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{"created":"2022-01-31T16:57:10.377832+00:00","id":"lit38499","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 6: 116-150","fulltext":[{"file":"p0116.txt","language":"de","ocr_de":"116\n[LVIII. 321]\nKonsonanz und Konkordanz.1\nNebst Bemerkungen \u00fcber Wohlklang und Wohlgef\u00e4lligkeit musikalischer Zusammenkl\u00e4nge.\nVon\nC. Stumpf.\nDie Grundbegriffe der Musiktheorie bilden ein gemeinschaftliches Untersuchungsfeld f\u00fcr die von der praktischen Musik und ihrer Geschichte ausgehenden Musikforscher und f\u00fcr die physikalischen, physiologischen und psychologischen Akustiker, die von den elementaren Tatsachen des H\u00f6rens aus die musikalischen Erscheinungen und Bildungen als einen besonders interessanten Fall der Geh\u00f6rserscheinungen \u00fcberhaupt und der daran gekn\u00fcpften psychischen Leistungen betrachten. Dadurch sind seit den Zeiten des Pythagoras enge Wechselbeziehungen entstanden, aber es sind auch immer gewisse Differenzen und Streitigkeiten aufgetreten, die in den verschiedenen Ausgangspunkten und Zielen wurzeln.\nEs ist bekannt, welchen Einflufs die Entdeckung der Obert\u00f6ne und Differenzt\u00f6ne auf die Musiktheorie gewann, und welche Erfolge die physikalisch - physiologische Akustik in Helmholtz\u2019 Meisterhand erzielte. Aber seine Konsonanzlehre, die er zu einer sehr konsequent durchgebildeten Akkordlehre entwickelte, hat doch mehr die Naturforscher als die Musiker zur unbedingten Anerkennung hingerissen. Im Kreise derer, die von der Musik und ihrer Geschichte ausgehen, ist sie niemals heimisch geworden. Vielmehr hat man die Heranziehung der Obert\u00f6ne, wonach Klangfarbenunterschiede von wesentlicher Bedeutung f\u00fcr Konsonanz und Dissonanz sein m\u00fcfsten und Intervalle einfacher T\u00f6ne diese\n1 In k\u00fcrzerer Form erschien diese Abhandlung in der Festschrift zum 90. Geburtstage Rochus v. Liliencrons (Leipzig 1910).","page":116},{"file":"p0117.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 322]\nKonsonanz und Konkordanz.\n117\nCharaktere \u00fcberhaupt nicht zeigen k\u00f6nnten, wonach ferner dieser Gegensatz sich in einen blofs graduellen Unterschied aufl\u00f6ste, wonach endlich der Moll dreiklang (infolge der kollidierenden Oberund Differenzt\u00f6ne) sich vom \u00fcberm\u00e4fsigen Dreiklang kaum unterscheiden w\u00fcrde, bedenklich gefunden. Darum hat auch die Polemik, die aus dem akustischen Lager selbst sich immer mehr gegen Helmholtz erhob, starken Beifall gefunden. Dafs Felix Kruegers Rekurs auf die Differenzt\u00f6ne und seine sonstigen Modifikationen der HELMHOLTzschen Lehre die wesentlichsten Einwendungen nicht beseitigen und neuen, eben so zwingenden ausgesetzt sind, scheint mir offenbar.1 Meine eigene Konsonanzdefinition, welche die auch bei einfachen T\u00f6nen beobachtbaren Verschmelzungsunterschiede zugrunde legt, wurde von den Musikern, soviel ich bemerkte, freundlicher als die Helmholtz-sche aufgenommen \u2014 hat doch Hugo Riemann 1891, kaum dafs die Untersuchung dar\u00fcber ver\u00f6ffentlicht war, die Verschmelzung f\u00fcr das \u201eerl\u00f6sende Wort\u201c erkl\u00e4rt \u2014: aber durchgedrungen ist sie noch nicht, begegnet vielmehr gerade in neuerer Zeit mehrfach betr\u00e4chtlichem Widerspruch aus diesem Lager.\nDie folgenden \u00dcberlegungen sind durch das Nachdenken \u00fcber diese Divergenzen angeregt und haben mich zu der Erkenntnis gef\u00fchrt, dafs hier allerdings noch gewisse grunds\u00e4tzliche Auffassungsverschiedenheiten obwalten, denen man aber nur scharf ins Auge zu sehen braucht, um auch die M\u00f6glichkeit einer Verst\u00e4ndigung auf gemeinschaftlicher Basis zu erkennen. Ich will gern gestehen, dafs ein Teil der Schuld auf meiner Seite liegt, vor allem in der Nichtfortsetzung der \u201eTonpsychologie\u201c, die erst im 3. und 4. Bande in das eigentlich musikalische Gebiet \u00fcbergehen sollte. Deren systematische Ausarbeitung w\u00fcrde mich sicher bald auf das im folgenden zu erl\u00e4uternde Verh\u00e4ltnis der beiden Begriffe gef\u00fchrt haben, in denen sich die prinzipiellen Streitpunkte zwischen den Parteien konzentrieren.2 Hoffentlich dient die Untersuchung auch jetzt noch ein wenig dem Fortschritte der Theorie, um deren gesicherten Aufbau wir alle uns bem\u00fchen.\n1\tVgl. die Artikel im f\u00fcnften und im gegenw\u00e4rtigen Hefte dieser Beitr\u00e4ge.\n2\tIn einem 1898 ausgef\u00fchrten Kapitel \u201eDas System unserer Musik\u201c sind die Begriffe und Ausdr\u00fccke \u201eKonkord, Diskord\u201c bereits ganz so wie hier erkl\u00e4rt, nur die Abstrakta \u201eKonkordanz, Diskordanz\u201c fehlen noch.","page":117},{"file":"p0118.txt","language":"de","ocr_de":"118\nC. Stumpf.\n[LVIII. 323]\nI. Konsonanz.\nAlle Musik, abgesehen vielleicht von den allerersten und primitivsten Ges\u00e4ngen, enth\u00e4lt konsonante Intervalle. Auch in durchgebildeteren Formen der einstimmigen Musik haben gewisse T\u00f6ne, die wir, wenn sie als gleichzeitige vorgestellt werden, konsonant nennen, die der Oktave, Quinte, Quarte, allem Anscheine nach eine ausgezeichnete Stellung innerhalb der Melodien und der daraus zu abstrahierenden Tonleitern.\nDiese Tonverh\u00e4ltnisse m\u00fcssen sich durch eine bestimmte sinnlich wahrnehmbare Eigenschaft schon sehr fr\u00fche dem Geh\u00f6r aufgedr\u00e4ngt haben. Als solche Eigenschaft erkenne ich mit vielen altgriechischen und sp\u00e4teren Theoretikern die Verschmelzung gleichzeitiger T\u00f6ne, d. h. die Einheitlichkeit, die Ann\u00e4herung an den Eindruck eines einzigen Tones. Unmittelbare Beobachtung zeigt, dafs diese Eigenschaft im h\u00f6chsten Mafse der Oktave, dann in absteigender Stufenfolge der Quinte, der Quarte, der Terzen- und Sextengruppe, endlich im geringsten Mafse den Intervallen zukommt, die wir dissonant zu nennen pflegen. Doch vermutete ich bereits in der \u201eTonpsychologie\u201c und vertrat es sp\u00e4ter noch bestimmter, dafs zwischen die beiden letzten Gruppen v\u00f6m Verschmelzungsstandpunkt aus noch gewisse Verh\u00e4ltnisse einzuschalten seien, deren eine Verh\u00e4ltniszahl durch 7 gegeben ist.\nEinheitlichkeit ist nicht Einheit. Verschmelzung bedeutet nicht, dafs man die beiden T\u00f6ne \u00fcberhaupt nicht unterscheide. Sonst w\u00fcrde ja die Oktave in dem Moment, wo wir die T\u00f6ne auseinanderhalten, in eine Dissonanz \u00fcbergehen. Musikalische Ohren halten die T\u00f6ne in gew\u00f6hnlichen F\u00e4llen stets auseinander, trotzdem bemerken sie einen Unterschied in der Einheitlichkeit des Eindrucks zwischen Oktave und Septime.1 Bei Unmusika-\n1 Dies \u00fcbersieht Ch. Lalo, der in seinem vielfach trefflich gearbeiteten Buche \u201eEsquisse d\u2019une Esth\u00e9tique musicale scientifique\u201c (1908, p. 152) schreibt: \u201eOe mot de fusion n\u2019a plus gu\u00e8re de sens pour lui (le musicien): il per\u00e7oit un rapport sp\u00e9cifique de quinte ou de ton, voil\u00e0 tout, comme il y a des nuances d\u00e9licates des couleurs qui paraissent irr\u00e9ductibles \u00e0 un peintre. Voil\u00e0 pourquoi Stumpf s\u2019adresse si volontiers dans ses exp\u00e9riences aux non-musiciens.\u201c Vgl. S. 153, 154.\nEin so offenbares Mifsverst\u00e4ndnis w\u00fcrde ich, nach dem, was bereits Tonpsychologie II, 142 und besonders in diesen Beitr\u00e4gen I, 36, 38, II, 19 ff. dar\u00fcber steht, nicht noch einmal berichtigen, f\u00e4nde es sich nicht bei einem","page":118},{"file":"p0119.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 324]\nKonsonanz und Konkordanz.\n119\nlisch en aber tritt die Ununterscheidbarkeit als Wirkung der Verschmelzung ein, und zwar am h\u00e4ufigsten bei der Oktave, in abnehmender H\u00e4ufigkeit bei den \u00fcbrigen Verschmelzungsstufen. Daher konnte ich Versuche an solchen Individuen zur Best\u00e4tigung ben\u00fctzen. Aber ich meinte nat\u00fcrlich nicht, dafs Unmusikalische uns \u00fcber die Natur der Konsonanz belehren sollen, sondern gebrauchte solche Personen nur im eigentlichsten und engsten Wortsinn als \u201eVersuchspersonen\u201c, ungef\u00e4hr wie der Physiologe seine Kaninchen ben\u00fctzt, die ihm auch nichts \u00fcber die Bedeutung des Nervus vagus sagen, sondern sie nur durch die Frequenz ihrer Herzkontraktionen zeigen sollen.\nDas Verh\u00e4ltnis der Verschmelzung betrachte ich als ein Grundverh\u00e4ltnis, ebenso wie das der \u00c4hnlichkeit. Zwei T\u00f6ne sind sich mehr oder weniger \u00e4hnlich in Hinsicht ihrer H\u00f6he : infolgedessen bilden wir aus der Gesamtheit aller m\u00f6glichen T\u00f6ne eine gerade Linie, auf der zwei Punkte einander n\u00e4her oder ferner liegen. Zwei T\u00f6ne verschmelzen aber auch mehr oder weniger : die Folge davon sind die konsonanten Intervalle, durch welche die Tonh\u00f6henlinie von einem beliebigen Ton aus in bestimmte feste Abschnitte gegliedert wird. Die \u00c4hnlichkeit ist um so gr\u00f6fser, je kleiner die Differenz der Schwingungs-zahlen, die Verschmelzung ist um so gr\u00f6fser, je kleiner die beiden Verh\u00e4ltnis zahlen.\nForscher, der sich mehr als alle deutschen Musik\u00e4sthetiker bem\u00fchte, den Untersuchungen der neueren Psychologie gerecht zu werden.\nWenn man, wie dies auch F. Brentano (Untersuchungen zur Sinnespsychologie S. 83 ff.) tut, es yorzieht, mit dem Ausdruck \u201eTonverschmelzung\u201c alle F\u00e4lle zu bezeichnen, wo mehrere gleichzeitige T\u00f6ne aus irgend einem Grunde nicht unterschieden werden, so will ich dagegen als blofse Angelegenheit des Wortgebrauches nicht streiten. Sollte jedoch dieser Sprachgebrauch allgemein werden, so w\u00fcrde ich eben ein anderes Wort, etwa \u201eDurchdringung\u201c f\u00fcr das vorschlagen, was ich als Verschmelzung im Tongebiete bezeichnete. Angesichts der immer wiederkehrenden Mifsver-st\u00e4ndnisse bedaure ich fast, dies nicht anfangs schon getan zu haben ; aber f\u00fcr jetzt m\u00f6chte ich noch bei dem gew\u00e4hlten Ausdruck bleiben.\nDie von mir so genannte Verschmelzung erkennt Brentano \u00fcberhaupt nicht als eine Wahrnehmungstatsache an. Er nennt sie S. 95 \u201eeine sehr erstaunliche Hypothese und ohne jede Analogie auf anderen Sinnesgebieten\u201c. Ich gebe zu, dafs sie sehr erstaunlich ist (wie ja auch die Existenz der Musik \u00fcberhaupt in vielfacher Hinsicht Grund zum Staunen bietet); aber sie ist nicht eine Hypothese und wohl auch nicht ohne jede Analogie im Sinnesgebiete (Tonpsych. II, 65f.).","page":119},{"file":"p0120.txt","language":"de","ocr_de":"120\nC. Stumpf.\n[LVIII. 325]\nDiese beiden Regeln gelten jedoch nur im allgemeinen und unter gewissen Voraussetzungen. Die Verschmelzung betreffend kann man nur sagen, dafs bei den Intervallen von der ersten zur vierten Verschmelzungsstufe die Summe der beiden Verh\u00e4ltniszahlen immer gr\u00f6fser wird. Aber schon innerhalb der Terzen- und Sextengruppe lassen sich Unterschiede des Verschmelzungsgrades bei wachsender Summe der Verh\u00e4ltniszahlen meines Erachtens nicht deutlich konstatieren, sonst w\u00fcrde ich diese Intervalle eben nicht zu der gleichen Verschmelzungsstufe rechnen.\nAufserdem gilt, dafs die Verschmelzung \u00fcberhaupt nicht unmittelbar vom Verh\u00e4ltnis der physikalischen Tonh\u00f6hen, d. h. der Schwingungszahlen abh\u00e4ngt, sondern von dem der physiologischen Tonh\u00f6hen, d. h. der letzten Vorg\u00e4nge im Gehirn, deren Folgen oder Begleiterscheinungen die Tonempfindungen sind. Daher begreift sich eine Tatsache, die zu wenig beachtet wird: es kann unter Umst\u00e4nden die reine Oktave, d. h. die h\u00f6chste Verschmelzungsstufe, statt bei 1:2 bei einem davon erheblich abweichenden Schwingungsverh\u00e4ltnis auftreten; ebenso die anderen Konsonanzen. Und zwar nicht etwa wegen jener Verschiebung des subjektiven Reinheitspunktes, die in einem musikalisch beeinflufsten \u201eReinheitsgef\u00fchl\u201c wurzelt (Zeitschr. f. Psych. 