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Zur Psychophysik des Gesanges

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{"created":"2022-01-31T15:33:25.854966+00:00","id":"lit38501","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Guttman, Alfred","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 7: 21-36","fulltext":[{"file":"p0021.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIII. 161]\n21\nZur Psychophysik des Gesanges.\nVon\nAlfred Guttmann.1\nDas Ph\u00e4nomen des Gesanges unterliegt vielen Betrachtungsm\u00f6glichkeiten. Die Frage nach dem Ursprung des Gesanges h\u00e4ngt eng mit entwicklungsgeschichtlichen Problemen und mit der Frage nach dem Ursprung der Musik \u00fcberhaupt zusammen. Einer anderen Seite gilt die physiologische Betrachtung in den Bahnen, die Johannes M\u00fcllers geniale Experimente am Leichenkehlkopf gewiesen haben. Eine weitere Seite des Problems ist die \u00e4sthetische und musikpsychologische. Den Gesangsp\u00e4dagogen interessieren mehr die technischen Momente im Stimmapparat.\nZahlreiche Zusammenh\u00e4nge zwischen diesen verschiedenen Grenzgebieten bestehen. Als ein Manko vieler dahin zielender Betrachtungen und Untersuchungen habe ich es jedoch immer empfunden, dafs die meisten Autoren nur eins der Grenzgebiete genauer durch eigene Erfahrung kennen, \u00fcber das andere sich jedoch im allgemeinen nur oberfl\u00e4chlichere theoretische Kenntnisse verschafft haben : die Musik\u00e4sthetiker kennen die Physiologie der Stimme nicht, den Physiologen gehen musikgeschichtliche und gesangstechnische Kenntnisse ab, den P\u00e4dagogen fehlt die feinere Kenntnis des Apparates, mit dem sie arbeiten. Da ich selber \u00fcber mehr als 20 j\u00e4hrige praktische Erfahrungen auf gesangstechnischem Gebiete \u2014 als S\u00e4nger sowohl wie als Dozent \u2014 verf\u00fcge und andererseits mich \u00fcber ein Dezennium mit musikwissenschaftlichen und musikgeschichtlichen Studien sowie psychologischen und physiologischen Untersuchungen \u00fcber einige dieser Fragen besch\u00e4ftigt habe, m\u00f6chte ich nun hier auf Zusammenh\u00e4nge zwischen diesen\n1 .Nach einem Vortrag auf dem V. Kongrefs f\u00fcr experimentelle Psychologie (Berlin, 1912).","page":21},{"file":"p0022.txt","language":"de","ocr_de":"22\nAlfred Guttmann.\n[LXIII. 162]\nGrenzgebieten hinweisen, einige prinzipielle methodologische und begriffliche Unterscheidungen machen und f\u00fcr einige neuere sowie eigene experimentelle Untersuchungen Nutzanwendungen ziehen.\nDas Bedenkliche in vielen Untersuchungen \u00fcber den Gesang beruht nicht zum geringsten in eben dieser Einseitigkeit, mit der solche Fragen behandelt zu werden pflegen ; das zeigt sich u. a. in der Gegens\u00e4tzlichkeit, mit der zwei Hauptgruppen von Autoren sich gegen\u00fcberstehen : hier die aus\u00fcbenden K\u00fcnstler, die S\u00e4nger und Lehrer, dort die untersuchenden Wissenschaftler, in erster Linie die, zu denen die K\u00fcnstler am h\u00e4ufigsten in Beziehung treten, die Hals\u00e4rzte, dann \u2014 seltener \u2014 die Physiologen. Die ersteren fassen den Gesang als klangliches Gesamtph\u00e4nomen auf und suchen ihn mittels geschulten Geh\u00f6res zu definieren, sie machen ihre Beobachtungen zun\u00e4chst am eigenen Lehrer, dann aber in der Hauptsache an sich selbst, ehe sie ihre Erfahrungen und Theorien an Sch\u00fclern ausprobieren. Die anderen hingegen untersuchen fast aus-schliefslich Versuchspersonen, an denen sie meist durch die ihnen naheliegenden Experimente und mittels Betrachtung der Stimmlippent\u00e4tigkeit im Kehlkopfspiegel ihre Beobachtungen machen ; an sich selbst solche Studien vorzunehmen, hindert sie vor allem der Mangel an technischer Ausbildung auf gesanglichem Gebiete. Beide Methoden haben ihre Nachteile : die erste darum, weil sie einen v\u00f6llig unkontrollierbaren Faktor in Rechnung stellt, die Beobachtung der eigenen Stimme. Kein Mensch kann sich eine Vorstellung davon machen, wie seine eigene Stimme f\u00fcr alle \u00fcbrigen H\u00f6rer klingt. Diese h\u00f6ren die Stimme n\u00e4mlich nur mittels der Luftleitung, der Singende selbst h\u00f6rt sich zwar auch durch die Luftleitung, aber aufserdem durch die Knochenleitung seines eigenen Sch\u00e4dels, wo ja das perzipierende Ohr in n\u00e4chster Nachbarschaft des tongebenden Organs liegt. Ein altes, einfaches Experiment, das recht unbekannt ist, sei hier zur Demonstration herangezogen. Wenn man einen S\u00e4nger einen schallleitenden Gegenstand, beispielsweise ein Holzlineal, zwischen die Z\u00e4hne nehmen l\u00e4fst, selbst in das andere Ende des Lineals einbeifst und den S\u00e4nger einen Ton singen l\u00e4fst, so bemerkt man mit \u00dcberraschung, dafs der Ton ganz anders klingt, als","page":22},{"file":"p0023.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIII. 163J\tZur Psychophysik des Gesanges.