweiten Grades, um die allgemeinsten Grundz\u00fcge unserer Musik zu erkl\u00e4ren.\nAusser den Verwandtschafts-Gr a den kann man auch noch die Arten der Verwandtschaft unterscheiden, je nach der Art cer Intervalle, durchweiche man von einem Ton zum anderen fortschreitet. Es gen\u00fcgt, Quint Verwandtschaft, T e r z Verwandtschaft und Quint-Terz Verwandtschaft zu unterscheiden. Vom d zu d gelangen wir durch zwei Quintenschritte c\u2014g\u2014d1 und einen Oktavenschritt d]-\u2014d. Den letzteren rechnen wir nicht mit, aus weiter unten (5. und 9.) zu er\u00f6rternden Gr\u00fcnden, sprechen hier also nur von Quintverwandtschaft. Wir k\u00f6nnen aber auch von $ eine Quinte aufw\u00e4rts und dann eine Quarte abw\u00e4rts gehen. Dieser Quartenschritt abw\u00e4rts ist \u00e4quivalent mit dem zweiten Quintenschritt aufw\u00e4rts und der nachfolgenden Oktaven* transposition. Wir betrachten ihn daher, da die Oktaventransposition nicht gerechnet werden soll, als \u00e4quivalent mit dem Quintenschritt g\u2014d1 und sprechen demzufolge auch in diesem Falle nur von Quintverwandtschaft.\nAehnliches gilt bez\u00fcglich der Terzen und der Sexten. Von e kommen wir durch zwei grosse Terzenschritte zu e und gis\\ Ebendahin k\u00f6nnen wir auch gelangen, wenn wir von e zu e1 und dann eine kleine Sexte abw\u00e4rts gehen. Ebenso : von c zu fh kommen wir durch zwei kleine Terzen abw\u00e4rts und eine Oktave aufw\u00e4rts, aber auch ohne Oktaventransposition durch die grosse Sexte auf- und die kleine Terz abw\u00e4rts. Wegen dieser Aequivalenz der grossen Terz mit der Oktave minus kleiner Sexte und der kleinen Terz mit der Oktave minus grosser Sexte brauchen wir nicht eigens von einer Sextenverwandtschaft zu reden. Aber auch die Verwandtschaft durch grosse und die durch kleine Terzen, letztere z. B. bei c\u2014cs\u2014ges, unterscheiden wir nicht als besondere Art, da wir grosse und kleine Terz zur gleichen Verschmelzungsstufe rechnen. M\u00f6gen feinere Unterschiede sich hier mit der Zeit noch merklich machen, vorl\u00e4ufig gen\u00fcgt es f\u00fcr","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n73\ndie Beschreibung der musikalischen Bewusstseinsthatsachen, wenn wir die obigen drei Verwandtschaftsarten auseinanderhalteri.\nEine Quint-Terzverwandtschaft (gemischte Verwandtschaft) findet Statt z. B. zwischen c und h durch c\u2014g\u2014h.\nDa die Konsonanz der Quinten und der Quarten st\u00e4rker ist als die der Terzen und Sexten, so ist wohl auch die Quintverwandtschaft leichter erkennbar als die Terz Verwandtschaft. Man kann sie insofern als die st\u00e4rkere Verwandtschaft bezeichnen.1\nDurch die Verwandtschaft nun wird aus der unendlichen Zahl der Tonkombinationen, die wir unter die letzte Verschmeb z\u00fcngsstufe subsumirten, eine kleine Anzahl fester Stufen ausgeschieden, die allein musikalisch verwendbar sind. Dadurch entstehen die Tonleitern, d. h. diejenigen T\u00f6ne innerhalb einer Oktave, die zur Melodiebildung und Hannonisirung bei einer Nation verwendet werden. Es giebt meines AVissens keine Tonleitern aus bloss direkt verwandten T\u00f6nen, \u00fcberall sind auch indirekt verwandte eingeschaltet und daf\u00fcr einige von den direkt verwandten ausgeschaltet. Im \u00fcbrigen gehen wir hier nicht auf die Struktur und die Entstehungsweise der einzelnen Leitern ein.\nNat\u00fcrlich sind die Konsonanzen auch indirekt untereinander verwandt, c mit g auch durch c, e mit g durch c u. s. w. Aber hier fasst unser Geh\u00f6r wenigstens Zweikl\u00e4nge oder zwei aufeinanderfolgende T\u00f6ne der Kegel nach als direkt verwandt auf und versteht ihr gegenseitiges Verh\u00e4ltniss als eine direkte Verschmelzung untereinander.2\n1 Im Grunde w\u00fcrde darum hierauf auch besser der Ausdruck \u201eGrade der Verwandtschaft\u201c angewandt als auf den Unterschied der direkten und indirekten Verwandtschaft, der seinerseits besser als Artunterschied bezeichnet w\u00fcrde. Aber es ist der Ausdruck Verwandtschaftsgrad in Analogie zu den physischen Verwandtschaftsgraden hier nun einmal eingef\u00fchrt.\n- Helmholtz sah sich in der Entwickelung seiner Prinzipien veranlasst, f\u00fcr die kleine Sexte nur indirekte Verwandtschaft gelten zu lassen. Aber dies ist eben wieder eine Konsequenz, die dem musikalischen Geh\u00f6r offen widerspricht. Die kleine Sexte konsonirt so direkt wie die grosse und wie die beiden Terzen.\nMan muss sich bei den Sexten nicht etwa durch den Umstand t\u00e4uschen lassen, dass wir geneigt sind, zu c\u2014as oder c\u2014a f oder F hinzuzudenken; Dies ist eine Folge unserer gegenw\u00e4rtigen Gewohnheit, in Akkorden zu denken.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nC. Stumpf.\nBei konsonanten Drei- nnd Mehrkl\u00e4ngen, wo alle T\u00f6ne untereinander konsoniren, findet von selbst zugleich indirekte .Verwandtschaft je zweier T\u00f6ne untereinander durch Vermittelung der \u00fcbrigen gleichzeitig wirklich geh\u00f6rten statt. Ob hier vielleicht doch auch diese indirekte Verwandtschaft nebenbei mit erfasst wird, wollen wir dahingestellt sein lassen.\nNunmehr k\u00f6nnen wir die oben f\u00fcr die konsonanten Intervalle aufgestellte Definition so erweitern, dass sie auch die dissonanten umfasst: ,,Ein Intervall im musikalischen Sinn ist einVerh\u00e4ltniss zweier T\u00f6ne, welches gegeben ist prim\u00e4r durch ihre Verwandtschaft, sekund\u00e4r aber, d. h. bei gleicher Verwandtschaft, durch den relativen Abstand der beiden T\u00f6ne.\u201c\nAlle Tonverh\u00e4ltnisse, welche nicht eine von unserm Ohr erkennbare Verwandtschaft der T\u00f6ne aufweisen, m\u00f6gen sie sich auch arithmetisch in ganzen Zahlen ausdr\u00fccken lassen, bleiben aus dem Begriff des Intervalls im musikalischen Sinne ausgeschlossen, oder sie k\u00f6nnen nur als verstimmte, unreine Intervalle von uns aufgefasst und bezeichnet werden.\n4. Bleibt die Frage, wie wir zu Gradunterschieden unter den dissonanten Intervallen selbst kommen, und die weitere Frage, wie der Eindruck eines spezifischen Unterschiedes zwischen Konsonanz und Dissonanz entsteht, w\u00e4hrend die Verschmelzungsstufen nur graduell verschieden sind. Auf die letzte, die wir zuerst behandeln, l\u00e4sst sich aus dem Vorhergehenden theilweise, aber auch nur theil-weise die Antwort ableiten.\nWir haben uns gew\u00f6hnt, bei den h\u00f6heren Verschmelzungsstufen die verwandtschaftlichen Beziehungen der T\u00f6ne zu einander direkt zu erfassen, bei den Intervallen der untersten Stufe dagegen indirekt. Es ist schon dadurch ein Gegensatz gegeben, der diese Klasse nicht als eine Fortsetzung der Reihe in gleichem Sinn erscheinen l\u00e4sst, der uns veranlasst, sie als eine Gruppe f\u00fcr sich den s\u00e4mmtlichen \u00fcbrigen zusammen-genommen gegen\u00fcberzustellen. An sich k\u00f6nnten wir sie freilich auch als bloss graduelle Fortsetzung jener auffassen, aber die\nDieselbe Gewohnheit kann uns auch dazu f\u00fchren, zu c\u2014e g oder auch 4. hinzuzudenken. Aber nothwendige Durchgangspunkte zur Erkenntniss der Konsonanz sind diese hinzu gedachten T\u00f6ne im einen Fall so wenig wie im anderen.","page":74},{"file":"p0075.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n75\nfaktische Entwickelung der Musik hat. indem sie zur Ausscheidung bestimmter \u201eIntervalle\u201c unter den unz\u00e4hligen Tonkombinationen dieser Stufe und zur Verwendung derselben in der Melodie f\u00fchrte, zu gleicher Zeit die indirekte Verwandtschaft als die f\u00fcr sie geltende Auffassungsweise in\u2019s Bewusstsein eingef\u00fchrt. Denn nur dadurch, nur durch diese Form der Auffassung heben sich f\u00fcr uns diese wenigen Intervalle unter den unz\u00e4hligen Verh\u00e4ltnissen geringster Verschmelzung ab. Es ist also sehr nat\u00fcrlich und selbstverst\u00e4ndlich, dass wir sie nicht als direkt, sondern als indirekt verwandte aufzufassen uns gew\u00f6hnt haben.\nHierzu kommt aber noch der Umstand, dass infolge der Einf\u00fchrung dieser Intervalle 8 : 9, 9 : 10, 8 : 15 u. s. w., mit anderen Worten: infolge des Entstehens von Leitern und insbesondere diatonischen Leitern (welche doch der Grundtypus sind), nothwendig einige andere Intervalle, die sonst vielleicht noch eine Br\u00fccke zwischen den Terzen und der untersten Klasse gebildet h\u00e4tten, n\u00e4mlich 4:7, 5:7 und andere mit der Ver-h\u00e4ltnisszahl 7 zusammenh\u00e4ngende, aus dem musikalischen Gebrauch ausgeschlossen bleiben. Warum dies der Fall ist, mag hier ebenso ununtersucht bleiben wie die Frage, ob nicht doch in einzelnen F\u00e4llen beispielsweise der Ton ?, das Intervall 4 : 7, gebraucht wird. Im Grossen und Ganzen ist es sicherlich in unserer Musik nicht im Gebrauch1, und dadurch ist zwischen den der niedersten Verschmelzungsstufe angeh\u00f6rigen Intervallen und den vorhergehenden eine L\u00fccke entstanden, wenn auch ihr Abstand selbst dadurch nicht vergr\u00f6ssert wird. In anderen Musiksystemen, die sich einer ausdenken mag, k\u00f6nnten die \u201eSiebener\u201c\n1 Ich kann mich der Meinung nicht anschliessen, als ob bei besonders reiner Intonation des Dominant-Septimenakkordes der Ton i zum Vorschein k\u00e4me Wenn wir von C-Dur durch c-e\u2014g\u2014b nach F-Dur moduliren, so wird dasjenige b gesungen, welches eben den Uebergang zu F-Dur bildet, weil es in der F-Dur Leiter enthalten ist : das ist das durch den doppelten Quartenschritt c\u2014f\u2014b gegebene Verh\u00e4ltnis 9 : 16. Ebenso wird nun in C-Dur selbst beim Dominant-Septimenakkord das f gesungen, das zu C-Dur geh\u00f6rt. Durch die nat\u00fcrliche Septime w\u00fcrde der Akkord zwar an Milde und Verschmelzung gewinnen, aber der Dominant-Septimenakkord will nicht mild sein. Er ist der Urahn und K\u00f6nig aller dissonanten Akkorde, und es liegt gar nicht in der Intention der Musizirenden wie der H\u00f6renden, dass sein dissonanter Charakter abgeschw\u00e4cht werde.","page":75},{"file":"p0076.txt","language":"de","ocr_de":"76\nC. Stumpf.\nvielleicht Verwendung finden; in diesen w\u00fcrde dann aber auch der spezifische Unterschied zwischen Konsonanz und Dissonanz von de,n Musikern vielleicht weniger betont werden. Er ist ja auch nur eine Thatsache innerhalb des faktisch vorliegenden und historisch entwickelten musikalischen Bewusstseins.\nImmerhin ist mit diesen beiden Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnden die Frage noch kaum ersch\u00f6pfend beantwortet. Namentlich der letzte kann nicht als sehr wesentlich angesehen werden, da die so entstehende Kluft sicherlich nicht so gross ist wie die zwischen Oktaven und Quinten oder Terzen, und doch alle diese zusammen als Konsonanzen den Dissonanzen gegen\u00fcber gestellt werden. Aber auch der Unterschied der direkten und indirekten Verwandtschaft deckt sich kaum vollst\u00e4ndig mit diesem Gegensatz. Wenigstens wenn man sich nicht mit einer Definition begn\u00fcgen will, die zur knappsten Formulirung des Begriffs eben hinreicht, sondern eine Beschreibung des ganzen Bewusstseinsinhaltes verlangt, der sich mit den Begriffen Konsonanz und Dissonanz verkn\u00fcpft, wird man nicht umhin k\u00f6nnen, auch das Gef\u00fchlsmoment zu ber\u00fccksichtigen. Kann dieses auch nicht dienen, als prim\u00e4res Merkmal die beiden Begriffe zu definiren, so kommt es doch hinzu, um ihren Unterschied zu versch\u00e4rfen und f\u00fcr unsere Auffassung eigenth\u00fcmlich zu f\u00e4rben. Und ist es auch nicht richtig, dass Konsonanzen immer angenehm, Dissonanzen immer unangenehm sind, so bleibt es doch nicht zu leugnen, dass Konsonanzen, f\u00fcr sich allein geh\u00f6rt, auf das Geh\u00f6r des musikalischen Europ\u00e4ers seit langer Zeit angenehm, Dissonanzen aber unter gleichen Umst\u00e4nden unangenehm wirken.