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{"created":"2022-01-31T15:15:31.496790+00:00","id":"lit38500","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 6: 151-165","fulltext":[{"file":"p0151.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX, 161]\n151\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\nVon\nC. Stumpf.\nZweiter Artikel.\nIn meiner Kritik von F. Kruegers Konsonanztheorie1 habe ich, genau seiner Darstellung folgend, die Merkmale auf-gez\u00e4hlt, die nach ihm den Unterschied von Konsonanz und Dissonanz einschliefslich ihrer Gradabstufungen bedingen. Unter diesen Merkmalen steht an erster Stelle die Unreinlichkeit, die bei dissonanten Intervallen dadurch entstehen soll, dafs von den 5 unter den Prim\u00e4rt\u00f6nen liegenden Differenzt\u00f6nen, die nach Krueger jeder Zusammenklang zweier einfacher T\u00f6ne liefert, die zwei tiefsten untereinander Schwebungen und Zwischent\u00f6ne bilden. Ich entwickelte dann, indem ich zun\u00e4chst die 5 Differenzt\u00f6ne als gegeben zugrunde legte, eine Reihe von Konsequenzen dieser Lehre, die mir mit den Tatsachen des musikalischen Geh\u00f6rs nicht vereinbar schienen. Meiner Kritik und den von Th. Lipps erhobenen Einw\u00e4nden hat Krueger eine umfangreiche Erwiderung in vier Abhandlungen gewidmet, die in eine weitere Durchf\u00fchrung seiner Lehre ausl\u00e4uft.2\nBereits zur Zeit meines Angriffes verschwieg ich dem geehrten Verfasser nicht, dafs ich von seinen Differenz t\u00f6nen aufser dem ersten und zweiten nichts beobachten k\u00f6nne. Ich setzte seine Aufstellungen, um die Konsequenzen zu pr\u00fcfen, als uneingeschr\u00e4nkt richtig voraus (,,als wahr unterstellen\u201c nennt dies der Jurist). Aber ich war weit davon entfernt, sie als\n1\tDiese Beitr\u00e4ge IV, S. 90 ff.\n2\tDie Theorie der Konsonanz. In Wundts Psychologischen Studien, Bd. I, II, IV, V.","page":151},{"file":"p0152.txt","language":"de","ocr_de":"152\nC. Stumpf.\n[LIX. 162]\nrichtig anzuerkennen. Inzwischen habe ich diese Frage nach allen Richtungen untersucht und die Ergebnisse ver\u00f6ffentlicht.1 Hiernach liefern einfache T\u00f6ne unter 4000 Schwingungen, also in der musikalisch gebrauchten Region, bei Intervallen von der kleinen Terz bis zur Oktave in der Tat von den KR\u00fcEGERschen Differenzt\u00f6nen nur die beiden T\u00f6ne h\u2014t und 21\u2014h, jenseits der Oktave nur h\u2014t. Es gibt ferner keine Zwischentonbildungen unter den beiden Differenz t\u00f6nen, auch keine Ablenkung der Differenzt\u00f6ne oder eines mit einem Differenzton kollidierenden Prim\u00e4rtones von ihrer berechneten H\u00f6he, es gibt keine Schwebungen verstimmter Intervalle einfacher T\u00f6ne, bei denen Differenzt\u00f6ne h\u00f6herer Ordnung im Spiele sein m\u00fcfsten: alles im vollen Widerspruche mit Kruegers Behauptungen und den Grundlagen seiner Theorie. Da ich diese Untersuchungen, die mit Hilfe meiner besten Mitbeobachter und unter Beachtung aller mir bekannten Fehlerquellen durchgef\u00fchrt wurden, f\u00fcr zuverl\u00e4ssig halten mufs, so ist damit meines Erachtens der Krueger-schen Konsonanztheorie ihrem zentralsten Teile nach der tats\u00e4chliche Boden entzogen.\nIn bezug auf das Vorkommen von Zwischent\u00f6nen bei Differenz t\u00f6nen m\u00f6chte ich diese Gelegenheit zu einem Nachtrage benutzen. Meine Untersuchungen bezogen sich in dieser Hinsicht nur auf die Differenzt\u00f6ne eines und desselben Tonpaares, wie sie von Krueger behauptet wurden. Inzwischen legte ich mir die Frage vor, ob nicht doch Zwischent\u00f6ne zu erzielen sein w\u00fcrden, wenn man durch zwei verschiedene Tonpaare Differenz-t\u00f6ne von geeignetem kleinen Abstand unter sich erzeugte. Dies scheint mir in der Tat der Fall zu sein. Wenn man z. B. die T\u00f6ne 500, 707, 902 in konstanter St\u00e4rke erklingen l\u00e4\u00dft, so h\u00f6rt man die Differenzt\u00f6ne 207 und 195 nicht blo\u00df stark rollen, sondern hat auch den Eindruck, da\u00df die Schwebungsmaxima auf einem dazwischenliegenden Tone stattfinden, Er schien mir in diesem Falle dem tieferen Differenztone erheblich n\u00e4her zu liegen, aber doch noch merklich von ihm verschieden. Besonders deutlich wird der Unterschied nach beiden Seiten, wenn man den Schwebungston durch abwechselndes Aussetzen eines der Prim\u00e4rt\u00f6ne 500 und 902 mit den beiden isolierten Differenzt\u00f6nen vergleicht. Die Erscheinung ist die n\u00e4mliche, wie wenn man 207 und 195 zusammen als Prim\u00e4rt\u00f6ne angibt. Die Vorbedingung ist immer, da\u00df intensive St\u00f6\u00dfe von nicht zu hoher Frequenz, in dieser Gegend am besten zwischen etwa 10 und 25, auf-\n1 Beobachtungen \u00fcber Kombinationst\u00f6ne. Diese Beitr\u00e4ge V, S. 1 ff. Eine ganz kurze Mitteilung bereits in den Sitzungsberichten der Berliner Akademie 1907, S. 1.","page":152},{"file":"p0153.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX. 163]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n153\ntreten. Sobald die schwebenden T\u00f6ne weiter auseinanderr\u00fccken, h\u00f6rt man keinen Zwischenton mehr, sondern nur die beiden schwebenden T\u00f6ne selbst.