\t23\nwenn man den S\u00e4nger ohne jene leitende Verbindung h\u00f6rt. Wie seine Stimme uns jetzt vernehmlich ist, wo sie durch Luft und Knochenleitung uns zugef\u00fchrt wird, so h\u00f6rt sich der S\u00e4nger selber. Aus diesem Experiment k\u00f6nnen wir also erkennen, wie abweichend bei einem Individuum die eigene Vorstellung vom Klange seiner Stimme von dem f\u00fcr Andere h\u00f6rbaren Klang der Stimme ist.1 Psychologisch wichtig ist ferner, dafs bei der Beobachtung der eigenen Stimme meist das subjektiv Auff\u00e4llige im Vordergrund der Aufmerksamkeit steht, z. B. die Vibrationen des Kopfes, der Lippen und besonders des Brustkorbes. Diese sind aber gesangsphysiologisch irrelevant. Charakteristisch ist jedoch, dafs der Ausdruck \u201eBruststimme\u201c gerade von diesen subjektiv auff\u00e4lligen Vibrationen im Brustkasten herr\u00fchrt, w\u00e4hrend in der Tat die entsprechende Art der Stimmgebung auf physiologisch wesentlich anderen Momenten, n\u00e4mlich dem Schwingungsmodus der Stimmlippen beruht. Auch die Muskel- und Gelenkempfindungen, die vom Singorgan ausgehen, f\u00fchren v\u00f6llig irre ; falsche Muskelinnervationen k\u00f6nnen allerdings manchmal einen richtigen Endeffekt bewirken, weil sie zugleich mit jenen unrichtig innervierten Muskeln andere Muskelgruppen durch Mitbewegung richtig einstellen. Schliefslieh fehlen der Selbstbeobachtung die messenden, quantitativen Methoden. Auf der anderen Seite sind die Untersuchungsmethoden der Medizin bedenklich, weil sie durch Spiegel, Kopfhalter und andere Maschinen die Versuchspersonen beunruhigen und sie oft dazu treiben, unbewufst gerade das zu unterlassen, was f\u00fcr ihre Art des Singens das Wesentliche ist. Daher hat die stroboskopische Methode, welche mittels eines Kehlkopfspiegels und eines Stroboskops erlaubt, die Stimmb\u00e4nder w\u00e4hrend der Bewegung in langsamer Scheinbewegung oder in einer scheinbaren Ruhestellung genau zu beobachten und zu studieren, leider f\u00fcr viele gesangstechnische Probleme, bei denen man\n1 Einen Ausweg k\u00f6nnte das Grammophon resp. der Phonograph bieten, insofern er jedem S\u00e4nger erm\u00f6glichte, seine eigene Stimme allein durch Luftleitung zu h\u00f6ren. Leider aber f\u00e4lscht dieser Apparat den Klang mancher Stimmen ganz erheblich; auch gibt er keinen Zischlaut wieder. Genaueres dar\u00fcber auf S. 25.","page":23},{"file":"p0024.txt","language":"de","ocr_de":"24\nAlfred Guttmann.\n[LXIII. 164]\nauf sie gerechnet hatte, versagt. Besser als diese Methoden zur Registrierung der T\u00e4tigkeit der Stimmlippen selbst sind die Methoden zur Registrierung des akustischen Effektes ihrer Funktion. In erster Linie die Photographie der von den Stimmlippen in Bewegung gesetzten Luft \u2014 wobei man allerdings die physikalischen Fehlerquellen (Obert\u00f6ne, Resonanz der benutzten Trichter, Eigent\u00f6ne der verwendeten Membran usw.) genau kennen mufs, um sie zu vermeiden. Eine dritte prinzipielle und grofse Schwierigkeit liegt darin, dafs Experimentator und S\u00e4nger oft zwei verschiedene Sprachen sprechen, sobald sie von den Eigenschaften der Stimme reden. Wer die Literatur \u00fcber die Frage der \u201eRegister\u201c kennt oder einmal einem wissenschaftlichen Kongrefs beigewohnt hat, in dem diese beiden Richtungen miteinander debattierten, weifs, dafs die Verst\u00e4ndigung \u00fcber solche Fragen zwischen Vertretern der beiden Grenzgebiete fast so schwer ist wie beim Turmbau zu Babel. Die Physiologen differieren unter sich recht erheblich bez\u00fcglich der Terminologie in einigen der am h\u00e4ufigsten diskutierten Fragen. Die Gesangsschulen aber haben fast jede eine eigene, meist komplizierte und nur dem Eingeweihten verst\u00e4ndliche Geheim spr\u00e4che. Den Stimmphysiologen interessiert sodann in erster Linie der Apparat, mit dem T\u00f6ne produziert werden sollen, er studiert seinen Bau, sein Funktionieren im einzelnen, das In einander greif en der Teilfunktionen, die Abh\u00e4ngigkeit von Innervationen, die Genauigkeit, er analysiert die experimentell gewonnenen Klangkurven usw. \u2014, was aber dar\u00fcber hinaus in das Bereich der Musik f\u00fchrt, liegt seiner Betrachtungsweise fern. Den S\u00e4nger dagegen interessiert vor allem das Material, das er mit diesem Apparat verarbeiten will, die Gesangsmusik; die Handhabung des Stimmapparates glaubt er, auch ohne gr\u00fcndliche Kenntnis seines Baues und seiner Funktionen, mittels einiger in mehr oder weniger kurzer Zeit zu erlernender Kunstgriffe bewerkstelligen zu k\u00f6nnen. Demgegen\u00fcber meine ich, dafs nur der S\u00e4nger oder Lehrer hier mitreden darf, der mehr ist als ein solcher auf wenige Kniffe dressierter Besitzer eines wohlgebauten und instinktiv gut funktionierenden Singorgans. Andererseits kennt ein Experimentator, der weiter nichts kann, als seiner Versuchsperson nur ein paar T\u00f6ne mehr oder weniger sch\u00f6n zum Nachsingen","page":24},{"file":"p0025.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIII. 165]\nZur Psychophysik des Gesanges.