18, 361 ff.), sondern auch, wenn ausdr\u00fccklich nur auf das Optimum des bez\u00fcglichen Verschmelzungsgrades geachtet wird; und dann auch in umgekehrter Richtung als beim Reinheitsgef\u00fchl. Wenn wir beispielsweise eine Stimmgabel a2 dem Ohre sehr nahe, eine andere, physikalisch genau um eine Oktave tiefere, dem Ohre ferner halten, aber so dafs sie doch noch unterschieden werden, so h\u00f6ren wir a2 erheblich, bis zu einem halben Ton, vertieft und die Oktave verstimmt, m\u00fcssen daher diese Gabel entsprechend erh\u00f6hen, um eine reine Oktave f\u00fcr Unsere Empfindung zu erhalten. Das N\u00e4mliche ist der Fall, wenn die beiden Ohren einen objektiv gleichen Ton merklich verschieden hoch empfinden; was schon im gew\u00f6hnlichen Zustand der Fall sein, in pathologischen F\u00e4llen aber zu sehr bedeutenden Diskrepanzen f\u00fchren kann. Bietet man dann eine Gabel dem linken, eine andere von objektiv genauem SchwingungsVerh\u00e4ltnis 1 . 2 oder 2 :3 zur ersten dem rechten Ohre dar, so ist immer nicht das physikalische Verh\u00e4ltnis, sondern die subjektive H\u00f6he der empfundenen T\u00f6ne f\u00fcr den Konsonanz- und Inter-","page":120},{"file":"p0121.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 326]\njKonsonanz und Konkordanz.\n121\nvalleindruck mafsgebend.1 Hierin verhalten sich die Verschmelzungsgrade anders als die Schwebungen und als die Kombinationst\u00f6ne: diese sind ihrer H\u00f6he nach, jene ihrer Frequenz nach unabh\u00e4ngig von solchen subjektiven Ver\u00e4nderungen.2 Es folgt ja auch nicht, dafs alle Erscheinungen dadurch verschoben werden m\u00fcssen. Mit Helmholtz\u2019 Theorie des H\u00f6rens ist dies alles gut zu vereinigen, mit seiner Konsonanzlehre freilich nicht. Nebenbei ergibt sich auch, dafs man nicht, wie von physikalischer Seite versucht worden ist, die Verschmelzungsunterschiede direkt mit den Verh\u00e4ltnissen der superponierten Sinusschwingungen in Beziehung setzen und daraus verstehen kann.\nAber auch wenn normale Umst\u00e4nde obwalten und ein bestimmter Verschmelzungsgrad mit dem ihm zugeh\u00f6rigen Schwingungsverh\u00e4ltnis so genau zusammenf\u00e4llt, als es nur immer die subjektive Beobachtung einerseits, die physikalische Messung andererseits zu erkennen gestatten : minimale Abweichungen von diesen Verh\u00e4ltnissen werden nat\u00fcrlich nicht wahrgenommen. 1 : 2,001 verschmilzt in gleichem Mafse wie 1 : 2. Warum wir gleichwohl die ganzen einfachen Zahlen als physikalisch exaktesten Ausdruck der empfundenen Konsonanzen an-\n1\tDies kann nur dann anders werden, wenn das Intervall nach sekund\u00e4ren Kriterien beurteilt wird, und zwar solchen, die unver\u00e4nderlich vom \u00e4ufseren Reiz bedingt sind. Auf diese Art w\u00fcrde ich mir die Beobachtungen von P. v. Liebermann und G. R\u00e9v\u00e9sz \u00fcber \u201e Orthosymphonie\u201c (diese Beitr\u00e4ge IV, 117 ff.) erkl\u00e4ren, wonach ein Patient mit \u201ePseudot\u00f6nen\u201c (subjektiven Verstimmungen) beim gleichzeitigen Angeben eines solchen Tones und eines anderen, nicht verstimmten, doch das Intervall objektiv richtig beurteilte. Die Angaben lassen allerdings noch manche Frage in betreff der tats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltnisse \u00fcbrig, und es ist Dr. Abraham bei einer Nachpr\u00fcfung des Patienten nicht gelungen, ganz klare Ergebnisse zu bekommen (wobei sich freilich auch der Zustand inzwischen wieder ver\u00e4ndert haben mochte). Aber sollten sich mehr solcher F\u00e4lle finden, und die Ergebnisse mit den fr\u00fcheren prinzipiell zusammenstimmen, so liefse sich z. B. annehmen, dafs gewisse Gef\u00fchlsempfindungen, die f\u00fcr die einzelnen Intervalle charakteristisch sind, durch pathologische Prozesse, die die Tonh\u00f6hen ver\u00e4nderten, nicht mitber\u00fchrt wurden. Dies w\u00fcrde ganz meinen Ansichten \u00fcber das blofs \u00e4ufserliehe Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchlsempfindungen zu den spezifischen Empfindungen der einzelnen Sinne entsprechen, demzufolge sie von anderen physiologischen Prozessen als diese bedingt sind (Zeitschr. f. Psychol. 44, S. 44). Neuere Beobachtungen von Frl. v. Maltzew im hiesigen Psychologischen Institut scheinen zu zeigen, dafs auf das Erkennen von Intervallen in der Tat solche sekund\u00e4re Kriterien von grofsem Einfl\u00fcsse sind.\n2\tTonpsychologie II 457, 459. Diese Beitr\u00e4ge V, 106.","page":121},{"file":"p0122.txt","language":"de","ocr_de":"122\nC. Stumpf.\n[G VIII. 327]\nsehen, kann hier dahingestellt bleiben; es ist eine erkenntnistheoretische Frage, die ganz ebenso bei jedem Naturgesetz wiederkehrt. Die Tatsache der Schwelle besteht nun einmal f\u00fcr alle unsere Sinneswahrnehmungen. Selbst wenn man eine unbewufste Wahrnehmung der Schwingungsverh\u00e4ltnisse annehmen wollte : \u2014 wer sagt uns denn, dafs diese unbewufste Wahrnehmung nicht auch ihre Schwelle hat? Oder, geht man vom Dreiklang als dem Grundph\u00e4nomen der ganzen Musik aus (was ich f\u00fcr falsch halte) : bleibt nicht die Formel 4:5:6 wieder genau demselben \u00dcbelstand ausgesetzt? Soviel l\u00e4fst sich allerdings gerade auf unserem Gebiete zugunsten der kleinen ganzen Zahlen sagen: man kann eine Unmenge von Konsequenzen ziehen, die alle wieder durch das Ohr kontrolliert werden k\u00f6nnen, freilich auch wieder nur innerhalb gewisser Grenzen; aber sie werden doch eben in diesen Grenzen best\u00e4tigt und dadurch die m\u00f6glichen Abweichungen von jenen vorausgesetzten einfachen ganzen Zahlen auf ein Minimum herabgedr\u00fcckt. Die Rechnung sagt, dafs die reine grofse Sexte von c etwas tiefer ist als der Ton a, den wir durch zwei auf steigende Quinten und eine absteigende Quarte erhalten ; dafs b als Quarte von f etwas tiefer ist wie b als kleine Terz von g; dafs fis, welches durch zwei absteigende kleine Terzen und eine aufsteigende Oktave gewonnen wird, etwas tiefer ist als ges, das wir durch zwei aufsteigende kleine Terzen erhalten ; dafs 12 Quinten schritte 7 Oktavenschritten nahekommen, aber nicht genau damit zusammenfallen, sondern etwas dar\u00fcber hinausgehen (oder dafs 6 aufsteigende Quinten abwechselnd mit 6 absteigenden Quarten, oder auch 6 grofse Ganzt\u00f6ne, einen etwas \u00fcber der Oktave liegenden Ton geben) : und dies alles wird durch die Beobachtung best\u00e4tigt. Ein Bestehen Willk\u00fcr oder Bequemlichkeit oder apriorische Voraussetzung bleibt freilich immer noch, da man zu denselben Rechnungsresultaten allemal auch bei sehr kleinen Abweichungen von den ganzen kleinen Zahlen kommen w\u00fcrde. Aber hier\u00fcber braucht sich die Musiktheorie wie die Psychologie keine Sorgen zu machen, da es, wie gesagt, eine allgemeinere Frage ist.\nIst nun der Verschmelzungsgrad eine Funktion der beiden physiologischen Tonh\u00f6hen und durch sie unmittelbar gegeben, so kann ein und dasselbe Tonpaar nicht in verschiedenen Graden verschmelzen. H. Riemann hat neuerdings gegen die Verschmelzungsstufen, wie ich sie unterscheide, eingewendet1,\n1 Grundrifs der Musikwissenschaft (1908) S. 46.","page":122},{"file":"p0123.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 328]\nKonsonanz und Konkordanz.\n123\ndafs der gewaltige Unterschied, den wir auf Grund der Akkordlehre zwischen c-dis und c-es machen, auch wenn das Ohr uns in Zweifel l\u00e4fst oder wenn, wie in der Temperatur, der Unterschied in Wirklichkeit getilgt ist, unerkl\u00e4rt bleibe. Aber die komplizierten psychischen Prozesse, die in die unmerklich oder gar nicht ver\u00e4nderten (manchmal sogar in entgegengesetztem Sinn ver\u00e4nderten) Empfindungen bestimmte Auffassungen hineinbringen, darf man nicht mit den einfachen Tatsachen der Sinneswahrnehmung verwechseln, durch die das Grundph\u00e4nomen aller Musik, auch der nicht harmonischen, gegeben wird. Dafs einunddasselbe unver\u00e4nderte Tonpaar einmal st\u00e4rker, einmal schw\u00e4cher verschmelzen sollte, je nachdem wir es als c-es oder c-dis auffassen, das ist ausgeschlossen, weil die Verschmelzung eine Funktion der beiden Sinnesempfindungen, bzw. ihrer physiologischen Unterlagen, ist und sich nur mit diesen selbst \u00e4ndern kann. Es ist ebenso unm\u00f6glich, wie dafs die Differenz zweier Zahlen je nach den Beziehungen, in die wir sie setzen, ver\u00e4nderlich w\u00e4re.\nAuch durch den Hinzutritt eines dritten, vierten Tones wird die Konsonanz nicht ge\u00e4ndert. Was ge\u00e4ndert werden kann, ist die musikalische Bedeutung der T\u00f6ne und ihre Annehmlichkeit oder ihre Gef\u00fchlswirkung. Aber ihre Einheitlichkeit beh\u00e4lt die Oktave, ihre Zweiheitlichkeit die Septime in jeder beliebigen Zusammenstellung mit anderen T\u00f6nen. F. Krueger hat meine Behauptung \u00fcber die Einflufslosigkeit anderer T\u00f6ne bestreitbar, ja sogar unverst\u00e4ndlich gefunden. Aber sobald man im Auge beh\u00e4lt, worauf sie sich allein bezieht, wird man zugeben m\u00fcssen, dafs sie den Tatsachen entspricht. Wenn wir zu c : g noch a f\u00fcgen, so bleibt die Quinte, was sie war; nicht blofs der Abstand der beiden T\u00f6ne, sondern auch das durch den bestimmten Verschmelzungsgrad gegebene Quintenverh\u00e4ltnis bleibt f\u00fcr die Wahrnehmung unver\u00e4ndert. Ebenso wenn wir zur Oktave noch die None oder was immer f\u00fcgen.1\nKonsonanz und Dissonanz finden, wenn anders Verschmelzungsunterschiede ihr Wesen bilden, nur zwischen gleich-zeitigenT\u00f6nen statt. Die Aufeinanderfolge c-g nennen wir nur insofern konsonant, die Folge c-d nur insofern dissonant, als die\n1 Vgl. zu diesem Punkt auch die Bemerkungen \u00fcber den gleichen Einwand K\u00fclpes in meinem Aufsatze: \u201eNeueres \u00fcber Tonverschmelzung\u201c, diese Zeitschr. 15, 290 ff.","page":123},{"file":"p0124.txt","language":"de","ocr_de":"124\nC. Stumpf.\n[LVIII. 329]\nbeiden T\u00f6ne, als gleichzeitige yorgestellt, im einen Fall einer h\u00f6heren, im anderen der niedersten Verschmelzungsstufe angeh\u00f6ren. Zwischen aufeinanderfolgenden T\u00f6nen als solchen k\u00f6nnen zwar Verwandtschaftsbeziehungen stattfinden, zum mindesten wrenn es sich um obertonhaltige Kl\u00e4nge handelt, indem gemeinschaftliche Obert\u00f6ne eine mehr oder minder ausgepr\u00e4gte \u00c4hnlichkeit der Kl\u00e4nge hersteilen. Aber das ist eine andere Beziehung wie die der Konsonanz. F. Krueger hat ganz richtig erinnert, dafs doch niemand beim Anh\u00f6ren der Tonleiter von einer Folge von Dissonanzen reden wird.1\nFerner finden Konsonanz und Dissonanz im urspr\u00fcnglichen und eigentlichen Sinne nur zwischen je zwei T\u00f6nen statt. Die Alten haben auch in dieser Beziehung in ihrer pr\u00e4gnantesten Definition das Richtige getroffen.2 Zu sagen, dafs nur ein Dreiklang konsonant sein k\u00f6nne, w\u00fcrde hiernach ebensowenig Sinn haben, wie dafs nur Dreiklangst\u00f6ne sich \u00e4hnlich sein k\u00f6nnen. Auch in dieser Hinsicht steht es mit der Konsonanz nicht anders wie mit der \u00c4hnlichkeit oder dem Gegensatz: es sind Verh\u00e4ltnisse, die ihrer Natur nach nur zwischen je zwei Gliedern bestehen k\u00f6nnen. Nur so verstanden, als Verh\u00e4ltnis zweier T\u00f6ne zueinander, ist Konsonanz das Grundph\u00e4nomen aller Musik. Bei vielen V\u00f6lkern, die keine Ahnung von Dreikl\u00e4ngen haben, kommen doch Zweikl\u00e4nge, simultane Oktaven, Quinten, Quarten, vor. Ja auch in der Entstehungsgeschichte unserer eigenen Musik sind bekannter-mafsen Dreikl\u00e4nge das sp\u00e4tere, Zweikl\u00e4nge das fr\u00fchere gewesen.\nMan hat mir eingewendet, dafs doch auch Drei- und Mehrkl\u00e4nge sich ebenso dem Eindruck eines einzigen Tones n\u00e4hern k\u00f6nnen wie Zweikl\u00e4nge; dafs z. B. der Vierklang c : c1 : c2 : c8-entschieden einheitlicher klinge als c :d : g : a.\n1\tS. Wundts Psychologische Studien 2, 246.\n2\t\u201eKonsonanz ist die Verschmelzung zweier T\u00f6ne, eines h\u00f6heren und eines tieferen\u201c (Einf\u00fchrung in die Harmonik, aus der Schule des Aristoxenus). \u201eKonsonant sind die Intervalle, wenn die verschieden hohen Grenzt\u00f6nu zusammen angegeben so miteinander verschmelzen, dafs der entstehende Klang einartig und einem einzigen \u00e4hnlich wird\u201c (Nikomach\u00fcs).