\nAus diesen Beobachtungen darf man aber nicht etwa schlie\u00dfen, da\u00df auch Schwebungen von Differenzt\u00f6nen eines und desselben Tonpaares mit Zwischentonbildung verkn\u00fcpft sein m\u00fcssen. Vielmehr wird eben die Entstehung eines Zwischentones an die Einwirkung zweier ihn erzeugenden objektiven Schallreize auf die Schnecke gebunden sein. Jedenfalls ist bei den wenigen Intervallen, wo die beiden Differenzt\u00f6ne eines einzigen Paares einfacher Prim\u00e4rt\u00f6ne unter sich oder mit einem von diesen Prim\u00e4rt\u00f6nen Schwebungen geben (bei der verstimmten Prime, Quinte und Oktave) keine Spur von Zwischen t\u00f6nen von mir beobachtet worden.\nDie obige positive Beobachtung liefert vielmehr nur wieder einen neuen Grund gegen die KRUEGERsche Theorie. Denn sie lehrt, da\u00df Zwischent\u00f6ne von Differenzt\u00f6nen, wo sie \u00fcberhaupt Vorkommen, nur bei ganz kleinen Intervallen dieser Differenzt\u00f6ne auf treten, und da\u00df Differenzen von 100 Schwingungen, die ich, um Krueger entgegenzukommen, in seinem ersten Artikel hypothetisch daf\u00fcr annahm, viel zu hoch gegriffen sind.\nUnter den in meiner Abhandlung \u00fcber Kombinationst\u00f6ne mitgeteilten Beobachtungen findet sich \u00fcbrigens noch eine weitere Tatsache, auf deren Unvertr\u00e4glichkeit mit Kruegers Konsonanztheorie mich Dr. W. K\u00f6hler aufmerksam gemacht hat: die subjektive Vertiefung einer Klangquelle bei Ann\u00e4herung des Ohres, welche in mittlerer Lage leicht einen halben Ton erreichen kann, ver\u00e4ndert nicht das geringste an der H\u00f6he der Kombinationst\u00f6ne (a. a. O. S. 106 ff.), w\u00e4hrend eine Konsonanz dadurch in eine Dissonanz, z.B. eine Quinte in einen Tritonus oder umgekehrt, \u00fcbergehen kann.\nIch benutze endlich die Gelegenheit, ein Versehen und zwei Druckfehler in jener Abhandlung richtigzustellen. Zu S. 92 Anm. : Nachtr\u00e4glich habe ich den von M. Meyer erw\u00e4hnten Interferenzversuch doch in meinem Protokoll aufgefunden. Zu S. 131: Statt ,,3.\u201c mu\u00df in den \u00dcberschrift stehen: ,,b)\u201c. Im Inhaltsverzeichnis (der Separata und der Beitr\u00e4ge V) ist dementsprechend auf der zweiten Seite Zeile 7 zu streichen.\nWenn ich trotzdem auf Kruegers Verteidigung gegen meine urspr\u00fcnglichen Einw\u00e4nde jetzt noch besonders eingehe, so geschieht es, weil ich kurz zeigen zu k\u00f6nnen hoffe, dafs die Hauptgrundlagen seiner Erwiderung erstlich ein MifsVerst\u00e4ndnis, zweitens eine irrige Behauptung sind, und weil ich an dem Mifs-verst\u00e4ndnis eine gewisse Schuld trage.\n1. Beginnen wir mit diesem. Ich war davon ausgegangen, dafs eine unzweifelhafte Dissonanz, 800 : 1100, ein zwischen Quarte und Quinte liegendes Intervall, nach Krueger zu den vollkommenen Konsonanzen geh\u00f6ren m\u00fcsse. Denn die 5 Differenzt\u00f6ne, die durch fortgesetzte Subtraktion herauskommen, 300, 500, 200, 100, 100, k\u00f6nnten unter sich und mit den Prim\u00e4rt\u00f6nen keine irgend merk-","page":153},{"file":"p0154.txt","language":"de","ocr_de":"154\nC. Stumpf.\n[LIXv 164]\nliehen Schwebungen und keine Zwischent\u00f6ne bilden. \u201eEine ausgesprochene Dissonanz w\u00fcrde also nach Kruegers Definition zu den vollkommenen Konsonanzen geh\u00f6ren. Dies ist nun aber nicht etwa ein einzelner Fall. Die Sache liegt ebenso bei 11 : 15, 13 : 18, 5:7 .... (folgen noch zahlreiche andere Verh\u00e4ltnisse). Die 5 Differenzt\u00f6ne liegen in allen diesen F\u00e4llen, wenn als Einheit 100 oder eine noch h\u00f6here Zahl gew\u00e4hlt wird, zu weit auseinander, um noch Schwebungen oder Zwischent\u00f6ne zu bilden.\u201c\nKrueger weist nun darauf hin, dafs unter den von mir aufgez\u00e4hlten Intervallen 1 nicht wenige seien, die zwischen konsonanten und dissonanten in der Mitte stehen, \u201eneutrale\u201c Intervalle, wie z. B. 5: 7. Immer wieder h\u00e4lt er mir vor, dafs ich im Gegensatz zu meinen eigenen fr\u00fcheren \u00c4ufserungen solche Intervalle als ausgesprochene Dissonanzen hinstelle.\nAber nichts lag mir ferner, als das Vorhandensein von \u00dcberg\u00e4ngen zu leugnen. Schwerlich hat irgend jemand so oft wie ich das Vorhandensein solcher \u00dcberg\u00e4nge betont, und die ausdr\u00fcckliche Bildung einer \u201eSiebener-Gruppe\u201c unter diesem Kamen geht, soviel ich weifs, gerade auf meinen Vorschlag zur\u00fcck.\nTonpsychologie II, 135, 154, 177, 178 ist in dieser Hinsicht vermutungsweise von 4:7, auch von 7:8, 6:7, 7:12 die Rede; bestimmter in der \u201eGeschichte des Konsonanzbegriffes\u201c (1891) S. 71 von 4 : 7 und 5 : 7,\n1 Von denen ich aber nicht, wie er V, 295 behauptet, am Ende meiner kleinen Abhandlung selbst mehr als die H\u00e4lfte zur\u00fcckziehe. Ich gebe an dieser Stelle der Vermutung (\u201eich glaube\u201c) Ausdruck, da\u00df Krueger seine Theorie auf die Verstimmungen der Konsonanzen zugeschnitten habe, d. h. auf die sehr kleinen Abweichungen von den einfachsten Zahlenverh\u00e4ltnissen, die sich ihrerseits nur durch gro\u00dfe Verh\u00e4ltniszahlen ausdr\u00fccken lassen. Er habe, meinte ich, zu wenig auf Dissonanzen mit kleineren Verh\u00e4ltniszahlen, zwischen etwa 6 und 20, R\u00fccksicht genommen. Keine Rede davon, da\u00df ich die \u00fcbrigen, vorher als Gegeninstanzen aufgez\u00e4hlten zur\u00fcckn\u00e4hme.