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{"created":"2022-01-31T15:33:26.592808+00:00","id":"lit38492","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 4: 105-116","fulltext":[{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"[Z. f. an g. Ps. IL 1]\n105\nAkustische Versuche mit Pepito Arriola.1\nVon\nG. Stumpf.\nDer kleine Spanier, der als 31/2j\u00e4hriges musikalisches Wunderkind den Teilnehmern des Pariser psychologischen Kongresses im August 1900 vorgestellt wurde, hielt sich mit seiner Mutter im Februar 1903 einige Wochen in Berlin auf und wurde bei dieser Gelegenheit von mir wiederholt auf seine F\u00e4higkeiten hin untersucht.\nSein Wohnsitz ist seit dem Herbst 1901 Leipzig, wo er unter der Oberaufsicht von Prof. Nikisch Klavierunterricht bei Prof. Reckendoef hat. In bezug auf die Herkunft und die ersten Jahre des Kindes sei hier auf Richets Aufsatz verwiesen.2 Auch die darin gegebene psychologische Beschreibung des Kindes trifft in ihren Grundz\u00fcgen jetzt noch zu, wenngleich sich nat\u00fcrlich in diesen 21/2 Jahren eine bedeutende Weiterentwicklung in jeder Richtung vollzogen hat. Pepito, der am 14. Dezember 1902 sechs Jahre geworden, ist von kleiner, zierlicher Gestalt, gesund, durchaus kindhch in seinen Passionen f\u00fcr Spiele jeder Art und in seinem ganzen Benehmen, aber intellektuell weit \u00fcber dem Niveau seines Alters. Er spricht ganz korrekt deutsch und hat dies, wie mir Prof. Nikisch sagt, in wenigen Monaten gelernt,\n1\tDas Nachstehende ist der w\u00f6rtliche Abdruck eines im Sommer 1903 niedergeschriebenen Berichtes. Alles, was im Tempus praesens \u00fcber den Wohnsitz, Unterricht etc. gesagt ist, ist daher auf die damalige Zeit zu beziehen. Ich hielt mit der Ver\u00f6ffentlichung zur\u00fcck, weil ich hoffte, in den folgenden Jahren Pepito aufs neue untersuchen und so die Entwicklung eines ausgezeichneten Geh\u00f6rs an einem Individuum verfolgen zu k\u00f6nnen. Leider ist mir aber der Knabe inzwischen entfremdet worden und scheint mehr zum Virtuosen als zum Musiker ausgebildet zu werden.\n2\tIVe Congr\u00e8s international de Psychologie. Paris, Alcan, 1901. p.93\u201499. (Vgl. den Bericht von v. PIornbostel im Anh\u00e4nge dieses Aufsatzes.)","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\nC. Stumpf.\n[Z. f. ang. Ps. II. 2]\nliest deutsche und lateinische Druckschrift mit Leichtigkeit, rechnet Additionsexempel mit 2\u20143stelligen Zahlen im Kopfe, schreibt vorgesagte Zahlen wie 12340 richtig hin, ohne noch Unterricht genossen zu haben. Nach Aussage der Mutter ist er beim Suchen der Strafsen und Hausnummern und bei anderen zuf\u00e4lligen Gelegenheiten durch Fragen zur Kenntnis der Buchstaben und Zahlen gekommen ; doch wird ihm nat\u00fcrlich manche, wenn auch nicht systematische, Anregung und Nachhilfe von ihrer Seite gegeben worden sein. Bei unseren Versuchen war es ordentlich schwer, ihm die verschiedenen Kunstgriffe zu verbergen, durch welche ein unwissentliches Verfahren erm\u00f6glicht wurde. Er merkte schnell, worauf es ankam und war mit aufser-ordentlichem Eifer bei der Sache, freilich nur bis sie ihm langweilig wurde. Dann war alle weitere M\u00fche umsonst. Bis dahin aber war er einigermafsen als Versuchsperson im wissenschaftlichen Wortsinne zu gebrauchen, was man sonst bei 6 j\u00e4hrigen Kindern zumeist nicht sagen kann, wenigstens nicht, wenn es sich um systematische Versuchsreihen handelt. Auch die \u00fcberraschende Schnelligkeit, mit der er sich auf den verschiedenen akustischen Instrumenten zurechtfand, in den Registern des Harmoniums, das ihm neu war, in den Zapfen des Dreiklangapparates, des Tonmessers, ist ein Zeichen dieser allgemeinen Intelligenz. Und alles wollte er selbst besorgen, sogar den Blasebalg unserer Orgel, der durch einen links vom Manuale befindlichen Hebel mit der Hand reguliert wird.