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{"created":"2022-01-31T15:45:01.355691+00:00","id":"lit38498","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"},{"name":"E. v. Hornbostel","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 6: 102-115","fulltext":[{"file":"p0102.txt","language":"de","ocr_de":"102\n[IV. Kongr.-Ber. 256]\nUber die Bedeutung ethnologischer Untersuchungen f\u00fcr die Psychologie und \u00c4sthetik der Tonkunst.1\nVon\nC. Stumpf und E. v. Hornbostel.\nI. (Stumpf).\nEs ist wohl schon in weiten Kreisen ruchbar geworden, dafs man im Berliner Psychologischen Institut neben den fachlichsachlichen Dingen gewisse Allotria treibt, indem ungez\u00e4hlte Proben exotischer Tonkunst gesammelt werden, die den Ohren des Europ\u00e4ers wenig erfreulich und seinem Geschmack fast unverst\u00e4ndlich sind. Mancher wird sich schon gefragt haben, inwiefern diese Bestrebungen noch einen engeren Zusammenhang mit der experimentellen Psychologie haben k\u00f6nnen. Ich m\u00f6chte deshalb die Gelegenheit ergreifen, in Verbindung mit meinem Freunde v. Hornbostel Ihnen kurz an einigen Beispielen darzulegen, dafs ein solcher Zusammenhang gleichwohl besteht, und dafs wir \u00fcber prinzipielle Fragen des Tongebietes, die wieder mit allgemeineren psychologischen und \u00e4sthetischen Fragen in engster Verbindung stehen, neue Aufschl\u00fcsse und neue Problemstellungen teils schon erhalten haben, teils erwarten d\u00fcrfen.\nErinnern wir uns, dafs ein Psychologe es war, der das erste umfassende Werk \u00fcber Ethnologie in deutscher Sprache geschaffen hat: Theodor Waitz. W\u00e4hrend Herbart die Psychologie nur aus dem eigenen Bewufstsein herausholte und selbst da mehr konstruierend als beobachtend vorging, hatte Waitz von vornherein mehr Sinn f\u00fcr vielseitige und unbefangene Tatsachenforschung. Der Tierpsychologie widmete er eine sch\u00f6ne Untersuchung, der vergleichenden V\u00f6lkerkunde seine \u201eAnthropologie der Naturv\u00f6lker\u201c. Das Werk erschien fast gleichzeitig mit Fechners Elementen der Psychophysik, die Herbarts Bestrebungen in anderer Richtung\n1 Aus dem Bericht \u00fcber den 4. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychologie, herausgegeben von F. Schumann, 1911.","page":102},{"file":"p0103.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 257] \u00dcber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. 103\nauf eine empirische Grundlage stellten. Aber im Gegensatz zu Fechnee hat Waitz unter den Psychologen zun\u00e4chst keine Nachfolger gefunden. Die neuen Methoden und Probleme der Psycho-physik nahmen die Aufmerksamkeit ausschliefslich in Anspruch. Jetzt ist es aber Zeit, auch die ethnologischen Untersuchungen wieder heranzuziehen und sie mit den experimentellen zu verbinden. Diese Erkenntnis liegt Wundts \u201eV\u00f6lkerpsychologie\u201c zugrunde, mit deren methodischem Grundgedanken wir sonach v\u00f6llig \u00fcbereinstimmen. Fraglich ist es nur, ob f\u00fcr ein solches Unternehmen in so grofsem Rahmen heute schon das zuverl\u00e4ssige Material hinreichend beisammen ist.\nZur Verkn\u00fcpfung der experimentellen mit der ethnologischen Forschung eignet sich besonders das Gebiet der Sprache und das der Kunst. In beiden Gebieten lehren uns ethnologische Betrachtungen, das, was wir an uns finden, nur als einen speziellen Fall unter vielen M\u00f6glichkeiten anzusehen, aus denen es sich allm\u00e4hlich abgesondert hat, wie z. B. die gegenw\u00e4rtige Lautsprache aus der Masse der urspr\u00fcnglichen Verst\u00e4ndigungsmittel. Dafs eine gesunde Sprachpsychologie, ja auch Sprachphilosophie, nur auf ethnologischem Hintergrund m\u00f6glich sei, ist eine l\u00e4ngst anerkannte Einsicht, wenn auch die literaturlosen V\u00f6lker von den Sprachforschern noch zu wenig beachtet werden.\nIn der Kunstphilosophie dringt dieselbe Einsicht langsamer durch. Immer noch operiert die Theorie der K\u00fcnste so gut wie gar nicht oder doch viel zu wenig mit exotischem Material. Die experimentelle \u00c4sthetik aber, wie sie im Gefolge der experimentellen Psychologie entstanden ist, hat trotz einzelner h\u00fcbscher Arbeiten im ganzen \u2014 wir m\u00fcssen es gestehen \u2014 noch herzlich wenig Ergebnisse geliefert. Auch f\u00fcr sie ist es h\u00f6chste Zeit, sich mit geschichtlichen und ethnologischen Forschungen zu verbinden : sie mufs die vergleichende Methode in sich aufnehmen.