\nNebenbei nannte ich die Dissonanzen mit kleineren Verh\u00e4ltniszahlen etwas drastisch \u201eehrliche Dissonanzen\u201c und meine jetzt noch, da\u00df Verh\u00e4ltnisse wie 5 : 9, 8 : 13 nicht einmal schlecht damit bezeichnet sind, weil sie vom H\u00f6rer nicht als blo\u00df falsch intonierte Oktaven, Quinten usf. gedacht werden. Aber ich nehme den Ausdruck gerne zur\u00fcck, wenn ich Kruegers Bedenken damit beschwichtigen kann, der bei einem von ihm selbst ebenso dissonant wie h\u00e4\u00dflich gefundenen Akkorde fragt: \u201eAber hat er das Pr\u00e4dikat der Unehrlichkeit verdient ?\u201c Ich will doch nicht gern von einem Akkord vor Gericht verklagt werden.","page":154},{"file":"p0155.txt","language":"de","ocr_de":"(LIX, 165]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n155\ngelegentlich der \u201eparaphonen\u201c Intervalle des Gaudentius. Dann in diesen Beitr\u00e4gen I, 67 (auch 6:7), 75, 82 (7:8 zweifelhaft), besonders aber II, 5ff., wo nach den Untersuchungen von Faist und von Meinong und Witasek die Bildung einer besonderen ,, Siebener- Gruppe*4 oder \u201e\u00dcbergangsgruppe\u201c bef\u00fcrwortet ist. Auch die gr\u00f6\u00dfere physische Annehmlich; keit der nat\u00fcrlichen gegen\u00fcber der musikalischen Septime, die ich allerdings mit ihrem Konsonanz Verh\u00e4ltnis nicht identifiziere, bezeichnete ich bereits 1893 als zweifellos. (Bemerkungen \u00fcber zwei akustische Apparate, Zeitschrift f. Psychol. 6, 40.) Es war mir l\u00e4ngst bekannt, da\u00df solche Ansichten au\u00dfer durch Helmholtz auch durch \u00c4u\u00dferungen \u00e4lterer Musiktheoretiker gest\u00fctzt werden, wie ich freilich andererseits auch die Gr\u00fcnde unterschreibe, welche bereits Chladni, ja schon 1577 Salinas f\u00fcr den Nichtgebrauch der nat\u00fcrlichen Septime in unserem Musiksystem anf\u00fchren.\nIch gebe sogar noch weitere Zwischenstufen der Verschmelzung, wie 4:9, 5:9, \u00fcberhaupt etwa eine \u201eNeuner-Gruppe\u201c, unbedenklich als m\u00f6glich zu. Aber da mit den Verschmelzungsgraden selbst auch die Abst\u00e4nde zwischen ihnen abnehmen, wie mir dies bereits Tonpsychologie II, 174 ff. aus den Beobachtungen hervorzugehen schien, so begreift sich, da\u00df das Urteil hier\u00fcber immer schwieriger imd unsicherer wird. Es ist damit wie mit einer rikoschettierenden Kugel: man sieht sie 2, 3, 4 mal auf schlagen, dann versagt entweder die Beobachtung oder das Aufschlagen hat wirklich ein Ende. Blo\u00df theoretische Konstruktionen haben nat\u00fcrlich hier keine Beweiskraft. Aber auch beobachtete Unterschiede der Annehmlichkeit oder der sonstigen Gef\u00fchlswirkung, die ich selbstverst\u00e4ndlich anerkenne, beweisen nicht entsprechende Unterschiede der Verschmelzungsgrade.\nWie sollte ich nun pl\u00f6tzlich dazu kommen, alles dieses zu verleugnen ? Es ist sonst nicht meine Art, in einem wesentlichen Punkte so nebenher einen Meinungswechsel zu vollziehen, ohne den Leser ausdr\u00fccklich darauf hinzuweisen.\nDer anscheinende Widerspruch l\u00f6st sich einfach. Wenn ich in der oben angezogenen Stelle sagte: \u201eDie Sache liegt ebenso bei 11: 15 usw., so meinte ich nicht, dafs diese \u00fcbrigen, weiter aufgez\u00e4hlten Intervalle s\u00e4mtlich ebenso wie 8:11 ausgesprochene Dissonanzen seien, sondern dafs sie ebenso wie 8:11 nach Kruegers Theorie vollkommene Konsonanzen sein m\u00fcfsten. S. 102 am Schl\u00fcsse der Anmerkung, wo ich darauf zur\u00fcckkomme, ist es auch ausdr\u00fccklich so formuliert: \u201eMan m\u00fcfste erwarten, dafs diese s\u00e4mtlichen Zwischenintervalle l\u00e4ngst als vollkommene Konsonanzen h\u00e4tten erkannt werden m\u00fcssen.\u201c Das ist der Kern und die Pointe meiner Beweisf\u00fchrung. Indem sich nun Kruegers Erwiderung","page":155},{"file":"p0156.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\n156\n[LIX. 166]\nauf die Widerlegung einer mir g\u00e4nzlich ferne liegenden Behauptung zuspitzt, verfehlt sie ihr Ziel.\nIm \u00fcbrigen h\u00e4tte es aller dieser sonstigen Intervalle \u00fcberhaupt nicht einmal bedurft. Denn eine Theorie ist schon durch ein einziges Beispiel, das sich ihr auf keine Weise einordnen l\u00e4fst, widerlegt. Und ich sehe nicht, wie sich Kruegers Theorie auch nur gegen das erste Beispiel 8:11 retten k\u00f6nnte, von dem Krueger selbst zugesteht, dafs es dissonanter sei, als die Intervalle mit einfacheren Schwingungs Verh\u00e4ltnissen, wenn er es auch nicht zu den entschiedenen Dissonanzen rechnen will (a. a. O. IV, 265). Hiermit will ich \u00fcbrigens wieder nicht etwa die \u00fcbrigen Beispiele ,,hinter die Front des Angriffes zur\u00fcckgezogen\u201c haben.\nIch gebe zu, da\u00df die Wendung: ,,Die Sache liegt ebenso\u201c einen Anhaltspunkt f\u00fcr das Mifsverst\u00e4ndnis geben konnte, und dafs ich darum eine gewisse Schuld an diesem Mifsverst\u00e4ndnis trage. Da jedoch Krueger meine fr\u00fcheren Ausf\u00fchrungen kennt und mit dankenswerter Gr\u00fcndlichkeit heranzieht, so h\u00e4tte ihm, wie ich meine, die richtige Interpretation des Satzes nicht entgehen sollen. Gerade der Umstand, dafs ich in diesem ganzen Zusammenh\u00e4nge die Siebener einfach mit anderen, selbst nach Krueger zweifellos dissonanten, Intervallen zusammen nenne, konnte ihn aufmerksam machen, dafs hier die Frage nicht hiefs: \u201eeben noch konsonant ?