\nWahrhaft spanisch, und vielleicht sogar f\u00fcr den Spanier ungew\u00f6hnlich, ist die Lebhaftigkeit seines Temperaments. Kaum eingetreten, schiefst er wie ein Pfeil durch alle R\u00e4ume. Hellster Jubel, Tr\u00e4nen, lodernder Zorn und neuer Sonnenschein wechseln rasch und unvermittelt miteinander. Der Ausdruck seines h\u00fcbschen Gesichts und zumal seiner Augen, wie er etwa zum erstenmal einen Phonographen h\u00f6rte und nun gar seine eigene Stimme darin wiedergegeben wurde, oder wie er scharf \u00fcberlegend die Reinheit von Intervallen pr\u00fcfte, wird uns allen unvergefslich sein. Aber ich kann nicht verhehlen, dafs in diesem Temperament nicht blols eine Quelle seiner k\u00fcnstlerischen Begabung, sondern auch eine Quelle von Gefahren f\u00fcr die Entwicklung seines Charakters liegt, welcher nur durch eine sehr energische Erziehung begegnet werden kann. Diese ist in der Hand seiner Mutter, da der Vater schon vor seiner Geburt gestorben ist.","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"[Z. f. ang. Ps. IL 3] Akustische Versuche mit Pepito Arriola.\t107\nSeine musikalischen F\u00e4higkeiten habe ich in Verbindung mit Herrn Dr. Abraham, Dr. Guttmann, Dr. v. Hornbostel, cand. Pfungst, Dr. K. L. Schaefer nach allen Richtungen untersucht. Doch kam es mir vorzugsweise auf eine bestimmte Frage an : auf seine etwaigen Eigent\u00fcmlichkeiten in der Abstimmung konsonanter Intervalle, weil unter den besonderen Umst\u00e4nden des Falles die Ergebnisse eventuell eine gewisse theoretische Bedeutung gewinnen konnten.\nVoraus sei bemerkt, dafs Pepitos einziges Instrument bisher das Klavier ist, und dafs er auch nur selten und unvollkommen singt. Er trifft wohl die absolute H\u00f6he von T\u00f6nen, die ihm genannt werden (eventuell mit Transposition in die f\u00fcr ihn gangbare Region). Er trifft auch Intervalle. Doch machte ihm der Tritonus f\u2014h zuerst eine kleine Schwierigkeit. Man merkte, dafs er niemals nach Noten gesungen hatte. Er intonierte zuerst f\u2014b. M\u00f6glich aber auch, dafs er nur den Mangel des Vorzeichens nicht beachtet und h f\u00fcr b angesehen hatte.\nSein Klavierspiel zeichnet sich weniger durch technische Exaktheit als durch musikalische Intelligenz und Empfindung aus. Es kommt ihm auf einige Fehlgriffe nicht an, obgleich der Anschlag und die ganze Spielart den guten Lehrer bezeugen und die kleinen H\u00e4ndchen Passagen, die f\u00fcr grofse H\u00e4nde geschrieben sind, mit fast komischer Gelenkigkeit \u00fcberwinden. Aber wie er den Geist des Musikst\u00fcckes erfafst, wie er die n\u00e4mlichen Stelle ein anderes Mal wiedergibt, wie er Nuancen hineinlegt, die wir nur als Ergebnisse reifer Kunsterfahrung anzusehen gewohnt sind, das ist erstaunlich.\nEs ist ihm ein Leichtes, jedes St\u00fcck in eine beliebige andere Tonart zu transponieren ; eines der sichersten Kennzeichen echter Musikbegabung.\nSo sind auch seine Kompositionen (in denen er etwa bis op. 30 gelangt sein soll) und sein freies Phantasieren von grofser Mannigfaltigkeit und charakteristischem Ausdruck. Wir glaubten in der letzteren Hinsicht unter anderem zu beobachten, dais die Klangfarbe des Instrumentes einen mafsgebenden Einflufs aus\u00fcbte. An das Harmonium gesetzt (es war das ehrw\u00fcrdige Harmonium aus HELMHOLTzens Nachlafs) lernte er schnell die verschiedenen Register mitten im Spiele zu handhaben, und ging nun etwa, wenn er gerade ein besonders kr\u00e4ftiges gezogen hatte, zu marschartigen Rhythmen, bei einem besonders weichen zu lang-","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\nC. Stumpf.\n[Z. f. ang. Ps. II. 4]\nsanier Tonbewegung \u00fcber, ben\u00fctzte die trockenen kurzen T\u00f6ne eines Registers auf dem oberen Manuale sogleich zur Ausf\u00fchrung einer guitarrenartigen Begleitung zu dem getragenen Gesang, den er gleichzeitig auf dem unteren Manuale spielte, erging sich an unserer obertonarmen Flaschenorgel in schwerm\u00fctigen Mollmodulationen etc. So wufste er auch kleine zuf\u00e4llige Fehlgriffe im Spiel geistreich zu ben\u00fctzen und durch die Fortsetzung in der damit gegebenen Richtung nachtr\u00e4glich zu rechtfertigen. Dr. Abraham, der eine sch\u00f6ne Fertigkeit im freien Phantasieren besitzt, er\u00f6ffnete mit ihm eine Art Wettkampf, indem er ihm 4 Takte einer begleiteten Melodie verspielte, die dann Pepito fortzusetzen hatte ; dann kam wieder Dr. Abraham, wieder Pepito usw., mindestens 10 mal hintereinander, mit immer neuen und zum musikalisch-logischen Zusammenhang passenden Wendungen. Die Musik erscheint bei diesem Kinde in der Tat wie eine angeborne Sprache ; als w\u00e4re sie ein ebenso nat\u00fcrlicher Ausdruck seiner Empfindungen, wie es die instinktive Geb\u00e4rdensprache ist. Selbstverst\u00e4ndlich ist dies in Wirklichkeit nicht der Fall. Aber was man nur irgend ohne direkte Verletzung psychologischer Gesetze als angeboren betrachten darf, das m\u00fcssen wir diesem Kinde sicherlich als Ureigentum seiner Organisation zuerkennen.