\nIn dieser Art haben wir bereits treffliche, lehrreiche, aufkl\u00e4rende Studien \u00fcber die primitiven Zeichnungen bei Naturv\u00f6lkern, und man hat sie fruchtbar verkn\u00fcpft mit den Ergebnissen der Beobachtung und des Experimentes \u00fcber Kinderzeichnungen. Ebenso haben wir vorz\u00fcgliches Material \u00fcber Ornamentik bei den Naturv\u00f6lkern (Boas, v. d. Steinen, Stephan u. a.). Auch da wachsen neue Probleme aus dem Boden und empfangen die alten neues Licht.\nF\u00fcr die Psychologie und \u00c4sthetik der Tonkunst habe ich","page":103},{"file":"p0104.txt","language":"de","ocr_de":"104\nC. Stumpf und E. v. Hornbostel. |4V. Kongr.-Ber. 258]\nschon in der Vorrede der \u201eTonpsychologie\u201c und \u00f6fters sp\u00e4ter auf die Wichtigkeit ethnologischer Studien hingewiesen. Aber die sehr zahlreichen Notierungen exotischer Weisen in den fr\u00fcheren Reisewerken, die in die Geschichtswerke \u00fcber Musik unkritisch \u00fcbernommen wurden, bieten fast niemals eine Gew\u00e4hr f\u00fcr die Ge^ nauigkeit der Wiedergabe, da das europ\u00e4ische Ohr seine gewohnten Intervalle und Rhythmen hineinh\u00f6rt und keine psychologische Schulung die Reisenden in dieser Hinsicht zur Selbstkritik und zur Untersuchung einzelner Intonationen oder Rhythmisierungen veranlafste.\nDurch den Phonographen ist uns nun die M\u00f6glichkeit gegeben, ganz exakte, von jeder subjektiven Auffassung unabh\u00e4ngige Bilder der exotischen Musik zu gewinnen. Darum sind ausgedehnte Sammlungen phonographischer Aufnahmen eine Notwendigkeit. Und diese Notwendigkeit ist um so dringlicher, als durch die Einf\u00fchrung europ\u00e4ischer Kultur einerseits, durch das Aussterben vieler Naturv\u00f6lker andererseits die Gelegenheit zu solcher Sammlung nicht mehr lange gegeben sein wird.\nBereits 1899 hat denn auch die Wiener Akademie der Wissenschaften auf Sigmund Exners Anregung ein Phonogrammarehiv begr\u00fcndet, in welchem nicht nur Musik, sondern auch Sprachen und Dialekte ber\u00fccksichtigt werden ; und die Sammlung ist durch regelm\u00e4fsige Unterst\u00fctzungen der Akademie und der Regierung bereits zu grofsem Umfange gediehen. Die ersten Anf\u00e4nge unserer Berliner Sammlung datieren vom Herbst 1900, von den Aufnahmen siamesischer Musik, die ich in Verbindung mit Dr. Abraham gemacht habe (diese Beitr\u00e4ge III). Aber erst 1904 wurden wir durch verschiedene pekuni\u00e4re Zuwendungen in den Stand gesetzt, die eigentliche Sammelt\u00e4tigkeit zu beginnen. Gegenw\u00e4rtig umfafst das Archiv doch schon etwa 3000 Aufnahmen aus allen Gegenden der Welt. Dieser Erfolg ist aufser dem lebhaften Interesse der Forschungsreisenden, die mit Apparaten und detaillierten Anweisungen von uns versehen werden, dem Umstande zu verdanken, dafs es mir gl\u00fcckte, in Dr. Abraham und Dr. v. Hornbostel, denen sich neuerdings noch Dr. Fischer und Dr. Wertheimer zugesellt haben, ausgezeichnete Mitarbeiter zu finden, v. Hornbostel, der unerm\u00fcdliche Mehrer unserer Sammlung, hat sich die ethnologischmusikalischen Studien zur Lebensaufgabe gesetzt. Er hat k\u00fcrzlich in der Zeitschr. f. angewandte Psychologie (s. den Abdruck in diesen Beitr\u00e4gen V, 143 ff.) auch bereits eine \u00dcbersieht der An-","page":104},{"file":"p0105.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 259] \u00dcber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. 105\nregungen gegeben, die f\u00fcr die allgemeine Psychologie und \u00c4sthetik aus der vergleichenden Musikwissenschaft hervorgehen. Wir k\u00f6nnen uns daher hier wesentlich auf einige durch Demonstrationen zu erl\u00e4uternde Hauptpunkte beschr\u00e4nken.\nZuvor sei noch bemerkt, dafs die genaue Analyse phono-graphischer Aufnahmen nicht die einzige Form der Verkn\u00fcpfung-experimenteller mit ethnologischer Forschung ist. Es m\u00fcssen hinzukommen erstens die Untersuchung von Eingeborenen auf ihre akustischen und musikalischen F\u00e4higkeiten, zweitens die Messung der Tonh\u00f6hen auf Instrumenten mit fester Abstimmung. In diesen drei Richtungen sind allm\u00e4hlich bestimmte technische und methodische Regeln entwickelt worden, durch die allein wissenschaftlich brauchbare Ergebnisse m\u00f6glich werden.