\n25\nintonieren, die Fragen \u00fcberhaupt nicht, die f\u00fcr den eigentlichen Gesang in Betracht kommen. Wer nicht eingehende gesangstechnische Studien betrieben hat, keine Kenntnis der Gesangs- und Musikliteratur und ihrer Geschichte besitzt und in der musikpsychologischen Betrachtungsweise unerfahren ist, steht trotz gr\u00fcndlichster anatomisch-physiologischer Durchbildung den Problemen des Gesanges, ja auch dem, was das Wesentliche in der Stimme seiner Versuchsperson sein kann, fremd und ahnungslos gegen\u00fcber. Er weifs gar nicht, dals die Art, wie ein Kunsts\u00e4nger Atem holt, den Ton ansetzt, an- und abschwellen l\u00e4fst, phrasiert, legato oder staccato singt, dynamisch und rhythmisch aufbaut, Wortakzente gibt, den Klang dunkel oder hell f\u00e4rbt, offen oder gedeckt singt, wie er hier den weichen Einsatz, dort den Coup de glotte bevorzugt \u2014 dafs dies alles und vieles andere mehr erst die Kultur des Gesanges wie des K\u00fcnstlers \u00fcberhaupt ausmacht, die nur bei intensiver Besch\u00e4ftigung mit Musik \u2014 im weitesten Sinne dieses Wortes \u2014 erw\u00e4chst. Das Wesentliche im Gesang entzieht sich aber v\u00f6llig solchen primitiven Methoden. So fafst der Musiklaie oft als einen Fehler des Organs auf, was, vom S\u00e4nger nur an einer Stelle absichtlich angewendet, k\u00fcnstlerisch durchaus richtig und zweckm\u00e4fsig ist. Die experimentelle Wissenschaft kann heute noch keineswegs \u201eden Gesang\u201c untersuchen, sie mufs sich bescheiden, einen Gesangston oder mehrere T\u00f6ne (Kl\u00e4nge) zu untersuchen und in der Deutung dieser Befunde alle jene erw\u00e4hnten Grenzdisziplinen heranzuziehen. Aber auf der anderen Seite kommt man, solange nicht eine einwandfreie Methode zur objektiven Wiedergabe der menschlichen Stimme vorhanden ist, mit der Methode, den ganzen Komplex durch reine Selbstbeobachtung ohne Messung zu analysieren, auch nicht weit. Die phono-graphischen oder grammophonischen Methoden sind zurzeit noch weit entfernt von dieser Vervollkommnung. Einmal geben sie, wie erw\u00e4hnt, gewisse Bestandteile der Sprache, so die Zischlaute, \u00fcberhaupt nicht, andere entstellt wieder. Ferner f\u00e4lschen sie den Klangcharakter vieler Stimmen v\u00f6llig. So sind fast alle Frauenstimmen \u201enicht geeignet\u201c f\u00fcr solche Aufnahmen. Eine Tenorstimme, wie die Carusos, ist gl\u00e4nzend f\u00fcr die Wiedergabe geeignet, eine andere, wie die von Ernst","page":25},{"file":"p0026.txt","language":"de","ocr_de":"26\nAlfred G-uttmann.\n[LXII1. 166]\nKraus, durchaus nicht. Eine und dieselbe tiefere M\u00e4nnerstimme kann in der einen Aufnahme als knarrender Bariton, in der anderen als sogenannter \u201eschwarzer Bafs\u201c erscheinen. 1\nDie beiden Untersuchungsarten arbeiten also von zwei Seiten her an der Durchbohrung eines Tunnels, die eine schon seit etwa dreihundert Jahren, die andere seit einem knappen Menschenalter. Beide sind noch weit von jener Stelle entfernt, wo sie sich einmal begegnen werden. Ich m\u00f6chte das an zwei der wichtigsten Streitfragen illustrieren, an der \u201eStimmf\u00fchrung\u201c und der \u201eRegister\u201c-Frage,\nDer Naturs\u00e4nger wird meist zuerst gelehrt, wTie er die Stimme zu \u201ef\u00fchren\u201c hat. Er soll den richtigen Ansatz lernen, damit der Ton \u201esitzt\u201c und infolge dieses richtigen Sitzens \u201etr\u00e4gt\u201c. Nur die Stimme, die richtig \u201egef\u00fchrt\u201c ist, leistet in wirklicher (oder scheinbarer) M\u00fchelosigkeit dauernd Gutes. Auch kleine Stimmen, wenn sie nur richtig sitzen, tragen, d. h. reichen auch ohne wesentliche Anstrengung des S\u00e4ngers f\u00fcr grofse R\u00e4ume. Es beruht darauf die f\u00fcr Laien so auff\u00e4llige Erscheinung, dafs vielfach Stimmen, die im Zimmer den Eindruck enormer St\u00e4rke hervorrufen, im Saal wirkungslos verhallen, w\u00e4hrend h\u00e4ufig gut geschulte, richtig sitzende kleine Stimmen in gr\u00f6fseren R\u00e4umen eher an Kraft zu gewinnen, als einzub\u00fcfsen scheinen. Diese \u201eF\u00fchrung\u201c bezweckt die Entlastung der zarten mem-bran\u00f6sen Stimmlippen durch die Ausnutzung der Resonanzr\u00e4ume oberhalb des Kehlkopfes, die mit dem zusammenfassenden Namen \u201eAnsatzrohr\u201c bezeichnet werden. Das Prinzip der F\u00fchrung ist, wie gesagt, empirisch l\u00e4ngst gefunden, die Schulen differieren nur \u00fcber die Wege, die zu diesem Ziel f\u00fchren, und \u00fcber die Theorie.\nWieviel Instinktives bei dem Auffinden dieses Prinzips im Spiele ist, illustriere ein Hinweis tierpsychologischer Art. Eine Reihe von\n1 Celli sind eigentlich nur am Glissando von Holzblasinstrumenten zu unterscheiden, Geigen eignen sich \u00fcberhaupt nicht. Die im Handel befindlichen Geigenaufnahmen sind von eigens konstruierten Instrumenten gewonnen, wo die Stelle des h\u00f6lzernen Geigenk\u00f6rpers eine Metallplatte vertritt. Die Phantasien, die man vor etwa 10 Jahren an die Verwertung der \u201ePhotophonographie\u201c kn\u00fcpfte (mit denen ein czeehischer Ingenieur unkritische K\u00f6pfe bluffte) als ob man dann den Ton von Joachims Geige verewigen k\u00f6nne, sind also noch weit von ihrer Erf\u00fcllung entfernt.","page":26},{"file":"p0027.