\nSehr leicht und sicher erkennt Pepito die absolute Ton-h\u00f6he; wovon wir uns durch zahlreiche Versuche am Klavier, aber auch an sehr ungew\u00f6hnlichen Kl\u00e4ngen \u00fcberzeugt haben. Stimmgabeln der verschiedensten H\u00f6he, solange sie nur innerhalb der musikalisch gebr\u00e4uchlichen Oktaven lagen, wurden richtig benannt, desgleichen Flaschent\u00f6ne, Zungenkl\u00e4nge. Als einmal zuf\u00e4llig in seiner N\u00e4he zwei Weingl\u00e4ser aneinandergestofsen wurden, erhielt ich auf die Frage nach der Tonh\u00f6he die richtige Antwort: \u201emi und fa sostenito\u201c (= e und fis, er bezeichnet die T\u00f6ne noch lieber mit den spanischen als mit den deutschen Ausdr\u00fccken).\nIn bezug auf die Richtigkeit der Benennungen mufs ich aber die Einschr\u00e4nkung beif\u00fcgen, dafs er bei neuen Instrumenten mit einer gewissen Regelm\u00e4fsigkeit zuerst einen um eine halbe Tonstufe tieferen Ton zu nennen pflegte. So gab er die s\u00e4mtlichen K\u00f6nig sehen Gabeln von c3 bis c4, in willk\u00fcrlicher Reihenfolge vorgelegt, um einen halben Ton tiefer an (wobei in diesem Falle allerdings auch ein Intervallurteil einigermafsen mitwirken mochte, nachdem einmal das erste Urteil abgegeben war, da die","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"[Z. f. ang. Ps. IL 5] Akustische Versuche mit Pcpito Arriola.\n109\nPansen nicht sehr lang waren). Wenn er aber ein Instrument vorher kannte, etwa einige Zeit vorher darauf gespielt hatte, so begegnete ihm dies nicht. Er akkommodierte sich in seinem Urteil an den Stand des Instrumentes, brachte unwillk\u00fcrlich die Differenz gegen\u00fcber der ihm vorschwebenden Skala in Abrechnung.\nWir haben nun auch die H\u00f6he seines a1 festgestellt, d. h. die Schwingungszahl des a\\ wie er es im Kopfe hat, sozusagen sein individuelles Normal-\u00ab. Dabei fiel uns wieder auf, dafs er es schon bei der Aufforderung, es zu singen, etwas hoch angab. Dies best\u00e4tigte sich bei der Pr\u00fcfung am Tonmesser. Er erkl\u00e4rte die mit \u201e450\u201c bezeichnete, in Wirklichkeit auf 453,4 abgestimmte Zunge als das richtige ct; dagegen die Nachbarzunge, die den Ton 454,8 angibt, als zu hoch, 456,8 als viel zu hoch, 451 als zu tief. Bei einem zweiten Versuche zu anderer Zeit ergab sich dasselbe. 451 schien ihm dieses Mal zwar auch gut, aber 453,4 doch genauer. Sein a1 ist also bedeutend h\u00f6her als die Normalstimmung unserer Klaviere {a1 = 435), und noch h\u00f6her gegen\u00fcber der sogenannten physikalischen Stimmung, nach welcher die K\u00d6NiGsehen Gabeln gemacht sind (a1 = 426,7). Und zwar betr\u00e4gt der Unterschied im letzteren Falle in der Tat fast genau einen halben Ton (h1 = 455, fast identisch mit seinem a1).\nDamit h\u00e4ngt jedenfalls die vorher genannte Erscheinung zusammen. Denn wenn er nun z. B. das K\u00f6NiGsche \u00ab3 h\u00f6rt, so ist dies eben nach seiner Nomenklatur ein gis?> ; und es war nur das eine zu verwundern, dafs er sich doch von dieser Fehlerquelle, wenn man sie so nennen will, so leicht frei machen und* sein inneres Klavier gleichsam transponieren konnte, um es mit den \u00e4ufseren T\u00f6nen in Einklang zu bringen. Es ist dies wieder ein Zeichen seiner allgemeinen Intelligenz.\nWoher nun aber die hohe Stimmung des a1 bei Pepito? Ich stellte fest, dafs das schlechte Piano, das er in dem hiesigen H\u00f4tel seit einigen Wochen spielte, fast um einen halben Ton zu tief stand. In Leipzig spielt er, wie mir Herr Prof. Nikisch schreibt, nur auf Bu\u00dcTHNERschen in der Normalstimmung stehenden Instrumenten. Prof. Nikisch f\u00fcgt auch bei, dafs er ein solches Fehlgreifen um einen halben Ton bei der Tonh\u00f6henbestimmung bisher an Pepito nicht bemerkt habe. Daher wird wohl der Zusammenhang dieser sein: das Kind wird jenen Stand seines hiesigen Instrumentes bemerkt und sich beim Spielen an-","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"HO\nC. Stumpf.