\nUnd zwar besteht f\u00fcr unser gegenw\u00e4rtiges Gef\u00fchl die Unannehmlichkeit isolirter Dissonanzen in erster Linie in dem daran gekn\u00fcpften Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss, das in solchen F\u00e4llen keine Erf\u00fcllung findet. Eben darum, weil dieses sich historisch erst allm\u00e4hlich seit dem Mittelalter entwickelt hat, ist auch die Sch\u00e4rfe der Entgegensetzung zwischen Konsonanz und Dissonanz gewachsen, w\u00e4hrend die Unterscheidung als solche von jeher gemacht wurde. Wenn in der modernsten Musik das Gef\u00fchl f\u00fcr die Nothwendigkeit der Aufl\u00f6sung und zwar der richtigen Aufl\u00f6sung zuweilen wieder zu verschwinden scheint, so hat dies seinen Grund wohl weniger darin, dass uns das Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss selbst wieder abhanden k\u00e4me, sondern darin, dass die entsetzlichen Geburtswehen der musikalischen Ver-","page":76},{"file":"p0077.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n77\nk\u00fcndiger neuer Weltanschauungen auch entsprechend schmerzliche Ausdrucksmittel verlangen. Sollten diese Mittel aber k\u00fcnftig auch vom Geh\u00f6r weniger schmerzlich empfunden werden, so w\u00fcrde eben auch die k\u00fcnftige Musiktheorie den spezifischen Unterschied wieder Aveniger betonen als den bloss graduellen, und es w\u00fcrde dann eine Thatsache weniger der Erkl\u00e4rung bed\u00fcrfen.\nIndessen ist es nicht bloss das Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss, das f\u00fcr unser Gef\u00fchl Dissonanzen und Konsonanzen in Gegensatz bringt, sondern auch eine sinnliche Unannehmlichkeit. Es muss sich bei gleichzeitigem Erklingen der T\u00f6ne eine im Laufe der Zeiten wachsende rein sinnliche Unannehmlichkeit mit isolirten Dissonanzen, eine sinnliche Annehmlichkeit mit Konsonanzen verkn\u00fcpft haben, Gef\u00fchle, deren physiologische Unterlage vorl\u00e4ufig-schwer zu bestimmen sein d\u00fcrfte und sicherlich nicht bloss durch die Schwebungen, bezw. ihren Mangel gegeben ist. Diese Seite der Sache bedarf noch sehr der Untersuchung, besonders auch durch Heranziehung der Unmusikalischen, bei welchen die durch die musikalische Auffassungsf\u00e4higkeit erzeugten Gef\u00fchlsunterschiede hinwegfallen, w\u00e4hrend die rein sinnlichen Unterschiede m\u00f6glicherweise, wenn auch graduell geringer vorhanden sind.\nJedenfalls sehen wir, dass es an Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnden f\u00fcr den Eindruck eines \u201espezifischen Unterschiedes\u201c von Konsonanzen und Dissonanzen nicht fehlt, dass aber aus diesem Eindruck kein Bedenken mehr gegen die Definition dieser Begriffe durch die Verschmelzungsunterschiede entnommen werden kann.\nAuf Gef\u00fchlsunterschieden d\u00fcrfte nun auch die verschiedene \u201eSch\u00e4rfe\u201c der Dissonanzen beruhen. Schon der Ausdruck selbst Aveist darauf hin. Bei der Aufz\u00e4hlung der Konsonanzen ist Aron vollkommenen und unvollkommenen, aber nicht von mehr und minder sanften Konsonanzen die Hede, und wo \u00e4hnliche Ausdr\u00fccke gebraucht werden, geschieht es doch nicht in Bezug auf die hergebrachte und anerkannte Rangordnung der Konsonanzen mit der Oktave an der Spitze, sondern um die durchschnittliche Wirkung der verschiedenen Intervalle auf unser musikalisches Gef\u00fchl zu kennzeichnen. Umgekehrt spricht man bei den Dissonanzen nicht von vollkommenen und unvollkommenen, sondern hat sie seit alter Zeit in Hinsicht ihres Wesens als Dissonanzen in Eine Klasse zusammengeworfen. Nur solche","page":77},{"file":"p0078.txt","language":"de","ocr_de":"78\nC. Stumpf.\nTheoretiker, die wie Helmholtz das Wesen der Dissonanz in der Gef\u00fchlswirkung selbst erblicken, machen nat\u00fcrlich hierin auch von vornherein Unterschiede. F\u00fcr uns sind diese Unterschiede, wie wichtig auch immer, accessorischer und abgeleiteter Natur.\nMan kann beispielsweise sagen, dass die grosse Septime und die kleine Sekunde sch\u00e4rfere Dissonanzen sind als die kleine Septime und die grosse Sekunde. Aber dies erkl\u00e4rt sich daraus, dass die beiden ersteren sich der relativen Distanz nach weniger von der Oktave bez. dem Einklang unterscheiden, und daher das Fortschritts- und Aufl\u00f6sungsbed\u00fcrfniss hier ein gr\u00f6sseres ist. Auch die Schwebungen sind nicht ohne Wirkung, doch halte ich den genannten mehr \u00e4sthetischen Umstand f\u00fcr weit ausschlaggebender. Aber auch der Zusammenhang, der successive und der gleichzeitige, macht einen Unterschied in der \u201eSch\u00e4rfe\u201c bei einunddemselben dissonanten Intervall, w\u00e4hrend der Verschmelzungsgrad vom Zusammenhang nicht mitbedingt ist. Auf dieser Bedeutung des Zusammenhanges beruht es auch, dass man das Epitheton \u201escharf dissonant\u201c h\u00e4ufiger von Akkorden als von Zweikl\u00e4ngen aussagt. Denn die Modulation vollzieht sich nicht in Zweikl\u00e4ngen, sondern durchaus in Akkorden ; bei zweistimmigen Liedern werden die Zweikl\u00e4nge als unvollst\u00e4ndige Akkorde aufgefasst und in Gedanken erg\u00e4nzt.\nEs erscheint daher gerechtfertigt, wenn bei einer strengen Klassifikation und Definition der Intervalle nach Konsonanz und Dissonanz, wie sie an der Spitze einer Musiklehre stehen muss, die verschiedene Sch\u00e4rfe der Dissonanzen noch ausser Betracht gelassen wird. In der Durchf\u00fchrung dagegen, bei allen technischen und \u00e4sthetischen Betrachtungen und Regeln, ist der Begriff nat\u00fcrlich nicht zu entbehren.\n5. Es er\u00fcbrigt uns noch, die Konsonanzverh\u00e4ltnisse der die Oktave \u00fcberschreitenden Intervalle unter Voraussetzung der Verschmelzungsdefinition zu untersuchen. Es besteht hier bekanntlich das Gesetz, dass durch Addition der Oktave zu einem beliebigen konsonanten Intervall wieder ein konsonantes Intervall entsteht. Hier\u00fcber herrscht Einstimmigkeit. Auch das l\u00e4sst sich wohl noch ohne Widerspruch wenigstens von Seiten der Praktiker behaupten, dass diese erweiterten Intervalle sich in Hinsicht der Konsonanz ebenso zueinander verhalten wie die urspr\u00fcnglichen. Die Duodezime ist st\u00e4rker konsonant als die","page":78},{"file":"p0079.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n79\nTredezime u. s. w. Wenn wir dagegen fragen, wie sich die erweiterten Intervalle zu den urspr\u00fcnglichen verhalten, so gehen die Meinungen auseinander.\nEs ist nicht ganz leicht, hier\u00fcber durch direkte Beobachtung zu entscheiden. Sicherlich zwar sind bei den erweiterten Intervallen die beiden T\u00f6ne (gleiche St\u00e4rke vorausgesetzt) leichter auseinanderzuhalten als bei den urspr\u00fcnglichen. Aber dies beweist eine geringere Verschmelzung nur f\u00fcr diejenigen, denen die Verschmelzung schlechthin mit der Schwierigkeit der Unterscheidung zusammenf\u00e4llt. F\u00fcr uns ist sie nur eine der Bedingungen, von denen die Unterscheidung zweier gleichzeitiger T\u00f6ne abh\u00e4ngt. Eine andere Bedingung ist der Abstand der beiden T\u00f6ne in der Tonreihe. Und da dieser bei den erweiterten Intervallen gr\u00f6sser ist, so m\u00fcssen sie leichter unterscheidbar sein, auch wenn der Verschmelzungsgrad der n\u00e4mliche geblieben ist.\nUntersuchen wir daher die Konsequenzen der verschiedenen m\u00f6glichen Annahmen. Sagt man, die erweiterten Intervalle seien weniger konsonant als die urspr\u00fcnglichen, so m\u00fcsste -man erwarten, dass durch Addition einer zweiten, dritten, vierten Oktave endlich doch aus einem konsonanten ein dissonantes Intervall w\u00fcrde oder zum mindesten eine tiefere Konsonanzstufe zum Vorschein k\u00e4me, dass also die um zwei Oktaven erweiterte Quinte etwa den Konsonanzgrad einer Terz ann\u00e4hme u. s. w., was musikalisch bedenklich erscheint, da vom Verschmelzungsgrad eines Intervalls sein eigenth\u00fcmlicher Gef\u00fchlscharakter jedenfalls mitbedingt ist und dieser keine so wesentliche Ver\u00e4nderung erf\u00e4hrt. Die Oktave selbst m\u00fcsste, um etliche Oktaven erweitert, ihren Intervallcharakter mit dem der Quinte oder gar der Terz oder der Sekunde vertauschen, wenn auch immerhin mit den durch die gr\u00f6ssere Distanz der T\u00f6ne bedingten Modifikationen. Man k\u00f6nnte, um solchen Konsequenzen zu entgehen, annehmen, dass die Verringerung der Verschmelzung durch die Oktavenerweiterung so geringf\u00fcgig sei, dass selbst bei Erweiterung um drei oder vier Oktaven noch nicht die n\u00e4chst niedrige Verschmelzungsstufe entsteht. Dann k\u00f6nnen wir aber ebensowohl auch, ehe nicht Gr\u00fcnde f\u00fcr das Gegentheil vorliegen, die einfachere Annahme machen, dass der Konsonanzgrad ganz unge-\u00e4ndert bleibt.\nEine andere Annahme, die sich versuchen Hesse, w\u00e4re, dass","page":79},{"file":"p0080.txt","language":"de","ocr_de":"80\nC. Stumpf.\ndie erweiterten Intervalle \u00fcberhaupt nicht konsoniren, also nicht direkt verwandt sind, wohl aber indirekt, n\u00e4mlich durch Vermittelung des urspr\u00fcnglichen Intervalls und der Oktaven, durch deren Hinzuf\u00fcgung sie entstehen. Aber dies widerspricht nun doch offenbar der Beobachtung. Die Duodezime z. B. besitzt unzweifelhaft eine starke Verschmelzung mit dem Grundton, ebenso die Doppeloktave.\nDa somit diese beiden Wege ungangbar erscheinen, glaube ich bei der einfachsten und der Beobachtung am ungezwungensten sich f\u00fcgenden Annahme stehen bleiben zu sollen, dass die erweiterten Intervalle die gleiche Verschmelzung, also den gleichen Konsonanzgrad besitzen wie die urspr\u00fcngliche n. Wir wollen das Gesetz in dieser Form kurz als E r w e i t e r u n g s g e s e t z bezeichnen.1\n6. Hier wollen wir im Vor\u00fcbergehen auch wieder der Helmholtz\u2019sehen Lehre \u00fcber diesen Punkt gedenken. Aus seiner Definition von Konsonanz und Dissonanz durch Obert\u00f6ne und Schwebungen folgert Helmholtz (S. 319 f.) f\u00fcr die erweiterten Intervalle theilweise eine Verminderung der Konsonanz, theil-weise aber auch eine Vergr\u00f6sserung. Eine Verminderung, wenn die kleinere der Verh\u00e4ltnisszal den, die das Intervall ausdr\u00fccken, eine ungerade Zahl ist (bei 1:2, 3:4, 5:6, 3:5, 5:8) eine Vergr\u00f6sserung, wenn sie eine gerade Zahl ist (2:3, 4 : 5). Die ersteren Intervalle, sagt Helmholtz, verschlechtern sich, die anderen verbessern sich.\nDiesen Unterschied kann ich schlechterdings nicht beobachten. Soweit es sich um den Wohlklang handelt, und soweit dieser von den Obert\u00f6nen und ihren Schwebungen abh\u00e4ngt, soweit endlich in einem einzelnen Falle die bez\u00fcglichen Obert\u00f6ne wirklich vorhanden und ihre Schwebungen merklich sind, mag man ihn best\u00e4tigt finden; aber das sind ganz spezielle Voraussetzungen. Im allgemeinen weiss das musikalische Ohr nichts davon, dass die Duodezime konsonanter sein soll als die Quinte, dass die grosse Terz durch die Erweiterung zur Dezime ebenfalls konsonanter, die kleine dagegen weniger konsonant werden soll. Findet \u00fcberhaupt eine Ver\u00e4nderung Statt, so betrifft sie die grosse Terz in demselben Sinne wie die kleine. Die vielge-\n1 Vgl. dazu auch den Aufsatz \u201eNeueres \u00fcber Tonverschmelzung\u201c im folgenden Hefte, S. 14 f.","page":80},{"file":"p0081.