\nLalo sucht das Gewicht dieser antiken Definition dadurch abzuschw\u00e4chen, dafs er behauptet, sie sei nichts als \u201eune conception acoustique,, c\u2019est-\u00e0-dire scientifique, et non une notion esth\u00e9tique, c\u2019est-\u00e0-dire musicale: puisque pour eux (les anciens) elle n\u2019avait pas de sens musical (1. c. 155). Diese Behauptung scheint mir aber ganz aus der Luft gegriffen.","page":124},{"file":"p0125.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 330]\nKonsonanz und Konkordanz.\n125\nMir scheint, dafs man im Falle der vervielfachten Oktave allerdings von einem, genauer aber auch hier nur von dem gleichen, Verschmelzungsgrade aller T\u00f6ne reden kann: weil hier und nur hier durch Hinzuf\u00fcgen neuer T\u00f6ne kein neuer Verschmelzungsgrad auftritt, sondern alle T\u00f6ne untereinander dieselbe h\u00f6chste Verschmelzung auf weisen. Wenn ich dagegen etwa zu c : c1 noch g oder zu c : g noch a oder d1 hinzuf\u00fcge, so kann man doch hier nicht von einem Verschmelzungsgrade des bez\u00fcglichen Dreiklangs reden, sondern in beiden F\u00e4llen sind eben zwei oder drei Grade zu unterscheiden. Da bei c:g ic1 die unterscheidbaren Verschmelzungsgrade alle noch den h\u00f6heren Klassen angeh\u00f6ren, bei c:g: a dagegen einer unter die niedrigste Klasse f\u00e4llt, so wird man freilich, gewissermafsen im Durchschnitt, auch von einer geringeren Verschmelzung des letzten Dreiklanges gegen\u00fcber dem ersten reden k\u00f6nnen ; aber es ist im Grunde eine uneigentliche Redeweise. Immer mufs man sich gegenw\u00e4rtig halten, dafs das, was ich Verschmelzung nenne, in sich selbst wahrnehmbar nur dann sein kann, wenn die verschmelzenden T\u00f6ne voneinander unterschieden werden; genau so wie wir \u00c4hnlichkeiten nicht wahrnehmen k\u00f6nnen, ohne das \u00c4hnliche auseinanderzuhalten. Tut man dies aber, unterscheidet man die drei T\u00f6ne eines Dreiklangs voneinander, so kann ich wenigstens mir ein Urteil \u00fcber ihre Verschmelzung nur durch paarweise Vergleichung bilden, nicht aber aufserdem noch eine Verschmelzung entdecken, die dem Ganzen, der Trias als solcher zuk\u00e4me.\nDafs man bei Unmusikalischen auf die Frage : ein Ton oder mehrere? auch f\u00fcr Mehrkl\u00e4nge verschiedene Prozentzahlen richtiger Urteile bekommen w\u00fcrde, beweist nicht die Existenz selbst\u00e4ndiger Verschmelzungsstufen bei Mehrkl\u00e4ngen. Denn Verschmelzung ist ja nicht definiert durch die Zahl der falschen Urteile Unmusikalischer, sondern sie kann nur etwa daraus als eine der Ursachen erschlossen werden. Wenn wir aber den Ursachen solcher verschiedenen Prozentzahlen im Falle von Mehrkl\u00e4ngen nachgehen, so treffen wir eben in erster Linie auf die Verschmelzungsstufen der darin vereinigten Ton paare. Auf solche also wird es, wie ich meine, in allen F\u00e4llen hinauslaufen. Aber die Methode w\u00fcrde hier \u00fcberhaupt viel schwerer zu deutlichen Ergebnissen f\u00fchren als bei Zweikl\u00e4ngen, weil bei mehr als zwei gleichzeitigen (und gleich starken) T\u00f6nen","page":125},{"file":"p0126.txt","language":"de","ocr_de":"126.\nC. Stumpf.\t[LVIII. 331]\neine zu grofse Menge anderer mitwirkender Umst\u00e4nde auf-treten.\nEndlich gilt, dafs Konsonanz und Dissonanz, solange wir sie als reine Sinneseindr\u00fccke vergleichen und von allen weiteren Entwicklungen noch absehen, nicht spezifisch, sondern nur graduell verschieden sind. \u00dcber diesen Punkt habe ich bereits fr\u00fcher ausf\u00fchrlicher gehandelt.1 Aber ich begreife, dafs bei solchen, denen die heutige Musik allein mafsgebend ist, immer wieder Bedenken auftauchen. Diese Bedenken werden sich hoffentlich l\u00f6sen, wTenn wir nun eben die musikalischen Weiterbildungen auf Grund des Konsonanzph\u00e4nomens selbst ins Auge fassen. Ich leugne ja nicht die spezifische Verschiedenheit konsonanter und dissonanter Ton Verkn\u00fcpfungen innerhalb unseres Musiksystems und f\u00fcr unser heutiges Gef\u00fchl. Aber die Gegen\u00fcberstellung in diesem Sinne geh\u00f6rt zu den Entwicklungsprodukten der harmonischen Epoche, nicht zu den gemeinschaftlichen Grundlagen aller Musik.\nII. Konkordanz.\nUnser Musiksystem, wie es nach einem halben Jahrtausend allm\u00e4hlicher Ausbildung etwa seit dem 16. Jahrhundert in seinen Grundz\u00fcgen praktisch feststeht (von neuesten Reformversuchen sehen wir hier ab), ist nicht das einzig m\u00f6gliche. Es gab vor ihm und gibt noch jetzt auf der Erde Musik, die eine reich entwickelte Melodik und Rhythmik, aber keine Harmonie in unserem Sinne kennt. Indessen zeichnet sich dieses unser System dadurch aus, dafs in ihm das Grundph\u00e4nomen, die Konsonanz, am folgerichtigsten zur Anwendung gelangt ist, und darum und insofern d\u00fcrfen wir es, ohne der Zukunft vorzugreifen, als die h\u00f6chste Bl\u00fcte der gesamten vorausgehenden Entwicklung betrachten. Die Art und Weise aber, wie das Grundph\u00e4nomen darin zur Anwendung gelangt ist, f\u00fchrt zur Bildung eines aus dem Konsonanzbegriff abgeleiteten Begriffes, den wir mit dem Worte Konkordanz bezeichnen wollen, auf den aber leider zum Schaden der Klarheit der alte Name der Konsonanz \u00fcbertragen worden ist.\nUnsere Musik beruht zweifellos auf dem Dreiklang in seinen beiden Formen Dur und Moll. Es fragt sich nun: Welches ist\n1 Vgl. besonders diese Beitr\u00e4ge I, 74 ff.","page":126},{"file":"p0127.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 332]\nKonsonanz und Konkordanz.\n127\ndie sachliche Rechtfertigung1, das vern\u00fcnftige Strukturprinzip der Dreikl\u00e4nge? Man pflegt diese Frage entweder gar nicht aufzuwerfen (so die meisten Lehrb\u00fccher der Harmonie) oder durch einen Hinweis auf die Reihe der Obert\u00f6ne zu erledigen. In dieser Reihe findet sich nun zwar 4:5:6 und weiterhin auch der Molldreiklang 10 : 12 : 15, aber daneben doch auch vieln andere Dreikl\u00e4nge, die von der Musik nicht in solcher Weisn ausgezeichnet werden, obschon sie teilweise sogar kleinere Verh\u00e4ltniszahlen haben als Moll, wie 7 : 9 : 11. Was also gibt den beiden genannten Zusammenkl\u00e4ngen ihre dominierende Stellung, und warum m\u00fcssen denn \u00fcberhaupt gerade drei T\u00f6ne mitein-ander verbunden werden, wenn es denn einmal mehrere sein sollen ?\nDas Prinzip, das zugrunde liegt, l\u00e4fst sich so aussprechen :\n\u201eEs werde die gr\u00f6fste Anzahl von T\u00f6nen innerhalb der Oktave angegeben, die s\u00e4mtlich unter sich konsonieren, und zwar indem wir in der Tonbewegung von unten nach oben und unter den Konsonanzen von den st\u00e4rkeren zu den schw\u00e4cheren Konsonanzgraden \u00fcbergehen.\u201c\nNach diesem Prinzip erhalten wir, von irgendeinem Ton ausgehend, zun\u00e4chst seine obere Quinte, also von c aus g, und dann ist nur entweder es oder e noch m\u00f6glich, wenn wir zun\u00e4chst von den \u201eSiebenern\u201c absehen. Also resultieren mit dem oberen Abschlufs der Oktave die beiden Vierkl\u00e4nge c es g c1 und c e g c1. In ihnen sind s\u00e4mtliche h\u00f6here Verschmelzungsstufen repr\u00e4sentiert. Da sich nun sofort zeigt, dafs c1 wieder eine Oktave \u00fcber sich hat und innerhalb dieses neuen Oktavenraumes derselbe Prozefs sich wiederholt, so rechnet man c1 nicht mehr als Bestandteil der von c aus gewonnenen Gebilde, sondern als Grundton der analogen, um eine Oktave h\u00f6heren. So kommt man zum Dreiklang, und zwar sogleich in seinen beiden Formen..\nRechnen wir die Siebener noch zu den Konsonanzen, so erhalten wir allerdings beim Dur noch einen Ton mehr, wir bekommen den Vierklang 4 : 5 : 6 : 7. Beim Moll w\u00fcrde die Hinzuf\u00fcgung des Verh\u00e4ltnisses 4:7 zu einer Dissonanz f\u00fchren; man w\u00fcrde erhalten 20 : 24 : 30 : 35, wobei 24 : 35 eine Abweichung von der reinen Quinte 24 : 36 darstellt, und zwar eine merkliche. Wenn unsere Musik aber nicht nur beim Moll, sondern auch","page":127},{"file":"p0128.txt","language":"de","ocr_de":"128\nC. Stumpf.\n[LVIII. 383J\nbeim Dur von den Siebenern absieht, so r\u00fchrt dies zun\u00e4chst historisch daher, dafs man erst in den letzten Jahrhunderten (seit Mersenne) auf diese feineren Unterschiede, sei es durch Beobachtung, sei es durch Spekulation, aufmerksam geworden ist. Ihre Auslassung in unserem System ist aber auch sachlich zu begr\u00fcnden, wie wir alsbald zeigen wollen.\nDur und Moll sind nach dem obigen Prinzip als Fundamentalgebilde unserer Musik gleichberechtigt. Hiermit ist der Dualismus, wie er ohne Zweifel unser gegenw\u00e4rtiges Musiksystem durchdringt, auf die einfachste Weise begr\u00fcndet, ohne dafs Rechenk\u00fcnste oder psychologisch unhaltbare Behauptungen dazu n\u00f6tig w\u00e4ren. Soweit Hugo Riemanns energische Verteidigung des Dualismus nur eben diese prinzipielle Gleichberechtigung der beiden Geschlechter betrifft, entspricht sie sicherlich den Tatsachen, und es war verdienstlich und notwendig, gegen\u00fcber der grunds\u00e4tzlichen Unterordnung des Moll, wie sie aus Helmholtzens Lehre folgen w\u00fcrde, auf jener prinzipiellen Gleichberechtigung zu bestehen. Aber die Begr\u00fcndung hat er auf verkehrten Wegen gesucht. Weder Untert\u00f6ne noch Differenzt\u00f6ne noch das reziproke Verh\u00e4ltnis der Wellenl\u00e4ngen zu den Schwingungszahlen halten Stich, weil es keine Untert\u00f6ne gibt, weil die Differenzt\u00f6ne, von anderem abgesehen, Moll stark gegen Dur zur\u00fcckstellen, und weil die Unterscheidung von Wellenl\u00e4nge und Schwingungszahl als eine rein physikalische uns \u00fcber psychologische Dinge keinerlei Aufschlufs geben kann. Auch die Rechenoperationen, wodurch man seit Zarlino Moll als Umkehrung des Dur (*/4 : % : %) hinstellt, k\u00f6nnen psychologisch nichts erkl\u00e4ren. Dafs innerhalb der Quinte die Lage der beiden Terzen gegeneinander umkehrbar ist, ist freilich wahr. Das liegt in der Natur der harmonischen Teilung und findet sich -ebenso bei der Teilung der Oktave in Quinte und Quarte oder der grofsen Terz in die beiden verschiedenen Ganztonstufen. Aber dafs das Moll uns deswegen als ein auf den Kopf gestelltes Dur erscheinen und dafs der h\u00f6chste Dreiklangston in ihm Hauptton und Ausgangspunkt sein sollte, dem widerspricht unser Bewufstsein mit aller Bestimmtheit. Der Dualismus in diesem Sinne, als Theorie der symmetrischen Umkehrung aller Intervalle in unserem Tonbewufstsein, ist und bleibt eine Fiktion. Die spezifische Gef\u00fchlswirkung jedes der beiden Dreikl\u00e4nge, uuf die man hinweist, kann aus diesem fiktiven Erkl\u00e4rungsgrund","page":128},{"file":"p0129.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 334]\nKonsonanz und Konkordanz.\n129\njedenfalls nicht begriffen werden, sie mufs andere Wurzeln haben. Aber diese Frage geh\u00f6rt in die Gef\u00fchlslehre, und man mufs nicht alles auf einmal erkl\u00e4ren wollen.\nDer weitere rationelle Aufbau unseres Tonsystems ist nun im wesentlichen bekannt und hier nur des Zusammenhanges wegen anzudeuten. Die \u00c4quivalenz der Oktavt\u00f6ne, die sich schon in der Wiederkehr analoger Dreikl\u00e4nge auf dem h\u00f6heren Oktavton \u00e4ufsert1, f\u00fchrt dazu, aus den urspr\u00fcnglichen Dreikl\u00e4ngen zwei \u201eUmlagerungen\u201c zu bilden und diese als blofse Modifikationen der urspr\u00fcnglichen zu betrachten (Rameau), wenn sie auch insofern verschieden bleiben, als eben der Grundton dadurch an verschiedene Stellen ger\u00fcckt wird, und sich daran eine F\u00fclle weiterer Konsequenzen in der Entwicklung des Systems an-schliefsen. Auch die Auffassung der \u201eweiten Lagen\u201c als Modifikationen der engen und urspr\u00fcnglichen ruht auf der \u00c4quivalenz der Oktavt\u00f6ne.