\n[Z. f. ang. Ps. II. 6]\ngew\u00f6hnt haben, das b1 derselben als \u00ab1 und so jeden Ton als um einen Halbton tiefer aufzufassen. Diese Gewohnheit wirkte in obigen Versuchsf\u00e4llen zun\u00e4chst nach, wurde aber durch das Spiel auf einem richtig gestimmten Instrumente wieder aufser Wirksamkeit gesetzt.\n\u00dcbrigens sind zu Pepitos Normal-\u00ab auch die Beobachtungen Dr. Abrahams an sich selbst und an Prof. Raie zu vergleichen1, wonach diese beiden mit vorz\u00fcglichem absolutem Geh\u00f6r begabten Herren gleichfalls ein zu hohes \u00ab im Kopfe trugen. F\u00fcr Abraham lag es in einer gr\u00f6fseren Versuchsreihe, wenn von Ausnahmef\u00e4llen abgesehen wird, zwischen 446 und 454, in einer anderen zwischen 440 und 448, f\u00fcr Raie zwischen 435 und 447, also durchweg in einer Zone, von der das seit l\u00e4ngerer Zeit eingef\u00fchrte Normal-\u00ab im g\u00fcnstigsten Falle die untere Grenze bildet. Abraham gibt auch eine wahrscheinliche Erkl\u00e4rung f\u00fcr seine Person, die ebenfalls mit dem Tiefstand eines fr\u00fcher gebrauchten Klaviers zusammenh\u00e4ngt. Es w\u00e4re aber doch zu untersuchen, ob hier nicht eine allgemeine Eigent\u00fcmlichkeit des Geh\u00f6rs vorl\u00e4ge.2\nAuch Akkorde, und zwar m\u00f6glichst ungew\u00f6hnliche, im freien Anschlag unm\u00f6gliche, dissonante Zusammenstellungen wurden ihm am Klavier vorgelegt; von der Art, wie sie in meiner Tonpsychologie II, 369 f. als Probest\u00fccke f\u00fcr ausgezeichnete Geh\u00f6re angegeben sind. Er wufste sie nicht unfehlbar, aber doch mit grofser Sicherheit zu reproduzieren. Ebenso eine Sukzession von vier m\u00f6glichst unmelodischen, keiner gemeinschaftlichen Leiter angeh\u00f6rigen und weit auseinander liegenden T\u00f6nen. Bei den\n1\t0. Abraham, Das absolute Tonbewufstsein, Sammelb\u00e4nde der Internat. Musikgesellschaft, B, 1901, 54\u201457.\n2\tIch m\u00f6chte hier auch eine Bemerkung anf\u00fcgen, welche Herr Prof. Nikisch in seinem oben erw\u00e4hnten Briefe macht: dafs n\u00e4mlich ein besonders sensibles Geh\u00f6r durch kleine Verstimmungen in gr\u00f6fste Verwirrung geraten k\u00f6nne, w\u00e4hrend es sich sofort zurecht finde, wenn ein Orchester, etwa eine Milit\u00e4rkapelle, um einen vollen Halbton zu hoch gestimmt ist. \u201eIst die Abweichung nur eine geringe, so verliert f\u00fcr den sensiblen Musiker jede Tonart ihren individuellen Charakter, er wird unsicher, und es kann ihm dann sehr leicht passieren, dafs er falsch r\u00e4t.\u201c Diese Bemerkung des vielerfahrenen Musikers erscheint mir interessant. Doch leidet sie keine Anwendung auf unsern Fall, da jene K\u00f6nig sehen Gabeln von einer physikalischen Genauigkeit der Abstimmung sind, wie sie bei den besten Klavieren, auch abgesehen von der temperierten Stimmung, kaum je erreicht werden kann.","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"[Z. f. ang. Ps. IL 7] Akustische Versuche mit Pepito Arriola.\tHl\nVersuchen mit Akkorden ist mir \u00fcbrigens, wie auch gelegentlich bei einzelnen T\u00f6nen, aufgefallen, dafs er sich beim Reproduzieren auf dem Klavier \u00f6fters um eine Oktave vergriff. Ob dies aber geschah, weil ihn sein Geh\u00f6r t\u00e4uschte oder weil er auf die Oktavenlage bei der Reproduktion nur kein Gewdcht legte, habe ich nicht ermittelt.