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n81\nr\u00fchmte Durchf\u00fchrung der Helmholtz\u2019sehen Prinzipien ins Detail d\u00fcrfte daher hei genauer Vergleichung mit den Thatsachen auch hier vielmehr nur aufs neue die Unrichtigkeit der Prinzipien beweisen. Auch selbst was die Annehmlichkeit der erweiterten Intervalle betrifft, die uns hier Nebensache ist, so ist sie so wenig wie die der urspr\u00fcnglichen Intervalle in erster Linie durch die Schwebungen bestimmt. Sie h\u00e4ngt beispielsweise gerade auch von der Gr\u00f6sse des Abstandes zwischen den beiden T\u00f6nen ab; denn grosse unausgef\u00fcllte Distanzen ber\u00fchren uns im allgemeine^ weniger erfreulich.\n7. Ausser der Erweiterung ist die sogenannte Umkehrung der Intervalle zu betrachten, d. h. die Ersetzung des tieferen Tones durch seine h\u00f6here Oktave oder des h\u00f6heren durch seine tiefere Oktave, wodurch aus der Quinte eine Quarte, aus der grossen Terz eine kleine Sexte u. s. w. wird. Wenn wir zun\u00e4chst einmal versuchsweise Quinten und Quarten als Intervalle von gleicher Verschmelzungsstufe betrachten (wozu Manche hinneigen), so k\u00f6nnten wir hier\u00fcber das Gesetz aussprechen, dass die Umkehrung eines Intervalls stets ein Intervall von gleicher Konsonanz ergiebt. Nun l\u00e4sst sich das vorhin erw\u00e4hnte Gesetz von der Oktavenaddition (Erweiterungsgesetz) seinerseits auch so aussprechen: ,,Die Ersetzung des h\u00f6heren Tones in einem Intervall durch seine h\u00f6here Oktave oder des tieferen durch seine tiefere Oktave l\u00e4sst die Konsonanz un-ge\u00e4ndert.\u201c Also liessen sich dann beide Gesetze dahin zusammenfassen: \u201eErsetzung des einen Intervalltones durch seine h\u00f6here oder tiefere Oktave (Doppeloktave u. s. w.) ver\u00e4ndert die Konsonanz nicht.\u201c\nTrotz der bestechenden Allgemeinheit und Eleganz dieser Formel wird man sie schwerlich f\u00fcr exakt halten k\u00f6nnen, da sich Quinten und Quarten eben nicht f\u00fcgen wollen, deren verschiedener Verschmelzungsgrad doch unl\u00e4ugbar scheint. Umgekehrt ist es wahrscheinlich, dass nicht bloss Quinte und Quarte, sondern auch die beiden Terzen untereinander und gegen\u00fcber den Sexten, endlich auch diese untereinander feinere Verschmelzungsunterschiede aufweisen, die nur vorl\u00e4ufig nicht sicher feststellbar sind. Wir erblicken daher nicht sowohl in dem Verhalten der Quarten und Quinten, die sich dem Gesetz der Umkehrung nicht f\u00fcgen, eine Anomalie, als vielmehr in dem Umkehrungsgesetz selbst und damit auch in der allgemeineren eben erw\u00e4hnten Formel\nStumpf, Beitr\u00e4ge I.\t\u00b0","page":81},{"file":"p0082.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nnur eine Ann\u00e4herung, die ganz genau vielleicht doch auch f\u00fcr die Terzen und Sexten nicht zutrifffc.1\n8. Dass keines der \u00fcbrigen konsonanten Intervalle ausser der Oktave zu einem anderen oder zu sich selbst beliebig hinzugef\u00fcgt werden kann, ohne dass eine Dissonanz entst\u00e4nde, braucht, wenn man einmal das Gesetz der Oktavenerweiterung als gegeben zu Grunde legt, nicht mehr als besonderes Gesetz ausgesprochen zu werden. Es folgt dann aus den entstehenden Zahlenverh\u00e4ltnissen in Verbindung mit dem Erweiterungsgesetz. Die Quinte ergiebt z. B. durch Verdoppelung eine None, und diese besitzt zufolge des Erweiterungsgesetzes die Dissonanz der Sekunde. Es ist also nur selbstverst\u00e4ndlich, dass, wenn das Erweiterungsgesetz f\u00fcr die Oktave gilt, es auch nur f\u00fcr sie gilt.\nDieses Gesetz giebt daher der Oktave eine ganz eigenartige Stellung, so dass man wohl sagen kann, sie unterscheide sich mindestens ebenso \u201espezifisch\u201c von den \u00fcbrigen Konsonanzen, wie die Konsonanzen von den Dissonanzen. Eine Erkl\u00e4rung dieses Verhaltens aber, eine tiefere Begr\u00fcndung des Erweiterungsgesetzes, scheint vorl\u00e4ufig nicht m\u00f6glich zu sein. K\u00f6nnten wir \u00fcberhaupt die Verschmelzungserscheinungen weiter zur\u00fcckf\u00fchren, so w\u00fcrden wir dann wahrscheinlich auch hierf\u00fcr den Grund finden. F\u00fcr die, welche Oktavent\u00f6ne als identische T\u00f6ne definiren, bedarf das Gesetz nat\u00fcrlich \u00fcberhaupt keiner Erkl\u00e4rung; aber dieser Anschauung konnten wrir eben nicht folgen.2\n3 Auch, bei 4 : 7 gegen\u00fcber seiner Umkehrung 7 : 8 scheint es \u00e4hnlich zu sein. W\u00e4hrend das erste Intervall noch einigermassen den Konsonanzen nahesteht, d\u00fcrfte das letzte schwerlich von Jemand dazu gerechnet werden, und es liegt vielleicht hierin zugleich auch ein weiterer Grund f\u00fcr die Ausschliessung von 4 : 7 aus der Zahl der Konsonanzen ; denn bei den \u00fcbrigen Konsonanzen ergiebt auch die Umkehrung noch ein konsonantes Intervall.\n2 Eine Art von logischer oder naturphilosophischer Ableitung des Erweiterungsgesetzes versuchte Hugo Biemann, Ueber das musikalische H\u00f6ren (auch u. d. T. Musikalische Logik) 1874, S. 18. Musikalische Syntaxis, 1877, S. 10. Diese etwas scholastizirende Deduktion wird der scharfsinnige Autor wohl selbst nicht mehr anerkennen.\nPtolemaeus verglich diese Eigenschaft der Oktaven mit der Zehnzahl im dekadischen System, und auch Sp\u00e4tere gebrauchen \u00f6fters diese Vergleichung. Aber abgesehen davon, dass eine Erkl\u00e4rung damit nicht gegeben ist und sein soll, darf auch der wesentliche Unterschied nicht \u00fcbersehen werden, dass das dekadische System durch ein anderes ersetzt werden","page":82},{"file":"p0083.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n83\n9. Aus dem Gesetz der Erweiterung ergiebt sich nun eine Konsequenz hinsichtlich der sogenannten Oktaventrans-position, und es wird dadurch eine in den fr\u00fcheren Betrachtungen \u00fcber die Verwandtschaft der T\u00f6ne (unter 3) vorl\u00e4ufig eingef\u00fchrte Voraussetzung gerechtfertigt, dass n\u00e4mlich durch Versetzung eines Tones in andere Oktaven seine Verwandtschaft zu einem gegebenen Ton nicht ver\u00e4ndert wird. Wenn wir also von g durch zwei Quintenschritte zu d1 gehen und den gefundenen Ton in die tiefere Oktave setzen (d\\ so entsteht dadurch nicht eine Verwandtschaft dritten Grades, sondern sie bleibt zweiten Grades, ebenso wie wenn wir von c durch eine aufsteigende Quinte und absteigende Quarte zu demselben Ton gelangen; und auch die St\u00e4rke der Verwandtschaft wird nicht ge\u00e4ndert. Die pythagoreische Ableitung der Terz ergiebt hiernach nicht eine Verwandtschaft sechsten Grades, sondern nur vierten Grades. Es ist wohl auch bei den Verwandtschaftsberechnungen meistens nicht anders angenommen worden; aber man muss sich vergegenw\u00e4rtigen, dass diese Voraussetzung nur dann zul\u00e4ssig ist, wenn man das Erweiterungsgesetz in der obigen strengen Form zu Grunde legt. Zum mindesten w\u00fcrde sich sonst die St\u00e4rke der Verwandtschaft durch jede Oktaventransposition verringern; nach der einen der oben besprochenen Anschauungen (wonach die T\u00f6ne der erweiterten Intervalle nur indirekt verwandt w\u00e4ren) w\u00fcrde aber auch der Grad der Verwandtschaft mit jeder Oktave in den n\u00e4chstentfernteren Grad \u00fcbergehen.\nk\u00f6nnte, w\u00e4hrend die \u201eErweiterung\u201c um ein anderes Intervall absolut undurchf\u00fchrbar ist.\nTabtini allerdings hat einmal die seltsame Meinung ausgesprochen, dass es sich auch bei der Oktave mehr um ein blosses Herkommen als um Naturnothwendigkeit handle (Trattato di musica 1754, p. 74: pi\u00f9 per uso che per ragione). Man muss diese Schrulle \u2014 anders kann man den Gedanken nicht bezeichnen \u2014 dem grossen Musiker und Theoretiker zu Gute halten.\n6*","page":83},{"file":"p0084.txt","language":"de","ocr_de":"84\nG. Stumpf.\nAchtes Kapitel.\n(Jeher die dualistische Konsonauzdefinition und die Lehre von der IOangvertretimg.\nWir kehren nun noch einmal zur Kritik zur\u00fcck, um eine geistreich erdachte und ansprechend durchgef\u00fchrte Anschauung zu w\u00fcrdigen, deren Grundgedanken bereits im 16. Jahrhundert von Zaelino, dem Vater der modernen Harmonielehre, ausgesprochen, im vorigen Jahrhundert von Rameau und Taetini weitergef\u00fchrt, in der neueren Zeit von Moeitz Hauptmann aufgenommen und dann durch verschiedene Schriftsteller, am ausf\u00fchrlichsten von A. v. Oettingen und Hugo Riemann zu einer durchgehildeten Musiktheorie entwickelt wurden. Der Grundgedanke besteht darin, dass der Dur- und der Molldreiklang sich wie Spiegelbilder zueinander verhalten. Diese Idee, die zun\u00e4chst vielleicht mit jedem Konsonanzbegriff vertr\u00e4glich scheint, hat ihre Anh\u00e4nger gleichwohl zu einer ganz neuen Auffassung dieses Begriffes, zur sogenannten Klangvertretungslehre, hingedr\u00e4ngt. Die Betrachtungen hier\u00fcber werden sich uns jetzt einfacher und einleuchtender gestalten, als wenn wir sie an fr\u00fcheren Stellen eingeschaltet h\u00e4tten. Und es wird zugleich das positiv Wahre dieser Anschauungen als eine Erg\u00e4nzung zu den letzten Betrachtungen hinzukommen. Wir halten uns dabei an die Darstellung der beiden zuletzt erw\u00e4hnten Schriftsteller.1\nHauptpunkte der Lehre.\n1. Diese Theorie nimmt ihren Weg nicht vom Konsonanzbegriffe zum Verwandtschaftsbegriff, sondern umgekehrt. In der Definition der Verwandtschaft selbst legt Getting en gegen Helmholtz Gewicht darauf, dass der Wohlklang einer Tonkombination\n1 A. y. Oettingen, Harmoniesystem in dualer Entwickelung, 1866. Hugo Biemann hat seine Anschauungen in \u00e4usserst zahlreichen Schriften vertreten, zugleich allerdings mit manchen Modifikationen hinsichtlich der \u201eUntertonlehre\u201c. Besonders kommen in Betracht: Musikalische Logik, 1874. Musikalische Syntaxis, 1877. Skizze einer neuen Methode der Harmonielehre, 1880. Natur der Harmonik, 1882. Handbuch der Harmonielehre, 1887. Katechismus der Harmonielehre, 1890. Katechismus der Akustik, 1891. Musiklexikon, 4. Aufl., 1894. Auch vgl. den Aufsatz: \u201eWas ist Dissonanz ?a im Deutschen Musikerkalender 1898.","page":84},{"file":"p0085.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n85\nund ihr Verwandtschaftsgrad durchaus voneinander zu trennen seien. Die Verwandtschaft (zun\u00e4chst die direkte, auf die es hier allein ankommt) wird definirt mit H\u00fclfe der Obert\u00f6ne, bezw. Untert\u00f6ne. Hierbei gehen aber Oettingen und Hiemann einen verschiedenen Weg.\nOettingen benutzt nur die Obert\u00f6ne, aber in doppelter Weise: c\\ e1, g1 sind Obert\u00f6ne eines gemeinschaftlichen Grundtones (C); e1, es1, g1 dagegen haben einen gemeinschaftlichen Oberton (g% Man wird auf dem Klavier leicht sehen, dass der gemeinschaftliche Grundton im ersten und der gemeinschaftliche Oberton im zweiten Fall symmetrisch zu den Dreiklangst\u00f6nen liegen, gleich weit nach entgegengesetzten Seiten. Der Molldreiklang ist also ganz dasselbe wie der Durdreiklang, nur von entgegengesetzter Seite her betrachtet, wie denn auch die Reihenfolge der beiden darin vereinigten Terzen dieselbe ist, wenn man einmal von oben, das anderemal von unten kommt.\nVerwandt (im ersten Grade) sind also nach Oettingen Kl\u00e4nge, welche entweder gleiche Theilt\u00f6ne haben oder welche Theilt\u00f6ne eines und desselben Grundtones sind. Die Eigenschaft eines Intervalls oder Akkords, als Bestandtheil eines Grundtones aufgefasst werden zu k\u00f6nnen, nennt Oettingen Tonizit\u00e4t und den entsprechenden Grundton tonischen Grundton oder Tonika; die Eigenschaft eines Intervalls oder Akkords hingegen, einen allen T\u00f6nen gemeinsamen Theilton zu besitzen, Phonizit\u00e4t und den entsprechenden Oberton phonischen Oberton oder Phonika.