\nAus der Durchf\u00fchrung des Konsonanzph\u00e4nomens sind aber nicht nur die Dreikl\u00e4nge, sondern auch die modernen Leitern erwachsen. Und es ist das Verfahren hierbei wieder ein besonders rationelles. Es besteht bekanntlich darin, dafs auf den beiden mit dem Grundton am st\u00e4rksten konsonierenden T\u00f6nen nach oben hin, der Dominante und Subdominante, wieder Dreikl\u00e4nge aufgebaut werden, und zwar Dreikl\u00e4nge von gleicher Art wie auf dem Grundton. Wir brauchen nicht weiter die Umbildung der urspr\u00fcnglichen Mollleiter in die melodische, die Einf\u00fchrung der Kadenzen aus den Hauptdreikl\u00e4ngen jedes Tongeschlechtes und das daraus erwachsene Akkordgef\u00fcge zu schildern, auch nicht die gegenseitigen akkordlichen Entlehnungen der beiden Geschlechter, durch welche der Dualismus in eine fruchtbare Wechselwirkung verwandelt und die Einheitlichkeit des Systems aufrecht erhalten wrird, und wollen nur erinnern, dafs durch Analogie und Sequenz zu den drei Hauptdreikl\u00e4ngen Nebendreikl\u00e4nge auf anderen Leitert\u00f6nen treten, und dafs mit der Weiterentwicklung der Kadenz dissonante T\u00f6ne zu den Dreikl\u00e4ngen der Dominante und Subdominante gef\u00fcgt werden, aber wieder nicht beliebige, sondern nur solche, die bereits durch die\n1 Wir sprechen nur von \u00c4quivalenz, indem wir die Frage hier offen lassen, ob nicht in c, c\\ c2 sogar wirklich identische Tonqualit\u00e4ten vorliegen.\nStumpf, Beitr\u00e4ge VI.\n9","page":129},{"file":"p0130.txt","language":"de","ocr_de":"130\nC. Stumpf.\n[LVIII. 335]\nanderen Dreikl\u00e4nge gegeben sind. Auch werden die Dreikl\u00e4nge anf der Dominant und Subdominant durch chromatische Alteration einzelner T\u00f6ne (des h\u00f6chsten im ersten Falle, des tiefsten im zweiten) umgebildet. Diese Bildungen mit dissonierenden T\u00f6nen (d. h. mit T\u00f6nen, die mit wenigstens einem der \u00fcbrigen dissonieren) entspringen sichtlich dem Bed\u00fcrfnis, der Aufeinanderfolge der Hauptdreikl\u00e4nge, die vom Grunddreiklang ausgeht und in ihn zur\u00fcckl\u00e4uft, durch dreiklangfremde T\u00f6ne einen dr\u00e4ngenderen und fl\u00fcssigeren Charakter zu geben. So entstehen zun\u00e4chst der Dominantseptimenakkord und der Quintsextakkord, aus diesen wieder durch Alteration, Addition, Elision eine Menge anderer Bildungen, die sich s\u00e4mtlich rationell aus den Hauptdreikl\u00e4ngen ableiten lassen und ihre bestimmten Funktionen in der Aufeinanderfolge der Zusammenkl\u00e4nge erf\u00fcllen, indem sie zu einer \u201eAufl\u00f6sung\u201c, d. h. zum \u00dcbergang in bestimmte Dreiklangsformen dr\u00e4ngen. Diese Bildungen haben auch besondere Namen erhalten; manche sind freilich in den Lehrb\u00fcchern unrationell abgeleitet und die Namen oft wenig bezeichnend.\nDie mit dem Grundton dissonierenden T\u00f6ne unserer Leitern sind durch deren Entstehungsprinzip vollkommen bestimmt. Sie sind alle mit dem Grandton indirekt verwandt, d. h. sie kon-sonieren mit einem Ton, der seinerseits mit dem Grundton kon-soniert (d konsoniert mit g, dieses mit c). Aber auch nicht alle indirekt verwandten, sondern nur diese bestimmten k\u00f6nnen nach dem Bildungsprinzip aufgenommen werden. Dadurch wird aus dem \u201eSammelkasten\u201c (so nennt Riemann meine unterste Verschmelzungsstufe, welche an sich sowohl musikalische wie nichtmusikalische Kombinationen umfafst) die n\u00f6tige Auswahl getroffen. Aber zuerst mufs der Sammelkasten da sein. Tats\u00e4chlich gibt es doch 8:11, 9:11, 13:16 und so viele andere dissonante Ton Verbindungen, die nicht durch eine geheimnisvolle Pr\u00e4destination, sondern nur durch den offenbaren besonderen Bauplan unserer Leitern aus ihnen ausgeschlossen werden.\nAber nicht nur viele m\u00f6gliche dissonante Intervalle werden ausgeschlossen, sondern auch die Klasse der Siebener, die man noch zu den konsonanten rechnen kann. Hier gilt das Recht des St\u00e4rkeren. Die durch die st\u00e4rkeren Konsonanzen festgelegte Tonleiter enth\u00e4lt Ganz- und Halbtonstufen, zwei Klassen von Tonschritten, auf deren Abwechselung unsere ganze Melodik be-","page":130},{"file":"p0131.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 336]\nKonsonanz und Konkordanz.\n131\nruht (vom Halbton, sagt Zarlino, kommt alles Gute in der Musik). Kleinere Schritte m\u00f6gen in der Praxis oft genug Vorkommen, beabsichtigt und unbeabsichtigt, sie sind aber im System als solchem nicht enthalten. Wenn enharmonische R\u00fcckungen * erforderlich werden, so geschieht es gerade, um die Reinheit des diatonischen Systems zu wahren. Das sind nicht Tonschritte innerhalb einer Leiter, sondern von der einen zur anderen. Wollten wir nun die nat\u00fcrliche Septime 4 : 7 (und damit auch die Intervalle 5:7, 6:7, 7:8) einf\u00fcgen, so w\u00fcrde sie ganz dicht neben einem Ton zu liegen kommen, der bereits auf Grund st\u00e4rkerer Konsonanz eingef\u00fchrt ist.\tWir w\u00fcrden sie\nnicht als selbst\u00e4ndigen Ton, sondern als erniedrigte Leiterseptime 5 : 9 oder (je nach dem Zusammenhang) 9 : 16, d. h. als kleine Terz der Dominant oder als Quarte der Subdominant verstehen, und wir w\u00fcrden auch den Tonschritt von ihr zur wirklichen Leiterseptime nicht als einen selbst\u00e4ndigen Tonschritt neben den Ganz- und Halbtonschritten, sondern nur als eine ver\u00e4nderte Intonation einer Leiterseptime auffassen. Dafs in vereinzelten F\u00e4llen die Septime tats\u00e4chlich im Sinne von 4:7, d. h. als Halbkonsonanz, intoniert und sogar auch als solche verstanden werden mag, wollen wir nicht leugnen. Aber die Siebener als Bauelemente unseres Musiksystems anzusehen, wie es einige Psychologen, ohne von der langen Geschichte dieser Angelegenheit zu wissen, neuerdings versucht haben, kann ich nur f\u00fcr eine grofse Verirrung halten.\nWenn wir von c ausgehen, so ist das b, das in der harmonischen oder absteigend melodischen C-moll-Leiter vorkommt, durch 5:9 gegeben, da es die Terz des Molldreiklanges auf der Dominant g ist. Wenn wir aber von der C-Tonart durch ein b nach der F-Tonart modulieren, so dafs also c selbst als Dominant zu f verstanden wird, dann mufs b in seiner Abstimmung bereits auf f bezogen, also von c aus durch zwei Quartenschritte berechnet werden, was 9: 16 ergibt. Den Unterschied der \u201enat\u00fcrlichen\u201c Septime von der des Dominantseptimenakkords macht man sich am besten deutlich, indem man den Grundton dieses Akkords, in C-dur also g \u2014 36 (c selbst = 24) setzt. Dann wird das \u201enat\u00fcrliche\u201c fl = 63, das des Septimenakkords = 64. Denkt man sich diese Zahlen mit 10 multipliziert und als Schwingungszahlen, so liegen die T\u00f6ne in der mittleren Tonregion, und ihre Differenz, 10 Schwingungen, ist merklich genug. Aber der Halbtonschritt von 640 nach unten betr\u00e4gt 40 Schwingungen. Daher w\u00fcrde das \u201enat\u00fcrliche\u201c f, wenn die ihm eigent\u00fcmliche tiefere Intonation auch bemerkt werden sollte, doch im allgemeinen als ein leitereigenes, als eine diatonische Septime aufgefafst werden. Wir h\u00f6ren oft viel st\u00e4rker verstimmte T\u00f6ne, die wir doch richtig auf die gemeinten Leitert\u00f6ne beziehen.\n9*","page":131},{"file":"p0132.txt","language":"de","ocr_de":"132\nC. Stumpf.\n[LVIII. 337J\nAls Beispiel f\u00fcr den Fall, wo ausnahmsweise eine Septime als \u201enat\u00fcrliche\u201c verstanden werden mag, k\u00f6nnte etwa der Schlufs von Schumanns \u201eBittendes Kind\u201c dienen. Da das St\u00fcck f\u00fcr Klavier geschrieben ist, so ist die Schlufs-Septime als temperierte sogar noch etwas h\u00f6her wie die der reinen diatonischen Leiter. Aber es ist ganz wohl m\u00f6glich, dais der Ton beim Singen oder beim Spielen auf Streichinstrumenten von einem feinf\u00fchligen Musiker tiefer intoniert w\u00fcrde, weil man hier das Bed\u00fcrfnis haben mag, statt mit einer Dissonanz mit einer unvollkommenen Konsonanz zu schliefsen.\nWir wollen nun die Begriffe formulieren, die das Ergebnis dieser, nicht nur historischen sondern auch rationellen, Entwicklung zusammenfassen.\nAls Akkord bezeichnen wir einen auf Grund des geschilderten Systems verst\u00e4ndlichen, d. h. also auf Haupt- oder Nebendreikl\u00e4nge eines bestimmten Grundtons in der angegebenen Weise zur\u00fcckf\u00fchr bar en Mehrklang. Es werden also auch Mehrkl\u00e4nge mit dissonanten Intervallen in diesem Sinne Akkorde genannt, aber nicht alle beliebigen, sondern nur die aus Dreikl\u00e4ngen durch bestimmte Operationen rationell herzuleitenden.1\nDie Akkorde zerfallen infolge der beschriebenen Entwicklung in zwei scharf geschiedene Klassen. Man hat sie als konsonante und dissonante Akkorde bezeichnet. Aber es sei mir gestattet, zwei andere Ausdr\u00fccke einzuf\u00fchren und durch De-\n1 Riemanns Definition im Musiklexikon, wonach Akkord \u201eden Zusammenklang mehrerer T\u00f6ne verschiedener H\u00f6he\u201c, also jeden Zusammenklang \u00fcberhaupt bedeuten w\u00fcrde, scheint mir nicht dem Sprachgebrauch entsprechend und jedenfalls nicht zweckm\u00e4fsig. Die Umbildungen der Mehrkl\u00e4nge, die noch aus den urspr\u00fcnglichen Dreikl\u00e4ngen verst\u00e4ndlich sind, haben ihre Grenze. Gerade hier scheint mir der Sammelkasten nicht am Platze. Gewifs k\u00f6nnen aus dem Tonvorrat der chromatischen Leiter, die selbst ein Entwicklungsprodukt der Modulation ist, durch Vorhalte, Antizipationen, Wechselnoten, Orgelpunkte u. dgl. eine ungeheure Menge von Tonverbindungen entstehen, die im Zusammenhang eines St\u00fcckes verst\u00e4ndlich sind. Aber man wird doch nicht jeden Tonhaufen, der bestenfalls nur durch langwierige Operationen ausgewickelt und rechtm\u00e4fsig in Dreikl\u00e4nge \u00fcbergef\u00fchrt werden kann, oder gar jede rein willk\u00fcrliche Verbindungaus nicht einmal musikalischen Tonverh\u00e4ltnissen Akkord nennen, sondern wird zweck-m\u00e4fsiger Weise den Ausdruck auf diejenigen Mehrkl\u00e4nge (aus mindestens drei T\u00f6nen) beschr\u00e4nken, die sich durch leicht \u00fcberschaubare Additionen, Elisionen oder Alterationen aus Dreikl\u00e4ngen ableiten lassen. Dabei mag immerhin die Grenze von Zeit zu Zeit durch die Praxis und die ihr folgende Gew\u00f6hnung des musikalischen Denkens etwas hinausgeschoben werden.","page":132},{"file":"p0133.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 338]\nKonsonanz und Konkordanz.\n133\nfinitionen zu erl\u00e4utern, die sich unmittelbar an den Ausdruck und Begriff des Akkordes anschlielsen. Die Bildung dieser Ausdr\u00fccke hat, wie wir sehen werden, ihre guten Gr\u00fcnde.\nAls konkordante Akkorde, kurz Konkorde, bezeichnen wir alle Dreikl\u00e4nge im vorher erw\u00e4hnten und gew\u00f6hnlichen Sinne des Wortes, also alle Haupt- und Nebendreikl\u00e4nge in Dur und Moll nebst ihren Um- und Weitlagerungen. Eine conditio sine qua non jedes Konkordes ist, wie man aus dem Obigen sofort erkennt, dals er eine Quinte oder deren Umkehrung, eine Quarte, enth\u00e4lt, ferner eine Terz oder deren Umkehrung, eine Sexte.\nAls diskordante Akkorde oder Diskorde bezeichnen wir alle \u00fcbrigen Akkorde, also solche, die aus Dreikl\u00e4ngen durch Hinzuf\u00fcgung bestimmter rationell gerechtfertigter T\u00f6ne oder durch bestimmte Alterationen der Dreiklangst\u00f6ne selbst entstehen.\nIn der urspr\u00fcnglichen Form dieser Abhandlung waren die alterierten Dreikl\u00e4nge nicht besonders genannt; und dies scheint mir auch jetzt nicht unbedingt erforderlich. Die prim\u00e4re Entstehungsweise von Diskorden (wenn nicht historisch, doch sachlich prim\u00e4r) ist meines Erachtens die durch Hinzuf\u00fcgung. Hat man dann z. B. den Dominantseptimenakkord, so entsteht daraus weiter durch chromatische Erh\u00f6hung seiner Quinte der \u00fcberm\u00e4fsige Dreiklang; die Septime kann bleiben (wenigstens in der Umlagerung) oder auch wieder elidiert werden. Man kann also die Alteration als einen blofs sekund\u00e4ren Prozefs auffassen, durch den bereits vorhandene Diskorde weiter umgebildet werden. Immerhin l\u00e4fst sich auch denken, dals, selbst wenn kein Dominantseptimenakkord und kein Quintsextakkord, also keine Diskorde durch Hinzuf\u00fcgungen, gebildet worden w\u00e4ren, doch die Quinte des Dominantdreiklanges und der Grundton des Subdominantdreiklanges (dieser beim \u00dcbergang zum Quartsextakkord) zur Erzielung einer fl\u00fcssigeren und dr\u00e4ngenderen Kadenz erh\u00f6ht worden w\u00e4ren. Daher habe ich Alterationen als einen m\u00f6glichen selbst\u00e4ndigen Faktor aufgenommen.