\nWir gingen nun zur Bestimmung der Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr aufeinanderfolgende T\u00f6ne. Nat\u00fcrlich konnte nicht davon die Rede sein, hierbei die strengsten Regeln der verschiedenen psychophysischen Methoden einzuhalten, die \u00fcbrigens bekanntlich auch bei Erwachsenen oft verkehrt genug angewandt werden. Man mufste hier mit wenigen Bestimmungen und einer approximativen Eingrenzung des Wertes zufrieden sein. Auch ist es vielleicht in diesem Falle besonders n\u00fctzlich, sich zu erinnern, dafs es sich bei der experimentellen Bestimmung der sogenannten LTnterschiedsempfindlichkeit oder Unterschiedssclwelle genauer gesprochen immer nur um die Bestimmung der Unterscheidungsf\u00e4higkeit unter den gew\u00e4hlten Verh\u00e4ltnissen handeln kann: einer F\u00e4higkeit, in welcher aufser der Feinheit der Sinnesempfindungen selbst die F\u00e4higkeit des Aufmerkens, besonders die \u00dcbung in der Abstraktion von Nebenumst\u00e4nden eingeschlossen ist. Am Tonmesser fand sich, dafs Pepito in der Gegend von 700 Schwingungen (e2) zwrei T\u00f6ne, die sukzessive um 6, um 5,2, um 4,3 Schwingungen differierten, noch als ungleiche und zwar um einen halben Ton verschiedene erkl\u00e4rte (gem\u00e4fs der oft zu konstatierenden Neigung, kleine Unterschiede zu \u00fcbersch\u00e4tzen und speziell kleinste Tonunterschiede unter den Begriff des musikalisch kleinsten Intervalls, des Halbtones, zu subsumieren). Dagegen bei 2,4 Schwingungen Unterschied und darunter wurden sie als gleich bezeichnet. Man kann also sagen, dafs die Unterscheidungsschwelle zwischen 2,4 und 4,3, also rund bei 3 Schwingungen liegt. Das ist in der angegebenen Tonlage etwa 1js Komma. Bei erwachsenen, mit gutem Geh\u00f6r begabten und auf solche Versuche ausdr\u00fccklich eingeschulten Individuen ist die SchwTelle hier etwa 6\u20148 mal so klein.\nBevor wir auf die Unterschiedsempfindlichkeit gegen\u00fcber Intervallen eingehen, will ich einschalten, dafs einige Versuche sich auch auf die Gef\u00fchlsreaktion gegen\u00fcber Intervallen und Akkorden bezogen. Doch kann ich nur weniges dar\u00fcber sagen. Diese Frage geh\u00f6rt ja auch bei Erwachsenen zu","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nC. Stumpf.\n[Z. f. ang. Ps. II. 8]\nden kompliziertesten und der Untersuchung am schwersten zug\u00e4nglichen. Er bezeichnete unter den Intervallen die Sexten als die sch\u00f6nsten, und zwar besonders die kleine Sexte. Dann erst kommen ihm die Terzen, besonders wieder die kleinen, dann die Quinten. Quarten scheint er nicht ganz zu billigen. Die Intervalle wurden ihm hierbei nicht aktuell vorgelegt, sondern sein Urteil nach dem allgemeinen Eindruck abgefragt, den er aus der musikalischen Praxis hatte. Einmal legte ich ihm einen rein gestimmten Durakkord von Stimmgabeln auf dem Grundton 100, gleichzeitig in sechs Oktaven erklingend, vor; sodann den entsprechenden Mollakkord. Er fand sie beide gleich sch\u00f6n. Auch hierin ist sicherlich eine Nachwirkung der musikalischen Erfahrungen zu erblicken, in denen er auf gewachsen ist, da eben unserer gegenw\u00e4rtigen Musikpraxis Dur und Moll als \u00e4sthetisch gleichwertig gelten. Dem reinen sinnlichen Eindruck nach pflegen solche, die von diesem mehr als vom \u00e4sthetischen Wertgef\u00fchle beeinflufst werden, Moll nach meinen bisherigen Erfahrungen als viel weniger angenehm zu bezeichnen.\nNun also zu den Reinheitsurteilen. Hierzu wurde zuerst Sterns Tonvariator ben\u00fctzt, der relativ einfache T\u00f6ne gibt und die Herstellung beliebig kleiner Verstimmungen gestattet. Er wurde auf Oktaven, Quinten und grofse Terzen ungef\u00e4hr eingestellt, und Pepito hatte die Aufgabe, durch Drehung der Kurbel den einen Ton so zu stimmen, dafs die Intervalle nach seinem Geh\u00f6r rein wurden. Diese Selbstbet\u00e4tigung machte ihm Vergn\u00fcgen. Eine zweite Versuchsreihe wurde dann am Tonmesser angestellt, obgleich dieser an sich weniger geeignet ist, da er nur eine beschr\u00e4nkte Auswahl festgegebener T\u00f6ne enth\u00e4lt und diese zugleich eine sehr scharfe und das Ohr angreifende, auch nicht \u00fcberall gleichm\u00e4fsige Klangfarbe haben. Pepito verlangte denn auch wieder zum Tonvariator zur\u00fcck. Aber es sollte doch nach M\u00f6glichkeit gepr\u00fcft werden, ob das bei diesem gefundene Verhalten auch bei so scharfen Kl\u00e4ngen sich wiederfand.\nDie drei Intervalle wurden sowohl aufw\u00e4rts als abw\u00e4rts als auch mit gleichzeitigem Erklingen der beiden T\u00f6ne untersucht, und beim Variator Pepito immer veranlafst, solange hin und her zu drehen, bis er sich bei einer Stellung vollkommen beruhigte. Die beiden Versuchsreihen waren durch mehrere Tage getrennt. Jede Reihe enthielt f\u00fcnfzehn Einzelversuche, deren jeder wieder","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"[Z. f. an g. Ps. IL 9] Akustische Versuche mit P\u00e9pita Arriola.