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIII. 167]\nZur Psychophysik des Gesanges.\n27\nV\u00f6geln (Enten, St\u00f6rehe u. a.) haben in der Luftr\u00f6hre einen recht grofsen sackartigen Resonanzraum. Wenn ihr Hals gestreckt ist, wird dieser Resonanzraum durch Abknickung versperrt. Wollen sie ihn zur Verst\u00e4rkung des Tones benutzen, so m\u00fcssen sie den Hals S-f\u00f6rmig weit zur\u00fcckbiegen. In der Tat zeigt die Beobachtung, dafs diese Arten, wenn sie sich vernehmlich machen wollen, sei es durch Schnattern, sei es durch Klappern, den Kopf in dieser Weise zur\u00fccklegen.\nGegen die Auffassung von der F\u00fchrungsm\u00f6glichkeit der Stimme macht neuerdings die Theorie geltend, dafs dies physikalisch unm\u00f6glich sei. Ein Anschl\u00e4gen resp. Reflektiertwerden der Tonwellen innerhalb des Resonanzraumes des Kopfes finde darum nicht statt, weil die Tonwellen, die im Bereich der menschlichen Stimme liegen, viel zu lang seien. Es scheint mir, dafs die empirische Beobachtung, obgleich dies Argument physikalisch v\u00f6llig richtig und unwiderleglich ist, doch im Recht sei, und zwar aus psychologischen Gr\u00fcnden. Wenn der S\u00e4nger sich n\u00e4mlich vorstellt, dafs er den Ton an eine bestimmte Stelle im Resonanzraum des Kopfes f\u00fchrt \u2014 ob er diese an den harten Gaumen, an die Stirn, an die Z\u00e4hne lokalisiert, ist gleichg\u00fcltig \u2014, so macht er v\u00f6llig unbewufst Mitbewegungen in jenen Muskeln, die normalerweise den Resonanzraum verengern oder erweitern. Dabei stellt sich nun sein Kehlkopf tief, die enorme Muskelmasse der Zunge legt sich flach, das Gaumensegel hebt sich \u00e4hnlich wie beim G\u00e4hnen, wodurch die Verbindung mit der gr\u00f6fsten Resonanzh\u00f6hle, dem Nasenraum und der Nase, hergestellt wird, die Lippenmuskulatur und damit ein Teil der Wangenmuskulatur schiebt sich vor, die Nasenfl\u00fcgel bl\u00e4hen sich. Und so ist der Weg f\u00fcr die Resonanz aller jener ad maximum dilatierten H\u00f6hlen frei.1 Diese psychologisch bedingte Tatsache, dafs die Ablenkung der Aufmerksamkeit von bestimmten Muskelgruppen, deren T\u00e4tigkeit sonst automatisch im Unbewufsten abl\u00e4uft, diese zweck-m\u00e4fsig funktionieren l\u00e4fst, dafs hingegen jedes Bewufstwerden der Muskelarbeit diese erheblich st\u00f6rt, erkl\u00e4rt uns, warum die indirekte Methode hier solche Erfolge gezeitigt hat. Ge-\n1 N\u00e4heres dar\u00fcber bei M. Giesswein, \u00dcber die \u201eResonanz\u201c der Mundh\u00f6hle und der Nasenr\u00e4ume, im besonderen der Nebenh\u00f6hlen der Nase. Beitr\u00e4ge z. Anat., Physiol., Pathol, u. Therapie des Ohres, der Nase u. des Halses. Hrsg, von Passow u. K. L. Schaefer. 1911. Berlin, S. Karger.","page":27},{"file":"p0028.txt","language":"de","ocr_de":"28\nAlfred Guttmann.\n[LXIIL 168]\nn\u00fcgt schon das Heben eines Kehlkopfspiegels in der Hand des Arztes, um den Patienten zu veranlassen, seine ruhig liegende Zunge zusammenzukrampfen und damit den Weg zu versperren, so kann man sich vorstellen, wie eine p\u00e4dagogische Vorschrift, die die Aufmerksamkeit des S\u00e4ngers immer und immer wieder speziell auf dies Organ lokalisiert, die Innervation dieser Muskulatur beg\u00fcnstigen mufs, deren Folge eben eine Verengerung des Resonanzraumes ist.\nSolche Mitbewegungen, die unbeabsichtigt bei der Ablenkung der Aufmerksamkeit auftreten, sind p\u00e4dagogisch aufserordentlich wichtig! Sie sind die Ursache der F\u00fchrung der Stimme zur Resonanz. Freilich darf man keine ganz scharfe Trennung der beiden Begriffe \u201ebewufst\u201c und \u201eunbewufst\u201c vornehmen. Die breite Zone des Halbbe wursten besteht auch hier. So kommt schliefslich der verst\u00e4ndnisvolle Sch\u00fcler, der urspr\u00fcnglich v\u00f6llig unbewufst seine Muskulatur im Resonanzraum eingestellt hatte, dazu, gewisse Vorstellungen und Empfindungen von der Einstellung seiner Muskeln, wie sie die beste Resonanz seiner Stimme herbeif\u00fchrt, zu bekommen. In dem Mafse, wie er bei zunehmender Erkenntnis dieser Muskeiein-stellungen sie beherrschen lernt, gelangt er schliefslich zu einer ganz bewufsten Herrschaft \u00fcber diese Muskulatur, die dann im letzten Stadium der vollendeten Stimmbildung wieder automatisch wird. Ich m\u00f6chte aber in dieser Erkl\u00e4rung der urspr\u00fcnglich unbewufsten Mitbewegungen nicht eine Erkl\u00e4rung aller gesanglichen Ph\u00e4nomene sehen, wie das z. B. Felix Keueger 1 gelegentlich seiner Besprechung des Buches von Rutz 2 tut. Rutz nimmt n\u00e4mlich an, das Wesentliche der Stimme eines S\u00e4ngers liege in der Einstellung seiner Rumpfmuskulatur, keineswegs aber im Bau und der Funktion der Stimmlippen und des Ansatzrohres \u2014 ja mehr noch, das Wesen der Gesangskompositionen irgendeines Meisters oder einer grofsen Gruppe von Meistern des Tones (wie auch des Wortes), beruhe auf solchen gleichartigen\n1\tF. Keueger, Mitbewegungen beim Singen, Sprechen und H\u00f6ren. Zeitschr. d. intern. Musikgesellschaft. Leipzig, Breitkopf u. H\u00e4rtel. 1910.