\nHistorisch w\u00e4re die Frage, ob \u00fcberm\u00e4fsige und verminderte Dreikl\u00e4nge als selbst\u00e4ndige Diskorde bereits vor dem Dominantseptimenakkord auftreten. Was Tappert in seiner Monographie dar\u00fcber (Musikalische Studien S. 118f.) an Beispielen aus dem 16. Jahrhundert bringt, beruht alles nur auf Durchgangst\u00f6nen.\nH. Riemann betrachtet auch die Nebendreikl\u00e4nge, wie c:e:g in H-moll oder e:g :h in C-dur, als dissonant oder wenigstens als nur \u201escheinkonsonant\u201c, also als Diskorde nach unserer Bezeichnung, indem er lediglich den drei Hauptdreikl\u00e4ngen Konsonanzcharakter zuerkennt, w\u00e4hrend jene sich aus den Teilen von zwei Hauptdreikl\u00e4ngen zusammensetzen. Ich kann aber dieser, in der \u201eKlangvertretungslehre\u201c wurzelnden, Deutung nicht beistimmen. Bereits R. M\u00fcnnich hat in der Riemann-Festschrift 1909 S. 72 dagegen Widerspruch erhoben. In folgenden beiden Akkordbewegungen","page":133},{"file":"p0134.txt","language":"de","ocr_de":"G. Stumpf.\n134\n[LVIIL 339]\nwird man doch den jeweilig zweiten Akkord (X) als konsonant auffassen m\u00fcssen :\n/r-Q\t*\t\tX\nrafc-\t'<2\u2014^ ^\ti\tj g feHK. \t=\u00dc\nzM %\tg\u2014&\u2014\t- feg\t*3?\t& -U\nJ\t^ g\t\n-- - ^ !\t1.\t\u2014,\t.<5\n\tH\t\nIX\t\u201cT\t^\t\tH\n\t-ti\nDie Nebendreikl\u00e4nge d\u00fcrfen eben nicht aus einer Kombination von Hauptdreikl\u00e4ngen abgeleitet werden, wenn auch ihre einzelne T\u00f6ne aus diesen stammen.\nMan kann allerdings auch noch einen weitergreifenden Begriff von Diskorden bilden, indem man s\u00e4mtliche Akkorde aufser dem Dreiklang der Tonika als Diskorde bezeichnet, insofern ja keiner von ihnen allen den letzten Ruhepunkt einer Modulation bilden kann, sondern alle auf den Tonikadreiklang (bzw. -vierklang) hindr\u00e4ngen. In diesem Falle und in diesem Sinne sind dann aber, wie M\u00fcnnich schon bemerkt, auch die Dreikl\u00e4nge auf der Dominant und Subdominant Diskorde zu nennen.\nIn M\u00fcnnichs Abhandlung, die ich erst nach Abfassung des dieser Abhandlung zugrundeliegenden Artikels kennen lernte, ist auch die prinzipielle Differenz zwischen Riemann und mir einsichtig besprochen und die Unentbehrlichkeit des alten Konsonanzbegriffes hervorgehoben.\nUnd nun die Abstrakta. Konkordanz nennen wir die Eigenschaft eines Mehrklanges, die ihn zum Konkord stempelt, also seinen Aufbau nach dem Prinzip der Maximalzahl mit dem Grundton konsonierender T\u00f6ne innerhalb der Oktave in der Richtung von unten nach oben und nach der Rangfolge der Konsonanzgrade; sei es, dafs der gegebene Mehrklang diese Anforderung ohne weiteres erf\u00fcllt oder durch Oktavversetzungen auf einen sie erf\u00fcllenden zur\u00fcckgef\u00fchrt werden kann. K\u00fcrzer l\u00e4fst sich, soviel ich sehe, der Begriff nicht definieren, wenn man ganz genau sein will.\nDiskordanz ist die Eigenschaft eines Mehrklangs, die ihn zum Diskord stempelt, also eine Struktur, die aus Dreikl\u00e4ngen durch eine der oben genannten Operationen entsteht.\nMan sieht hieraus, dafs es sich bei Konkordanz und Diskordanz um viel kompliziertere Begriffe handelt wie bei Konsonanz und Dissonanz, dafs aber diese dabei vorausgesetzt werden. Wir wollen den Unterschied und das Verh\u00e4ltnis noch etwas n\u00e4her beleuchten.\nKonsonanz findet, wie gesagt, im urspr\u00fcnglichen und eigentlichen Sinne nur zwischen je zwei T\u00f6nen statt. Der Begriff","page":134},{"file":"p0135.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 340]\nKonsonanz und Konkordanz.\n135\nkann auf Mehrkl\u00e4nge nur etwa durch die Festsetzung \u00fcbertragen werden, dafs eben jeder Ton mit jedem anderen paarweise kon-sonieren solle. Wir gehen dabei von den Teilen zum Ganzen. Bei der Konkordanz ist es umgekehrt. Sie ist im urspr\u00fcnglichen und eigentlichen Sinne eine Eigenschaft von Drei- bzw. Mehrkl\u00e4ngen und kann auf Zweikl\u00e4nge nur durch eine Festsetzung \u00fcbertragen werden, indem wir n\u00e4mlich sagen: ein Zweiklang heifst konkordant, wenn und insofern er als Teil eines Kon-kords, also eines Dreiklanges aufgefafst wird.\nDer n\u00e4mliche Zweiklang kann dann aber auch diskordant sein, wenn und insofern er als Teil eines diskordanten Mehrklanges aufgefafst wird. Hier ergibt sich also, was bei der Konsonanz unm\u00f6glich ist, dafs genau dasselbe Tonpaar je nach der Beziehung, die wir ihm geben, konkordant und diskordant wird. So kann eigis als Bestandteil des T7-dur- oder des Cis - moll - Dreiklanges aufgefafst, es kann aber auch als Bestandteil des \u00fcberm\u00e4fsigen Dreiklanges c : e : gis aufgefafst werden, welcher diskordant ist, da er keine Quinte enth\u00e4lt. Dadurch und insofern wird der Zweiklang selbst aus einem konkordanten zu einem diskordanten. Ebenso wenn c : es als c : dis aufgefafst wird. F\u00fcr die Konsonanz macht dies, wenigstens nach dem sinnlichen Eindruck, keinen oder nur einen geringen Unterschied, da so kleine Unterschiede nicht als deutliche Verschmelzungsunterschiede bemerkt werden. F\u00fcr die Konkordanz bedeutet es eine fundamentale Ver\u00e4nderung.1\nDie Konsonanz zweier T\u00f6ne wird durch den Hinzutritt eines dritten nicht ver\u00e4ndert; wohl aber kann Konkordanz durch einen weiteren Ton in Diskordanz \u00fcbergehen. Wenn wir zu c : g oder zu c :e : g noch a hinzuf\u00fcgen, so beh\u00e4lt die Quinte und behalten die Terzen ihre Verschmelzungsgrade unver\u00e4ndert bei. Dagegen geht die Konkordanz des Dreiklangs, ebenso die der Quinte, sofern sie als Teil eines solchen aufgefafst war, in Diskordanz \u00fcber. Diese Eigenschaften k\u00f6nnen nicht blofs durch einen dritten Ton ge\u00e4ndert werden, sondern sie werden\n1 Dafs das Reinheitsurteil nicht mit dem Yerschmelzungsurteil zusammengeworfen werden darf, ist bereits oben erinnert. Aber auch mit dem Konkordanzurteil f\u00e4llt es nicht zusammen, da man ganz wohl die mangelhafte Reinheit eines Dreiklangs bemerken und ihn doch im Dreiklangssinne auffassen kann. Vgl. u. S. 137. Das Reinheitsurteil, das sich, auf eine eigent\u00fcmliche Gef\u00fchlsempfindung st\u00fctzt, ist viel feiner.","page":135},{"file":"p0136.txt","language":"de","ocr_de":"136\tC. Stumpf:\t[LVIIL 341]\ndurch mindestens drei T\u00f6ne \u00fcberhaupt erst gegeben, sie haben keinen Sinn ohne Bezug auf Dreikl\u00e4nge.\nKonsonanz ist eine Sache der direkten sinnlichen Wahrnehmung, Konkordanz ist eine Sache der Auffassung und des beziehenden Denkens. Dies geht soweit, dafs selbst ein vollst\u00e4ndiger Dreiklang ohne jede Ver\u00e4nderung seines Tonbestandes einmal als Konkord, das andere Mal als Teil eines Diskords aufgefafst werden kann. e:gis:h ist ein Konkord, wenn e als Tonika gefafst wird, wird aber zum Diskord, wenn c als Tonika hinzugedacht wird, weil es sich dann weder als Haupt- noch als Nebendreiklang mehr auffassen l\u00e4fst. In welcher Weise, mittels welcher Abk\u00fcrzungen des Verfahrens, dieses \u201emusikalische Denken\u201c sich tats\u00e4chlich im Bewufstsein des modernen Musikmenschen vollzieht, ist nicht so leicht auseinanderzusetzen. Das Hinzudenken der Tonika z. B. geschieht nicht notwendig so, dafs sie uns immer konkret gegenw\u00e4rtig w\u00e4re. Denn sonst w\u00fcrden auch wirkliche Nebendreikl\u00e4nge, ja selbst der Dominantdreiklang, Diskorde sein. Es handelt sich hier nicht um ein konkret - sinnliches Hinzuvorstellen der Tonika, sondern um eine blofse \u201eEinstellung\u201c, wie sie auch sonst im psychischen Leben vorkommt, freilich noch nicht genug untersucht ist. Wir k\u00f6nnen hier von solchen Untersuchungen absehen, denn zweifellos findet die Beziehung auf Dreikl\u00e4nge und auf Grundt\u00f6ne in irgend einer Form statt, und dies kann uns vorerst gen\u00fcgen.\nKonsonanz und Dissonanz sind nur graduell verschieden, und es kann der Grenzstrich an verschiedenen Punkten der Reihe gelegt werden, wie er denn tats\u00e4chlich von den Alten schon nach der Quarte gezogen wurde, w\u00e4hrend wir ihn nach der Terzen- und Sextengruppe setzen und sp\u00e4tere Musiksysteme ihn vielleicht nach den Siebenern setzen werden. Dagegen Konkordanz und Diskordanz sind spezifisch verschieden, und es gibt keinen \u00dcbergang und keine Zwischenstufen, sondern nur ein Entweder \u2014 Oder. Entweder handelt es sich um einen Dreiklang im angef\u00fchrten Sinne oder nicht. Diese Kluft ist dadurch noch vertieft worden, dafs sich auch ein spezifischer Gef\u00fchlsunterschied daran gekn\u00fcpft hat, indem Konkorde uns in isoliertem Zustand angenehm, Diskorde unangenehm ber\u00fchren. Aber sie ist auch schon abgesehen von dieser Gef\u00fchlswirkung eine scharfe und in dem System, innerhalb dessen sie \u00fcberhaupt allein einen Sinn hat, v\u00f6llig unverr\u00fcckbare. Gerade die Ge-","page":136},{"file":"p0137.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 342]\nKonsonanz und Konkordanz.\n137\nf\u00fchlswirkung ist Ver\u00e4nderungen unterworfen, auch innerhalb unseres Systems, indem die Unannehmlichkeit der Diskorde sich abschw\u00e4cht und durch Einf\u00fchrung immer neuer k\u00fchnerer Diskordbildungen die alten fast die Gef\u00fchlswirkung von Konkorden annehmen; so dafs, wie y. Hoenbostel bemerkte, der \u00dcbergang in diese alten Diskorde beruhigend wie eine Aufl\u00f6sung in Kon-korde wirken kann. Aber immer werden, solang unser System als ein innerlich sinnvolles und zusammenh\u00e4ngendes in unserem Be-wufstsein bestehen bleibt, die Dreikl\u00e4nge seine Grundlage bleiben und damit gegen\u00fcber s\u00e4mtlichen anderen Bildungen ihre spezifische, ausgezeichnete Stellung behaupten. Der Unterschied von Konkord und Diskord, wie er definiert ist, wird durch jene Gef\u00fchlsumwandlungen nicht ber\u00fchrt ; er kann sich nicht verschieben, sondern h\u00f6chstens mit dem gesamten Musiksystem aus der Welt geschafft werden.\nDarin herrscht \u00dcbereinstimmung beider Begriffspaare, dafs Konkordanz sich wie Konsonanz in ihrem eigentlichen und urspr\u00fcnglichen Sinn auf gleichzeitige T\u00f6ne bezieht; selbstverst\u00e4ndlich, da der Konkordanzbegriff den der Konsonanz in recto einschliefst. Aber die Gewohnheit der Einordnung eines Tones in Dreikl\u00e4nge ist so m\u00e4chtig geworden, dafs wir auch \u201egebrochene Akkorde\u201c unbedenklich eben als \u201eAkkorde\u201c bezeichnen und rubrizieren. Wir fassen dann einen Ton als Grundton und denken die \u00fcbrigen ihm als gleichzeitige \u00fcbergelagert.\nAuch das ist selbstverst\u00e4ndlich, dafs die Rechnung gegen\u00fcber Konkordanzen und Diskordanzen dieselbe Rolle spielt wie gegen\u00fcber Konsonanzen und Dissonanzen. Sie stellt die idealen Verh\u00e4ltnisse der Dreikl\u00e4nge und der auf sie gegr\u00fcndeten Leitern ans Licht und hilft auch die Ergebnisse sehr verwickelter Modulationen, die enharmonischen R\u00fcckungen usw. erkennen, auch da, wo das Ohr sie l\u00e4ngst nicht mehr w\u00fcrde verfolgen k\u00f6nnen. Eine Akkord- und Modulationslehre ohne rechnerische Grundlage ist undenkbar. Gleichwohl emanzipiert sich die Auffassung, von der in erster Linie Konkordanz und Diskordanz abh\u00e4ngig sind, in noch viel h\u00f6herem Grade, als es bei der sinnlichen Wahrnehmung der Konsonanz der Fall ist, von den genauen Verh\u00e4ltnissen, die die Rechnung feststellt. Man kann Dreikl\u00e4nge noch musikalisch verstehen, d. h. eben als Dreikl\u00e4nge auffassen, wenn die zul\u00e4ssige Schwelle der Unreinheit weit \u00fcberschritten ist. Der Zusammenhang und die gewohnte Melodie- und Akkordbewegung","page":137},{"file":"p0138.txt","language":"de","ocr_de":"138\nC. Stumpf.