\nRiemann setzt den Obert\u00f6nen die Unter t\u00f6ne entgegen und kommt auf diesem Wege zu dem gleichen Ergebniss.\nSind c\\ e1, g1 Obert\u00f6ne von C, so sind c\\ es1, g1 Untert\u00f6ne von gs. Riemann nennt auch wohl den ganzen ersten Dreiklang ,,Oberklang von Cu, den zweiten \u201eUnterklang von Er weist darauf hin, dass eine Saite von der Schwingungszahl n nicht","page":85},{"file":"p0086.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nbloss Saiten von den Schwingungszahlen 2 w, 3 n u. s. w. (Obert\u00f6ne), sondern auch solche von den Schwingungszahlen n/2, n/3 u. s. w. in Mitschwingungen versetzen und dass dies auch in der Ohren-Klaviatur stattfinden m\u00fcsse. Er glaubte fr\u00fcher solche Untert\u00f6ne auch wirklich zu h\u00f6ren. Sp\u00e4ter allerdings ist er davon zur\u00fcckgekommen, wie sie denn in der That nicht zu h\u00f6ren sind.1 Die mitschwingenden Saiten n/2 u. s. w. schwingen nur in Abtheilungen mit, deren jede der erregenden Saite gleich ist und den Ton dieser Saite, nicht aber einen tieferen Ton h\u00f6ren l\u00e4sst. Dennoch meint Riemann wenigstens diese rein physikalische Thatsache, dass tiefere Saiten auf h\u00f6here mitsch win gen, zur St\u00fctze der Untertonlehre ben\u00fctzen zu k\u00f6nnen. Freilich ist nicht abzusehen, wie im Bewusstsein ein Verwandtschaftsgef\u00fchl f\u00fcr zwei T\u00f6ne zu Stande kommen soll durch einen dritten, der f\u00fcr das Bewusstsein gar nicht vorhanden ist.\nEine andere St\u00fctze findet aber Riemann noch in den Kombinationst\u00f6nen, auf die bereits Taktini seine dualistische Auffassung gegr\u00fcndet hatte.2 Diese liegen ja in der That unter den prim\u00e4ren T\u00f6nen und sind f\u00fcr das Ohr wirklich vorhanden. Aber das Ungl\u00fcck will es, dass nur der Durakkord einen gemeinschaftlichen Kombinationston hat, welcher dem gesuchten Unterton entsprechen w\u00fcrde: die beiden Terzen n\u00e4mlich, c1\u2014e1 und e1\u2014g1, haben einen gemeinschaftlichen Kombinationston 0, ebenso wie sie selbst aus gemeinschaftlichen Obert\u00f6nen dieses Tones bestehen. Dagegen der Molldreiklang e1\u2014es1\u2014g1 l\u00e4sst mehrere verschiedene Kombinationst\u00f6ne h\u00f6ren, die den Differenzen seiner Verh\u00e4ltnisszahlen 10, 12 und 15 untereinander entsprechen, und noch andere.3\nAber was sollen \u00fcberhaupt die Kombinationst\u00f6ne nach der dualistischen Theorie f\u00fcr das Moll? Die Theorie braucht ja\n1\tVgl. Tonpsych. II, 264f. In dem ,,Katechismus der Akustik\u201c (1891) glaubt Riemann sogar einen deduktiven Beweis f\u00fchren zu k\u00f6nnen, dass die Untert\u00f6ne aus physikalischen Gr\u00fcnden nicht m\u00f6glich sind. Der Beweis scheint mir nicht gelungen zu sein, aber es gen\u00fcgt schon, wenn sie thats\u00e4chlieh nicht zu h\u00f6ren sind. Einen strengen Beweis f\u00fcr ihre Unm\u00f6glichkeit k\u00f6nnen wir erst dann liefern, wenn wir den physiologischen Mechanismus des H\u00f6rens genau kennen.\n2\tVon den ebenfalls angezogenen \u201eKlirrt\u00f6nen\u201c d\u00fcrfen wir hier wohl absehen.\n3\tVgl. M. Meyer\u2019s Aufsatz \u00fcber Differenzt\u00f6ne im folgenden Heft, S. 28.","page":86},{"file":"p0087.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n87\nnicht einen gemeinschaftlichen Unterton der drei Mollt\u00f6ne, sondern diese drei T\u00f6ne selbst sollen die gemeinschaftlichen Untert\u00f6ne eines \u00fcber ihnen gelegenen Tones g3 sein. Dass aber g3 f\u00fcr sich allein diese drei T\u00f6ne als Kombinationst\u00f6ne hervorbr\u00e4chte, w\u00e4re ein vollkommener Unsinn. Ich sehe also nicht, wie Riemann die Kombinationst\u00f6ne f\u00fcr seine Zwecke verwenden will. Und so scheint mir die Betrachtungsweise Oettingen\u2019s der Theorie g\u00fcnstiger. Denn mit Untert\u00f6nen, die man sich als eine blosse Fiktion nach Analogie der Obert\u00f6ne ausdenken k\u00f6nnte, l\u00e4sst sich doch eine Theorie nicht begr\u00fcnden. Wir halten uns daher des weiteren in der Darstellung und Diskussion an die Oettingen-sche Form der Lehre, jedoch mit Ber\u00fccksichtigung der sonstigen Erg\u00e4nzungen Riemann\u2019s hinsichtlich der Durchf\u00fchrung.\n2. Fahren wir zun\u00e4chst in der Darstellung fort. Mit der ersten These, der Definition der Verwandtschaft, h\u00e4ngt eng eine zweite zusammen, wodurch sich die Lehre Oettingen\u2019s von der Helmholtz\u2019 nicht minder wesentlich als durch das dualistische Prinzip unterscheidet, die aber gew\u00f6hnlich nicht so in den Vordergrund gestellt oder ganz \u00fcbersehen wird: nach Oettingen kommt es bei der Auffassung der Verwandtschaft auf die reelle Existenz der Ober t\u00f6ne nicht an.1\nWenn wir den Dur dreiklang c1\u2014e3\u2014g1 h\u00f6ren, h\u00f6ren wir die T\u00f6ne augenblicklich nicht als Obert\u00f6ne von C (dass dieses als Differenzton miterklingt, ist f\u00fcr Oettingen nebens\u00e4chlich). Wir k\u00f6nnen sie also nur auf Grund der Erinnerung auf C als Grundton beziehen, nachdem wir oft genug erfahren haben, dass sie in diesem enthalten sind.\nBei der phonischen Verwandtschaft der Mollt\u00f6ne k\u00f6nnen wir unter Umst\u00e4nden allerdings g3 als gemeinsamen Oberton wirklich h\u00f6ren. Aber wenn es sich um obertonlose Kl\u00e4nge handelt, muss auch hier Erinnerung helfen, nach dem Prinzip, dass \u201ejeder Partialton eines Klanges nachher ein im Ged\u00e4chtniss vorhandener Ton ist.\u201c 2\n1\tS. 40 f., 47, bes. 52. Oettingen selbst hat diese These nicht so einheitlich zusammenh\u00e4ngend vorgetragen und an den Hauptstellen einige f\u00fcr mich nicht zu beseitigende Dunkelheiten gelassen.\n2\tS. 47, zun\u00e4chst zur Erl\u00e4uterung der HELMHOLTz\u2019schen Lehre gesagt,\naber auch als Grundlage der eigenen, wenn ich recht verstehe.","page":87},{"file":"p0088.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nOettingen schliesst auch weiter, dass die St\u00e4rke der Verwandtschaft (also z. B. die st\u00e4rkere Verwandtschaft der Quintent\u00f6ne gegen\u00fcber den Terzt\u00f6nen) unabh\u00e4ngig sei von der St\u00e4rke der Obert\u00f6ne. Sie ist nur bestimmt durch die Ordnungszahlen der Obert\u00f6ne. Welche funktionelle Beziehung aber zwischen den Ordnungszahlen der koinzidirenden Theilt\u00f6ne und den Verwandtschaftsgraden besteht, das \u201ed\u00fcrfte sehr schwer zu finden sein.\u201c 1\n3. Die Br\u00fccke vom Verwandtschafts- zum Konsonanzbegriff bildet nun das Prinzip der Klang Vertretung.2 Der Einzelklang 0, welcher, in idealer Vollst\u00e4ndigkeit gedacht, die s\u00e4mmtlichen Theilt\u00f6ne enth\u00e4lt, die Multipla seines Grundtones darstellen, kann durch eine bestimmte charakteristische Gruppe von Theilt\u00f6nen \u201evertreten\u201c werden ; d. h. wenn wir diese T\u00f6ne h\u00f6ren, verstehen wir sie als Elemente des Gesammtklanges, beziehen sie auf diesen, auch wenn wir den Grundton nicht aktuell h\u00f6ren, und sie erhalten durch diese gemeinschaftlichen Beziehungen eine einheitliche Verkn\u00fcpfung untereinander. So sind die T\u00f6ne des Durakkordes c3\u2014e3-\u2014g1 charakteristisch f\u00fcr den Einzelklang G, dessen vierten, f\u00fcnften und sechsten Theilton sie bilden. Umgekehrt k\u00f6nnen wir aber auch mehrere T\u00f6ne auf einen gemeinschaftlichen Oberton beziehen, wie beim Molldreiklang.\nWenn und insofern mehrere T\u00f6ne sich auf einen gemeinschaftlichen Grundton oder Oberton beziehen lassen, nennen wir sie konsonant, und zwar je nachdem tonisch oder phonisch konsonant. Dissonanz hingegen ist das gleichzeitige Bestehen zweier oder mehrerer Kl\u00e4nge3, d. h. die Verbindung mehrerer T\u00f6ne, die nicht auf einen gemeinschaftlichen Grundton oder Oberton bezogen werden k\u00f6nnen. So beruht die Dissonanz von c1\u2014e1\u2014gis1 auf dem gleichzeitigen Bestehen des C- und des E-\n1\tS. 53. In der Anmerkung entwickelt Oettingken eine Hypothese, welche aber auf blosse Zahlenspekulationen hinausl\u00e4uft und die er selbst nicht befriedigend findet.\n2\tS. 2. Der eigentliche Urheber der neuen Klangvertretungslehre ist Helmholtz, aber er hat sie nur f\u00fcr den Durdreiklang durchgef\u00fchrt (im 15. Abschnitt seines Werkes).\n3\tS. 228. Unter \u201eKlang\u201c ist hier immer ein aus Grundton und Obert\u00f6nen bestehender Toncomplex verstanden.","page":88},{"file":"p0089.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n89\nKlanges; da c1 und e1 in jenem, e1 und gis1 in diesem, alle drei zugleich aber nicht in einunddemselben Klange Vorkommen.\nHieraus ergiebt sich: a) dass Zweikl\u00e4nge niemals eindeutig als konsonant oder dissonant zu bezeichnen sind (S. 224, 230). e1, g1 kann Bestandtheil des C-Klanges sein, aber auch ebenso gut auf den gemeinsamen Oberton hs bezogen werden. Dagegen c1\u2014e3\u2014g1 kann nur tonisch, als Bestandtheil von 0, verstanden werden, c1\u2014es1\u2014g1 nur phonisch, vermittelst des Obertons gz. Daher f\u00fchrt Oettengen \u00fcberhaupt den Begriff konsonant und dissonant in seinem Werke nur zugleich mit dem Begriffe des Dreiklanges ein (S. 35 f.).\nb) Aber auch die beiden konsonanten Dreikl\u00e4nge sind nicht unbedingt konsonant. Vielmehr ist der Durdreiklang phonisch dissonant und der Molldreiklang tonisch dissonant; denn wir scheitern, wenn wir c3\u2014e1\u2014gl auf einen gemeinschaftlichen Oberton oder c1\u2014es1\u2014gx auf einen gemeinschaftlichen Grundton beziehen wollen.\n4. Endlich ist es eine von den Vertretern der Lehre mit besonderem Nachdruck betonte Konsequenz, dass der Haupt-ton des Molldreiklanges nicht wie beim Dur im tiefsten, sondern im h\u00f6chsten Ton des Dreiklanges liegt. Das sogenannte C-Moll ist eigentlich G'-Moll. Denn Hauptton ist nat\u00fcrlich derjenige, auf welchen alle \u00fcbrigen bezogen werden, durch den sie ihre einheitliche Verkn\u00fcpfung empfangen. Dies w\u00e4re nun zun\u00e4chst \u00fcberhaupt nicht ein Ton des Dreiklanges selbst, sondern ein viel tiefer oder h\u00f6her liegender; aber gem\u00e4ss dem Prinzip der Identit\u00e4t oder Aequivalenz der Oktave (welches von Oettingen vorausgesetzt, von Riemaek als besondere unzur\u00fcck-f\u00fchrbare Thatsache hervorgehoben wird) ist derjenige Ton des Dreiklanges, der die h\u00f6here oder tiefere Oktave jenes Haupttones bildet, gleichfalls als Hauptton anzusehen, also beim Mollakkord e1\u2014es3\u2014g1 der Ton gx\\ die bisher sogenannte Dominante.\nMan will zwar die Bezeichnung \u201eGrundton\u201c f\u00fcr c1 nicht abschaffen, aber sie bedeutet f\u00fcr die Dualisten nur eben \u201etiefster Ton des Dreiklangs\u201c, und einer muss ja der tiefste sein. Beine Funktion hat er durchaus an g1 abgetreten. Und selbst der tiefste ist er nur im Dreiklang, nicht in der Leiter; denn die sogenannte C-Moll-Leiter geht f\u00fcr den Dualisten von g1 bis g, vom Hauptton abw\u00e4rts bis zu seiner tieferen Oktave.\nHieraus erkl\u00e4rt die dualistische Theorie den Gef\u00fchls-","page":89},{"file":"p0090.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nCharakter der beiden Tongeschlechter : den kr\u00e4ftig auf steigenden des Dur und den \u201ewie eine Trauerweide\u201c sich herabsenkenden des Moll (Hauptmann\u2019s Gleichniss). Die gesammte Akkord-nnd Modulationslehre, auch die technische Bezeichnungsweise der Akkorde an Stelle der \u00fcberlieferten sogenannten Generalbassbezeichnung wird hierauf begr\u00fcndet.