\nZwei Erscheinungen sind es, an die ich meine Betrachtungen ankn\u00fcpfen m\u00f6chte: die Erscheinung der gleichstufigen Leitern .aus f\u00fcnf bzw. sieben T\u00f6nen, und die Erscheinung der weitverbreiteten Quinten- und Quartenparallelen.\n1. Durch Messungen an Xylophonen und Metallophonen steht fest, dafs in Java und Siam Tonleitern im Gebrauche sind, deren einzelne benachbarte T\u00f6ne durchweg um gleiche Schwingungsverh\u00e4ltnisse voneinander abstehen. Wir wollen diese Leitern zun\u00e4chst in blofs physikalischem Sinn als gleichstufige bezeichnen. Die siamesische Leiter enth\u00e4lt sieben T\u00f6ne, die javanische Sa-lendroleiter (in Java ist noch eine andere, ungleich stufige, im Gebrauch) enth\u00e4lt f\u00fcnf T\u00f6ne in der Oktave. Wir haben jetzt diese beiden Leitern in je zwei Oktaven auf einem kleinen Metailophon hergestellt, durch Umstimmung der Metallplatten, wie sie vom Verk\u00e4ufer geliefert wTerden. Die Platten haben folgende Schwingungszahlen, die sich in der h\u00f6heren Oktave verdoppeln.\nJava: 519,\t596,\t685,\t786,5,\t904,\t1038.\nSiam: 519, 573, 633, 698,5, 771, 851,6, 940, 1038.\n5\nDas Verh\u00e4ltnis zweier Nachbart\u00f6ne betr\u00e4gt im ersten Falle y 2, im\n7\nzweiten Falle ]/2, die Logarithmen sind 0,060206 bzw. 0,0430043.\nAn diesem Instrumente kann man sich zun\u00e4chst den fremdartigen Eindruck der Leitern selbst vergegenw\u00e4rtigen. Dann die eigent\u00fcmliche Ver\u00e4nderung, welche bekannte St\u00fccke, wie etwa die \u00f6sterreichische Nationalhymne, in der siamesischen Leiter erleiden.","page":105},{"file":"p0106.txt","language":"de","ocr_de":"106\tC. Stumpf und E. v. Hornbostel. [IV. Kongr.-Ber. 260]\nMan kann sich auch die siamesischen Melodien selbst vorf\u00fchren, wie sie von uns aufgezeichnet wurden, z. B. die siamesische Nationalhymne, die trotz der verschobenen Intervalle auch uns einen kr\u00e4ftigen und pathetischen Eindruck macht.\nNichts kann die selbst unter den Psychologen noch verbreitete Meinung, als sei unser Tonsystem das einzig m\u00f6gliche, \u00fcberzeugender widerlegen, als die Existenz dieser Leitern; wenn auch freilich andererseits die Bezeichnung unseres Systems als eines \u201efreigew\u00e4hlten\u201c oder gar blofs konventionellen ebensowenig das richtige trifft. Dafs aber eine harmonische Musik auf dieser Grundlage unm\u00f6glich war, zeigt die h\u00f6chst \u00fcble Wirkung der siamesischen Dreikl\u00e4nge (es gibt hier nur eine Art, kein Dur und Moll). Der reine Dur-Akkord ist, wie meine Versuche zeigten, auch dem siamesischen Ohr am angenehmsten, aber innerhalb des dortigen Systems ist keine Gelegenheit, ihn zu h\u00f6ren.\nPsychologisch sehr interessant ist (wie ich hier der Demonstration halber wiederhole) das Verhalten unseres Geh\u00f6rs, wenn man zuerst die Platten 1, 3, 5, dann die 3, 5, 7 der Siamesenleiter anschl\u00e4gt. Die T\u00f6ne besitzen genau dieselben Verh\u00e4ltnisse untereinander, aber die erste Folge wird gemeiniglich als Dur-, die zweite als Moll-Akkord aufgefafst, weil c-e-g, e-g-h solche Akkorde sind. Wird ausnahmsweise die erste Folge als Moll verstanden, so fafst man umgekehrt die zweite als Dur, entsprechend den leitereigenen Dreikl\u00e4ngen des Moll: c-es-g, es-g-b. Dies ist ein eklatanter Fall nachwirkender Gew\u00f6hnungen, der einige Verwandtschaft mit den IpERiNGschen Ged\u00e4chtnisfarben besitzt. \u00dcberhaupt lassen sich auf unserem Instrumente die seltsamsten Urteils- und Gef\u00fchlsver\u00e4nderungen bei genau gleichem Tonmaterial beobachten, je nach dem Zusammenhang, in welchen eines dieser siamesischen oder javanischen Intervalle eingef\u00fcgt wird. Durch solche Beobachtungen sind die Herren Abraham und v. Hornbostel veranlafst worden, zu untersuchen, wie weit \u00fcberhaupt unter verschiedenen Bedingungen die Verstimmung eines Intervalls gehen kann, ohne dafs es aufh\u00f6rt, als grofse Terz, als Quarte usw. aufgefafst zu werden. Die Grenzen k\u00f6nnen da aufserordentlich weit hinausger\u00fcckt werden.\nIn erster Linie aber gibt schon die psychologische M\u00f6glichkeit solcher Leitern dem Psychologen ein R\u00e4tsel zu l\u00f6sen. In meiner Abhandlung dar\u00fcber habe ich angenommen, dafs die einzelnen Stufen dem musikalischen Geh\u00f6r der betreffenden","page":106},{"file":"p0107.