\n113\ndurch viele einzelne Urteile gem\u00e4fs jenem Hinundherschieben der Kurbel (bzw. der Vorf\u00fchrung verschiedener Zungen zur Auswahl) zustande kam.\nIn dieser Beziehung wurde ihm keine bestimmte Zeit und Zahl vorgeschrieben, da es gerade auch charakteristisch war, welche Intervalle ihm gr\u00f6fsere und welche ihm kleinere Schwierigkeiten bereiteten, und aufserdem an einem besonders langen Hinundherschieben die eintretende Erm\u00fcdung erkannt und eine Pause eingeschaltet oder Schlufs gemacht werden konnte. Bei aufeinander folgenden T\u00f6nen wurde stets der erste Ton des Intervalls konstant gehalten, der zweite ver\u00e4ndert. Die absolute Tonh\u00f6he lag zwischen 250 und 700 Schwingungen (c1 und f'2) bei den Oktaven, bei kleineren Intervallen im h\u00f6heren Teile dieses Abschnittes.\nDie Ergebnisse waren, soweit man eben aus den kleinen Reihen etwas entnehmen kann, folgende :\n1.\tUnter den 30 F\u00e4llen waren 21 Vergr\u00f6fserungen, dagegen nur 6 Verkleinerungen des physikalisch reinen Intervalls und 3 reine Intervalle. Es \u00fcberwiegt also weitaus die Neigung zur Vergr\u00f6fserung ; ganz wie in den Beobachtungen, die ich mit M. Meyeb ver\u00f6ffentlicht habe, und die sich auch bei den ausgezeichnetsten Musikern der Berliner Hochschule f\u00fcr Musik best\u00e4tigt fanden.1 Dieselbe Neigung zeigte sich einmal bei Pepito auch aufserhalb dieser Versuchsreihen, als wir ihm eine reine und eine pythagoreische grofse Terz in Gabeln vorlegten (400 : 500 und 400 : 506,2). Er w\u00e4hlte die letztere und zwar bei gleichzeitigem Erklingen.\n2.\tDie Klangfarben der Flaschen und der Zungen machten keinen erkennbaren Unterschied.\n3.\tDie drei Intervalle zeigten gleichfalls keine charakteristischen Unterschiede. Die Verkleinerungen und Vergr\u00f6fserungen verteilen sich gleichm\u00e4fsig, erreichen auch nicht etwa bei einem der drei Intervalle eine besondere Gr\u00f6fse gegen\u00fcber anderen. Die Verkleinerungen betragen 0,5 bis 11 Schwingungen, die Vergr\u00f6fserungen 0,4 bis 10,2. So grofse Abweichungen finden sich in Versuchsreihen erwachsener maximal ge\u00fcbter Personen\n1 Vgl. diese Beitr\u00e4ge, 2. Heft, 124 f,, speziell 127\u2014128. Auch Jonqui\u00e8re berichtet in seinem guten Lehrbuche der musikalischen Akustik S. 142 \u00fcber Versuche an denselben Musikern, wonach sie sich alle f\u00fcr die .,pythagoreische\u201c Intonation erkl\u00e4rten.\nStumpf, Beitr\u00e4ge IV.\t8","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nC. Stumpf.\n[Z. f. ang. Ps. II. 10]\nwiederum nicht. Doch sind auch bei Pepito diese starken Abweichungen selten, gew\u00f6hnlich handelt es sich um wenige Schwingungen.\n4.\tBei den Intervallen gleichzeitiger T\u00f6ne fanden sich geringere Abweichungen von der physikalischen Reinheit als bei denen aufeinanderfolgender T\u00f6ne. Sie gehen hier nur bis zu 5 Schwingungen (im Falle der Oktave, bei den anderen Intervallen noch weniger weit). Doch ist darauf bei der geringen Zahl kaum Gewicht zu legen.\n5.\tDie absteigenden Intervalle wurden mit gr\u00f6fserer Schwierigkeit gestimmt als die aufsteigenden. Man merkte Pepito an, dafs. ihm diese Methode unnat\u00fcrlich und unbehaglich vorkam. Desgleichen wollte er zuerst nicht an die Abstimmung gleichzeitiger T\u00f6ne und verlangte sie nacheinander zu h\u00f6ren. Gelegentlich kam es allerdings auch vor, dafs er bei aufeinanderfolgenden T\u00f6nen Gleichzeitigkeit w\u00fcnschte.\nWie intensiv sein Gef\u00fchl bei diesen Versuchen beteiligt war, zeigte der h\u00e4ufige Ausruf: ,.o Gott, o Gott!\u201c bei starken Unreinheiten, und das H\u00e4ndeklatschen mit \u201egut, gut\u201c bei Erreichung der subjektiven Reinheit.