\nWie wir sehen, f\u00fchrt die neue Lehre, w\u00e4hrend sie anscheinend nur eine Erg\u00e4nzung zu der HuLMHOLTz\u2019schen hinzuf\u00fcgt und sie gleichzeitig von der reellen Existenz der Obert\u00f6ne unabh\u00e4ngig, also vertheidigungsf\u00e4higer macht, in ihrer Durchbildung zu einer vollkommenen Umgestaltung des Konsonanzbegriffes und zum sch\u00e4rfsten Widerspruch gegen die traditionellen Anschauungen im Kreise der praktischen Musiker. Leider ist sie aber, wenn ich recht sehe, nicht bloss mit der traditionellen Theorie, was wenig zu sagen h\u00e4tte, sondern auch mit den Thatsachen des musikalischen Bewusstseins selbst, die den ersten und letzten Pr\u00fcfstein jeder Theorie bilden m\u00fcssen, in offenem Widerspruch, und \u00fcberdies nicht einmal in sich selbst konsequent.\nKritik.\n5. Vor allem kann ich von einer Beziehung der Dreiklangt\u00f6ne auf irgend etwas ausser ihnen, einen h\u00f6her oder tiefer liegenden Ton, nichts bemerken. Kein Unbefangener wird zugeben k\u00f6nnen, dass er bei c1\u2014e1\u2014g1 nothwendig das G mitv.orstellt oder gar bei c1\u2014s.P\u2014g1 das hohe g3. Ist G wirklich vorhanden (was nur der Fall ist bei gleichzeitigem H\u00f6ren, wo dann aber wieder der Differenzton nicht als gemeinschaftlicher du roll\u2019s blosse Ohr erkannt werden kann), so tragen doch die Dreiklangst\u00f6ne ihre einheitliche Verkn\u00fcpfung in sich selbst. Diese wird wahrgenommen, ohne dass der Differenzton vorher wahrgenommen w\u00e4re ; und wenn er einmal wahrgenommen wird, so wird er eben als ein weiterer konsonanter Ton, als tiefere Oktave des Grundtones c1 aufgefasst, nicht anders als wenn irgend eine h\u00f6here Oktave von c1 hinzuk\u00e4me. Man wird sich allenfalls freuen, wenn in Gestalt des Differenztons ein so w\u00fcrdiger Bass ungeraten aus der Versenkung kommt und dem Grundton des Dreiklangs noch mehr Folie giebt, gleichsam als Grossvater dieser heiligen Familie, aber man wird nicht zugeben, dass er unentbehrlich sei,","page":90},{"file":"p0091.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n91\num den einheitlichen Klang und die Zusammengeh\u00f6rigkeit der Dreiklangst\u00f6ne selbst zu w\u00fcrdigen.\nAehnliches gilt heim Moll dreiklang f\u00fcr das g3, nur dass man dieses mit dem besten Willen weder als Stammvater noch als Enkel auffassen wird. Es ist f\u00fcr das musikalische Geh\u00f6r ganz einfach \u00fcberfl\u00fcssig. \u201eRhhig mag ich Euch erscheinen, ruhig gehen sehn.\u201c\n6. Ferner scheint es mir keine Verbesserung der Helmholtz-schen Lehre, die Theorie der Verwandtschaft mit ihm auf die Obert\u00f6ne zu gr\u00fcnden, aber zugleich das reelle Vorhandensein und die St\u00e4rke derselben im einzelnen Fall als irrelevant zu bezeichnen, und die Erinnerung an die Obert\u00f6ne, die f\u00fcr Helmholtz einen Nothbehelf im Fall obertonloser Kl\u00e4nge bildet, zu dem psychologischen Hauptfaktor des Verwandtschaftsbewusstseins zu machen; wie dies freilich in Konsequenz von Oettingkee\u2019s Lehre geschehen muss. Wir sahen, dass schon bei Helmholtz der Nothhelfer die Sache nur schlimmer macht; dasselbe gilt hier in verst\u00e4rktem Masse. Es widerspricht aller Psychologie, dass \u201ejeder Partialton nachher ein im Ged\u00e4chtniss vorhandener Ton sei\u201c. Damit etwas im Ged\u00e4chtniss reproduzirt werden kann, ist erforderlich, dass es seinerzeit im Gesammteindruck irgendwie bemerkt wrar.3 Der Akustiker, der sich auf das Heraush\u00f6ren der Obert\u00f6ne einge\u00fcbt und \u00fcber die Zusammensetzung der Kl\u00e4nge Erfahrungen gemacht hat, kann wohl durch c1 *\u2014e1\u2014g1 an C und dessen Zusammensetzung erinnert werden, zur Noth auch bei c3\u2014es3\u2014g1 an ihren gemeinschaftlichen Oberton g3 (obschon ich es genau gesprochen f\u00fcr ziemlich schwierig halte, das tiefe C und das hohe g3 deutlich vorzustellen, oder gar, wenn wir c\u2014e\u2014g h\u00f6ren, und wenn wir cs\u2014es*\u2014g3 h\u00f6ren, gb). Aber wie viel tausend Musiker wissen \u00fcberhaupt nichts von Obert\u00f6nen \u2014 die ganze alte Welt wusste nichts davon \u2014, k\u00f6nnen sich also auch nicht daran erinnern, verm\u00f6gen aber die Konsonanz so gut zu erkennen wie die besten Akustiker.\nSo richtig es ist, dass das sogenannte musikalische H\u00f6ren viel mehr Ged\u00e4chtniss- und Denkleistung einschliesst als man gew\u00f6hnlich annimmt : gerade hier bei der Erfassung der Konsonanz\n1 Vgl. Tonpsych. II, S. 3601 Sollte einer vielleicht Ausnahmen von dieser\nRegel f\u00fcr m\u00f6glich halten : in keinem Fall wird doch Oettingen\u2019s Behauptung\nin ihrer positiven und allgemeinen Form auf Zustimmung rechnen k\u00f6nnen.","page":91},{"file":"p0092.txt","language":"de","ocr_de":"92\nC. Stumpf.\nund Dissonanz d\u00fcrfen wir nicht zu diesem Erkl\u00e4rungsmittel greifen, hier kann nur eine direkt sinnlich wahrnehmbare Eigen-th\u00fcmlichkeit Ursache sein.\nInfolgedessen fehlt psychologisch die Br\u00fccke zwischen der Ordnungszahl der Theilt\u00f6ne und dem Verwandtschaftsurtheil. Man sieht nicht ein, wie aus der ersteren Thatsache die zweite hervorgehen soll. Diesen Mangel scheint Oettikg-en auch selbst an der Stelle empfunden zu haben, wo er zugesteht, dass die funktionelle Beziehung zwischen den Ordnungszahlen der koinzidirenden Theilt\u00f6ne und dem Verwandtschaftsgrad schwer zu finden sei. Sobald die auf Obert\u00f6ne gegr\u00fcndete Verwandtschaftslehre die reelle Existenz und St\u00e4rke der Obert\u00f6ne im einzelnen Fall als irrelevant ansieht, verliert sie ihre einzige feste Grundlage. An die Stelle wirklicher Erkl\u00e4rungen tritt nun ein blosses Zahlenspiel. Denn die Obert\u00f6ne sind dann f\u00fcr die Verwandtschaftsberechnung weiter nichts als die abstrakten Mul-tipla der Schwingungszahlen. Oetttxgen spricht die Hauptregel der Verwandtschaft so aus: \u201eDer Generalnenner der Br\u00fcche, welche das Schwingungsverh\u00e4ltniss der T\u00f6ne darstellen, giebt den tonischen Grundton, der Generalz\u00e4hler den phonischen Oberton.\u201c Gut also, da es auf die Realit\u00e4t der Obert\u00f6ne nicht ankommen soll, so k\u00f6nnen wir f\u00fcr tonischen Grund- und phonischen Oberton schlechtweg Generalnenner und Generalz\u00e4hler setzen und die ganze Lehre von den Obert\u00f6nen ruhig beiseite lassen. Das Verst\u00e4ndniss des psychologischen Herganges ist durch sie nicht zu gewinnen, und f\u00fcr die Formulirung der Thatsachen ist sie \u00fcberfl\u00fcssig. Wir erhalten eine besondere Form der Verwandtschaftsberechnung, komplizirter, vielleicht auch zureichender, als die der Pythagoreer; aber wir erhalten keine Theorie.\n7. Mit dem, was wir unter 5. bemerkten, ist zugleich gesagt, dass wir das Prinzip der Klangvertretung nicht als ein psychologisch richtiges anerkennen. So wahr es ist, dass das Bewusstsein des gegenw\u00e4rtigen durchgebildeten Musikers jeden Einzelklang als Theil eines Akkordes auffasst, so unrichtig ist es, dass jeder Akkord umgekehrt auf einen Einzelklang bezogen und nur dadurch verstanden w\u00fcrde. Diese Klangvertretungslehre ist nicht durch die Beobachtung und Analyse des musikalischen Bewusstseins gewonnen, sondern lediglich durch die Reflexionen mathematischer Akustiker, denen das Vorkommen des Dreiklanges in der Obertonreihe eines Einzelklanges (notabene","page":92},{"file":"p0093.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n93\nwenn die Obertonreihe l\u00fcckenlos ist) zu merkw\u00fcrdig erschien, als dass man daraus nicht f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der Konsonanz Kapital schlagen sollte. Aber die vollst\u00e4ndige Reihe der Partialt\u00f6ne mit regelm\u00e4ssig abnehmender Intensit\u00e4t ist ja selbst nur ein Grenzfall, und \u00fcberdies giebt es ausser den in einfachen rationalen Z\u00e4hlenverh\u00e4ltnissen stehenden Beit\u00f6nen noch andere, die sogenannten unharmonischen \u2014 und wodurch unterscheiden sich min diese von jenen f\u00fcr das Ohr? Wenn man nicht in eine petitio principii verfallen will, wird man sagen m\u00fcssen : Wir nennen nicht den Dreiklang konsonant, weil seine T\u00f6ne gewissen Obert\u00f6nen eines Klanges entsprechen, sondern wir nennen gewisse Obert\u00f6ne harmonische (konsonante) Obert\u00f6ne, weil sie konsonanten Einzelt\u00f6nen entsprechen.\n8. Das schlimmste ist nun aber, dass das Prinzip der Klangvertretung gerade beim Moll, auf dessen befriedigende Erkl\u00e4rung die dualistische Theorie ausdr\u00fccklich zugespitzt ist, versagt. Welchen Einzelklang vertritt denn der Dreiklang den des phonischen Obertons y8? Das m\u00fcsste man nach Analogie des Dur erwarten. Ebenso wie e1 e1 g1 den Einzelklang C vertritt, worin diese T\u00f6ne als Theilt\u00f6ne enthalten sind, ebenso muss e1\u2014es1\u2014g1 den Einzelklang g3 vertreten. Aber der #3-Klang w\u00e4re dieser : g9\\ g4,\tg6, h6 u. s. w. Darin sind\njene doch nicht enthalten.\nDieser Umstand ist es offenbar, der Riemaen zu seiner Untertonlehre trieb ; denn hiernach ist allerdings in g3 der Molldreiklang in Form von Untert\u00f6nen enthalten, ganz ebenso wie in G der Durdreiklang in Form von Obert\u00f6nen. Dadurch wird erst wirklich die Symmetrie hergestellt. Aber wir haben bereits gesehen (1.), dass uns die Untertonlehre selbst wieder in Konflikt mit den Thatsachen bringt. Und so scheint mir die dualistische Theorie gerade im Hauptmoment ihres Triumphes fl\u00fcgellahm zu werden.\nIch habe mich ehrlich bem\u00fcht, Oettingen\u2019s Lehre hierin gerecht zu werden, da ich nicht glauben konnte, dass ein sonst so konsequent durchgef\u00fchrtes System an einer Unklarheit des Hauptpunktes leide. Aber ich bin nicht zu einem befriedigenden Verst\u00e4ndniss gelangt. Dass der einfache Ton g3 in den Molldreiklangst\u00f6nen enthalten ist oder sein kann, ist offenbar ; aber wie soll dies zu einer Klang Vertretung f\u00fchren? Man kann es . sinnvoll finden, dass ein Gesammtklang C, aus vielen Theilen","page":93},{"file":"p0094.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nbestehend, durch einige davon vertreten wird. Aber was soll es heissen, dass ein hohes Einzelt\u00f6nchen gs durch drei Gesammt-kl\u00e4nge, in denen es gemeinschaftlich Vorkommen kann, \u201evertreten\u201c werde? Kann man sagen, dass ein chemisch einfacher Stoff durch drei Verbindungen vertreten wird, in denen er sich gleiehermaassen findet, oder dass ein Beamter durch drei Kollegien vertreten wird, denen er angeh\u00f6rt? Oder soll \u201eVertretung\u201c in unserm Fall nur eben der Ausdruck f\u00fcr die Thatsache sein, dass uns der Dreiklang c]\u2014\u25a0es1\u2014g1 an den Theilton gs erinnert? Ich meine, abgesehen von der Bedenklichkeit der Erinnerungstheorie, dass uns diese Eigenschaft des Molldreiklanges sehr gleichg\u00fcltig sein k\u00f6nnte und schwerlich ein starkes Band der Einheit zwischen den drei T\u00f6nen in unserm Bewusstsein hersteilen w\u00fcrde, wenn diese sonst nichts miteinander zu thun h\u00e4tten. Beim Dur mag man die Zugeh\u00f6rigkeit zu einunddemselben vielfach vorkommenden Tonkomplex mit starkem Grundton, der alle seine Trabanten gleichsam zusammenh\u00e4lt, immerhin als eine Art von geistigem Band unter den drei T\u00f6nen ansehen, besonders wenn man auf Gleichnisse wie das eben erw\u00e4hnte Gewicht legen will. Aber wie das Mitt\u00f6nen und vollends die Erinnerung an ein fr\u00fcheres Mitget\u00f6nthaben eines entfernten d\u00fcnnen Obertons drei gegenw\u00e4rtige starke Einzelt\u00f6ne untereinander verkn\u00fcpfen und eine Verwandtschaft engster Art unter ihnen begr\u00fcnden soll, \u2014 das ist schwer abzusehen.