\u201c sondern :\t,, vollkommen\nkonsonant ?\u201c\nIn seiner letzten Abhandlung repliziert nun Krueger, nachdem ich brieflich auf das vorstehende Mifsverst\u00e4ndnis hingewiesen, in folgender Weise (a. a. O. V, 301, 313). Damit ein Intervall eine vollkommene Konsonanz sei, gen\u00fcge es nicht, dafs keine Schwebungen und Zwischent\u00f6ne in der Klangmasse Vorkommen. Es seien vielmehr Gradunterschiede der Konsonanz auch bedingt durch die Anzahl der in dem Tonkomplex vorhandenen Tonkomponenten, sowie durch andere von ihm bereits fr\u00fcher aufgez\u00e4hlte Merkmale. Bei der Oktave sei aufser den Prim\u00e4rt\u00f6nen (immer einfache T\u00f6ne vorausgesetzt) \u00fcberhaupt nichts weiter vorhanden, bei der Quinte nur ein Differenzton, in Avelchem alle durch die f\u00fcnffache Subtraktion berechneten zusammenfallen, bei der Quarte zwei, bei 8: 11 aber vier, und bei anderen \u201ekritischen Intervallen\u201c sogar f\u00fcnf gesonderte Differenzt\u00f6ne. Darum, und noch aus anderen Gr\u00fcnden, seien diese Intervalle nicht so vollkommen konsonant wie die Oktave.","page":156},{"file":"p0157.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX. 167]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n157\nEs ist nun nicht richtig, dafs ich auf diese Merkmale ,,mit keinem Worte\u201c (V, 301) eingegangen w\u00e4re. Nicht blofs habe ich sie gewissenhaft aufgez\u00e4hlt, sondern habe auch den Ausweg, den sie scheinbar offen lassen, erw\u00e4hnt, aber freilich beigef\u00fcgt, dafs nach Krueger\u2019s eigenen Worten ,,die prim\u00e4r gegebenen Tatsachen der Empfindung die notwendige Voraussetzung der sekund\u00e4ren Merkmale bilden\u201c, dafs also mit den prim\u00e4ren auch die sekund\u00e4ren Merkmale in Wegfall kommen (S. 101 meiner Abhandlung). Das Merkmal der gr\u00f6fseren ,,Bekanntheit\u201c vollkommenerer Konsonanzen, woran ich dies speziell erl\u00e4uterte, wird jetzt in Kruegers eigenem R\u00fcckblick a. a. O. nicht besonders erw\u00e4hnt. Auf die verschiedene Anzahl der Klangkomponenten aber, die er hier in erster Linie betont, bin ich damals nur darum nicht eingegangen, weil es mir, offen gestanden, allzu absurd schien, dafs eine gr\u00f6fsere Anzahl von gleichzeitigen T\u00f6nen an sich schon, ganz abgesehen von Schwebungen, unreinlichen Zwischent\u00f6nen oder anderen Eigenschaften, eine geringere Vollkommenheit oder eine Ann\u00e4herung an den Dissonanzeindruck in irgendeinem m\u00f6glichen Sinne bedeuten solle.\nEine blofse Vermehrung der T\u00f6ne, ohne Hinzutreten von Schwebungen u. dergl., findet z. B. statt, wenn ich zu einem gegebenen Ton c1 seine Oktaven C, c, c2, c3, e4 hinzuf\u00fcge. Niemand wird sagen, dafs der Eindruck sich verschlechtere oder \u00fcberhaupt in irgendeinem Sinne gegen die Dissonanz hin ver\u00e4ndere. Wenn nun bei der Quinte 200: 300 der Differenzton 100, bei der Quarte 300: 400 die Differenzt\u00f6ne 100 und 200, bei 8:11 sogar vier Differenzt\u00f6ne 100, 200, 300, 500, aber keinerlei Schwebungen und Zwischent\u00f6ne entstehen, wenn ferner, wie Krueger annimmt, die Verh\u00e4ltnisse einfacher T\u00f6ne untereinander nicht an sich schon konsonant oder dissonant, sondern durchaus neutral sind 1, wenn\n1 Krueger findet dies dadurch best\u00e4tigt, da\u00df die Prim\u00e4rt\u00f6ne sich\n\u201eleer und sozusagen neutral\u201c anh\u00f6ren, wenn man es mit Anstrengung erreiche, auf sie die Aufmerksamkeit zu konzentrieren, und da\u00df auch\nbei der blo\u00dfen Vorstellung der Prim\u00e4rt\u00f6ne ohne die Differenzt\u00f6ne in dem Ma\u00dfe, als sie eben gelinge, auch die konsonante oder dissonante Beschaffenheit des Komplexes schwinde (II, 236 f.), ja da\u00df auch schon bei\nimmer leiserer Tongebung zuletzt entschiedene Neutralit\u00e4t der Zusammenkl\u00e4nge eintrete (IV, 216) \u2014 was ich freilich alles in Abrede stelle und ihm auch schwerlich irgend ein Musiker zugeben wird. Was sollte z. B. mit dem wundervollen Zwischensatz der E\u00fcRYANTHEN-Ouvert\u00fcre (\u201epp possibile\u201c)","page":157},{"file":"p0158.txt","language":"de","ocr_de":"158\nC. Stumpf.\n[LIX. 168]\nalso ausschliefslich eine Vermehrung des Tonbestandes hier, wie bei den Oktaven, stattfindet : wie sollte sich der Eindruck verschlechtern oder \u00fcberhaupt gegen die Dissonanz hin ver\u00e4ndern und nicht vielmehr auch hier, soweit die Gef\u00fchlsseite in Betracht kommt, nur eine angenehmere F\u00fclle gewinnen ?