\n[LVIIL 343]\nsind hier ausschlaggebend und lassen uns die Unreinheiten entweder ganz \u00fcberh\u00f6ren oder absichtlich ignorieren. Weil die Konkordanz von vornherein eine beziehende T\u00e4tigkeit voraussetzt, ist diese in unserem Musikh\u00f6ren zu einer au\u00dferordentlichen Virtuosit\u00e4t entwickelt. Das ist auch f\u00fcr die Theorie des musikalischen Gef\u00fchles von grofser Wichtigkeit. Denn man erkennt daran ohne weiteres, wie sehr auch unser Wohlgefallen und Mifsfallen sich von den rein sinnlichen Faktoren (Schwebungen u. dergl.) zu emanzipieren vermag.\nAuf einige besondere F\u00e4lle will ich noch kurz eingehen, um die Anwendung der Begriffe zu erl\u00e4utern.\nDer Neben dreiklang d:f:a in O-dur ist der Rechnung nach ein Diskord, da das a der U-Leiter als Terz von f nicht die reine Quinte von d ist. c : a = 27 : 40. Der Akkord hat also rechnerisch eben keine Quinte, aber er wird durch die Auffassung legitimiert, wie tausend andere nicht ganz reine Dreikl\u00e4nge, die wir zu h\u00f6ren bekommen. Wir fassen ihn als genau so konkordant wie e : g :h, indem er als Nebendreiklang verstanden und die kleine Unreinheit seiner Quinte \u00fcberh\u00f6rt oder ignoriert wird. Auf dem Klavier sind ja ohnedies alle Quinten gleich unrein und unterscheidet sich diese Quinte in nichts von der des Grunddreiklanges. Gerade durch den Gebrauch der temperierten Instrumente ist die Auffassung dieses Dreiklanges im Sinne des Konkordes vollends durchgedrungen.\nAls Nebendreiklang in C-dur tritt dieser Akkord beispielsweise in folgenden harmonischen G\u00e4ngen auf:\nAllerdings kann der Akkord d:f:a in solchen F\u00e4llen, wo er durch Vermittlung des Dominantakkords nach C zur\u00fcckf\u00fchrt, immer auch als aus dem Quintsextakkord entstanden gedacht werden, dessen Quinte (c) elidiert und dessen hinzugef\u00fcgter Ton (d) um eine Oktave vertieft ist. Doch wird bei sequenzartigen G\u00e4ngen wie den obigen zuerst die Auffassung als Nebendreiklang vorherrschen und nur nachtr\u00e4glich, wenn sich die Kadenz als solche herausstellt, die Umdeutung eintreten. In beiden F\u00e4llen aber, f\u00fcr beide Auffassungsweisen, ist das Verh\u00e4ltnis d : a kein reines. Denn das","page":138},{"file":"p0139.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 344]\nKonsonanz und Konkordanz.\n139\nim Quintsextakkord, hinzugef\u00fcgte d ist dem Dominantdreiklang entnommen, was eben 27 : 40 ergibt.\nNehmen wir an, dafs unsere Beispiele a cappella gesungen werden und die S\u00e4nger sie schon kennen, sich also auf vollkommene Reinheit aller Dreikl\u00e4nge einstellen k\u00f6nnen, so ist es m\u00f6glich, dafs durch enharmonische R\u00fcckungen die reine Quinte \u00fcberall hergestellt wird (indem in beiden F\u00e4llen das d im 4. Viertel anders intoniert wird als im 3.). Aber beim erstmaligen Singen wird dies nicht geschehen, und man kann sogar fragen, ob solche R\u00fcckungen, da wir streng in C-dur bleiben, korrekt w\u00e4ren.\nAnders ist es bei dem \u201everminderten Dreiklange\u201c, h:d:f in O-dur oder M-moll. Man hat auch diesen als Neben dreiklang, ja sogar als konsonanten Akkord bezeichnet, weil er nach der Art der \u00fcbrigen Nebendreikl\u00e4nge durch Aufbau einer Terz und einer Quinte, dieses Mal freilich der \u201everminderten Quinte\u201c, auf einem Leiterton gebildet sei. Aber eine verminderte Quinte ist . eben keine Quinte. Und dieses Mal ist es uns nicht m\u00f6glich, die Abweichung zu ignorieren. Wir sollen es ja auch nicht, wir sollen und d\u00fcrfen f nicht als fis h\u00f6ren. Es ist also kein Zweifel, dafs wir hier einen Diskord vor uns haben (wenngleich er in Sequenzen, bei denen \u00fcberhaupt andere Gesetze als bei der gew\u00f6hnlichen Modulation gelten, unter Umst\u00e4nden gleich einem Konkord behandelt wird. Wenn wir in Reih und Glied marschieren, werden auch Gute und Schlechte gleich behandelt). Hier stimmt also Rechnung und Auffassung \u00fcberein.\nDer verminderte Dreiklang ist ein vieldeutiges Gebilde. Sein Auftreten als Psendo-Nebendreiklang ist der seltenere Fall, gew\u00f6hnlich ist er als Dominantseptimenakkord mit elidiertem Grundton oder als oberer Teil eines Nonenakkords in Moll oder als Quintsextakkord in Moll mit elidierter Quinte oder auch als Subdominantdreiklang mit erh\u00f6htem Grundton (als \u00dcbergang zum Quartsextakkord auf der Dominante) aufzufassen. Immer aber als Diskord. Der Name \u201eDreiklang\u201c steht hier also nur im weiteren Sinne, f\u00fcr \u201eMehrklang aus drei T\u00f6nen\u201c.\nLehrreich ist endlich der \u00fcberm\u00e4fsige Dreiklang. Die \u201e\u00fcber-m\u00e4fsige Quinte\u201c, 16:25, ist rechnerisch dissonant, anders ausgedr\u00fcckt: mit idealem Geh\u00f6r w\u00fcrden wir sie der untersten Verschmelzungsstufe zuweisen. Hier ist aber die Abweichung von einer Konsonanz, der kleinen Sexte, wieder gering, und sie wird noch geringer beim temperierten gis. Sie k\u00f6nnte daher an und f\u00fcr sich, wie bei der Quinte des Dreiklangs d : f : a in O-dur, \u00fcberh\u00f6rt oder ignoriert werden. Dennoch ist diesmal keine Legitimation, sondern nur die bestimmteste Disqualifikation","page":139},{"file":"p0140.txt","language":"de","ocr_de":"140\nG. Stumpf.\n[LVIII. 345]\ndurch die Auffassung m\u00f6glich (obschon es Harmoniker gegeben hat, die auch diesen Akkord als konsonanten Nebendreiklang bezeichneten). Wir haben einen Diskord yor uns : der Akkord hat keine Quinte, er kann durch keine Beziehung auf irgendeinen Grundton als Haupt- oder Nebendreiklang angesehen werden. Die Auffassung des gis als as und das Zusammenfallen dieser T\u00f6ne auf dem Klavier \u00e4ndert hieran nichts.\nAuch der \u201e\u00fcberm\u00e4lsige Dreiklang\u201c ist vieldeutig, namentlich wenn man die m\u00f6glichen enharmonischen Umdeutungen der einzelnen T\u00f6ne hinzunimmt, aber auch abgesehen davon. Auch hier handelt sich\u2019s nur in selteneren F\u00e4llen um einen (Pseudo-)Dreiklang auf der 3. Stufe in Moll mit der melodisch erh\u00f6hten Septime. Meistens entsteht er durch Erh\u00f6hung der Quinte des Dominantdreiklangs ; es kann sich aber auch um eine blofse Vorhaltsbildung handeln (wie wenn bei g :h:dis g als Vorhalt zu fis in i\u00ef-dur oder dis als Vorhalt zu e gebraucht wird), wo wir ihn dann nicht einmal als Akkord, geschweige als Dreiklang im pr\u00e4gnanten Sinne bezeichnen w\u00fcrden.\nH. Riemann hat vollst\u00e4ndig recht, wenn er behauptet, dafs der Begriff der Konsonanz im Sinne der Verschmelzung nicht hinreicht, die entschiedene musikalische Beurteilung dieses Zusammenklanges als dissonant, oder, wie ich sagen w\u00fcrde, als diskordant zu rechtfertigen. Es liegt hier in der Tat eine L\u00fccke in meiner fr\u00fcheren Darstellung (Beitr\u00e4ge I, 103), wo ich noch nicht Konkordanz von Konsonanz unterschied. Der Rechnung nach oder f\u00fcr ein ideales Ohr best\u00e4nde gar keine Schwierigkeit. Aber ich mufs zugeben, dafs, wenn man die drei Tonpaare c : gis, c :e, e: gis jedes f\u00fcr sich allein und ohne Beziehung auf die anderen vorlegen w\u00fcrde, c : gis infolge der dominierenden Stellung der Konsonanzen in unserem Bewufstsein und der Geringf\u00fcgigkeit der Abweichung von dem idealen Verschmelzungsgrade der Sexten wohl von jedem heutigen Musiker als Konsonanz bezeichnet w\u00fcrde, und dafs wir somit anscheinend drei Konsonanzen bek\u00e4men. Ich erw\u00e4hnte bereits a. a. 0., dafs man unm\u00f6glich den h\u00f6chsten Ton gleichzeitig als grofse Terz von e und als kleine Sexte von c auffassen k\u00f6nne, und dafs immer, bei jeder von beiden Auffassungen, eines der drei Intervalle als dissonant herauskomme. Damit ist aber bereits die entscheidende Rolle der Auffassung im Sinne unseres aus Dreikl\u00e4ngen erbauten Dur- und Mollsystems anerkannt. Es erf\u00fcllt eben weder c : e : gis noch c : e : as die Strukturbedingungen der Konkorde. Und dies hat mit der schwankenden Wahrnehmung kleinster","page":140},{"file":"p0141.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 346]\nKonsonanz und Konkordanz.\n141\nVerstimmungen nichts zu tun, da die Abweichung von der Quinte immer einen vollen Halb ton betr\u00e4gt. Man wendet somit nicht mehr das Kriterium der Konsonanz, sondern ein anderes an, das wir hier Konkordanz nennen.\nUnter einer Bedingung l\u00e4fst sich der Konsonanzbegriff im urspr\u00fcnglichen Sinne allerdings auch in solchen F\u00e4llen, selbst ohne Zuhilfenahme der Rechnung oder des idealen Geh\u00f6rs, verwenden : wenn man n\u00e4mlich festsetzt, dafs \u201ekonsonanter Mehrklang\u201c heifsen soll: ein Mehrklang aus leitereigenen, unter sich paarweise konsonierenden T\u00f6nen, und wenn man zugleich unter leitereigenen T\u00f6nen beim Moll nur die T\u00f6ne der urspr\u00fcnglichen Molleiter (aus drei Molldreikl\u00e4ngen) versteht. Dann ist c : e : g is dissonant. Aber der Begriff \u201eleitereigene T\u00f6ne\u201c enth\u00e4lt, da unsere Leitern eben aus Dreikl\u00e4ngen erbaut sind, doch schon in versteckter Weise die Beziehung auf Dreikl\u00e4nge in sich, also den Begriff der Konkordanz. Und darum scheint es mir richtiger, dieses entscheidende Element in einem besonderen Begriff und Namen zu kennzeichnen.\nDie ungeheure Rolle des musikalischen Denkens und speziell die durchgehende Beziehung aller T\u00f6ne auf Dreikl\u00e4nge ist mir auch fr\u00fcher nicht entgangen.1 Aber es war mir nicht zu voller\n1 Musikpsychologie in England, Vierteljahrschrift f\u00fcr Musikwissenschaft 1895, S. 848: \u201eIn ihnen (den unwillk\u00fcrlichen gewohnheitsm\u00e4fsigen Wahrnehmungen, Auffassungen, Sinnesurteilen) besteht wesentlich das musikalische Denken, auf ihnen ruht das musikalische F\u00fchlen\u201c . . . \u201eDiese unwillk\u00fcrlichen, durch Erfahrung geleiteten Auffassungen sind der Mittelpunkt der ganzen Musikpsychologie\u201c. Diese Beitr\u00e4ge I, 32 : \u201eDer Dreiklang in erster Lage und die ihn konstituierenden Intervalle sind es nun einmal, auf die wir alles andere beziehen\u201c. 102: \u201eEs ist ferner eine wichtige und von den genannten Forschern (Riemann, v. \u00d6ttingen) mit Recht betonte Tatsache, . . . dafs der gegenw\u00e4rtige Musiker ... in Dreikl\u00e4ngen denkt, dafs er jeden Ton und so auch jeden Zweiklang als Teil eines Dreiklangs (oder einer noch reicheren Tonkombination) auffafst\u201c. II, 24 : \u201eDie Unterschiede unter den Akkorden in Hinsicht ihres Wohlklanges oder ihrer Wohlgef\u00e4lligkeit ruhen auf so vielen anderen starken Motiven, namentlich solchen, die aus dem Zusammenhang und der historischen Entwicklung des Musiksystems hervorgehen, dafs jene feinsten Verschmelzungsunterschiede [innerhalb der Terzen- und Sextengruppe u. dergl.] dagegen verschwinden\u201c. Vgl. III, 101, 132 und sonst \u00f6fters.\nDarum lasse ich\u2019s nicht gelten, wenn Oh. Lalo mir eine sensualistische Begr\u00fcndung der Musik vorwirft. Niemals habe ich daran gedacht, mit dem Verschmelzungsbegriff die Kosten der ganzen Musikwissenschaft zu be-","page":141},{"file":"p0142.txt","language":"de","ocr_de":"142\nC. Stumpf.\n[LVIIL 347]\nKlarheit gekommen, dafs mit R\u00fccksicht darauf ein neues Begriffspaar zu dem der Konsonanz und Dissonanz in der musikalischen Theorie hinzugef\u00fcgt werden mufs.\nAndererseits mufs ich aber auch Riemann und allen Musiktheoretikern, die den Dreiklang als letztes Gegebenes, als die fundamentale, nicht weiter zu begr\u00fcndende Einheit aller Musik hinnehmen und Konsonanz und Dissonanz erst durch die Beziehung auf Dreikl\u00e4nge definieren, zu bedenken geben, dafs sie in aller Form das Haus vom Dache aus bauen wollen. Was ist denn ein Dreiklang, und wodurch unterscheidet sich der Dreiklang, den wir im pr\u00e4gnanten Sinne so nennen, von irgendeiner anderen Zusammenstellung dreier T\u00f6ne? Es ist nicht m\u00f6glich^ darauf zu antworten, ohne dafs man den alten Konsonanzbegriff heranzieht, indem man auf das Prinzip der gr\u00f6fsten Anzahl unter sich konsonierender T\u00f6ne innerhalb der Oktave in der Ordnung ihrer Verschmelzungsgrade zur\u00fcckgreift. Man braucht also den alten Konsonanz begriff, der je zwei T\u00f6ne untereinander in Beziehung setzt, um den neuen Konsonanzbegriff, bei dem es sich um drei handelt, darauf zu bauen.