\nMan m\u00fcsste nun Adelleicht folgende Wendung versuchen : Im Dur-Falle vertreten drei Einzelt\u00f6ne einen tieferen Klang, in welchem sie als Theilt\u00f6ne enthalten sind; im Moll-Falle vertritt ein hoher Einzelton drei Kl\u00e4nge, in denen er als Einzelton enthalten ist. Der Dreiklang vertritt hier also nicht, sondern wird vertreten. So hat Oettingen selbst das Verh\u00e4ltniss nicht formulirt. So entspr\u00e4che es aber auch nicht seiner Intention und den Grunds\u00e4tzen der KlangAvrtretungslehre. Die drei T\u00f6ne, welche wir h\u00f6ren, sollen in allen F\u00e4llen als Klangwertreter eines hinzuzudenkenden Gesammtklanges, niemals als Vertretene aufgefasst werden, im Moll wie im Dur. Der Gegensatz soll nur darin liegen, dass im einen Fall ein tonischer Klang, im anderen ein phonischer Klang durch sie A^ertreten wird.1 Was f\u00fcr einen\n1 Ygl. Oettingen S. 2: \u201eIn der Anschauung, die Akkorde als Vertreter von Kl\u00e4ngen anzusehen, d. h. im Prinzip der Klangvertretung","page":94},{"file":"p0095.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n95\nSinn h\u00e4tte es denn auch, einen \u201eVertreter\u201c hinzuzudenken, wenn wir die drei T\u00f6ne selbst gegenw\u00e4rtig haben?\nWie man also auch die Sache wenden will, es kommt keine Klarheit hinein, und Helmholtz d\u00fcrfte wohl gewusst haben, warum er von der Klangvertretung nur beim Dur Anwendung machte.\n9. Halten wir uns nun an das' Dur, wo das Prinzip der Klangvertretung verst\u00e4ndlich ist, so m\u00fcssen wir die Frage aufwerfen, warum denn unter den Theilt\u00f6nen nur der vierte, f\u00fcnfte und sechste den Vorzug gemessen sollen, Vertreter des Ge-sammtklanges zu sein. Der zweite, dritte, achte, zehnte, zw\u00f6lfte bringen allerdings nach dem Prinzip der Oktaven\u00e4quivalenz nichts Neues. Aber der siebente, neunte, elfte, dreizehnte? \u2014 Hierauf findet sich eine Antwort bei Kiemann : der siebente Oberton* 1 weicht nur um ein geringes ab vom neunten Unterton, und der neunte Oberton wieder nur um ein geringes vom siebenten Unterton. Ebenso stimmt der elfte Oberton mit dem dritten Unterton, der dreizehnte mit dem f\u00fcnften u. s. w. nahezu \u00fcberein. Sie w\u00fcrden daher, in die gemeinschaftliche Oktave transponirt, zu nahe aneinander gerathen und zu leicht unter sich oder mit den bereits feststehenden verwechselt werden.\nHieraus kann man verstehen, warum sie aus der Melodie ausgeschlossen werden. Aber immerhin m\u00fcsste z. B. ein Dreiklang aus dem siebenten, achten und neunten Theilton, welche in vielen musikalischen Kl\u00e4ngen noch von erheblicher St\u00e4rke und oft sogar leichter wahrnehmbar sind als die darunter liegenden, oder auch der Dreiklang 5 : 8 : 11 oder 7 : 9 : 11 oder 9 : 11 : 13 oder 5 : 9 : 13 als Vertreter des Gesammtklanges wohl verst\u00e4ndlich, also ex definitione konsonant sein. Man sieht nicht ein, warum diese Dreikl\u00e4nge nicht auch Anspruch haben sollten, im Peichsrath der Akkorde das Gebiet des grossen G zu vertreten. Aber nun h\u00f6re man sie! Man wird sich schwerlich ent-schliessen, hier noch von Konsonanz zu reden. Helmholtz k\u00f6nnte den Ausschluss solcher Kl\u00e4nge aus der Klangvertretung\nliegt die geeignete Grundlage f\u00fcr eine rationelle Theorie der Musik.\u201c S. 64: \u201eUnter Phonalit\u00e4t verstehe ich das Prinzip, demzufolge die Gesammt-masse der T\u00f6ne (eines Mollsystems) aus einer phonischen Klangvertretung entsprungen. Den Schwerpunkt des Systems nenne ich die Phonika.\u201c\n1 Hierbei nummeriren wir mit Kiemann die Obert\u00f6ne so, dass der Grundton als erster Oberton gerechnet wird, und analog bei den Untert\u00f6nen.","page":95},{"file":"p0096.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nnoch wenigstens theilweise motiviren, indem er auf die (freilich schwachen und nur in h\u00f6herer Lage merklichen) Schwebungen hinwiese; aber Oettingen, der sich in der richtigen Erkennt-niss, dass diese Erkl\u00e4rung nicht gen\u00fcgt, prinzipiell von der R\u00fccksicht auf den 'Wohlklang und die Schwebungen lossagt, hat sich damit auch eine solche partielle Rechtfertigung abgeschnitten. Er spricht von vornherein von Kl\u00e4ngen nur im Sinne der Kl\u00e4nge mit harmonischen Obert\u00f6nen, als wenn die Theilt\u00f6ne vom siebenten an gar nicht vorhanden w\u00e4ren.\n10. Die Konsequenz der Lehre, dass bei Zweikl\u00e4ngen wegen ihrer Mehrdeutigkeit von Konsonanz nicht eigentlich gesprochen werden kann, steht im offenbaren Widerspruch mit dem gesammten musikalischen Bewusstsein seit den \u00e4ltesten Zeiten. Der Unterschied von Konsonanz und Dissonanz und von den verschiedenen Graden der Konsonanz ist immerdar auch schon bei Zweikl\u00e4ngen beobachtet worden. Mag daher durch die neue Theorie was immer erkl\u00e4rt sein: den Unterschied, welchen man von jeher mit den genannten Ausdr\u00fccken bezeichnet hat, erkl\u00e4rt sie nicht, da sie durch ihre eigene Konsequenz gezwungen ist, ihn zu leugnen, wo er nach allgemeinem Urtheil vorhanden ist.1 *\nEin nicht weniger eklatanter Widerspruch gegen das Musikbewusstsein ist es, dass ein konsonanter Dreiklang durch den blossen Wechsel der Auffassung oder des Standpunktes dissonant werden k\u00f6nnte. Durch keine geistige Operation wird es gelingen, A\u2014\u00df3\u2014g1 als Dissonanz zu vernehmen ; es sei denn, dass wir durch Hinzuphantasiren eines beliebigen vierten Tones, der mit einem oder mehreren der Dreiklangt\u00f6ne dissonirt, einen Vierklang in Gedanken daraus machen, wobei es sich dann eben nicht mehr um c3\u2014\u00df3\u2014-g1, sondern etwa um c1\u2014e3\u2014g1\u2014h1 handelt. Gerade das Hinzudenken von g\u00e4 aber, durch welches c1\u2014\u00df3-\u2014g1 nach der dualistischen Lehre dissonant werden m\u00fcsste, hat diese Wirkung entschieden nicht,\n1 Riemann \u00e4ussert sich nicht ganz gleichm\u00e4ssig \u00fcber diesen Punkt. Im Artikel \u201eKonsonanz\u201c des Musiklexikons ist zuerst von \u201ezweien oder mehreren\u201c T\u00f6nen die Rede, dann in der Erl\u00e4uterung nur von Akkorden,\nendlich aber selbst von einem einzigen Ton, der konsonant genannt werde.\nAber man versteht immer die Meinung: dass das Wesentliche in der Beziehung auf einen einheitlichen Akkord und zuletzt auf einen Gesammt-klang bestehe.","page":96},{"file":"p0097.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n97\nebensowenig wie das Hinzndenken yon C zn e3\u2014es1 2\u2014g\\ weil diese T\u00f6ne eben mit den beiden Dreikl\u00e4ngen konsoniren.\nEbenso wird es niemals gelingen, einen Durdreiklang als Moll und einen Molldreiklang als Dur zu h\u00f6ren, was gleichfalls nach dieser Theorie m\u00f6glich w\u00e4re; denn wie Oettiistgen selbst zu Beginn seiner Dreiklangslehre hervorhebt, c1\u2014e1\u2014g1 hat nicht bloss einen gemeinsamen tonischen Grundton, sondern auch einen gemeinsamen phonischen Oberton, wenn dieser auch um ein geringes weiter entfernt liegt (/V-). Ebenso hat c3\u2014e1\u2014g1 auch einen gemeinsamen tonischen Grundton. Sp\u00e4terhin scheint Oettingen aber diesen Umstand zu vergessen und behauptet, dass solche Dreikl\u00e4nge vollkommen eindeutig seien.\nDieser Uebelstand wird noch schlimmer dadurch, dass es nach Oettingek auf die St\u00e4rke des Obertones nicht ankommt; denn dann sieht man nicht ein, was es schaden soll, dass hs vom Durdreiklang c1\u2014e3\u2014g1 zwei T\u00f6ne weiter entfernt liegt als G auf der anderen Seite. Es m\u00fcsste doch ebenso leicht sein, die Beziehung auf den einen wie den anderen Ton zu vollziehen. Und namentlich wenn wir z. B. h3 kurz vorher oder gleichzeitig h\u00f6ren und dadurch unserer Vorstellungsf\u00e4higkeit zu H\u00fclfe kommen, so m\u00fcsste diese Art der Auffassung, also die Mollauffassung des Durdreiklanges, leicht gelingen.1\nDurch diesen Umstand verschwindet die ganze Strenge des Gegensatzes, den die dualistische Theorie aufstellt, und ge-r\u00e4th ihre ganze Akkord- und Modulationslehre ins Schwanken.\n11. Endlich liegt zweifellos ein Widerspruch gegen unser Musikbewusstsein darin, dass im Molldreiklang derh\u00f6chste Ton Hauptton w\u00e4re, dass er dort eine analoge Bedeutung h\u00e4tte, wie die Tonika im DuiG Setzen wir als Terz in der O-Tonart abwechselnd e und es, so bleibt doch c unver\u00e4ndert Hauptton und g Dominante. Ich wenigstens bemerke nichts\n1\tMan kann nicht einmal sagen, Dur sei tonisch st\u00e4rker, Moll phonisch st\u00e4rker konsonant. Nach Oettingen giebt es wohl mehr oder weniger starke Verwandtschaft, aber nicht mehr oder weniger starke Konsonanz. Entweder sind in einem augenblicklich vorliegenden Tonkomplex mehrere Kl\u00e4nge gleichzeitig vertreten oder nur einer. Danach ist der Tonkomplex dissonant oder konsonant, ein Mehr oder Weniger giebt es nicht.\n2\tDiese Idee ist \u00fcbrigens nicht nothwendig an die Oberton- und Untertontheorie gekn\u00fcpft, wie sie denn auch historisch von Manchen unabh\u00e4ngig davon vertreten wurde. Sie k\u00f6nnte also immer noch richtig sein, wenn jene falsch ist.\nStumpf, Beitr\u00e4ge I.\n7","page":97},{"file":"p0098.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\nvon einer so fundamentalen Aenderung der Auffassung. Und wie oft wechseln doch wirklich in unsern Tons\u00e4tzen Dur- und Mollterz innerhalb einer sonst unver\u00e4nderten Melodie oder Harmonie miteinander : best\u00e4ndig m\u00fcsste zugleich unsere Auffassung des Haupttones nach oben und unten umspringen. Denken wir an das bei \u00e4lteren Variationen unvermeidliche \u201eMinore\u201c, oder an Schubert\u2019s \u201eFremd bin ich eingezogen\u201c (die zwei letzten Stropheji) und \u00fcberhaupt an die so gew\u00f6hnlichen Wiederholungen eines Dur-Tliemas in Moll oder umgekehrt, oder gar an den raschen Wechsel innerhalb eines Themas, wie in solchen Stellen:\nan das Pendeln zwischen Moll und Dur, wodurch namentlich Schubert und Brahms stimmungsvolle F\u00e4rbungen erzielen, kurz an tausend und abertausend Beispiele \u2014 es ist fast trivial, einzelne hervorzuheben. Die Psychologie unserer Musik zeugt so unzweideutig dagegen, dass ich vor diesem Missverst\u00e4ndnis bedeutender Musikkenner wie vor einem unl\u00f6sbaren R\u00e4thsel stehe. Die Stelle aus der Egmont-Ouverture\ndie Dettingen in Partitur anf\u00fchrt, l\u00e4sst doch auch \u00fcber c als Hauptton und g als Dominante keinen Zweifel.","page":98},{"file":"p0099.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n99\nWiderlegen kann man freilich Niemand, der f\u00fcr seine Person dies anders zu empfinden behauptet, und so kann die Annahme oder Ablehnung der Theorie von diesem Punkt aus gewisser-massen nur durch Abstimmung erfolgen; aber es ist von Werth, dass die Fragestellung f\u00fcr die Abstimmung sich so einfach gestaltet, dass die Theorie hier zu einem Punkte f\u00fchrt, \u00fcber welchen jeder Einzelne ohne gelehrte Reflexion \u2014 und je weniger durch sie beeinflusst, um so besser \u2014 sein Urtheil abgeben kann. D\u00fcrfen Partialabstimmnngen durch Umfrage bei musikalisch Gebildeten als Ersatz der praktisch unm\u00f6glichen Gesammtabstimmung gelten, so ist mir die Ablehnung unzweifelhaft.