\nDafs der Gef\u00fchlseindruck eines dissonanten Intervalles durch die dissonanten, der eines konsonanten durch die konsonanten Kombinationst\u00f6ne (und eventuell Obert\u00f6ne) mitbedingt ist, erkenne ich ohne weiteres an. Bei 8:11 m\u00f6chte ich z. B. selbst dem \u00fcblen Summationston 19, welchen Krueger gerade nicht heranzieht, einen gewissen Einflufs zuschreiben, aber auch den Verh\u00e4ltnissen, die zwischen den Differenzt\u00f6nen und dem h\u00f6heren Prim\u00e4rton bestehen (3 : 11, 5: 11); einen Einflufs freilich nicht auf die Konsonanz der Prim\u00e4rt\u00f6ne, aber auf die Gef\u00fchlsempfindungen und Gef\u00fchle, die mit dem ganzen Klangkomplex verbunden sein k\u00f6nnen. Ich leugne jedoch mit aller Entschiedenheit, dafs die Anzahl der T\u00f6ne als solche einen verschlechternden Einflufs hat. Es kommt nicht blofs darauf an, wieviele, sondern vor allen Dingen, welche T\u00f6ne aufser den Prim\u00e4r t\u00f6nen vorhanden sind. Plier liegt eben der Unterschied der beiden Theorien. Nach meiner Auffassung sind die durch die Differenzt\u00f6ne 3 und 5 hinzukommenden Verh\u00e4ltnisse 3:11 und 5 : 11 ebenso an sich dissonant wie es schon das Verh\u00e4ltnis der Prim\u00e4rt\u00f6ne 8:11 ist. Nach Krueger dagegen sind alle Verh\u00e4ltnisse, wenn sie nicht Schwebungen und Zwischent\u00f6ne bilden, neutral, und so ist nicht der geringste Grund, warum durch das Hinzutreten der T\u00f6ne 3, 5, 2, 1 eine Ann\u00e4herung an den Dissonanzeindruck entstehen soll.\nNur in einem Falle mag die wachsende Anzahl der Klangkomponenten in sich selbst dem H\u00f6rer verdriefslich werden : wenn ihm n\u00e4mlich gerade die Aufgabe gestellt w\u00e4re, sie zu z\u00e4hlen, oder wenn er spontan das Bed\u00fcrfnis f\u00fchlte, sie alle im einzelnen klar zu \u00fcberschauen, und es ihm nicht gelingen will. Darum pflegen exotische Individuen unserer Musik gegen\u00fcber so oft zu\nmit seiner feinen und reichen Akkordbewegung geschehen ? Nur das wird man best\u00e4tigt finden, da\u00df in Hinsicht k\u00fchner Modulationen viel mehr gewagt werden kann, wenn sie zugleich mit dynamischem Wechsel verbunden werden. Aber das hat rein \u00e4sthetische Gr\u00fcnde und gilt auch nicht nur beim pl\u00f6tzlichen ppo sondern ebenso beim pl\u00f6tzlichen ffo.","page":158},{"file":"p0159.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX. 169]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n159\nsagen: \u201eZu viel T\u00f6ne!\u201c Aber dais unser Konsonanzurteil gegen\u00fcber zwei einfachen Prim\u00e4rt\u00f6nen auf einem bewufsten Z\u00e4hlen oder auch nur auf einem Bed\u00fcrfnis der klaren \u00dcbersicht aller etwa vorhandenen sonstigen Komponenten beruhe, wird Krueger nicht behaupten wollen: lehrt er doch mit besonderem Nachdruck, dafs die Konsonanzwahrnehmung nicht einmal die Unterscheidung der beiden Prim\u00e4rt\u00f6ne voraussetze (II, 210 ff.). Und dafs etwa ein unbewufstes Z\u00e4hlen stattf\u00e4nde, wird er erst recht nicht verteidigen.\nAuch darin, dafs bei den Konsonanzen mehrere von den f\u00fcnf Differenz t\u00f6nen, indem sie zusammenfallen, sich verst\u00e4rken sollen (a. a. O.), kann ich keine Kettung finden. Denn wenn sie auch so stark wie die Prim\u00e4rt\u00f6ne w\u00fcrden: so h\u00e4tten wir eben mehrere unter sich gleich starke T\u00f6ne, also eine besondere F\u00fclle des Klanges, wodurch der Fall dem der f\u00fcnf Oktaven von c1 noch \u00e4hnlicher .wird. Man sieht, wie recht ich hatte, zu sagen: das Intervall 8:11 und die \u00fcbrigen angef\u00fchrten m\u00fcssen nach Krueger zu den vollkommenen Konsonanzen geh\u00f6ren.\nIch verzichte auch diesmal darauf, die \u00fcbrigen sekund\u00e4ren oder mittelbaren Kriterien, wie die sog. Verstimmungsprogression, zu besprechen. Wenn die prim\u00e4ren Kriterien g\u00e4nzlich versagen, wie in diesem und zahlreichen anderen F\u00e4llen, und wenn sie die Voraussetzung der sekund\u00e4ren sind, so ist, nach meinem Verst\u00e4nde wenigstens, der Theorie das Urteil gesprochen.\n2. Oben sprach ich noch von einer irrigen Behauptung als dem zweiten Fundament, auf welchem die Erwiderung Kruegers sich haupts\u00e4chlich aufbaue. Diese Behauptung betrifft die absolute Tonh\u00f6he, bis zu welcher nach Krueger der Unterschied von Konsonanz und Dissonanz sich noch unzweifelhaft geltend macht. Er meint, wenn auch eine scharfe Grenze sich \u00fcberhaupt nicht angeben und bestimmtere Angaben sich erst auf\nGrund besonderer Versuche machen lief sen, so seien doch jedenfalls f\u00fcr die Intervalle von relativ am wenigsten ausgepr\u00e4gtem Sonanzcharakter die Grenzen etwa die der menschlichen Stimme, d. h. nach den weitestgehenden Angaben (?) das Gebiet von E = 80 bis e2 3 = 1024 Schwingungen. ,,Nimmt man alle bisher bekannten Tatsachen zusammen, so darf man die obere Grenze einer unmittelbaren Konsonanzwahrnehmung f\u00fcr alle, auch","page":159},{"file":"p0160.txt","language":"de","ocr_de":"160\nC. Stumpf.\n[LIX. 170]\ndie unvollkommensten Konsonanzen1 * m. E. auf etwa 1050 Schwingungen ansetzen. Nur die vollkommensten Konsonanzen bzw. ihre gr\u00f6beren Verstimmungen sind wahrscheinlich noch erheblich weiter hinauf rein empfind ungsm\u00e4fsig ausreichend charakterisiert: die Oktave und ihre Oktavenerweiterungen, die Quinte und Duodezime.\u201c (IV, 234.) Jenseits etwa 3000 = gx aber werde jede Art der Konsonanzauffassung g\u00e4nzlich unsicher (das. 228).