\n2\t0. Rutz, Neue Entdeckungen von der menschlichen Stimme. M\u00f6nchen, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. 1908.","page":28},{"file":"p0029.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIII. 169]\nZur Psychophysik des Gesanges.\n29\nRumpfmuskeleinsteihingen. Bach sei eben nur mit einer bestimmten Bauchmuskelhaltung zu singen, Bach-S\u00e4nger sei also nur der, der eben diese Haltung instinktiv oder bewufst einnehme. So g\u00e4be es geborene Bach-S\u00e4nger, Wagner-S\u00e4nger, Schubert-S\u00e4nger eben infolge jener Rumpfmuskelhaltungen. Diese unterscheidet er in drei Gruppen mit je zwei Unterabteilungen. Die B\u00fccher von Rutz 1, auf die hier n\u00e4her einzugehen nicht der Platz ist, haben viel Aufsehen auch in Psychologenkreisen erregt. W\u00e4hrend auf der einen Seite grofse Kreise, besonders aus dem Lager der Philologen, ihm bedingungslos zustimmten, haben besonders naturwissenschaftliche Kreise gegen die Grundlagen seiner Theorie, als mit den physikalischen und physiologischen Gesetzen unvereinbar, lebhaft widersprochen. Gegen solche scharfe Ablehnung seiner Lehren, glaubt Krueger Rutz retten zu k\u00f6nnen, indem er das von R\u00fctz nicht so stark betonte Moment derartiger Mit-bewegungenin den Vordergrund schiebt. DenKR\u00dcGERschen Grundgedanken erkenne ich als durchaus richtig an, ich habe ihn ja auch im obigen (ivie ich dies auch schon vor zwei Jahren auf dem musikp\u00e4dagogischen Kongrefs getan habe) selbst zur Erkl\u00e4rung der F\u00fchrung der Stimme benutzt. Dagegen kann ich Krueger durchaus nicht folgen, wenn er hierin eine Erkl\u00e4rung der Bedeutung der RuTzschen Entdeckungen f\u00fcr Kunst und Wissenschaft sieht. Denn das allgemeine \u00f6konomische Prinzip des geringsten Kraftmafses widerspricht dieser Auffassung. Wer jemals Sport getrieben oder aufmerksam studiert hat, weifs, dafs das Geheimnis aller sportlichen H\u00f6chstleistungen gerade das Ausschalten solcher unbeabsichtigten, unkoordinierten Bewegungen ist. Nur wer die in Betracht kommenden Muskeln und ihre Antagonisten, die erst die feinere Abstufung der Bewegung erm\u00f6glichen, auf das genaueste beherrscht und alle \u00fcbrigen Muskelgruppen, die der exakten Ausf\u00fchrung der gewollten Bewegung Hindernisse bereiten k\u00f6nnen, absolut sicher auszuschalten versteht, f\u00fchrt diese Bewegung m\u00fchelos und pr\u00e4zise aus. Den Klang der Stimme, etwas\n1 Eine Erg\u00e4nzung und teilweise Revision des fr\u00fcheren Standpunktes bedeutet das neueste Buch von Rutz, Musik, Wort und K\u00f6rper als Gem\u00fctsausdruck. Leipzig, Breitkopf u. H\u00e4rtel. 741 S. 1911.","page":29},{"file":"p0030.txt","language":"de","ocr_de":"30\nAlfred Guttmann.\n[LXIII. 170]\nso eminent Charakteristisches, mittels solcher indirekten Bewegungen, wie sie eine Folge der R\u00fcTzschen Rumpfmuskelein-stellungen sind, pflegen und kultivieren zu wollen, so dafs die Stimme dauernd sch\u00f6n und richtig funktioniere, scheint mir schlechterdings unm\u00f6glich. \u201eDisponiert sein und singen k\u00f6nnen ist kein Kunstst\u00fcck ; Gesangsk\u00fcnstler ist erst, wer indisponiert singen kann\u201c, sagte mir einmal der ber\u00fchmte Tenorist Heinrich Vogel. Das aber kann man nur bei vollkommen bewufster technischer Beherrschung aller Muskelgruppen. Der instinktiv singende \u201eNaturs\u00e4nger\u201c versagt bekanntlich v\u00f6llig, wenn er \u201eindisponiert\u201c ist, w\u00e4hrend der Kunsts\u00e4nger dann mittels seiner Technik die widerspenstigen Organe zu halbwegs gutem Funktionieren zwingt Wie soll man also nun auf diesem indirekten Wege durch Mitbewegungen, die von den Rumpfmuskeln ausgehen, so feine Einstellungen der Muskulatur des eigentlichen Singorgans machen k\u00f6nnen, um einer Indisposition irgendwelcher Art Herr zu werden? Abgesehen also von physikalischen wie physiologischen Gr\u00fcnden gegen den Rurzschen Standpunkt glaube ich auch die KauEGERsche psychologische Erkl\u00e4rung als nicht ausreichend ablehnen zu m\u00fcssen. Der Klangcharakter der Stimme (den ich mit Kr\u00fcger als einen hoch zusammengesetzten Komplex auffasse, der durch Analyse in seine Einzelteile noch durchaus nicht erkl\u00e4rt ist), beruht also im wesentlichen auf dem Zusammenwirken von Stimmlippen und Ansatzrohr.