\nTrotz aller \u00e4sthetisch ansprechenden Konsequenzen also, die man aus dieser Molltheorie zieht : die Grundlage ist zu evident falsch, um durch irgend welche Erkl\u00e4rungen, die man darauf baut, gerechtfertigt werden zu k\u00f6nnen. Dies ist keine vera causa. ,,Die Symmetrie ist da f\u00fcr den Verstand, sie fehlt f\u00fcr die Empfindung.\u201c1\nIn dieser Ueberzeugung wird man auch nur best\u00e4rkt, wenn man die Harmonisirungen auf Grund der neuen Lehre ansieht, durch welche Oettingen z. B. Beethoven\u2019s \u201eSchottische Lieder\u201c verbessert. So setzt er das bekannte Lied \u201eTr\u00fcb, tr\u00fcb ist mein Auge\u201c, das mit den T\u00f6nen des aufsteigenden L-Durdreiklangs anhebt, in //-Moll, oder vielmehr nach seiner Auffassung Ffe-MolL Der Anfang l\u00e4sst sich noch h\u00f6ren, man f\u00fchlt sich etwa an K\u00fccken\u2019s \u201eM\u00e4dchen von Juda\u201c erinnert; aber solche Stellen:\ndie bl\u00fc-hend einst war, schwer\nbleich ist\n1 So bereits E. Mach in seinem Vortrag \u201eTJeber die Symmetrie\u201c 1872 (abgedruckt in den \u201ePopul\u00e4rwissenschaftlichen Vortr\u00e4gen\u201c), wo auch Oettingen\u2019s Idee kurz besprochen ist.\n7*","page":99},{"file":"p0100.txt","language":"de","ocr_de":"100\nC. Stumpf.\nkann man doch nicht ohne Schaudern vernehmen. Wenn der Urheber der neuen Lehre, den ein Sachverst\u00e4ndiger wie Riemank als vortrefflichen Musiker bezeichnet, seinem phonischen Geschlecht keine ansprechendere Verwendung zu geben weiss, dann wird er uns nicht daf\u00fcr gewinnen. (Dass es \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist, eine Dur-Melodie wie die ebenerw\u00e4hnte durch Harmonisirung in Moll zu verwandeln, wird keinen Kundigen verwundern. Nichts ist leichter als z. B. \u201eHeil Dir im Siegerkranz\u201c, wenn die Melodie in C-Dur geschrieben ist, mit A-Moll-Harmonien zu begleiten.)\nDie Dualisten m\u00f6gen vielleicht sagen, das zwar das gegenw\u00e4rtige musikalische Bewusstsein ihnen Unrecht g\u00e4be, dass sie aber eine Fortbildung im Sinn ihrer theoretischen Ueberzeugung erwarten, dass also die Symmetrie allm\u00e4hlich aus dem Verstand in die Empfindung \u00fcbergehen werde. Solche Ideen und Hoffnungen \u00fcber Zukunftsmusik k\u00f6nnen aber f\u00fcr die Interpretation der gegenw\u00e4rtigen Musik nichts beweisen.\nUebrigens liesse sich, wie ich glaube, auch in dieser Beziehung eher noch das Umgekehrte vertreten, dass n\u00e4mlich fr\u00fcher der Hauptton oben gelegen, aber allm\u00e4hlich immer ausschliesslicher in die Tiefe ger\u00fcckt sei. Man k\u00f6nnte anf\u00fchren, dass die Hauptleiter der alten Griechen, das dorische E\u2014e, die genaue Umkehrung unserer C-Dur-Leiter ist, indem dort die Haibund Ganztonstufen sich von oben nach unten in derselben Ordnung folgen wie beim C-Dur von unten nach oben ; worauf denn auch Oettjngen hinweist. Wir wollen hier nicht untersuchen, ob dies wirklich auf einer umgekehrten Auffassung des Tongebietes beruht. Nehmen wir\u2019s aber an, so w\u00fcrde uns eben damit die Geschichte lehren, dass der Entwickelungsprozess von der phonischen zur tonischen Auffassung fortgeschritten ist, also vermuthlich diese immer st\u00e4rker zur Geltung bringen wird. Doch m\u00f6chte ich dies nur als argumentum ad hominem betrachtet wissen.\nNicht Unrecht wird man Oettingen geben k\u00f6nnen, wenn er gegen die Einf\u00fchrung des erh\u00f6hten Leittones in manchen Volksliedern in der Moll-Tonart Einspruch erhebt. Aber dieses g in A-Moll braucht seine Berechtigung nicht aus einer phonischen Auffassung herzuleiten. Es hat andere Wurzeln : die drei Moll-Dreikl\u00e4nge auf a, d und e, aus denen die A-Mollleiter abzuleiten ist, f\u00fchren in der That nur zu g ; gis ist durch Alteration daraus entstanden.","page":100},{"file":"p0101.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n101\n12. Wir kommen also zn dem Ergebniss, dass die Lehre yon dem symmetrischen Verh\u00e4ltniss von Dur und Moll und die damit zusammenh\u00e4ngende Um- und Fortbildung der Obertonlehre die Widerspr\u00fcche dieser Lehre mit den Thatsachen nicht vermindert sondern nur vermehrt. Die Obert\u00f6ne k\u00f6nnen f\u00fcr die Theorie der Konsonanz auf keine andere Weise n\u00fctzlich gemacht werden, als indem man sich endlich entschliesst, sie sammt den Untert\u00f6nen bei der Erkl\u00e4rung der Grundph\u00e4nomene einfach und definitiv bei Seite zu lassen.\nDennoch wird man auch diesmal, um gerecht zu sein, nicht verkennen d\u00fcrfen, dass mancherlei richtige Beobachtung und manche von der bisherigen Tonlehre ungen\u00fcgend erkl\u00e4rte Erscheinung zur dualistischen Lehre verf\u00fchren konnte. M\u00e4nner wie Zarlino, Tartini, Bameau, Hauptmann geh\u00f6rten nicht bloss zu den scharfsinnigsten Theoretikern, sondern standen zugleich mitten im praktischen Musikleben ihrer Zeit, und man kann nicht annehmen, dass sie bloss durch theoretisch-mathematische Spekulation auf eine solche Idee gekommen w\u00e4ren.\nEs liegt vor allem eine unleugbare Paradoxie darin, dass ein Charaktergegensatz wie er zwischen Moll und Dur besteht, durch die blosse Verr\u00fcckung eines Tones um eine Halbtonstufe hervorgebracht wird. Dass durch dieses Mittel eine Konsonanz in eine Dissonanz \u00fcbergeht, lehren tausend andere F\u00e4lle; aber hier scheint es sich nicht einmal um eine Verminderung der Konsonanz zu handeln und doch um einen Gegensatz, vergleichbar dem von Positiv und Negativ, Erhebung und Depression und dergleichen, wie denn auch die gebr\u00e4uchlichen Ausdr\u00fccke selbst einen solchen Gegensatz andeuten. Goethe\u2019s Wort, worauf Biemann hinweist, \u00fcber die \u201etheoretischen Musikhansen\u201c, die keine bessere Erkl\u00e4rung des Mollakkords als die durch Erniedrigung der Durterz wissen (Brief an Zelter), dr\u00fcckt diese Paradoxie aus. Die Frage ist nur, ob die L\u00f6sung nicht doch auf einem anderen Wege als dem der Dualisten zu suchen ist ; aber dass sie noch nicht gen\u00fcgend gegeben ist, muss man anerkennen.\nSpeziell f\u00fcr Oettingen lag wohl die n\u00e4chste Veranlassung seiner Aufstellungen in der ungen\u00fcgenden Molltheorie von Helmholtz, wonach im Moll nur eine Zusammenstellung von verwandten T\u00f6nen vorliegt, die aber durch kein zwingendes Band zusammengehalten ist und an Wohlklang manche dis-","page":101},{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\nC. Stumpf.\nsonante Zusammenstellungen nicht \u00fcbertrifft. Diese Unterordnung des Molldreiklangs, der doch eine so grosse Rolle spielt, sollte nun beseitigt und in v\u00f6llige Koordination verwandelt werden. Ja nach Oettixgen kehrt sich die Rangordnung beinahe um, da der phonische Oberton in den meisten F\u00e4llen reell existirt, der tonische Grundton dagegen nur \u201evirtuell\u201c (S. 46).\nSo ist es vielleicht auch richtig beobachtet, dass in unserer Musik absteigende Wendungen besonders dem Moll gut anstehen, aufsteigende mehr dem Dur ; wenn auch nat\u00fcrlich entgegengesetzte Beispiele tausendf\u00e4ltig sich darbieten und eine vergleichende Statistik dar\u00fcber nicht vorliegt, auch schwer zu liefern w\u00e4re. Aber nehmen wir die Thatsache als gegeben, so w\u00e4re doch die Frage, ob wir es nicht vielmehr mit einer Folge des bereits entwickelten Gef\u00fchls Charakters beider Tongeschlechter zu thun haben, w\u00e4hrend der Dualismus umgekehrt den Gef\u00fchlscharakter als Folge aus der auf- und absteigenden Natur der Tongeschlechter herleitet. Immerhin begreift man, wieso manche Z\u00fcge der wirklichen Musik die dualistische Lehre glaubw\u00fcrdig machen konnten. Wenn man genauer zusieht, ist freilich der Zusammenhang zwischen dem \u201eTrauerweidencharakter\u201c des Moll und seiner Entstehung nach dualistischen Grunds\u00e4tzen doch auch nur locker. Man k\u00f6nnte auch den umgekehrten Erfolg erwarten : wenn die Phonika, der erzeugende Ton, oben liegt, so muss, k\u00f6nnte man sagen, der Mollklang und die Mollmelodie eine Tendenz nach oben haben.\nEs ist ferner eine wichtige und von den genannten Forschern mit Recht betonte Thatsache, die aber im Grunde weder mit der Klangvertretung noch mit dem Dualismus etwas zu thun hat, dass der gegenw\u00e4rtige Musiker (vom gew\u00f6hnlichen Musikmenschen m\u00f6chte ich es nicht so unbedingt behaupten) in Dreikl\u00e4ngen denkt, dass er jeden Ton und so auch jeden Zweiklang als Theil eines Dreiklangs (oder einer noch reicheren Tonkombination) auf fasst.1 Eine kleine Terz f\u00fcr sich allein ist in der That harmonisch mehrdeutig ; sie kann z. B. der obere Theil eines Dur-, oder der untere Theil eines Molldreiklanges sein, und je nach der Auffassung wechselt sie vollst\u00e4ndig ihren Gef\u00fchlscharakter. Diese Thatsache ist es, welche die Dualisten zu der Behauptung\n3 Hauptmann, Natur der Harmonik und Metrik, S. 23: \u201eJeder Ton eines musikalischen Satzes ist Oktave, Quinte oder Terz.\u201c","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n103\nf\u00fchrt, dass auch Konsonanz nicht eine Eigenschaft von Zweikl\u00e4ngen, sondern erst von Dreikl\u00e4ngen sei. Aber man muss eben Konsonanzempfindung und Harmoniegef\u00fchl auseinanderhalten, und man muss ebenso die gemeinsamen Elemente aller Musik und die besonderen hochentwickelten Bildungen und Denkgewohnheiten der Gegenwart auseinanderhalten.\nKonsonanz ist das Grundph\u00e4nomen, ohne welches nicht einmal die Oktave gefunden w\u00e4re. Das Vorhandensein der Oktave 'wird von den Dualisten ohne Definition zu Grunde gelegt -\u2014 als wenn nicht die Oktave selbst die Hauptkonsonanz w\u00e4re. Wenn man das Wesen der Konsonanz definiren will, darf man doch nicht die wichtigste und gr\u00f6sste aller Konsonanzen bereits als gegeben voraussetzen oder bei der Definition ignoriren. Auf sie vielmehr muss vor allen anderen die zu suchende Definition zugeschnitten werden.\nMit der Gew\u00f6hnung, jeden Ton als Glied eines Dreiklangs aufzufassen, h\u00e4ngt es weiter zusammen, dass wir auch einen einzelnen Ton als dissonant bezeichnen, wenn er zu einem Moll- oder Durdreiklang hinzukommt, ohne doch im Oktaven-verh\u00e4ltniss zu einem der drei T\u00f6ne zu stehen. Wir sagen dann, er dissonire mit dem ganzen Klang, obschon er meistens nur mit einem der drei T\u00f6ne dissonirt : weil wir eben den Dreiklang als Ganzes auffassen. Weiterhin bezeichnen wir dann auch den so entstehenden Vierklang als dissonanten Akkord. Dies sind \u00fcbertragene Anwendungen des Dissonanzbegriffes, die sich leicht aus der urspr\u00fcnglichen unter Mitber\u00fccksichtigung des eben erw\u00e4hnten Umstandes ableiten lassen. Der Dualist macht nur den Fehler, dass er sie als die prim\u00e4re Anwendung betrachtet. Dadurch kommt er zu der Behauptung, Dissonanz bestehe immer und nothwendig in der Verbindung eines Dreiklangs mit dreiklangfremden T\u00f6nen.\n13. Eine spezielle Erscheinung mag schliesslich noch dis-kutirt werden, da sie als beweisend angef\u00fchrt worden ist. Hugo Riemann h\u00e4lt mir die Frage entgegen1, wie die Dissonanz des \u00fcberm\u00e4ssigen Dreiklangs anders als durch die Klang-Vertretungslehre und den Dualismus begriffen werden k\u00f6nne? c und e sind nach der alten Lehre konsonant, e und gis gleichfalls, c und gis sind zwar theoretisch dissonant, aber auf dem\n1 In dem Aufsatz: Was ist Dissonanz? S. 149.","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nC. Stumpf.