\nDieser Punkt h\u00e4ngt mit dem vorhergehenden insofern zusammen, als, je h\u00f6her man geht, um so mehr Ton Verh\u00e4ltnisse auf treten, bei denen die f\u00fcnf KmjEGERschen Differenzt\u00f6ne rech-nungsgem\u00e4fs herauskommen, ohne dafs Schwebungen oder Zwischent\u00f6ne m\u00f6glich w\u00e4ren. Nehmen wir z. B. 10: 17, so kommen die f\u00fcnf Differenzt\u00f6ne 7, 3, 4, 1, 2, und wenn man nun alle diese Verh\u00e4ltniszahlen durch Multiplikation etwa mit 100 in Schwingungszahlen verwandelt, so sind wieder Schwebungen und Zwischent\u00f6ne ausgeschlossen, da die am n\u00e4chsten beisammenliegenden T\u00f6ne 100, 200, 300, 400 keine Schwebungen, die in Betracht kommen k\u00f6nnten, und noch weniger irgendwelche Zwischen t\u00f6ne ergeben. Aber dann liegt der tiefere Prim\u00e4rton schon in der Gegend des c3. Daher wird die Frage, bis zu welcher Tonregion sich das unmittelbare Konsonanzurteil noch erstreckt, f\u00fcr Kruegers Theorie von erheblicher Bedeutung.\nWenn ich den von mir namentlich aufgez\u00e4hlten, mit Kruegers Theorie unvereinbaren Intervallen ein \u201eusw.\u201c beif\u00fcgte, welches Krueger besonders irritiert, ja wenn ich mit R\u00fccksicht auf die die Oktave \u00fcberschreitenden Intervalle sogar von unz\u00e4hligen anderen Kombinationen sprach, so beruhte dies zum Teil darauf, da\u00df ich eben diese H\u00f6hengrenze f\u00fcr Konsonanz und Dissonanz nicht anerkenne. Selbst die gro\u00dfe Septime 800 : 1500, die mit der kleinen Sekunde zusammen an der Spitze aller Dissonanzen steht, m\u00fc\u00dfte unter die vollkommenen Konsonanzen fallen, immer nat\u00fcrlich vorausgesetzt, da\u00df man einfache T\u00f6ne anwendet und so die Obertonschwebungen ausschlie\u00dft. Denn die Differenzt\u00f6ne 700, 100, 600, 500, 400 geben keine Schwebungen, die irgendwie unangenehm sein k\u00f6nnten, und Zwischentonbildungen sind v\u00f6llig ausgeschlossen. Sie m\u00fc\u00dfte geradezu konsonanter sein als die Oktave C : c.\nAu\u00dferdem hatte ich aber auch die Bestimmung, da\u00df zwischen den Differenzt\u00f6nen mindestens 100 Schwingungen liegen sollen, nur getroffen,\n1 Hier meint Krueger wohl : f\u00fcr alle ausser den vollkom-\nmensten; sonst w\u00e4re diese Formulierung angesichts des folgenden Satzes\nimverst\u00e4ndlich.","page":160},{"file":"p0161.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX. 171]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n161\num Krueger m\u00f6glichst weit entgegenzukommen. Das Maximum der Rauhigkeit liegt in den tieferen Oktaven, die f\u00fcr die Differenzt\u00f6ne von Prim\u00e4rt\u00f6nen mittlerer Region in Betracht kommen, bei 30\u201440 Schwingungen Differenz, wie Helmholtz richtig bemerkt. Schon bei 60 kann man die Rauhigkeit nicht mehr unangenehm nennen (geben doch bei jedem Einzelklang eines C mit Obert\u00f6nen s\u00e4mtliche Teilt\u00f6ne untereinander 64 Schwebungen; und einen solchen Klang oder auch einen durch 5 Oktaven durchgef\u00fchrten C Dur-Akkord pflegt man doch nicht als dissonant zu bezeichnen!). Ebensowenig kann man bei 60 Schwingungen Differenz einen Zwischenton beobachten (vgl. oben S. 152 f.). Daher darf der Abstand zwischen den einzelnen resultierenden Differenzt\u00f6nen bei Prim\u00e4rt\u00f6nen mittlerer Lage ruhig bis zu 60 Schwingungen verringert werden, ohne da\u00df sie in Kruegers Sinne dissonant wirken k\u00f6nnen; und daher kann man die Verh\u00e4ltniszahlen zweier Prim\u00e4rt\u00f6ne auch mit niedrigeren Koeffizienten als 100, bis etwa 60 herab, multiplizieren, um die absoluten Schwingungszahlen von T\u00f6nen zu erhalten, die auf ihre Konsonanz nach KRUEGERschen Prinzipien gepr\u00fcft werden k\u00f6nnen. Man kann dann sogar in den Regionen der absoluten T\u00f6nh\u00f6he verbleiben, denen Krueger selbst noch vollen Sonanzcharakter zuerkennt. Auch aus diesem Grunde mehren sich die Verh\u00e4ltnisse, welche nach Kruegers Theorie Konsonanzen sein m\u00fc\u00dften, ins Unbegrenzte.\nWer hat hier nun recht ? H\u00f6rt wirklich mit etwa c3 unsere unmittelbare Empfindung f\u00fcr die mittleren Konsonanzgrade und f\u00fcr Dissonanzen auf ? Klingen die Intervalle der dreigestrichenen Oktave alle au\u00dfer Oktave und Quinte neutral ? Davon kann m. E. nicht entfernt die Rede sein. Wir brauchen dazu nicht Laboratoriumsversuche, wie Krueger meint, obschon auch solche nicht so schwer sind 1 * : die praktische Musik hat l\u00e4ngst dar\u00fcber entschieden. Als ich die Frage einem gewifs kompetenten Kenner, meinem Kollegen Kretzschmar, vorlegte, antwortete er: ..Man mufs die Frage umkehren : Wo sind die Werke, in denen nicht Dissonanzen und Konsonanzen in der drei- und viergestrichenen Oktave Vorkommen, die thematisch wesentlich und wichtig sind und von jedem ge\u00fcbten Musiker ohne Schwierigkeit genau geh\u00f6rt werden ? Von Haydn ab enthalten die meisten Symphonien (erste Violine und Fl\u00f6te) und von Vivaldi ab die Solostimmen\n1 Wenn er sagt: Stimmgabeln \u00fcber 1000 Schwingungen, mechanisch\nerregt, klingen so rasch ab, da\u00df die Beurteilung der Konsonanz und Annehmlichkeit zunehmend schwierig, etwa von der Mitte der dreigestrichenen\nOktave ab ganz unsicher wird (IV, 240), so wird dies durch die wundervollen K\u00f6NiGSchen Resonanzgabeln c3 bis c4, die uns zur Verf\u00fcgung stehen widerlegt.\nStumpf, Beitr\u00e4ge VI.\n11","page":161},{"file":"p0162.txt","language":"de","ocr_de":"162\nC. Stumpf.\n[LIX. 172]\ns\u00e4mtlicher Violinkonzerte solche Stellen. Was noch beil\u00e4ufig, aber reich, im Klavier abf\u00e4llt, braucht nicht angezogen zu werden.