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 261] \u00dcber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. 107\nV\u00f6lker als gleich grofse Tonschritte erscheinen. An sich w\u00e4re auch denkbar, dafs sie irgend ein anderes konstantes Verh\u00e4ltnis in ihrer Auffassung darstellten, z. B. von unten nach oben gleich-m\u00e4fsig gr\u00f6fser oder kleiner w\u00fcrden, oder dafs sie \u00fcberhaupt kein Gr\u00f6fsen- oder Ahnlichkeitsverh\u00e4ltnis bes\u00e4fsen, sondern nur einen gleichen Gef\u00fchlseindruck machten. Aber unleugbar ist die genannte Annahme die einfachste und n\u00e4chstliegende. Man kann dabei immer noch dahingestellt sein lassen, wie die Gleichheitsauffassung zustande kommt, ob durch direkte Vergleichung der Tonh\u00f6henabst\u00e4nde oder durch Vergleichung von besonderen \u201e\u00dcbergangsempfindungen\u201c oder von \u201eKomplexqualit\u00e4ten\u201c oder von \u201eKoh\u00e4renzgraden\u201c oder wie immer. Ich habe das Zustandekommen der fraglichen Leitern darauf zur\u00fcckgef\u00fchrt, dafs in der Tat eine F\u00e4higkeit vorhanden sei, gleiche Verh\u00e4ltnisse von Schwingungen als gleiche Abst\u00e4nde von Empfindungen zu erkennen,- eine F\u00e4higkeit, die bei uns durch die Gew\u00f6hnung an unsere Intervalle zur\u00fcckgedr\u00e4ngt sei; dafs aber auch bei jenen V\u00f6lkern der Effekt, wie wir ihn jetzt vorfinden, erst sehr allm\u00e4hlich nach vielf\u00e4ltigem Probieren erreicht worden sei. Wie dem sein mag: nachdr\u00fccklichst mufs betont werden, dafs man die auff\u00e4llige und sichergestellte Tatsache physikalisch gleichstufiger Leitern in keinem Fall ignorieren darf, sondern irgend eine Erkl\u00e4rung versuchen mufs.\nDer einzige, der bisher meines Wissens davon Notiz genommen hat, ist Wukdt. Ich kann nur leider die Erkl\u00e4rung, die er anzudeuten scheint, nicht akzeptieren. Er vermifst n\u00e4mlich die Angabe der Dimensionen der einzelnen Platten. Er scheint also anzunehmen, dafs die Siamesen und Javaner zun\u00e4chst die Gr\u00f6fse von Holzst\u00e4ben nach irgend einem Prinzip abgestuft und ihr Geh\u00f6r dann der so entstandenen Tonleiter angepafst h\u00e4tten. Aber dies ist ganz ausgeschlossen. Die St\u00e4be sind nichts weniger als homogen und tragen alle Kennzeichen an sich, dafs sie auf Grund bestimmter Forderungen des Geh\u00f6rs durch allm\u00e4hliches Abfeilen und Aush\u00f6hlen einzelner Stellen abgestimmt wurden, wobei also nicht das Geh\u00f6r sich nach dem Gesicht richtete, sondern umgekehrt Gestalt und Gr\u00f6fse nach dem gew\u00fcnschten Ton geformt wurden. Auch eine Art Wachsmasse wurde und wird benutzt, um der Stimmung nachzuhelfen. Aus der blofsen L\u00e4nge, Breite und Dicke der St\u00e4be im grofsen und ganzen, abgesehen von diesen Details ihrer Gestaltung, w\u00fcrde sich","page":107},{"file":"p0108.txt","language":"de","ocr_de":"108\n\u00dc. Stumpf und E. v. Hornbostel. [JV. Kongr.-Ber. 262]\nalso nicht das geringste \u00fcber das Prinzip der Abstimmung schliefsen lassen. \u00dcberdies w\u00fcrden, wenn wir wirklich eine nach irgend einer Regel abgestufte L\u00e4nge der St\u00e4be als Ausgangspunkt nehmen wollten, die L\u00e4ngen lt und Z2 zweier aufeinanderfolgender St\u00e4be, deren Tonh\u00f6hen der siamesischen Leiter entsprechen sollen, alles \u00fcbrige gleichgesetzt (also im einfachsten Falle), durch die Gleichung\n\\ = ---\u2014 gegeben sein: \u2014 und wie die Siamesen auf diese Formel\nV 2\ngekommen sein sollten, w\u00e4re doch noch schwerer verst\u00e4ndlich, als wie sie auf die Auswahl der T\u00f6ne selbst gekommen sind.\nHier liegt also ein Fall vor, der das Zusammenwirken experimentell-psychologischer mit ethnologischen Forschungen dringend erfordert ; und zwar noch mehr im Interesse der Psychologie wie der Ethnologie. Denn Sie wissen ja, meine Herren, welche weit-tragenden und seit Jahrzehnten er\u00f6rterten Fragen der Sinnespsychologie aufger\u00fchrt werden, wenn eine so genaue \u00dcbereinstimmung einer geometrisch abgestuften Reizreihe mit einer allem Anschein nach arithmetisch abgestuften Empfindungsreihe sich irgendwo vorfindet. Die Herren Abraham und v. Hornbostel sind denn auch von hier aus zu einer experimentellen Untersuchung \u00fcbergegangen, indem sie die Frage nach der Herstellung und Erkennbarkeit gleicher Empfindungsabst\u00e4nde im Tongebiete aufs neu\u00a9 pr\u00fcften. Da unsere Gew\u00f6hnung an die Intervalle der diatonischen Leiter hierf\u00fcr geradezu ein Hindernis bildet, so haben sie haupts\u00e4chlich Abst\u00e4nde gew\u00e4hlt, die unter einem Halbton liegen. Ich will aber der Ver\u00f6ffentlichung der beiden Herren hier\u00fcber nicht vorgreifen.