\nHier betreten wir das zweite Gebiet, wo nicht nur die Stimmphysiologen und S\u00e4nger einander befehden, sondern wo fast alle Schulen innerhalb beider Lager im heftigen Kampf miteinander liegen: das ist die Lehre vom \u201eRegister\u201c.1 Unter Register versteht man beim Gesang eine fortlaufende Reihe von Tonh\u00f6hen einer Stimme, die sich durch eine bestimmte einheitliche eigent\u00fcmliche Klangfarbe charakterisieren. Die Extremen auf der einen Seite nehmen an, es g\u00e4be nur zwei\n1 Der Ausdruck ist aus der Nomenklatur der Orgel entnommen, wo der Organist ein (oder mehrere) \u201eRegister\u201c \u201ezieht\u201c, um eine klanglich einheitliche, fortlaufende Tonskala zu erzielen. N\u00e4heres hier\u00fcber bei Katzenstein, \u00dcber Brust-, Mittel- und Falsettstimme. Passow u. Schaefer, Beitr\u00e4ge Bd. IV, Heft 3 u. 4 (1911).","page":30},{"file":"p0031.txt","language":"de","ocr_de":"[LXI\u00cfI. 171]\nZur Psychophysik des Gesanges.\n31\nRegister der menschlichen Stimme, das schon oben erw\u00e4hnte \u201eBrustregister\u201c und das \u201eFalsettregister\u201c. Erster es allein sei f\u00fcr den Gesang brauchbar, letzteres (falsetto == falsch !) sei f\u00fcr den Gesang unbrauchbar. Auf der anderen Seite nehmen manche Autoren folgende Register an: 1. Strohbafs (Kehlbafs), 2. Bruststimme, 3. Mittelstimme (Yoix mixte), 4. Falsett, 5. Fistel, 6. Pfeifregister. Ein so komplizierter Begriff wie der der Klangfarbe, dem Stumpe in seiner Tonpsychologie ein langes Kapitel1 widmet, ist nat\u00fcrlich durch einfache Beschreibung der akustischen Empfindungen, die er in verschiedenen Ohren ausl\u00f6st, \u00fcberhaupt nicht definierbar. Denn unsere Geh\u00f6rsempfindungen sind weder eindeutig beschreibbar, noch physiologisch gleichartig. Auch ist es ein ganz ander Ding, ob man das Gesangsph\u00e4nomen als Komplex aufzufassen oder es zu analysieren gewohnt und ge\u00fcbt ist.2\nEine Diskussion dieser vieldeutigen Begriffe und unklaren Vorstellungen ist v\u00f6llig fruchtlos. Die K\u00fcnstler begehen zudem oft noch den Fehler, solche scheinbar a priori theoretisch gewonnenen Urteile auf Selbstbeobachtungen der Stimme zu st\u00fctzen. Das Irref\u00fchrende derartiger Beobachtungen habe ich oben schon gen\u00fcgend begr\u00fcndet, um es jetzt nicht eigens zu beweisen. Hier aber hat die experimentelle Untersuchung neue Perspektiven er\u00f6ffnet. War es schon bei Kehlkopfspiegeluntersuchung in Verbindung mit dem Stroboskop wahrscheinlich gemacht, dafs zum mindesten zwei, vielleicht drei Stimmregister bestehen, bei denen die Stimmlippen in ganz verschiedener Art schwingen, so hat die Photographie in Verbindung mit der Fourier-Analyse Kurven geliefert, aus denen hervorgeht, dafs in der Tat mehrere deutlich unterscheidbare Register existieren, von denen zum mindesten drei von den betreffenden S\u00e4ngern und S\u00e4ngerinnen (drei prominenten Mitgliedern der\n1\tC. Stumpf, Tonpsychologie, Bd. II, \u00a7 28. Leipzig, S. Hirzel. 1890.\n2\tEs ist ganz erstaunlich, wie sich gute Musiker bei akustischen Versuchen in die Irre f\u00fchren lassen, weil sie in solcher Analyse unge\u00fcbt sind. Andererseits ist es auch verwunderlich, dafs v\u00f6llig unmusikalische Personen, denen Musik reizlos erscheint, akustisch, ja sogar musikwissenschaftlich t\u00e4tig sind. Eine Erkl\u00e4rung dieses Paradoxon liefern vielleicht die neuen \u201eAkustischen Untersuchungen\u201c von K\u00f6hler (V. Kongr. der Gesellsch. f. exp. Psychol.).","page":31},{"file":"p0032.txt","language":"de","ocr_de":"32\nAlfred Guttmann.\n[LXIII. 172]\nBerliner Hofoper) im Kunstgesang verwendet wurden. Interessant ist, dafs das Falsettregister sich der reinen Sinusschwingung n\u00e4hert. Katzensteins diesbez\u00fcgliche Versuche, im Physiologischen Institut zu Berlin mittels des MABTENSschen Apparates gewonnen, m\u00fcssen nat\u00fcrlich von anderen Autoren an anderen S\u00e4ngern, vielleicht auch mit anderer Methodik best\u00e4tigt werden, ehe sie volle Beweiskraft haben. Das aber ist der Weg, um aus den fortw\u00e4hrenden unfruchtbaren Diskussionen \u00fcber Registerfragen, die in der P\u00e4dagogik neben denen \u00fcber \u201eF\u00fchrung\u201c die Hauptrolle spielen, herauszukommen. Stimmphysiologisch und stimmp\u00e4dagogisch gibt es kein Ein register. Hier m\u00fcssen wir vom Ausgleich derRegister reden. Jedes Register hat eine charakteristische Einstellung des physiologischen Apparates und einen entsprechenden, mathematisch ausdr\u00fcckbaren Klangcharakter. Aber wie es nach allgemeinen physiologischen Gesichtspunkten unwahrscheinlich ist, dafs diese differenten Muskeleinstellungen sprungweise ineinander \u00fcbergehen, so zeigt sowohl die optische Analyse, wie die akustische Wahrnehmung, dafs ein solcher allm\u00e4hlicher \u00dcbergang aus dem Brustregister in das Kopfregister (resp. Falsettregister) wirklich stattfindet. Gerade dadurch unterscheiden sich ja die weitaus meisten Naturs\u00e4nger von den Kunsts\u00e4ngern, dafs sie beim \u00dcbergang in ein anderes Register den \u201eKnax\u201c in der Stimme eben dort haben, wo bei steigender Tonh\u00f6he die Stimmlippen weder imstande sind, mit der f\u00fcr tiefere T\u00f6ne geeigneten Spannung zu