\u201c\nIn letzterer Beziehung m\u00f6chte ich namentlich auf die sp\u00e4teren Klaviersonaten Beethovens verweisen. Man bl\u00e4ttere in op. 53 (gegen den Schlufs des letzten Satzes), op. 81a, op. 106, op. 109: \u00fcberall findet man Terzeng\u00e4nge und volle Akkorde, Konkorde wie Diskorde, in der dreigestrichenen Oktave; und zwar nicht etwa blofs zur Vervollst\u00e4ndigung tieferer Akkorde, sondern auch rein f\u00fcr sich oder h\u00f6chstens von einzelnen tiefen Ba\u00dft\u00f6nen gest\u00fctzt. Aus der neueren Orchestermusik wird jedem sogleich das Lohengrin-Vorspiel (Anfang und Schlufs) einfallen, auch Stellen der Tannh\u00e4user-Ouvert\u00fcre, sowie das Parsifal-Vorspiel {Part. S. 5, 9, 17). Aus dem Tannh\u00e4user vgl. auch S. 120, 313, 336 der Pariser Partitur. Weitere Beispiele: G\u00f6tterd\u00e4mmerung, Part. S. 2\u20143, 512\u2014513; Saint-Sa\u00ebns, Samson und Dalila, Akt II, Szene 3; Leoncavallo, Bajazzo, Akt I, Szene 2; Bizet, Carmen, Vorspiel des IV. Aktes, wo zwei Fl\u00f6ten und eine Oboe ohne Begleitung 6 Takte lang den Akkord a2 cis3 e3 aus-halten; R. Straufs, Zarathustra, am Schlufs, wo die Solovioline in der vier gestrichenen Oktave schwebt und von Fl\u00f6ten-Akkorden in der drei- und viergestrichenen Oktave getragen wird; Humperdinck, H\u00e4nsel und Gretel, Part. S. 264\u2014265, wo mehrere Takte lang Dreikl\u00e4nge verschiedener Art zwischen d3 und d4 einander folgen, also auch die Modulation als solche auf-gefafst werden mufs und mit Leichtigkeit aufgefafst wird. In vielen F\u00e4llen allerdings sind auch harmonische Unterlagen in der zweigestrichenen Oktave oder einzelne Bafst\u00f6ne dabei, in anderen aber schweben die dreigestrichenen Akkorde f\u00fcr sich allein dahin, und es wird der Wechsel von Konkorden und Diskorden doch genau so aufgefafst und verstanden wie in den tieferen Oktaven.\nJa, das Ohr ist sogar empfindlicher f\u00fcr ihre Reinheit: und dies h\u00e4ngt haupts\u00e4chlich wohl gerade an den Differenzt\u00f6nen, die bei so hohen Zusammenkl\u00e4ngen besonders stark auftreten und die geringsten Verstimmungen mit gro\u00dfen Ausweichungen anzeigen. Aus diesem Grunde sind solche Stellen, wie die in Carmen, in H\u00e4nsel und Gretel, von den Dirigenten gef\u00fcrchtet. Und es wird in diesem Umstande auch einer der Gr\u00fcnde liegen, warum Komponisten so hohe Akkorde ganz f\u00fcr sich allein nur selten und","page":162},{"file":"p0163.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX. 178]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n163\nnur in neuerer Zeit, wo man gerade das K\u00fchnere und Schwierigere sucht, gebrauchen. Also nicht wegen einer Unempfindlichkeit f\u00fcr ihre Konsonanz und Dissonanz, sondern ganz im Gegenteil wegen der \u00dcberempfindlichkeit f\u00fcr die Reinheit der Zusammenkl\u00e4nge in dieser Gegend. Es ist mir aufgefallen, und zwar in musterg\u00fcltigen Bayreuther Auff\u00fchrungen des Parsifal aus verschiedenen Jahren, dafs auch der Unterschied des sinnlichen Wohlklanges von Dur und Moll in diesen hohen Regionen merklicher wird als in tiefen; die Rauhigkeit der hohen Molldreikl\u00e4nge war nicht zu verkennen. Sie ist gleichfalls die Folge ihrer kollidierenden Differenzt\u00f6ne. Diesen, bereits von Helmholtz hervorgehobenen Einflufs habe ich stets (vgl. z. B. Zeitschr.f.Psychol 6, 37), auch noch in meiner Kritik der KRUEGERschen Lehre, anerkannt.\nEine Grenze gibt es freilich auch f\u00fcr die Konsonanz und Dissonanz, wenn wir noch weiter in die H\u00f6he gehen. Aber sie liegt nicht bei 1000, sondern bei etwa 4000 Schwingungen. Wenn sich Krueger auf einen Satz meiner Tonpsychologie (II, 325) beruft, wonach ,,Zusammenkl\u00e4nge in der dreigestrichenen Oktave in der Musik sehr wenig gebraucht werden\u201c, so war dies eben nicht vorsichtig genug ausgedr\u00fcckt. Man kann es vertreten, wenn nicht Zweikl\u00e4nge, sondern ganze Akkorde gemeint sind, und zwar solche, die nicht als Verdoppelungen tieferer Akkorde, sondern ganz frei f\u00fcr sich auftreten. Solche F\u00e4lle finden sich in der Tat relativ seifen. Aufserdem aber habe ich damals den Grund beigef\u00fcgt: ,,teils, weil sie leicht unangenehme Nebenwirkungen mit sich f\u00fchren, wie die heulenden Differenzt\u00f6ne beim geringsten Schwanken, teils, weil die h\u00f6her liegende Melodie gerne von den begleitenden Akkorden durch einigen Zwischenraum getrennt wird, wodurch diese in die mittlere oder tiefere Region verwiesen sind.\u201c An ein Versagen der Konsonanz und Dissonanz in der dreigestrichenen Oktave habe ich niemals gedacht.\nUmgekehrt aber mufs ich hier Krueger gegen sich selbst aufrufen. Die Konsequenz seiner Lehre verlangt, da\u00df Konsonanzunterschiede gerade in der drei- und viergestrichenen Oktave am kr\u00e4ftigsten und deutlichsten auftreten. Denn hier werden, wie eben erw\u00e4hnt, die Differenz t\u00f6ne von einer solchen St\u00e4rke, dafs man sie oft mit Prim\u00e4rt\u00f6nen verwechselt; und jenseits 4000 tritt sogar auch noch ein schwacher dritter Differenzton in Kruegers Sinne hinzu, der in den tieferen Lagen bei einfachen Prim\u00e4rt\u00f6nen nicht beobachtet werden kann.\n11*","page":163},{"file":"p0164.txt","language":"de","ocr_de":"164\nC. Stumpf.