\n2. Wir kommen nun zum zweiten Punkte meiner Darlegung. In bezug auf den systematischen Gebrauch gleichzeitiger T\u00f6ne wird es als selbstverst\u00e4ndlich angesehen, dafs \u00fcberall, auch bei den Naturv\u00f6lkern, M\u00e4nner und Weiber in Oktaven singen. Dennoch ist dies nichts weniger als selbstverst\u00e4ndlich, leitet vielmehr sofort zu der Frage, worauf dieser tats\u00e4chlich sehr weit verbreitete Zug beruht, woher der Eindruck des Unisono kommt, der aller Wahrscheinlichkeit nach den Anlafs dazu gegeben hat. Die Tatsache der Verschmelzung begegnet uns hier. Und es ist nun sehr instruktiv, dafs nicht nur Oktaven-, sondern auch Quinten- und Quartenparallelen sehr vielfach in exotischer Musik sich finden, sowohl bei Naturv\u00f6lkern als bei solchen Kulturv\u00f6lkern, denen Mehrstimmig-","page":108},{"file":"p0109.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 263J \u00dcber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. 109\nkeit in unserem Sinne sonst fremd geblieben ist. Zwei Beispiele m\u00f6gen davon eine Anschauung geben. Das eine ist von Herrn v. Hoenbostel nach einer von Professor Weule aus Ostafrika (vom Stamme der Wanyamwezi) mitgebrachten Walze in Noten gesetzt und bildet einen Teil eines Tanzgesanges, bei dem Solo und Chor abwechseln. Die Tonh\u00f6hen sind eine Oktave tiefer zu denken (Tenor).\n1.\nDas zweite ist ein Teil eines chinesischen Instrumentalst\u00fcckes, von einer Querfl\u00f6te und einer Gitarre gespielt; die letztere geht meistens in der tiefen Quarte mit. Das St\u00fcck ist von Dr. Fische a nach einer von Frau Prof, du Bois-Reymond uns aus Schanghai \u00fcbersandten AValze notiert.\n\n\u2014ij\t\t\t\t\t\t\t9 .,g\t\n1 &\t\u20146\tu- \u00bb j\u2014 F\t\u2014r;\t\u00bb\u20141\u2014\t\t\t1\t\u00df\t\t9 \n1 \t^\u2014\t\tb\t1\t\u2014\t\u2014|\u2014\u2014\u2014F\t\t\u2014F--\t\ntU-\t\t\tjf.\t}\t\t\t\t\nI hfJ-.\t\t\t.\t\\\t..... \u00ef\t\\ ...\t\t\t\nIfe\t\t\t\u20141\u2014hr \u2014\t\t\tT\t\u00ce\tJ f 1\tp\t\t\n\t\t 2-\u20149\t2\t\tJ\t*\t1\t*\t\u00e9 *\t*\t7 J\t\t\n\\ Iw\t\t\tm\tm\t\t\t\n\u00ab7","page":109},{"file":"p0110.txt","language":"de","ocr_de":"110\nC. Stumpf und E. v. Hornbostel. [IV. Kongr.-Ber. 264]\nusw.\nQuartenparallelen finden sich auch in der von Dr. Abu ah am und mir aufgeschriebenen siamesischen Orchesterpartitur und \u00fcberhaupt sehr vielfach in asiatischer Musik.\nDiese Tatsachen geben uns nun wieder ein Problem auf, das nur durch die Psychologie gel\u00f6st werden kann. Ich nehme an, dafs urspr\u00fcnglich solche Zusammenkl\u00e4nge, wie Oktaven, Quinten, Quarten, beim Zusammensingen zuf\u00e4llig neben vielen anderen entstanden sind, sich aber durch ihre einheitliche, scheinbar unisone Wirkung dem Geh\u00f6r bemerkbar gemacht haben, und dafs man sp\u00e4ter sie eben wegen dieser einheitlichen Wirkung auch absichtlich hervorgebracht hat. Bei uns sind dergleichen Parallelg\u00e4nge h\u00f6herer Konsonanzen bekanntlich im Prinzip verboten. Das hat seine Gr\u00fcnde in der weiteren Entwicklung der harmonischen Musik. Aber in den Anf\u00e4ngen unserer Musikepoche finden sie sich doch auch. Man ersieht hieraus die fundamentale Bedeutung der Verschmelzungstatsache, und es entspringt daraus wieder ein Antrieb, diese selbst, ihre Gesetze, ihre Ursachen und Wirkungen zu untersuchen.\nAlso wieder ein Beispiel, wie die ethnologische mit der experimentellen Psychologie Hand in Hand gehen muls. Und so gibt es noch eine F\u00fclle ethnologischer Tatsachen, die dem Tonpsychologen neue Einsichten oder Anregungen geben. Von der \u00c4sthetik der Tonkunst aber mufs man geradezu sagen: sie wird auf Sand gebaut, wenn sie sich des eingehenden Studiums der ethnologischen Mannigfaltigkeiten entheben zu k\u00f6nnen glaubt. Es ist ihr ebenso notwendig wie das der geschichtlichen Entwicklung, und beide Klassen von Tatsachen m\u00fcssen, wie das Beispiel der Quintenparallelen lehrt, auch wieder in enge Verbindung miteinander gebracht werden. Sogar die alte spekulativ - deduktive \u00c4sthetik der HEGELschen Richtung war hierin weitsichtiger und weitherziger, als die experimentelle \u00c4sthetik es bisher gewesen ist, indem jene wenigstens die geschichtlichen Entwicklungen in sich aufzunehmen suchte.