\nWas l\u00e4fst sich nun aus dem unter 1. erw\u00e4hnten Verhalten Pepitos etwa schliefsen? Zeigt sich darin die von vielen vermutete Einwirkung der temperierten Stimmung des Klaviers ? \u2014 Ich halte dies aus \u00e4hnlichen Gr\u00fcnden f\u00fcr ausgeschlossen wie bei den fr\u00fcheren Versuchen an Erwachsenen (a. a. O. S. 159): weil nicht blofs die grofsen Terzen, sondern auch die Quinten und die Oktaven zu grofs genommen wurden, w\u00e4hrend doch die temperierte Quinte etwas zu klein und die Oktave rein. ist. \u00dcberhaupt mufs sich diese unverkennbare Neigung zur Ver-gr\u00f6fserung bei ihm unabh\u00e4ngig vom Einfl\u00fcsse irgend eines Instrumentes, auch selbst des Kehlkopfes, herausgebildet haben, da er eben kein anderes Instrument als das Klavier spielt und auch nur selten singt. Sie mufs also aus rein inneren Wurzeln, als eine interne Eigent\u00fcmlichkeit und Folge des musikalischen H\u00f6rens und der dabei waltenden psychologisch-\u00e4sthetischen Motive begriffen werden; in der Weise, wie ich dies fr\u00fcher darzustellen versucht habe. Geh\u00f6rt hat ja Pepito sehr viel. Er besucht z. B. regelm\u00e4fsig die Proben der Gewandhauskonzerte. Und abgesehen von allen \u00e4ufseren Eindr\u00fccken h\u00f6rt er best\u00e4ndig die Melodien und Harmonien, die ihm infolge der empfangenen Anregungen","page":114},{"file":"p0114s0002table1.txt","language":"de","ocr_de":"Tafel I.\nA Verbindung zweier Sinusse.hwingungen von gleicher Amplitude, ohne anf\u00e4ngliche Phasendifferenz, in allen durch ganze Zahlen zwischen 1 und 12 ausdr\u00fcckbaren Schwingungsverh\u00e4ltnissen. Halbe Perioden.\nC. Stumpf.\ngez. von K. L. imd M. Schaefer.","page":0},{"file":"p0114s0003table2.txt","language":"de","ocr_de":"Tafel IL\n3, Verbindung zweier Sinusschwingungen von gleicher Amplitude mit verschiedenen anf\u00e4nglichen Phasendifferenzen.\nGlanze Perioden.\nC. Verbindung zweier Sinusschwingungen von ungleicher Amplitude, ohne anf\u00e4ngliche Phasendifferenz. Halbe Perioden.\nD. Verbindung dreier Sinusschwingungen von gleicher Amplitude, ohne anf\u00e4ngliche Phasendifferenz. Halbe Perioden.\nC. Stumpf.\ngez. von K. L. und M. Schaefer.","page":0},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"[Z. f. ang. Ps. IL 11] Akustische Versuche mit Pepito Arriola.\n115\nseit den ersten Lebensjahren innerlich znstr\u00f6men, die ihn selbst w\u00e4hrend der kindlichen Spiele pl\u00f6tzlich an das Klavier treiben, nnd die ebenso wie das objektiv Erklingende zuletzt in dem ganzen Ban des modernen Tonsystems und der augenblicklichen Entwicklungsstufe der Tonkunst wurzeln.\nEben darum, weil hier ein bereits ganz in den Geist unserer Musik eingetauchtes intensives musikalisches Bewulstsein vorhegt, dessen kurzer Entwicklungsgang sich noch ziemlich \u00fcbersehen l\u00e4fst, und das sich zugleich dank der allgemeinen Intelligenz des Kindes einer experimentellen Untersuchung einiger-mafsen zug\u00e4nglich erwies, schien mir die Ver\u00f6ffentlichung der Ergebnisse nicht ungerechtfertigt.\nViel gr\u00f6fser war freilich die Belehrung und die Freude, den es den Beteiligten gew\u00e4hrte, eine so seltene und vielversprechende geniale Begabung in ihrem fr\u00fchen Knospen und Treiben durch die Anschauung kennen zu lernen. M\u00f6ge sie sich zu herrlicher Reife entfalten!\nAnhang zu vorstehendem Aufs\u00e4tze.\nReferat von Dr. E. v. Hoknbostel \u00fcber :\nChaules Richet. Note sur im cas remarquable de pr\u00e9cocit\u00e9 musicale. IV. Con\u00ab gr\u00e8s Internat, de Psycliol. Paris 1900. (Compte rendu des s\u00e9ances etc., Paris 1901), p. 93\u2014-99.\nPepito Rodriguez Arriola, geboren am 14. Dezember 1896 in dem gali-zisclien Seest\u00e4dtchen La Coruna, im \u00e4ufsersten Nordwesten der iberischen Halbinsel. Der Vater, nicht musikalisch, wie die ganze v\u00e4terliche Familie, besafs ein hervorragendes Ged\u00e4chtnis. Die Grofsmutter m\u00fctterlicherseits spielte mit 11 Jahren \u201emit seltener Vollendung\u201c Guitarre, die Mutter schon mit 5 Jahren \u201esehr gut\u201c Klavier und ist auch heute eine t\u00fcchtige, aber in keiner Weise aufsergew\u00f6hnliche Pianistin. Knapp 2l/2 Jahre alt, spielt Pepito eines Tages ein St\u00fcck, das er von der Mutter h\u00e4ufig geh\u00f6rt hatte, spontan nach, und zwar so sicher und korrekt, dais die Dame aus einem Nebenzimmer herbeieilt, um zu sehen, welch unh\u00f6flicher Gast sich herausnimmt, bei ihr zu musizieren. Von nun an spielt Pepito geh\u00f6rte und selbst improvisierte Melodien, fast ohne Unterweisung.