\nBereits 1496 hat Franchinus Gafttrius sowohl den Unterschied wie den Zusammenhang beider Begriffe richtig durchschaut, indem er Harmonie (= Konkordanz) von Konsonanz unterscheidet : \u201eHinc falso sunt arbitrati, qui consonantiam et harmoniam idem esse posuerunt. Nam qnamquam\nstreiten. Die ersten B\u00e4nde der Tonpsychologie sollten nur die allerelementarsten Grunderscheinungen des Tongebietes und deren Auffassung durch den H\u00f6renden behandeln, noch nicht (oder nur nebenbei) die spezifisch musikalische Seite, das musikalische Denken und F\u00fchlen. Vorrede zum II. Bd.: \u201eAusdr\u00fccklich bitte ich den Leser, nicht zu glauben, dafs in den gelegentlich bereits eingestreuten Bemerkungen hier\u00fcber meine Theorie der Konsonanz, der Musik \u00fcberhaupt auch nur in ihren Grundz\u00fcgen angedeutet sein solle; im besonderen nicht den Verschmelzungsbegriff, der ohnedies Vielen Anstois geben wird, schon mit R\u00fccksicht auf seine Verwendbarkeit f\u00fcr diese Zwecke anzusehen\u201c. Die Schrift \u00fcber Konsonanz und Dissonanz tut den ersten, aber auch nur den ersten, Schritt in dieser Richtung. Es sollten zun\u00e4chst die Fundamente so sicher als m\u00f6glich gelegt werden, weil gerade dies vers\u00e4umt zu werden pflegt. Es scheint mir aber nicht billig, einem Schriftsteller die Nichterreichung eines Zieles vorzuwerfen, das er ausdr\u00fccklich und mit vollem Bewufstsein aus der Aufgabe seiner bisher vorliegenden Schriften ausgeschlossen hat.\nDas Bed\u00fcrfnis der Verteidigung gegen\u00fcber einem auch von deutschen Kritikern ge\u00fcbten Verfahren m\u00f6ge diesen Selbstzitaten zur Entschuldigung dienen.","page":142},{"file":"p0143.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIII. 348]\nKonsonanz und Konkordanz.\n143\nharmonia consonantia est, omnis tarnen consonantia non facit harmoniam. Consonantia namque ex acuto et gravi generatur sono: harmonia vero ex acnto et gravi conficitur atqne medio.\u201c (S. Riemann, Geschichte der Musiktheorie S. 324.) Gafori hat nur insofern den Konkordanzbegriff weiter gefafst als wir es tun, als er jede Verbindung zweier ungleicher Konsonanzen und somit auch den Zusammenklang c : g : c1 als Harmonie bezeichnet. Das Dreiklangserfordernis in unserem speziellen Sinn ist noch nicht v\u00f6llig ausgebildet. Ausgebildet findet es sich bekanntlich erst bei Zarlino. Aber auch dieser grofse Theoretiker ist weit entfernt, unter \u201eKonsonanz\u201c einen Dreiklang oder eine Eigenschaft von Dreikl\u00e4ngen zu verstehen. Er gebraucht das Wort im alten Sinne, den neuen Begriff nennt auch er Harmonie.\nDas unterschiedslose Zusammenwerfen beider Begriffe, die \u00dcbertragung des alten Namens auf den neuen Begriff, ja die ausdr\u00fcckliche Verwerfung des alten Begriffes finden sich, scheint mir, erst im 19. Jahrhundert, wesentlich infolge der Harmonik M. Hauptmanns, deren eminente Verdienste ich im \u00fcbrigen nicht leugne (hat doch gerade Hauptmann gegen\u00fcber der beliebten Gef\u00fchlsdefinition, konsonant und dissonant = wohl- und \u00fcbelklingend, h\u00f6chst einsichtig S. 12 das Zusammen- und Auseinanderklingen als Wesen der Konsonanz und Dissonanz bezeichnet. Es ist auch mehr ein Mifsverst\u00e4ndnis und eine \u00dcbertreibung seiner Dreiklangslehre als diese selbst, die die letzte Grundlage aller Dreiklangsbildung und die alte Konsonanzdefinition in Vergessenheit geraten liefsen.) Dafs gleichwohl das Bewufstsein, zwei verschiedene Dinge mit demselben Namen bezeichnet zu haben, nicht ausgestorben ist, zeigt beispielsweise eine Stelle der vor einigen Jahren erschienenen Harmonielehre von Louis und Thuille (S. 35): \u201eBei dem rein akustischen Begriffe der Konsonanz und Dissonanz mag man [richtiger: mufs man] vom Intervall ausgehen, f\u00fcr den von jenem scharf zu scheidenden, obwohl eng mit ihm zusammenh\u00e4ngenden, der harmonischen Konsonanz und Dissonanz ist der Dreiklang der einzig angezeigte Ausgangspunkt.\u201c Aber sogleich wird leider, im Widerspruch mit dem eigenen Zugest\u00e4ndnis, wieder die volle Selbst\u00e4ndigkeit und Urspr\u00fcnglichkeit f\u00fcr diesen harmonischen Konsonanzbegriff in Anspruch genommen : \u201eF\u00fcr den Musiker ist die Konsonanz des Dur- und Molldreiklangs Ur-ph\u00e4nomen im Sinne Goethes, eine oberste Erfahrungstatsache, die aus nichts H\u00f6herem mehr abgeleitet werden kann, ohne das man dafs Gebiet der reinen Empirie verlassen und den schwankenden Boden akustischer oder psychologischer Spekulation betreten m\u00fcfste.\u201c H\u00e4tten die Verfasser den von ihnen zugegebenen engen Zusammenhang des harmonischen mit. dem akustischen Konsonanzbegriff n\u00e4her ins Auge gefafst, so h\u00e4tte ihnen kaum entgehen k\u00f6nnen, wie hier in Wirklichkeit Spekulation und Empirie sich verteilen.\nDie tiefste Wurzel jener Meinungsverschiedenheiten, die eine Verst\u00e4ndigung zwischen den Tonpsychologen und den musikalischen \u00c4sthetikern erschweren, liegt darin, dafs die letzteren sich immer noch nicht entschliefsen k\u00f6nnen, die M\u00f6glichkeit und","page":143},{"file":"p0144.txt","language":"de","ocr_de":"144\nC. Stumpf.\n[LVIIL 349]\ndas Vorkommen einer nichtharmonischen, nicht auf Dreikl\u00e4nge gegr\u00fcndeten, Musik anzuerkennen. Wenn Riemann \u201eeine der unseren entsprechende harmonische Auffassung der Tonverh\u00e4ltnisse als allem Musikh\u00f6ren von jeher immanent\u201c behauptet \\ so dr\u00fcckt er damit die Anschauung der meisten Musikschriftsteller aus. Und dennoch ist diese Anschauung heute gegen\u00fcber den ethnologisch-musikalischen, durch phonographische Aufnahmen exakt begr\u00fcndeten Forschungen unm\u00f6glich mehr aufrecht zu halten.\nGibt man nun zu, dafs das angegebene Verh\u00e4ltnis zwischen dem alten und dem neuen Konsonanzbegriff der Wahrheit entspricht, dann ist alles \u00fcbrige, worauf es hier noch ankommt, nur noch eine Frage der Terminologie. Es fragt sich: Ist es zweckm\u00e4fsig, den abgeleiteten Begriff und den darin enthaltenen urspr\u00fcnglichen Begriff mit demselben Namen zu bezeichnen, also etwa V\u00e4 wieder a zu nennen? Ist es zweckm\u00e4fsig, die aus den Konsonanzverh\u00e4ltnissen erst herausentwickelte Struktur, die den Dreiklang zum Dreiklang macht, weiterhin die Eigenschaften von Zweikl\u00e4ngen, ja von einzelnen T\u00f6nen, welche wieder in ihrer Beziehung auf Dreikl\u00e4nge wurzeln, das alles mit den alten Namen Konsonanz und Dissonanz zu bezeichnen, deren urspr\u00fcngliche Bedeutung dabei doch auch bestehen bleiben mufs? \u2014 Sicherlich nicht. Bei g\u00e4nzlich verschiedenen Dingen ist eine solche Homonymie zu ertragen, bei Begriffen aber, die in einem Verwandtschafts- und Abh\u00e4ngigkeitsVerh\u00e4ltnis stehen, ist sie unertr\u00e4glich. Sie wird zur Quelle dauernder Konfusion und nutzlosen Streites. Nur dadurch kann Klarheit und Verst\u00e4ndigung erzielt werden, dafs wir f\u00fcr das abgeleitete Begriffspaar andere Ausdr\u00fccke einf\u00fchren.\nDie hier gew\u00e4hlten sind als Kunstausdr\u00fccke in der Musiktheorie nicht neu. Schon Isidor, Hucbald, Guido, Franco von K\u00f6ln, Johannes de M\u00fbris und noch Tinctoris gebrauchen mit Vor-\n1 Elemente der musikalischen \u00c4sthetik S. 98, 122. Ebenso in: Problem des harmonischen Dualismus (abgedruckt aus der Neuen Zeitschrift f\u00fcr Musik 1905) S. 18: \u201eIch will . . . kurz und gut sagen, dafs es ein H\u00f6ren von T\u00f6nen im Sinne von Intervallen (Zweikl\u00e4ngen) \u00fcberhaupt gar nicht gibt, dafs dagegen ein H\u00f6ren im Sinne von Dreikl\u00e4ngen das A und 42 aller Musik ist. Auch die absolut einstimmige Melodie h\u00f6rt zweifellos der H\u00f6rer von heute, wahrscheinlich aber der H\u00f6rer aller Zeiten im Sinne von Harmonien (Tonkomplexen)\u201c.","page":144},{"file":"p0145.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 350]\nKonsonanz und Konkordanz.\n145\nliebe die Ausdr\u00fccke concordare, discordare, freilich zun\u00e4chst ohne Bewufstsein der neuen Begriffe, die sich vorbereiteten, und ohne Unterscheidung gegen\u00fcber consonare, dissonare, aber seit Franco doch vielleicht aus dem Gef\u00fchl heraus, dafs es sich nicht mehr blofs um ein \u201eZusammenklingen und Auseinanderklingen\u201c, sondern auch um ein \u201eZusammenpassen und Nichtzusammenpassen\u201c handle. In der Tat sind die alten wie die neuen Ausdr\u00fccke sehr bezeichnend f\u00fcr das, was hier zu unterscheiden ist: den rein sinnlichen Eindruck der isolierten Intervalle und den \u00e4sthetischen, durch das beziehende Denken vermittelten der Dreikl\u00e4nge und ihrer Elemente, wie er sich in den Jahrhunderten nach Franco immer deutlicher herausgebildet hat. Auch der allgemein gebr\u00e4uchlich gewordene Gattungsname \u201eAkkord\u201c weist direkt auf die Bildungen \u201eKonkord\u201c und \u201eDiskord\u201c und die entsprechenden Allgemeinnamen hin.1\n1 Auch Riemann gebraucht gelegentlich den Ausdruck \u201ediskordant\u201c im Unterschiede von \u201edissonant\u201c, aber in ganz anderem Sinne als es hier geschieht. Er nennt so die in unserer Musik \u00fcberhaupt nicht gebr\u00e4uchlichen Tonverh\u00e4ltnisse, die ich nach seiner Meinung zu Unrecht mit den musikalisch gebr\u00e4uchlichen Dissonanzen in der letzten Verschmelzungsstufe vereinigt habe. Nach meinem Vorschlag w\u00e4ren dagegen diskordant gerade Riemanns \u201edissonante\u201c Intervalle zu nennen: solche die in unserem Musiksystem heimatberechtigt sind, aber nicht als Teile eines Dreiklangs aufgefafst werden.\nWie ich nachtr\u00e4glich sehe, verwendet V. Lederer in seinem Werke : \u201e\u00dcber Heimat und Ursprung der mehrstimmigen Tonkunst\u201c 1908 vor\u00fcbergehend bereits den Ausdruck \u201eKonkord\u201c in dem von mir vorgeschlagenen Sinne, indem er S. 260 von \u201edem Wesen des harmonischen Akkords, richtiger Konkords\u201c spricht.\nEbenso finde ich noch w\u00e4hrend der letzten Korrektur in dem Buche von B. J. Gilman: Hopi Songs, 1908, S. 216 die ausdr\u00fcckliche Definition: \u201eDiscord is any combination of pitches within the diatonic scale other than the notes of one of its three triads with their octaves\u201c, die der unsrigen sehr nahe kommt.\nAuch Hauptmann greift einmal zu dem Ausdruck \u201eDiskordanz\u201c, wo er \u201edas Unwahre\u201c in gewissen Zusammenkl\u00e4ngen aus mehreren gleichzeitigen Dreikl\u00e4ngen ausdr\u00fccken will (Natur d. Harmonik S. 79).\nUnd so d\u00fcrften sich wohl noch mehr Beweise daf\u00fcr erbringen lassen, dafs die Notwendigkeit einer gesonderten Bezeichnung f\u00fcr den Begriff des Zusammenpassens, der Zusammengeh\u00f6rigkeit gewisser T\u00f6ne in unserem musikalischen Bewufstsein und f\u00fcr das gegenteilige Verhalten, und dafs die Zweckm\u00e4fsigkeit der hier vorgeschlagenen Ausdr\u00fccke sich auch anderen schon aufgedr\u00e4ngt hat.\nStampf, Beitr\u00e4ge VI.\n10","page":145},{"file":"p0146.txt","language":"de","ocr_de":"146\nC. Stumpf.\n[LVIII. 351]\nBekanntlich wird gleichbedeutend mit Akkord sehr vielfach auch das Wort Harmonie gebraucht. Dabei pflegt man mit diesem Ausdruck auch die beiden entgegengesetzten Klassen der Harmonien zu bezeichnen, indem man von Septimenharmonie ebenso wie von Dreiklangharmonie spricht (Gottfr. Weber und viele sp\u00e4tere). Konsequenter w\u00e4re es, die beiden Klassen als \u201eHarmonien im engeren Sinne\u201c und \u201eDisharmonien\u201c zu unterscheiden. Dieselben Ausdr\u00fccke Harmonie und Disharmonie m\u00fcssen dann auch f\u00fcr die abstrakten Eigenschaften gebraucht werden, wodurch die beiden Klassen voneinander unterschieden werden. Dieser ganze Sprachgebrauch erscheint schon darum unzweckm\u00e4fsig, weil das Wort Harmonie dabei in dreifacher Weise verwendet werden mufs: f\u00fcr die Gattung, die Art und das artbildende Merkmal. Vom psychologischen Standpunkte ist ferner dagegen einzuwenden, dafs nach unserem Sprach-bewufstsein dadurch die Gef \u00fchlsSeite besonders markiert wird, die zwar eine wichtige, ja die wichtigste Holle in der Musik spielt, aber in die grundlegenden Definitionen der Musiktheorie nicht aufgenommen werden sollte.