\nZum Schlufs erlauben Sie mir noch ein Wort \u00fcber die Konsequenzen solcher Untersuchungen f\u00fcr die Frage nach dem Ursprung","page":110},{"file":"p0111.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 265J \u00dcber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. Hl\nder Musik \u00fcberhaupt. Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs man ohne das umfassendste und zuverl\u00e4ssigste ethnologische Material in diesen Ursprungsfragen \u00fcberall im Finstern tappt. Die Phonogrammarchive werden auch hier Licht schaffen, und sie haben es in vieler Hinsicht schon getan. Wahrscheinlich entstanden primitivste Melodien schon auf Grund willk\u00fcrlicher kleiner Tonschritte ohne Verwandtschaftsbeziehungen. Dahin k\u00f6nnten unter den gegenw\u00e4rtig vorhandenen die Wedda-Ges\u00e4nge geh\u00f6ren, die Dr. Wertheimer nach Aufnahmen der Frau Prof. Selenka ver\u00f6ffentlicht hat. Diese Wurzel der Tonkunst, die Fixierung blofser Abstandsbeziehungen zwischen T\u00f6nen, findet sich dann bei den Kulturv\u00f6lkern weiter entwickelt im System der Distanzleitern. Aber weit fruchtbarer waren die auf Verschmelzungs- oder Konsonanzverh\u00e4ltnisse gegr\u00fcndeten Tonschritte. Die h\u00f6chste Entwicklung dieses Zweiges stellt unsere gegenw\u00e4rtige europ\u00e4ische Musik dar. Betrachtungen \u00fcber die. Anf\u00e4nge der Musik in diesem Sinne habe ich k\u00fcrzlich publiziert und werde sie demn\u00e4chst ausf\u00fchrlicher vorlegen.\nII. (E. M. v. Hornbostel.)\n1. Zur Entstellung der Mehrstimmigkeit.\nAufser durch die im vorangehenden Vortrag charakterisierte Verdoppelung in einem konsonanten Intervall gehen urspr\u00fcnglich einstimmige Ges\u00e4nge auch auf einem anderen Weg in mehrstimmige \u00fcber. Beiden allverbreiteten Wechselges\u00e4ngen, in denen das Solo eines Vors\u00e4ngers von einem Chorrefrain oder einer Chorwiederholung abgel\u00f6st wird, kommt es h\u00e4ufig vor, dafs eine der beiden Parteien zu fr\u00fch einsetzt. Diese, vielleicht durch eine \u00fcbergrofse Erwartungsspannung bedingte, vorzeitige Reaktion f\u00fchrt, sozusagen zuf\u00e4llig, zu simultanen Zusammenkl\u00e4ngen : einem Effekt, der dann sp\u00e4ter absichtlich herbeigef\u00fchrt und weiter ausgebildet wird. So entstehen, indem sich die Melodie des Vors\u00e4ngersolos und die des Chors mehr und mehr \u00dcbereinanderschieben, und indem die Qualit\u00e4t des Zusammenklangs mehr und mehr beachtet wird, polyphone Formen von steigender Komplikation (Bordun, Ostinato, Diskant mit kontrapunktartiger Stimmf\u00fchrung).1\nNoch von einer anderen Seite her n\u00e4hert sich die Musik sog. Naturv\u00f6lker gelegentlich unseren mehrstimmigen Formen. Man\n1 Vgl. meine vorl\u00e4ufige Mitteilung im Bericht \u00fcber den III. Kongrefs der Internat. Musik.-Ges., Wien 1909, S. 298 ff.","page":111},{"file":"p0112.txt","language":"de","ocr_de":"112\nC. Stumpf und E. v. Hornbostel. [IV. Kongr.-Ber. 266]\nfindet da und dort, namentlich im \u00f6stlichen Melanesien, einen aus-gedehnten und kunstvollen Falsettgebrauch, der an das Jodeln unserer \u00c4lpler erinnert und der vielleicht durch Erfahrungen an Pfeifen angeregt ist, bei denen die Grundt\u00f6ne besonders leicht in die Obert\u00f6ne Umschl\u00e4gen. Diese Jodelges\u00e4nge zeichnen sich, wie die unseren, durch grofsen Umfang\u2014 der eben durch die Benutzung des Falsetts erm\u00f6glicht ist \u2014 und die Bevorzugung weiter Intervallschritte aus. Beim Zusammensingen mehrerer in verschiedenen Oktavlagen ergeben sich dann leicht durch Gegenbewegung der Stimmen Zusammenkl\u00e4nge, die auch uns sowohl konsonant als wohllautend erscheinen. Wie in vielen F\u00e4llen der rein melodischen Musik, erweist sich aber auch manchmal bei diesen mehrstimmigen Ges\u00e4ngen unser subjektiver Eindruck als eine auf musikalischen Gewohnheiten beruhende T\u00e4uschung. Sogar stark verkleinerte Quinten erscheinen uns gelegentlich in zwingender Weise als \u201erein\u201c.