\n[LIX. 1741\nSo entsteht eine Zwickm\u00fchle: einerseits m\u00fcssen in Konsequenz der KRUEGERSchen Theorie Konsonanz und Dissonanz gerade in diesen hohen Regionen besonders ausgepr\u00e4gt sein, andererseits vermehrt sich hier immer mehr die Zahl der ,,kritischen Intervalle\u201c, die wiederum in Konsequenz der Theorie vollkommene Konsonanzen sein m\u00fcfsten, es aber nicht sind.\nIch denke dieser Theorie keine Zeit mehr zu widmen. Nicht wenige richtige oder beachtenswerte und anregende Einzelheiten in Kruegers Ausf\u00fchrungen erkenne ich nach wie vor an. Das Prinzip jedoch mufs ich f\u00fcr vollst\u00e4ndig verfehlt erachten, da eben bei Intervallen einfacher T\u00f6ne, die gr\u00f6fser sind als die kleine Terz, keine f\u00fcnf Differenzt\u00f6ne existieren, und da man, auch wenn sie vorausgesetzt werden, zu Folgerungen kommt, die den Tatsachen allerorts widersprechen.\nOder sollte es in der Psychologie noch andere allgemeine Vorschriften der Forschung geben als: gut zu beobachten und richtig zu schlie\u00dfen ? Fast m\u00f6chte man\u2019s denken, wenn man das Verzeichnis der \u00fcblen Gewohnheiten \u00fcberblickt, an denen mein wissenschaftliches Denken nach Krueger laboriert, als da sind : Objektivismus, Atomismus, abstrakter und atomistischer Dogmatismus, dogmatischer Absolutismus, dinghafte Hypostasierung, isolierende Verdinglichung, Identit\u00e4tsvorurteil, Monoideismus. Das m\u00f6gen nun wohl alles nur wechselnde Ausdr\u00fccke f\u00fcr einunddieselbe falsche Betrachtungsweise sein. Aber auch Intellektualismus, roher Empirismus und weitgehender Nativismus kommen hinzu, womit doch wohl wieder andere Fehler, sogar unter sich entgegengesetzte Fehler gemeint sein m\u00fcssen. Es fehlen nur noch Animismus und Fetischismus. In den drei letzten Abhandlungen Kruegers wimmelt es von solchen Anklagen, und wenn ich auch andererseits das damit kaum vereinbare Lob der ,.gewohnten Selbstkritik\u201c, das beste, das ich mir nur w\u00fcnschen mag, erhalte, und \u00fcberdies einen guten socius malorum in Helmholtz habe, der gleichfalls des dogmatischen Objektivismus schuldig befunden wird, so mufs ich mir doch wie jenes kranke Pferd erscheinen, an dem der Tierarzt alle vorkommenden Gebrechen zu demonstrieren in der Lage ist. Das alles, seitdem ich Kruegers Konsonanztheorie auf Grund doch nicht ganz ver\u00e4chtlicher, sachlicher Erw\u00e4gungen zu bek\u00e4mpfen mich gezwungen sah. Wie leicht k\u00f6nnte ich nun mit ,,Assozia-","page":164},{"file":"p0165.txt","language":"de","ocr_de":"[LIX. 175]\nDifferenzt\u00f6ne und Konsonanz.\n165\ntionismus, Assimilationismus, relativistischer Verfl\u00fcchtigung\u201c und dergleichen antworten. Aber was w\u00e4re gewonnen ? Gar nichts. Lassen wir dieses Zensurenwesen der spekulativen Metaphysik oder der Indexkongregation. Einer empirischen Wissenschaft, wie sie die experimentelle Psychologie zu sein w\u00fcnscht, steht es schlecht an. Je vorgeschrittener sie ist, um so weniger wird von solchen -ismen die Rede sein.\nIm \u00fcbrigen, um doch mit einem Worte wenigstens auf den ,, at omis tischen Dogmatismus\u201c einzugehen: wer vertritt denn heute \u00fcberhaupt noch die Anschauung des Seelenlebens als eines blo\u00dfen Aggregates gegeneinander selbst\u00e4ndiger Einzelakte ? Ich jedenfalls nicht. Aber in bezug auf die sinnlichen Erscheinungen gibt es allerdings eine Art von Atomistik, die man nicht so einfach als ,,falschen Atomismus\u201c brandmarken kann, sondern als einen m\u00f6glichen allgemeinen Gesichtspunkt f\u00fcr die Verkn\u00fcpfung beobachteter Tatsachen \u2014 dogmatisch braucht sie ja nicht aufzutreten \u2014 zulassen mufs. Schon anderw\u00e4rts bin ich, nicht ohne Hinblick auf Krueger, f\u00fcr Bewegungsfreiheit in diesen Dingen eingetreten; analog wie in der Physik Boltzmann und Planck sich gen\u00f6tigt sahen, ihre ,,dinglichen Hypostasierungen\u201c gegen Mach und Ostwald in Schutz zu nehmen. Ich verkenne nicht den Unterschied, dafs in der Physik blo\u00df Erschlossenes geradezu den eigentlichen Gegenstand der Forschung bildet, der Gegenstand der Psychologie hingegen uns, wenigstens in Beispielen, in der eigenen inneren Beobachtung direkt gegeben ist. Immerhin deckt sich der Gegenstand der Psychologie keineswegs mit diesen Einzelbeispielen. Und selbst im Gebiete der eigenen Sinnesempfindungen ist nicht alles direkt gegeben. Krueger selbst erschlofs seinen f\u00fcnften, und erschliefst jetzt mehr oder weniger bestimmt seinen sechsten Differenzton und noch einen anderen (Dm), die er bezeichnenderweise theoretische Differenzt\u00f6ne nennt. Ja schon den dritten und vierten hatte er wesentlich nur aus gewissen anderen Beobachtungen erschlossen. Auch hier ist also nur die Frage: Sind die Beobachtungen zuverl\u00e4ssig und sind die Schl\u00fcsse einwandfrei '? Wenn ja, so w\u00fcrde mich kein Standpunktsbedenken, auch keine eigene, fr\u00fcher vertretene Lehre hindern, seine ganze Konsonanztheorie anzuerkennen. Aber daran h\u00e4ngt es eben!","page":165}],"identifier":"lit38500","issued":"1911","language":"de","pages":"151-165","startpages":"151","title":"Differenzt\u00f6ne und Konsonanz. Zweiter Artikel","type":"Journal Article","volume":"6"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:15:31.496796+00:00"}