funktionieren, noch die Einstellung des anderen Registers so schnell und sicher vorzunehmen. Dieser gesangsp\u00e4dagogisch erreichbare Ausgleich der verschiedenen Register f\u00fchrt klanglich zu einem \u00c4hnlich werden der Grenzt\u00f6ne je zweier Register, so dafs f\u00fcr das Ohr ein unmerklicher \u00dcbergang von einem Register zum anderen stattfindet. F\u00fcrunsere akustische Wahrnehmung besteht dann in der Tat das Einregister. Und in diesem Sinne kann man musikpsychologisch und im Sinne des Endziels jeder Gesangsp\u00e4dagogik vom idealen \u201eEinregister\u201c sprechen. Man mufs sich aber dar\u00fcber klar sein, dafs ein und derselbe Empfindungszustand unseres Sinnesorgans hervorgerufen werden kann durch physikalisch und physiologisch vollkommen differente Reize \u2014 so wie ja auch unser Auge ein","page":32},{"file":"p0033.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIII. 173]\nZur Psychophysik des Gesanges.\n33\nreines spektrales Gelb nicht von einem Gelb unterscheiden kann, das durch eine Mischung von spektralen Rot und Gr\u00fcn hervorgerufen ist.\nZum Schlufs m\u00f6chte ich noch an einem Beispiel die Wichtigkeit musikpsychologischer und musikgeschichtlicher Kenntnisse f\u00fcr die Deutung stimmphysiologischer Befunde erl\u00e4utern. Die Genauigkeit, mit der ein S\u00e4nger einen ihm vorgespielten Ton trifft, ist in \u00e4lteren Versuchen von Kl\u00fcndee und Hensen als relativ grofs erwiesen. Der Fehler erreicht noch nicht 1/2 \u00b0/0, der mittlere Fehler (von Kl\u00fcndee aus zahlreichen Versuchen berechnet, die sich zwischen den Tonh\u00f6hen G = 96 Schwingungen und g* = 256 Schwingungen bewegen) betr\u00e4gt + 0,357 0/0.1 Mit verbesserter Methodik hat das neuerdings Sokolowski2 best\u00e4tigt. Er pr\u00fcfte aber auch, wie genau Intervalle, simultan sowie sukzessiv, gesungen werden und fand, dafs z. B. die grofse Terz in der eingestrichenen Oktave mit 1,5 \u00b0/0 Fehler, die Quint mit 3,28 \u00b0/0 Fehler gesungen wird. Ich selber bin seit einem Jahr mit \u00e4hnlichen und weitergehenden Versuchen besch\u00e4ftigt, \u00fcber die ich sp\u00e4ter in einer physiologischen Zeitschrift berichten werde. Meine Resultate, die mit der MAETENSschen Versuchsanordnung gefunden sind, stimmen, was die Genauigkeit im Treffen eines Tones angeht, mit Kl\u00fcndee, Hensen und Sokolowski ziemlich \u00fcberein. Nur habe ich nicht ganz so gute Resultate beim Unisono gefunden wie Sokolowski. Bei dessen Versuchspersonen betr\u00e4gt der gr\u00f6fste Fehler 0,8 \u00b0/0, der geringste 0,17 \u00b0/0. Diese Resultate sind fast zu gut. Die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr gleichzeitige T\u00f6ne ist n\u00e4mlich bei feinh\u00f6rigen und in diesbez\u00fcglichen Untersuchungen ge\u00fcbten Personen (Stumpf, Hoenbostel, Schaefee, Verfasser) in der Tonh\u00f6he der eingestrichenen Oktave\n1\tKl\u00fcnder, Ein Versuch, die Fehler zu bestimmen, welche der Kehlkopf beim Halten eines Tones macht. Inaug.-Dissert. Marburg 1872. Vgl. ferner Kl\u00fcnder sowie Hensen, Arch. f. Physiol. 1879.\n2\tSokolowski, \u00dcber die Genauigkeit des Nachsingens von T\u00f6nen bei Berufss\u00e4ngern. Beitr. z. Anat. usw. Hrsg, von Passow u. Schaefer. Bd. V, Heft 3. 1911.\nStumpf, Beitr\u00e4ge. VII.\n3","page":33},{"file":"p0034.txt","language":"de","ocr_de":"34\nAlfred Guttmann.\n[LXIII. 174J\netwa == 1 \u00b0l0.1 Da nun Reinsingen nach Stumpfs Definition nicht etwa nur ein Mafs f\u00fcr die Geh\u00f6rsempfindlichkeit, sondern auch zugleich f\u00fcr die Muskelfertigkeit ist, so m\u00fcssen Sokolowskis S\u00e4nger beides in erstaunlichem Mafse besessen haben, um so feine Resultate zu erzielen. Eine meiner Versuchspersonen, ein aufserordentlich musikalischer, auch als Komponist t\u00e4tiger Berufss\u00e4nger, traf den gegebenen Ton manchmal mit 0 % Fehler, manchmal aber auch um 1 % abweichend. Offenbar liegen diese kleinen Unterschiede im Resultat innerhalb der Fehlergrenzen der Versuchsanordnung oder sind nur durch sehr lange Versuchsreihen auszuschliefsen, in denen man genauer pr\u00fcft, ob die Versuchsperson etwa nur auf bestimmter Tonh\u00f6he, bei bestimmter Mundstellung (Vokalform) oder dauernd und zwar im selben Sinne, d. h. entweder zu hoch oder zu tief, detoniert. Man k\u00f6nnte ein wenden, dafs die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr aufeinanderfolgende T\u00f6ne gr\u00f6fser sei als f\u00fcr gleichzeitige. In der Tat konnte z. B. Appunn, der ber\u00fchmte Orgelbauer und Akustiker, nach Pbeyeb (vgl. Stumpf, Tonpsychologie I, 297) bei 1000 Schwingungen 0,05 % Differenz erkennen. Aber Sokolowskis Versuchspersonen machten ja kaum einen Unterschied, ob sie zugleich mit dem gegebenen Ton das Intervall sangen oder es nach einer Pause zu dem gegebenen Ton intonierten! Seine beste Versuchsperson, die nur 0,1 \u00b0/0 beim Unisono abwich, sang sogar einmal, wenn sie 30 Sekunden nach Verklingen des Tones intonierte, nur 