\nWie die Formulierung des Konkordanzbegriffes auch f\u00fcr die Gef\u00fchlsprobleme von Bedeutung wird, m\u00f6ge im folgenden noch kurz angedeutet sein.\nIII. Bemerkungen \u00fcber Wohlklang und Wohlgef\u00e4lligkeit.\nDafs es nicht angeht, den Unterschied von Konsonanz und Dissonanz durch das blofse Gef\u00fchlsmerkmal zu definieren, glaube ich fr\u00fcher gezeigt zu haben.1 Aber nat\u00fcrlich hat das Gef\u00fchl sowohl bei den ersten Anf\u00e4ngen wie bei der Ausgestaltung aller\n1 Gegen\u00fcber meinen Ausf\u00fchrungen (Diese Beitr\u00e4ge I) vertritt A. Faist (Jahresbericht d. f\u00fcrstbisch\u00f6fl. Gymnasiums in Graz 1905/6) die Gef\u00fchlsdefinition wenigstens innerhalb beschr\u00e4nkter Grenzen, indem er die Konsonanzen unter sich durch den Verschmelzungsgrad, von den Dissonanzen aber durch das Gef\u00fchlsmerkmal unterscheidet. Da nun aber unzweifelhaft Gef\u00fchlsunterschiede auch innerhalb der Konsonanzen stattfinden (er bringt dar\u00fcber sogar eigene Versuche), so w\u00e4re es doch einzig konsequent, auch die Abstufungen der Konsonanzgrade dadurch zu bestimmen. Dann sieht man freilich, dafs Oktave und Quinte zugunsten der Terzen zur\u00fccktreten m\u00fcfsten. Darum ist aber auch die einzige weitere Konsequenz, dafs man das G;ef\u00fchlsmerkmal zur Definition des Konsonanzbegriffes eben nicht gebrauchen kann.","page":146},{"file":"p0147.txt","language":"de","ocr_de":"[liVIII. 352]\nKonsonanz und Konkordanz.\n147\nArten und Systeme des Musizierens mitgewirkt. Man hat voi> gezogen, was angenehmer oder wohlgef\u00e4lliger war, und hat solchen Kl\u00e4ngen, Klangfolgen, Zusammenkl\u00e4ngen, die besonders befriedigten, eine ausgezeichnete Stellung einger\u00e4umt. Nun mufs aber doch immer ein Anlafs im Sinneseindrucke selbst gelegen haben, der Schuld war, dafs das eine vorgezogen, das andere nachgestellt, das eine erlaubt, das andere verboten, das eine als abschlief send er Toneindruck eines St\u00fcckes, das andere nur als Durchgangspunkt zugelassen wurde. Sagt man : das geschah eben wegen der Annehmlichkeitsunterschiede, so zeigt ein Blick auf die Geschichte, dafs diese selbst gr\u00f6fstenteils allm\u00e4hlich entstanden sind und teilweise sogar ihre Vorzeichen gewechselt haben. So sehen wir uns doch eben auch in der Harmonielehre, wenn sie mehr als eine trockene Aufz\u00e4hlung der \u00fcberlieferten Regeln sein, wenn sie eine Einsicht in das Warum gew\u00e4hren soll, gen\u00f6tigt, die rein theoretischen Eigenschaften von Zusammenkl\u00e4ngen aufzusuchen, die den Gef\u00fchlseindruck bestimmen k\u00f6nnen.\nHier sind nun zu unterscheiden die Ursachen des Wohlklangs und die der Wohlgef\u00e4lligkeit. Der Wohlklang ist Sache blofser Sinnesempfindung, die Wohlgef\u00e4lligkeit ruht auf intellektueller Bet\u00e4tigung des H\u00f6renden. Wer nicht einmal imstande ist, zwei oder drei gleichzeitige T\u00f6ne auseinanderzuhalten, noch weniger also ihr gegenseitiges Verh\u00e4ltnis zu erfassen, der mag f\u00fcr den sinnlichen Reiz des Durdreiklanges empf\u00e4nglich sein, aber Harmoniegef\u00fchl d\u00fcrfen wir ihm nicht zuschreiben. Harmonie bedeutet allenthalben die Wohlgef\u00e4lligkeit wahrgenommener Verh\u00e4ltnisse, und wTer ein Verh\u00e4ltnis als solches erfassen will, mufs die Glieder unterscheiden.1 Um daher zu pr\u00fcfen, was der\n1 In diesem Sinne trennte ich bereits Tonpsychol. II, 528 und sonst \u00f6fters K lang gef \u00fchl und Harmoniegef\u00fchl.\nAuch bei einer \u201eHarmonie\u201c, d. h. einem wohlgef\u00e4lligen Mehrklang, hat , der, der die T\u00f6ne in keiner Weise unterscheidet, eben nur ein Klanggef\u00fchl, ganz in dem Sinne, wie es auch der Musikalische bei einem Einzelklange hat, solange er dessen Teilt\u00f6ne nicht unterscheidet.\nWenn neuerdings Brunswig (Das Vergleichen und die Relations* erkenntnis 1910) die These vertritt, dafs man ein Verh\u00e4ltnis wahrnehmen k\u00f6nne, w\u00e4hrend nur eines der beiden Glieder wahrgenommen werde, so will ich hierauf nicht eingehen: denn wenn auch nur ein Ton des Zweioder Dreiklanges f\u00fcr sich bemerkt wird, kann das Ganze nicht mehr als ungeteilte Einheit aufgefafst werden. \u00dcberhaupt aber ist die Wahrnehmung der einzelnen T\u00f6ne, d. h. das gesonderte Bemerken jedes von\n10*","page":147},{"file":"p0148.txt","language":"de","ocr_de":"148\nC. Stumpf.\n[LVIII. 353]\nunmittelbaren sinnlichen Wirkung, was der Vermittlung des musikalischen Denkens zuzuschreiben ist, mufs der Eindruck der Akkorde, wie ihn der in unserer Musik Erzogene und daf\u00fcr Empf\u00e4ngliche hat, verglichen werden mit dem Eindruck derselben Akkorde auf g\u00e4nzlich Unmusikalische, die nicht einmal imstande sind, zwei gleichzeitige gleichstarke T\u00f6ne unter gew\u00f6hnlichen Umst\u00e4nden mit Sicherheit voneinander zu unterscheiden. Wir brauchen also auch hier diese bei einigen Kritikern so \u00fcbel angeschriebene Menschenklasse. Noch wichtiger sind Angeh\u00f6rige anderer Kulturkreise, denen unser Akkordsystem ganz fremd ist, und Angeh\u00f6rige von Naturv\u00f6lkern.\nIn allen diesen Richtungen sind erst Anf\u00e4nge gemacht. Aber soviel l\u00e4fst sich schon jetzt sagen: Dur wird im allgemeinen merklich angenehmer als andere Zusammenkl\u00e4nge empfunden, Moll dagegen etwa dem \u00fcberm\u00e4fsigen Dreiklang und noch schlimmeren Diskorden gleichgestellt. Es kommt aber auch vor, dafs der \u00fcberm\u00e4fsige als angenehmster bezeichnet wird, dann Moll und zuletzt Dur folgen. Und es gibt endlich nicht ganz wenige, sonst durchaus gebildete, Personen, denen jede Art von Zusammenklang indifferent erscheint. Nimmt man noch dazu, dafs Quintenparallelen, die uns Musikalische bei sinnloser Anwendung nicht nur mifsf\u00e4llig, sondern auch sinnlich unangenehm, schmerzhafter wie irgendein Diskord ber\u00fchren k\u00f6nnen, mit auffallender Regelm\u00e4fsigkeit von unmusikalischen oder exotischen Subjekten positiv angenehm gefunden werden, so wird man zugeben, dafs hier nicht mit ganz einfachen Erkl\u00e4rungsgr\u00fcnden durchzukommen ist.\nDas wird aber auch durch die Analyse des musikalischen Bewufstseins selbst best\u00e4tigt. Man lege nur Personen, die in der klassischen Musik aufgewachsen sind, etwa folgende Reihen der\nihnen, und ihre blofse Unterscheidung, d. h. die unmittelbare (nicht durch sekund\u00e4re Merkmale vermittelte) Auffassung des Ganzen als einer Mehrheit von T\u00f6nen, wohl auseinanderzuhalten. Wenn ich die Finger meiner Hand ansehe, unterscheide ich sie voneinander, auch ohne einen davon oder jeden gesondert zu beachten. (Vgl. Tonpsych. I, 108; II, 4 ff.)\nMan kann dieses Beispiel im Hinblick auf unsere Frage noch weiterf\u00fchren. An den Anblick erhobener Schwurfinger kn\u00fcpft sich f\u00fcr uns (auch wenn sonst keine Veranlassung dazu ist) ein feierliches Gef\u00fchl, das ebenso seine empirischen Antezedentien hat wie das Harmoniegef\u00fchl. Aber die Bedingung ist auch hier, dafs die beiden Finger unterschieden und nicht etwa f\u00fcr einen gehalten werden.","page":148},{"file":"p0149.txt","language":"de","ocr_de":"[LVIIL 354]\nKonsonanz und Konkordanz.\n149\nsch\u00f6nsten, reinsten grofsen Terzen und Durdreikl\u00e4nge (meist sogar in erster Lage) vor:\nEs werden sich da Gef\u00fchle regen, die mit einem Fufstritt endigen k\u00f6nnen, wenn nicht starke Selbstbeherrschung entgegenwirkt, \u201eDie Querst\u00e4nde und verdeckten Parallelen sind schuld\u201c, wird man sagen. Richtig, und vielleicht wirken auch die geh\u00e4uften Tritonusschritte der Oberstimme mit. Aber Querst\u00e4nde, Parallelen, unmelodische Schritte haben mit Schwebungen, Zwischent\u00f6nen u. dgl. nichts zu tun. Da spielen eben musikalische Denkvorg\u00e4nge- irgendwie herein, entweder direkt oder in einer durch Zwischenglieder, denen die Psychologie nachgehen mufs, vermittelten Weise.\nDas N\u00e4mliche geht auch aus der bekannten Tatsache hervor, dafs umgekehrt die sch\u00e4rfsten und schwebungsreichsten dissonierenden Zusammenstellungen gleichzeitiger T\u00f6ne im musikalischen Zusammenh\u00e4nge nicht nur zul\u00e4ssig, sondern von s\u00fcfsem Wohllaut sein k\u00f6nnen. Es ist eben nicht der Tonbestand eines Akkords einschliefslich seiner Beit\u00f6ne das Entscheidende, sondern seine Bedeutung, seine Funktion im musikalischen System; und kommt er im Zusammenh\u00e4nge vor, so ist es entscheidend, ob er in allen seinen T\u00f6nen dieser seiner Funktion gem\u00e4fs eingef\u00fchrt; und weitergef\u00fchrt wird oder nicht.\nDie Unterscheidung des sinnlichen Wohlklanges (einer Gef\u00fchlsempfindung) und der intellektuell vermittelten Wohlgef\u00e4lligkeit (eines echten Gef\u00fchls) ist der erste Schritt zur L\u00f6sung der Schwierigkeiten. Aber er reicht noch nicht hin; sondern es mufs ein Einflufs des intellektuellen auf das sinnliche Moment hinzugenommen werden. Unterschiede des sinnlichen Wohlklanges, die von allem Einflufs intellektueller Funktionen, selbst der blofsen Unterscheidung der T\u00f6ne, unabh\u00e4ngig sind, gibt es bei Zusammenkl\u00e4ngen sicherlich. Aber sie sind relativ geringf\u00fcgig. Sonst h\u00e4tten sie auch wohl fr\u00fcher, vor allem im griechischen Altertum, zum Gebrauche von Akkorden gef\u00fchrt. Die intensive sinnliche Wirkung der Akkorde auf das","page":149},{"file":"p0150.txt","language":"de","ocr_de":"150\nC. Stumpf.\n[LVIII. 355]\ngegenw\u00e4rtige musikalische Ohr mufs ein Entwicklungsprodukt sein. Und zwar m\u00f6chte ich annehmen, dafs die auf dem musikalischen Denken innerhalb unseres Systems ruhende Wohlgef\u00e4lligkeit und Mifsf\u00e4lligkeit bestimmter Zusammenkl\u00e4nge im Laufe weniger Jahrhunderte eine R\u00fcckwirkung auf die sinnliche Annehmlichkeit und Widrigkeit ausge\u00fcbt hat, wodurch m\u00e4chtige Verst\u00e4rkungen, ja auch Verschiebungen in Hinsicht des Wohl-und Ubelklanges eingetreten sind. Dieser Einflufs wirkt jedoch nicht bei allen Individuen der sp\u00e4teren Generationen ann\u00e4hernd gleichm\u00e4fsig nach, sondern mit Gradunterschieden bis zu Null (musikalischer Atavismus).1 Allerdings tauchen hier die schwierigen Fragen nach der Vererbbarkeit erworbener Eigenschaften auf. Aber offenbar geh\u00f6rt gerade die in den Verhandlungen bisher nur wenig (z. B. von A. Weismann) beachtete Tatsachengruppe der musikalischen F\u00e4higkeiten und Gef\u00fchle zu den Erscheinungen, die dabei Ber\u00fccksichtigung verlangen.\nDiese kurzen Aphorismen \u00fcber die Gef\u00fchlsseite sollten keine Theorie sein. Es sollte nur angedeutet werden, wie sich die Beziehungen von Konsonanz\u2014Konkordanz, Empfinden\u2014 Denken, Wohlklang\u2014Wohlgef\u00e4lligkeit zueinander etwa gestalten werden, wenn man den Erscheinungen allseitig gerecht werden will. Und es sollte betont werden, dafs die Losung auch hier heifsen mufs: Erweiterung des Horizonts, Heranziehung der Geschichte, der V\u00f6lkerkunde, der vergleichenden Psychologie und Biologie. Weder die blofs akustischen und sinnespsychologischen Tatsachen noch das, was der routinierte Musiker heutiger Tage mit Stolz seine \u201eErfahrung\u201c nennt, sind gen\u00fcgend breite Grundlagen, wenn es sich um eine wirkliche L\u00f6sung der R\u00e4tsel der Tonkunst handelt.\n1 Vgl. auch die Bemerkungen in meiner Abhandlung \u201e\u00dcber Gef\u00fchlsempfindungen\u201c, Zeitschrift f. Psychol. 44, S. 44 ff.","page":150}],"identifier":"lit38499","issued":"1911","language":"de","pages":"116-150","startpages":"116","title":"Konsonanz und Konkordanz. Nebst Bemerkungen \u00fcber Wohlklang und Wohlgef\u00e4lligkeit musikalischer Zusammenkl\u00e4nge","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:57:10.377838+00:00"}