\nKlavier f\u00e4llt gis mit as zusammen, und wenn wir c\u2014gis allein anschlagen, beachten wir gew\u00f6hnlich die Abweichung der tem-perirten Stimmung nicht, sondern empfinden das Intervall als Konsonanz der kleinen Sexte. Wie ist es nun m\u00f6glich, fragt Riem a xx, dass jener Dreiklang, worin ausschliesslich konsonante Intervalle vereinigt sind, worin kein Ton mit irgend einem anderen dissonirt, gleichwohl eine so ausgesprochene und scharfe Dissonanz darstellt? Dies ist nur darum m\u00f6glich, weil unser ganzes musikalisches Denken von Dur- und Molldreikl\u00e4ngen ausgeht und weil jede Tonkombination dissonant ist, deren Theile sich nicht auf einunddenselben Dreiklang, bezw. einundden-selhen tonischen oder phonischen Hauptton beziehen lassen. In unserem Falle k\u00f6nnen wir c\u2014e auf den C-Dur, c\u2014gis auf den E-Dur-Klang beziehen (oder kurzweg gis als klangfremden Ton betrachten) ; aber alle drei T\u00f6ne k\u00f6nnen nicht Theile Eines Klanges sein. Darum ist dieser Dreiklang dissonant.\nMan k\u00f6nnte entgegnen, dass der Dreiklang 8 : 10 : 13, der unter den Obert\u00f6nen oft genug mit ziemlicher St\u00e4rke vorkommt, somit einen einheitlichen Grundklang m\u00fcsste vertreten k\u00f6nnen, mindestens ebenso dissonant ist wie der \u00fcberm\u00e4ssige Dreiklang 8 : 10 : 12,5, dass also auch f\u00fcr die Klangvertretungslehre wieder einige Schwierigkeit besteht. Versuchen wir aber auch positiv die Vertheidigung der alten Lehre.\nF\u00fcr das wohlerzogene musikalische Bewusstsein der Gegenwart liegt zweifellos ein Grund des Missfallens an diesem Akkord (bei isolirtem Erklingen) darin, dass er Aufl\u00f6sung verlangt, Aufl\u00f6sung in einen Dur- oder Molldreiklang. Nur in einem solchen (bezw. in einem Vierklang, der auch noch die Oktave der Tonika enth\u00e4lt) finden wir definitiv Befriedigung. Dabei ist es einerlei, oh der h\u00f6chste Ton des \u00fcberm\u00e4ssigen Dreiklangs als gis oder als as aufgefasst wird. Davon h\u00e4ngt es nur ab, welche Entwickelung der Modulation man erwartet. Man kann sich auch c als Vorhalt vor H denken u. s. w. Und gerade diese Vieldeutigkeit in Hinsicht der Modulation macht den Akkord zu einem so brauchbaren und interessanten Scheusal. Nur so wie sie augenblicklich gerade klingt, kann die Kombination nicht bleiben, mindestens einer der T\u00f6ne muss weichen. Folgt also keine Aufl\u00f6sung oder folgen gar, wie bei Wagxer \u00f6fters, eine Reihe unaufgel\u00f6ster \u00fcberm\u00e4ssiger Dreikl\u00e4nge aufeinander, so wird allerdings ein starkes Unbehagen resultiren,","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n105\nwenn nicht h\u00f6here k\u00fcnstlerische R\u00fccksichten, etwa der Zusammen* hang mit einer dramatischen GesammtWirkung das Unbehagen wieder in \u00e4sthetische Befriedigung verwandeln.\nWir werden also zugeben, dass an der Gef\u00e4lligkeit dieses Akkordes die Auffassung ganz wesentlich betheiligt ist, nur nicht gerade in der Form, wie sie die Klangvertretungslehre annimmt, sondern wie sie aus der gew\u00f6hnlichen musikalischen Erfahrung, aus dem uns vertrauten Zusammenhang der Akkorde, ganz abgesehen von allen Ober- und Untert\u00f6nen entspringt. Wie sehr hier die Auffassung und nicht bloss der sinnliche Eindruck als solcher wirksam ist, sieht man auch daran, dass die Aufeinanderfolge der zwei Intervalle\ngleichfalls abscheulich erscheint. Ob nicht doch auch eine rein sinnliche Unannehmlichkeit mitwirkt und worin sie gr\u00fcndet, brauchen wir hier nicht zu entscheiden, da dieses Problem gleich-sehr f\u00fcr die Anh\u00e4nger der Klangvertretungslehre wie f\u00fcr uns besteht und keiner das Recht hat, es dem anderen zuzuschieben.\nNun ist aber \u00fcberhaupt die Frage nach der Gef\u00fchlswirkung und ihren Gr\u00fcnden nicht identisch mit der nach der Konsonanz oder Dissonanz, um die es sich uns hier handelt. Wie steht es also mit der Dissonanz des Akkordes, abgesehen von seiner Gef\u00fchlswirkung? Ist es nicht doch r\u00e4thselhaft, wie ein Dreiklang dissonant sein kann, dessen T\u00f6ne s\u00e4mmtlich paarweise untereinander konsoniren? Ist es nicht ein deutlicher Beweis, dass Zweikl\u00e4nge f\u00fcr sich allein weder konsoniren noch dissoniren?\nIch denke nicht, dass wir zu dieser Folgerung gen\u00f6thigt sind, die die Aufstellungen von Jahrtausenden \u00fcber Konsonanz ebenso wie den ganzen bisherigen Ertrag unserer Untersuchungen um-stossen w\u00fcrde. Es kommt darauf an, wie man Dissonanz von Mehrkl\u00e4ngen \u00fcberhaupt definirt. Unsere Definition von Konsonanz und Dissonanz bezog sich zun\u00e4chst auf Zweikl\u00e4nge. F\u00fcr Dreikl\u00e4nge, worin zwei T\u00f6ne konsoniren k\u00f6nnen, w\u00e4hrend der dritte mit beiden oder mit einem von ihnen dissoniren kann, gilt es daher eine positive Bestimmung zu treffen; und die Musiker sind, wie schon erw\u00e4hnt, \u00fcbereingekommen, einen Mehrklang dissonant zu nennen, wenn auch nur einer der T\u00f6ne mit irgend einem anderen darin enthaltenen (von den Obert\u00f6nen","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nC. Stumpf.\nabgesehen) dissonirt. Jedenfalls ist diese Definition die einfachste, welche gegeben werden kann, und hinsichtlich der Anwendung auf die Fragen der Modulation die zweckm\u00e4ssigste. Nun ist c\u2014gis eine Dissonanz, d. h. es geh\u00f6rt zur untersten Stufe der Verschmelzung, also ist c\u2014e\u2014^gis ein dissonanter Dreiklang.\nLogisch ist hier alles in Ordnung: aber Riem an n verweist auf die Indulgenz unseres Ohres, f\u00fcr welches as und gis am Klavier zusammenfallen. Die Frage w\u00e4re also, wie das Ohr, das sonst bei Klavierakkorden so geduldig und abgestumpft ist, dazu kommt, gerade hier so bestimmt gis als gis und nicht als as zu fassen. Ich antworte : gerade weil wir beim Klavier gew\u00f6hnt sind, kleine Abweichungen von der Reinheit zu ignoriren, und darum den Zusammenklang der dritten weis sen mit der vierten schwarzen Taste der 6-Leiter an und f\u00fcr sich ebensowohl als Konsonanz wie als Dissonanz h\u00f6ren k\u00f6nnen, gerade darum ist es die (durch die vorwiegende Gewohnheit oder durch die augenblicklichen Umst\u00e4nde bedingte) Auffassung, welche die Entscheidung bewirkt. Und die Auffassung wird hier einfach da* durch bestimmt, dass die grosse Terz ein gew\u00f6hnlicheres Intervall ist als die verminderte Quarte. Wir h\u00f6ren also e\u2014-gis, und damit ist auch c\u2014gis gegeben und der dissonirende Akkord fertig. Entschliessen wir uns jedoch oder werden wir durch vorausgehende Modulationen dazu gen\u00f6thigt, den kritischen Ton als as aufzufassen, also eine kleine Sexte von c zu h\u00f6ren, nun so kommen wir eben wieder mit e in Kollision. Nur das kann man nicht verlangen, dass wir den h\u00f6chsten Ton in Beziehung zu c als as und gleichzeitig in Beziehung zu e als gis h\u00f6ren; das hiesse einem vern\u00fcnftigen Ohre zu viel zumuthen. Nur dann aber, wenn dieses Inkonsequente und Unm\u00f6gliche von uns verlangt wird, w\u00fcrde die Folgerung sich ergeben, die Riemann aus der alten Konsonanztheorie zieht : dass ein aus lauter Konsonanzen bestehender Dreiklang als Ganzes eine entschiedene Dissonanz repr\u00e4sentirte.\nIch kann also auch aus diesem merkw\u00fcrdigen Gebilde, \u00fcber das schon mehr als eine Monographie geschrieben wurde und das in der That besonders geeignet ist, das Nachdenken und Erkl\u00e4rungsbed\u00fcrfniss zu stacheln, kein Argument zu Gunsten der Klangvertretungslehre entnehmen und finde die herk\u00f6mmliche von Zweikl\u00e4ngen ausgehende Konsonanzauffassung anstandslos auch an dem Kind der Neuzeit durchf\u00fchrbar.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"Konsonanz und Dissonanz.\n107\n14. Endlich m\u00f6ge noch darauf hingewiesen werden, wie die Dna\u00fcsten selbst vielf\u00e4ltig dem Merkmal der Verschmelzung Zeugniss geben. Nicht bloss bei der Oktave wird die Klangeinheit der T\u00f6ne (hier also doch bloss zweier T\u00f6ne!) stark hervorgehoben, sondern auch bei den Dreikl\u00e4ngen selbst. Gerade die wahrgenommene Einheitlichkeit des Dreiklanges gegen\u00fcber den dissonanten Akkorden ist es, die sie zu der Hypothese veranlasste, dass eine einheitliche Beziehung der drei T\u00f6ne auf einen gemeinsamen Hauptklang stattfinde.1 Die Erkl\u00e4rung schenken wir ihnen, aber die wahrgenommene Thatsache selbst heben wir um so nachdr\u00fccklicher hervor, erkl\u00e4ren die Ein\u00bb heitlichkeit des Dreiklangs aus der Einheitlichkeit der daran betheiligten Zweikl\u00e4nge, setzen diese selbst mit der anerkannten Einheitlichkeit der Oktave in Parallele, und betonen den durchaus s i \u00fc n 1 i c h e n, nicht intellektuellen Charakter dieser Einheitlichkeit. Es ist ein erfreuliches Zeichen der Ann\u00e4herung, dass Biemaxn die hohe Bedeutung der Verschmelzungsthatsachen neuerdings ausdr\u00fccklich anerkannt hat.2 So ist zu hoffen, dass nach und nach auch unter den Musiktheoretikern der Dualismus der Parteien in einheitliche Verschmelzung \u00fcbergehe.\nSchlussbemerkung.\nNiemand kann lebhafter als der Verfasser die Unvollst\u00e4ndig-keit empfinden, die der vorstehenden Darstellung noch anhaftet. Einerseits harren die Erscheinungen der Tonverschmelzung, die als Ausgangspunkt benutzt sind, noch der Untersuchung ihrer physiologischen Grundlagen, andererseits sind wir, obschon der Begriff der Konsonanz prinzipiell von dem der Annehmlichkeit\n1\tRiemann, Musiklexikon, Art. \u201eKonsonanz\u201c: \u201eKonsonanz ist das Verschmelzen zweier oder mehrerer T\u00f6ne zur Klangeinheit\u201c. Art. Moll-Akkord : \u201eWie man auch Konsonanz definiren mag, jedenfalls bleibt doch festzuhalten, dass Einheit der Kardinalpunkt der Konsonanz ist.\u201c Natur der Harmonik, S. 180: \u201eDer Moll-Akkord verschmilzt in der vollkommensten Weise in der Einheit des h\u00f6chsten Tones.\u201c Vgl. auch Moritz Hauptmann, oben S. 23. Anm.\n2\tIm Katechismus der Akustik S. 92f. und in dem Aufsatz: \u201eWas ist Dissonanz?\u201c","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nC. Stumpf,\ngesondert wurde, doch \u00fcberall auf enge Beziehungen beider ge-stossen, die nur in einer zusammenh\u00e4ngenden Untersuchung der musikalischen Gef\u00fchlswirkung, zumal des Harmoniegef\u00fchls ihre n\u00e4here Beschreibung und Erkl\u00e4rung finden k\u00f6nnen. Und hier ist noch fast alles zu. leisten. Aber nicht alles l\u00e4sst sich aus der Konsonanzdefinition begreifen. Wohl k\u00f6nnen wir die kom-plizirteren \u00e4sthetischen Wirkungen durch die Verschmelzung und die daran assoziirten Vorstellungen ziemlich plausibel machen, aber wie es kommt, dass ein durch vier oder f\u00fcnf Oktaven durchgef\u00fchrter reingestimmter Durdreiklang aus einfachen T\u00f6nen in den Ohren der gegenw\u00e4rtigen zivilisirten und nebenbei auch musikalischen Menschen (die doch nur einen Bruch-theil bilden und sich nicht als die Normalmenschen auf spielen k\u00f6nnen) den denkbar s\u00fcssesten sinnlichen Wohllaut, die verwirklichte Sph\u00e4renharmonie der Pythagoreer erstehen l\u00e4sst \u2014 dar\u00fcber k\u00f6nnen wir bestenfalls gewisse allgemein gehaltene Gedanken \u00e4ussern, eine wirkliche Erkl\u00e4rung zu geben ist heute noch keinem menschlichen Verst\u00e4nde m\u00f6glich.\nLippert & Co. (G. P\u00e4tz\u2019sche Buchdr.), Naumburg a/S.","page":108}],"identifier":"lit38474","issued":"1898","language":"de","pages":"1-108","startpages":"1","title":"Konsonanz und Dissonanz","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:59:27.327477+00:00"}