0,07 % zu tief. Dafs solch gute S\u00e4nger nun aber trotzdem bei der Quint Fehler machen, die sogar bis zu 5,5% gehen, f\u00fchrt Sokolowski auf die Gew\u00f6hnung der S\u00e4nger an die temperierte Quint des Klaviers, die gewissermafsen das Geh\u00f6r verderbe, zur\u00fcck. Indessen ist der Unterschied zwischen reiner Quint (2:3) und temperierter Quint (2,89 : 4,33) nur minimal = 2 Cents = %0 Halbton in dieser Gegend, eine Differenz, die auch bei feiner Unterschiedsempfindlichkeit sukzessiv kaum merklich ist. Hingegen betr\u00e4gt der Unterschied zwischen der hier in Betracht kommenden reinen Terz 400 : 500 und der temperierten Terz volle 14 Cents = 3 Schwingungen pro Sekunde in dieser Lage. Das ist aber eine\n1 Karl L. Schaefer u. A. Guttmann, \u00dcber die Unterschiedsempfind-liclikeit f\u00fcr gleichzeitige T\u00f6ne. Diese Beitr\u00e4ge 4 (1909).","page":34},{"file":"p0035.txt","language":"de","ocr_de":"[LXIIL 175]\nZur Psychophysik des Gesanges.\n35\nsehr deutliche Differenz, wie sie auch von wenig ge\u00fcbten Versuchspersonen sofort erkannt wird. Und gerade hierbei haben seine Versuchspersonen nur einen Fehler von 1,5 \u00b0/0 gemacht. Je nachdem man ihre Tonh\u00f6he also auf die Tendenz bezieht, eine reine oder aber eine temperierte Terz zu intonieren, kommen hier auch ganz verschiedene Resultate bei der Berechnung heraus. Sokolowski berechnet alles nur auf die reine Terz. Wenn man also nicht in diesen Resultaten einen Versuchsfehler sehen will, insofern als weder die Fehlergrenzen der Methode, noch die individuellen Gewohnheiten der S\u00e4nger genau ber\u00fccksichtigt sind, so mufs man zum mindesten dieser Deutung widersprechen, weil sie ebenso mit den akustischen wie mit musikpsychologischen Tatsachen im Widerspruch steht. Dafs die reine Quint ungenauer als das Unisono intoniert wird, kann ich best\u00e4tigen. Indessen habe ich nie so grofse Abweichungen gefunden wie Sokolowski. In meinen eigenen Selbstbeobachtungen sowie in denen meiner ge\u00fcbtesten Versuchsperson finde ich eine Erkl\u00e4rung daf\u00fcr in dem f\u00fcr unsere S\u00e4ngerohren unbefriedigenden \u201eleeren\u201c Intervall, der Quint. Da aber auch auf anderen Intervallen nicht genau intoniert wird, so mufs es noch andere Gr\u00fcnde geben.1 Einen solchen zweiten Grund f\u00fcr das Unreinsingen mufs man im Physiologischen suchen. Nach meinen Beobachtungen detonieren musikalische S\u00e4nger, die sonst rein singen, meist auf einer bestimmten Tonh\u00f6he, die der Stelle eines Registerwechsels oder anderer Umspannungen im Kehlkopf, z. B. \u201eDecken\u201c, entspricht. Kommt dazu noch ein unbequemer Vokal, unbequeme Tonintensit\u00e4t oder Schwierigkeiten\n1 Ein Hinweis auf die Wichtigkeit musikgeschichtlicher Betrachtungsweise : die Quint hat nicht immer diesen Gef\u00fchlscharakter gehabt, sie besitzt ihn erst seit etwa 1400. Unsere Terzen und Sexten hingegen w\u00e4ren f\u00fcr fr\u00fchmittelalterliche Ohren etwa ebenso unerfreulich gewesen, wie uns Heutigen die simultanen Quinten klingen. Solche Untersuchungen, wie die eben besprochenen, w\u00fcrden also, h\u00e4tte man sie an mittelalterlichen Kunsts\u00e4ngern ausf\u00fchren k\u00f6nnen, wohl bessere Resultate bei Quinten, schlechtere bei Terzen und Sexten ergeben haben. Dementsprechend w\u00e4re die noch nicht experimentell untersuchte Frage, ob man in alten Ensembles\u00e4tzen a cappella rein s\u00e4nge, in modernen aber temperiert (eine Frage, die alle gebildeten Musiker an den Musikpsychologen richten), vor allem systematisch experimentell daraufhin zu pr\u00fcfen, wie die grofsen Terzen intoniert werden.\n3*","page":35},{"file":"p0036.txt","language":"de","ocr_de":"36\nAlfred Guttmann.\n[LXIII. 176]\nder Atmung, so ist es kaum m\u00f6glich, die betreffende Tonh\u00f6he richtig zu intonieren, obwohl man selber h\u00f6rt, dafs man detoniert. Andererseits distonieren ge\u00fcbte S\u00e4nger ehestens bei Schwellt\u00f6nen. Ob bei Sokolowskis Versuchen die Tonh\u00f6he der Quint, die bei seiner Altistin od, bei seinem (am st\u00e4rksten detonierenden) Tenoristen g1 betrug, gerade solch unbequemen Tonh\u00f6hen entsprach, entzieht sich meiner Kenntnis. Die grofse K\u00fcrze der SoKonowsKisehen Arbeit erlaubt \u00fcberhaupt nicht, alle solchen Konsequenzen seiner Ergebnisse ausf\u00fchrlich zu diskutieren. Ich werde sp\u00e4ter bei der Publikation meiner Versuche darauf genauer eingehen, wollte aber an diesen, mit physikalisch exakter Methodik gewonnenen Resultaten zeigen, wie die mangelnde Kenntnis der Grenzgebiete der Gesangstechnik und der Musikpsychologie den Autor bei der Deutung seiner Resultate beeintr\u00e4chtigen mufs.","page":36}],"identifier":"lit38501","issued":"1913","language":"de","pages":"21-36","startpages":"21","title":"Zur Psychophysik des Gesanges","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:33:25.854971+00:00"}

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