\nDies war die Biographie des 3 x/2 j\u00e4hrigen Knaben, den Richet 1900 dem Pariser Psychologenkongrefs vorstellte.\nSein physischer und psychischer Habitus war vollst\u00e4ndig normal : vortreffliche Gesundheit ; sehr lebhafter und lustiger Charakter ; Intelligenz gut, aber nicht \u00fcber sein Alter entwickelt ; allgemeines Ged\u00e4chtnis ausgezeichnet, aber anscheinend auch nicht \u00fcber dem Durchschnitt.\n8*","page":115},{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\nE. v. Hornbostel.\n[Z. f. ang. Ps. II. 152]\nDie Technik seines Klavierspiels, obwohl kindlich unvollkommen, war doch oft erstaunlich geschickt ; am meisten aber \u00fcberraschte der reiche und tiefe Gef\u00fchlsausdruck. Er wufste damals etwa 20 St\u00fccke (Melodie und Harmonie) auswendig, die er alle nach dem Geh\u00f6r und ohne speziellen Drill, ja offenbar ohne irgendwelche systematische \u00dcbung, gelernt hatte. St\u00fccke, die ihm neu vorgespielt wurden, spielte er nach 2\u20143 maligem H\u00f6ren ; auch vor gesungene Melodien spielte er nach, erfand dabei eine passende Harmonisierung. Zwischen seinen meist einfachen Harmonien kamen zuweilen ganz \u00fcberraschende Akkorde vor. Was er einmal gespielt hatte, vergafs er (nach Angabe der Mutter) nie mehr. Seine Improvisationen waren, nach einem absoluten Mafsstab gemessen, \u00e4ufserst schwach ; trotzdem schien manches wirklich neu und die besten Partien hatten \u201eIdeer, rhythmische Kombinationen, Pausen, \u00dcberg\u00e4nge von einem Rhythmus zu einem andern, Wechsel der Tonart, selbst kunstvoll eingef\u00fchrte Leitmotive\u201c.\nWaren die Leistungen des Kindes also in jeder Beziehung ungleich, so geh\u00f6rten die guten Leistungen, namentlich im Hinblick auf die sozusagen autodidaktische musikalische Erziehung, doch zu dem Merkw\u00fcrdigsten, was von musikalischer Fr\u00fchreife bekannt ist. Bemerkenswert scheinen aber auch die Bedingungen, unter denen die guten Leistungen zustande kamen. So konnte Pepito nur auf seinem eigenen Instrument, einem abscheulichen alten Klimperkasten, gut spielen; wurde er, was die gr\u00f6fste M\u00fche kostete, dahin gebracht, sich an ein fremdes Klavier zu setzen, so griff er best\u00e4ndig daneben. Das Fehlen optischer Direktiven kann nicht zur Erkl\u00e4rung dienen, da Pepito nicht auf die Tasten zu sehen pflegte und auch im Dunkeln ganz gut spielte. Eichet gibt der ungewohnten Klangfarbe die Schuld. Es w\u00e4re aber auch denkbar, dais Pepito nicht ordentlich spielen wollte, aus Unmut oder Eigensinn, wie sie bei Kindern in ungewohnten und darum unbehaglichen Situationen h\u00e4ufig Vorkommen. (Ein Vierteljahr sp\u00e4ter spielte Pepito auf jedem beliebigen Klavier.) Auch sonst kam es oft vor, dafs er eine kurze Zeit herumfaselte (\u201eil bafouille pendant une demi-minute\u201c), und dann pl\u00f6tzlich korrekt und gel\u00e4ufig zu spielen anfing. (\u00c4hnliches glaubt Ref. auch noch 1903 gelegentlich beobachtet zu haben.) Bald war -er nicht vom Klavier wegzubringen, bald wollte er um Jkeinen Preis spielen. So war er wohl auch f\u00fcr \u00dcbungen und Unterricht in den ersten Jahren nicht zu haben. Zuweilen bekritzelte er ein Papier mit Zeichen und Strichen, die den Titel eines Musikst\u00fccks, den Violinschl\u00fcssel, Liniensysteme und Koten bedeuten sollten, legte das Blatt aufs Pult, erkl\u00e4rte, er wolle das spielen und dann \u201eimprovisierte er auf erstaunliche Weise\". Ref. h\u00e4lt es nichi f\u00fcr ausgeschlossen, dafs es sich hierbei um mehr als ein blofses \u201eNachahmungsspiel\u201c handelte, dafs vielmehr diese Aufzeichnungen dem Kinde doch etwas bedeuteten ; nat\u00fcrlich nicht eine festgeformte Komposition, vielleicht aber eine gewisse Anregung f\u00fcr die Improvisation.","page":116}],"identifier":"lit38492","issued":"1909","language":"de","pages":"105-116","startpages":"105","title":"Akustische Versuche mit Pepito Arriola","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:33:26.592813+00:00"}