\nEndlich sei noch eine sehr sonderbare Form der Zweistimmig-keit erw\u00e4hnt, die sich nur schwer aus einer der angedeuteten Entstehungsweisen begreifen l\u00e4fst und die Mannigfaltigkeit der Bedingungen \u00e4sthetischen Gefallens in besonders eklatanter Weise zeigt : n\u00e4mlich die Folgen von simultanen grofsen Sekunden, die sich in den Tanzges\u00e4ngen der Admiralit\u00e4tsinsulaner, aber auch anderw\u00e4rts (z. B. in istrianischen Volksges\u00e4ngen) finden. Man k\u00f6nnte daran denken, dafs sie aus rezitativischen Ges\u00e4ngen von sehr geringem Tonumfang durch zuf\u00e4llige Unstimmigkeiten des Unisonos hervorgegangen seien, doch haben wir hierf\u00fcr bisher keine gen\u00fcgenden Belege. Auch die Tatsache, dafs grofse Se-, k\u00fcnden, namentlich das Intervall 7 : 8, den Konsonanzen noch verh\u00e4ltnism\u00e4fsig n\u00e4her stehen als z. B. kleine Sekunden, bietet keinen zureichenden Erkl\u00e4rungsgrund, da einmal die Intonation der S\u00e4nger kein Intervall von einfachem Verh\u00e4ltnis festh\u00e4lt, andererseits unverst\u00e4ndlich bliebe, warum man nicht die viel konsonanteren Terzen den Sekunden vorzieht.\n2. Rhythmus.\nW\u00e4hrend die Entwicklung der Mehrstimmigkeit in ihren h\u00f6heren und h\u00f6chsten Formen auf die Ged\u00e4chtnishilfe der Notenschrift angewiesen ist, ist der Rhythmus gerade bei den V\u00f6lkern, die ausschliefslich oder doch vorwiegend einstimmig musizieren, zu einer Ausbildung gelangt, die man selbst in den Sch\u00f6pfungen der modernsten europ\u00e4ischen Komponisten vergeblich suchen w\u00fcrde.","page":112},{"file":"p0113.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 267] \u00dcber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. 113\nWir sind so sehr an einfache Akzentverteilungen gew\u00f6hnt, dafs uns schon 5- und 7teilige Taktarten, die doch selbst in europ\u00e4ischen Volksliedern \u2014 namentlich in Osteuropa \u2014 h\u00e4ufig genug sind, als Pikanterie erscheinen. Besonders intrikat kommt uns best\u00e4ndiger Wechsel zwischen 3/4- und 6/8-Takten vor, der namentlich bei afrikanischen Negern beliebt ist und noch durch ausgiebigen Gebrauch von Triolen gew\u00fcrzt wird ; gehen die Triolen gar, wie wir es ausdr\u00fccken w\u00fcrden, \u201e\u00fcber den Taktstrich weg\u201c, so sind wir an der Grenze unserer Auffassungsf\u00e4higkeit angelangt. Wir sind eben gew\u00f6hnt, zu \u201ez\u00e4hlen\u201c, den Rhythmus in kleine gleichlange und meist nach dem gleichen Akzentschema gebaute St\u00fccke (Takte) zu zerlegen ; wenn wir dieses Z\u00e4hlen ganz aufgeben und uns bem\u00fchen, auch l\u00e4ngere rhythmische Gebilde als ungeteilte Ganze aufzufassen, so gelingt es zuweilen auch uns, komplizierte Formen zu reproduzieren, ohne dafs uns ihre Konstruktion klar geworden w\u00e4re. Setzt man dagegen eine rhythmisch komplizierte Melodie aus dem Phono-gramm in Notenschrift um, indem man das Tempo ungeheuer verlangsamt, die Zeitwerte (ev. unter Zuhilfenahme des Metronoms) mechanisch ausz\u00e4hlt und endlich die korrekte Niederschrift nach einem m\u00f6glichst ad\u00e4quaten Schema in Takte einteilt, so findet man sich zuweilen doch aufserstande, selbst mit dem Notenblatt in der Hand und nach vorbereiteter Einstellung auf eine bestimmte Gliederung, den im Originaltempo reproduzierten Rhythmus zu erfassen.\nEine f\u00fcr uns seltsame Eigent\u00fcmlichkeit vieler exotischer Musikst\u00fccke besteht in der dynamischen Akzentuierung der sog. schlechten Taktteile durch Trommelschl\u00e4ge -oder dgl. Dieser Gebrauch ist vielleicht aus der Tendenz zu erkl\u00e4ren, auf den \u201eguten\u201c, d. h. subjektiv stark akzentuierten Taktteilen der Melodie die Muskel zu kontrahieren ; bei geeignetem Tempo erfolgt dann die Muskelentspannung und damit das Herabfallen des zum Schlage ausholenden Arms auf dem \u201eschlechten\u201c Taktteil oder Auftakt.\nEine weitere Komplikation, f\u00fcr die wir \u2014 mit Ausnahme der Sch\u00fcler des Herrn Dalcroze \u2014 schlecht vorbereitet sind, entsteht durch die gleichzeitige Ausf\u00fchrung von zwei verschiedenen Rhythmen. In den relativ einfacheren F\u00e4llen wird ein Gesang won regelm\u00e4fsigen Trommelschl\u00e4gen begleitet, so etwa, dafs stets drei Schl\u00e4ge auf vier Zeiteinheiten des Gesanges fallen. Kompliziertere Beispiele, die sich namentlich in orientalischen Kulturl\u00e4ndern, aber auch bei vielen afrikanischen Negerst\u00e4mmen finden, zeigen in den Schlaginstrumenten ein rhythmisches Gegenmotiv\nStumpf, Beitr\u00e4ge VI.\t6","page":113},{"file":"p0114.txt","language":"de","ocr_de":"114\nC. Stumpf und E. v. Hornbostel. [IV. Kongr.-Ber. 268]\nmit eigener, von der Gesangrhythmik v\u00f6llig unabh\u00e4ngiger, Akzentverteilung; diese rhythmischen Motive sind oft von erheblicher L\u00e4nge, entsprechen z. B. 12 Viervierteltakten des Gesangs, und wiederholen sich dann unver\u00e4ndert oder mit geringen Varianten, selbst darum unbek\u00fcmmert, ob im weiteren Verlauf wieder dieselben Teile der beiden Rhythmen Zusammentreffen oder nicht. Die beiden folgenden Beispiele geh\u00f6ren noch lange nicht zu den kompliziertesten.\nHindostanischer Gesang mit Trommelbegleitung.\n(Aus Abraham u. v. Hornbostel, Phonographierte indische Melodien,\nSammelb. d. Internat. Musik.-Ges. Y, 372.)\n(Tiefere Oktave)\nQ b.,T ^ \t-h\u20141\t-r\u2014\u2014I\t\t\t\u2014\ttuj\t\t\n\t\u25a0 \u00bb H\tP m^a I] j\tn r\t\t\\\tP*\t9\t\\\tm r i....? j\n\t\u2022\t9\t9\t9\t\u2022\u2022\tJ J\t\t\t\u2022 B\nAs\t\t^7 i\t\t1\tB\nr i r *r * * ; * r r r r r =.ii\nTunesische Melodie; Laute und Trommel.\n(Sammelb. d. Int. Mus.-Ges. YIH, 28.)\n--\t\u2014-t-\u00f6\u2014U\u2014\u00bb-ff:is\u00fc\trf\u00fct\t\t\t\t\u2014TT~rvT~\n/ ir * n n ^\t\u201d i i i r \u00bb ^ i i \u00bb m m ^\tm l\t\t\t\t;\nfTTS \u201c 7W 0 w\t1\t|\t\u00ab w\t\t\t 9\t^ m 0 0\t\t\t\t\n\\L\\) H^ tri\t\t\t\t\n\"\t*V*J:V* JWJ\t\tV*\tJ\t\t\n> . > > .\nF\u00fcr manche afrikanische St\u00e4mme mag ein wertvolles Hilfsmittel der rhythmischen Erziehung die Erlernung der Trommelsprache sein. Jedenfalls beg\u00fcnstigt sie die Auffassung rhythmischer Formen ohne R\u00fccksicht auf eine arithmetische Einteilung. Hierin wenigstens verhalten wir uns den Afrikanern gleich : auch unsere Rhythmen weichen, wie sich durch graphische Registrie-","page":114},{"file":"p0115.txt","language":"de","ocr_de":"[IV. Kongr.-Ber. 269] Uber d. Bedeutung ethnolog. Untersuchungen usw. H5\nrung zeigen l\u00e4fst, von dem strengen mathematischen Zeitschema erheblich ab und werden doch bei den Wiederholungen erstaunlich genau mit allen diesen Abweichungen reproduziert.\n3. Aufbau.\nAuch in der primitivsten Musik, die uns heute noch erreichbar ist, z. B. den Ges\u00e4ngen der Wedda, finden wir die kurzen und sehr einfachen melodischen Motive nach bestimmten Gesetz-m\u00e4fsigkeiten angeordnet. Wie weit die formale Komplikation in den Zeitk\u00fcnsten auch ohne optische Hilfen getrieben werden kann, zeigt die Musik der orientalischen Kulturv\u00f6lker, deren Tonschriftversuche fast ohne jede praktische Bedeutung geblieben sind. So sind viele chinesische Musikst\u00fccke von einer K\u00fcnstlichkeit des Aufbaus, wie sie auch die Dichtungen dieses Volks auszeichnet. Wie sich die musikalischen Verszeilen zur Strophe, die Motive zur Verszeile zusammenf\u00fcgen (Parallelismus), erscheint nicht minder raffiniert, als die ungeheuer mannigfaltigen Arten der Variation eines Motivs, von denen manche (Transposition, Modulation, Sequenz, Umkehrung, Vergr\u00f6fserung usw.) auch in unserer Kunstmusik \u00fcblich, andere \u2014 z. B. Vertauschung einzelner T\u00f6ne mit ihrer Quinte oder Quarte \u2014 uns ganz fremd sind. Ein und dasselbe Motiv weist oft durch \u00c4hnlichkeiten in verschiedener Hinsicht gleichzeitig auf mehrere andere hin, und die M\u00f6glichkeit, dieselben Tonfolgen in verschiedener Weise zusammenzufassen, erscheint in vielen F\u00e4llen als beabsichtigter Reiz. F\u00fcr diese formalen Beziehungen l\u00e4fst sich manches Analoge in der Ornamentik finden, und auch ohne die fundamentalen Unterschiede der Raum- und Zeitk\u00fcnste zu verkennen, k\u00f6nnte eine vergleichende Betrachtung vielleicht gemeinsame psychologische Grundlagen der \u00e4sthetischen Wirkung in beiden Gebieten aufdecken.\n8*","page":115}],"identifier":"lit38498","issued":"1911","language":"de","pages":"102-115","startpages":"102","title":"\u00dcber die Bedeutung ethnologischer Untersuchungen f\u00fcr die Psychologie und \u00c4sthetik der Tonkunst","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:45:01.355696+00:00"}