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{"created":"2022-01-31T15:27:44.609724+00:00","id":"lit38509","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 9: 38-74","fulltext":[{"file":"p0038.txt","language":"de","ocr_de":"38\n[94,1]\nSingen und Sprechen.\nVon\nC. Stumpf.\nInhalt.\nSeite\n\u00a7 1.\tUnterschied im Tonmaterial................................38\n\u00a7 2.\tUnterschied in der Einstellung............................43\n\u00a7 3.\t\u00dcberg\u00e4nge und Mischungen..................................45\na)\tSprachgesang..................................... .\t46\nb)\tSingendes Sprechen................................50\n\u00a7 4.\tW. K\u00f6hlers Anschauung.....................................54\n\u00a7 5.\tZur Ph\u00e4nomenologie der stetigen Tonver\u00e4nderungen ....\t62\n\u00a7 6.\tR\u00fcckblick auf K\u00f6hlers These ..............................69\n\u00a7 7.\tErgebnis..................................................73\n\u00a7 1. Unterschied im Tonmaterial.\nUnser Sprachorgan stellt ein Instrument dar, das sich durch die Vereinigung dreier Eigenschaften auszeichnet: 1. kann man ihm bei gleichbleibender Tonh\u00f6he verschiedene Resonanzeinstellung erteilen und bei gleicher Resonanzeinstellung verschiedene Tonh\u00f6hen damit produzieren (Vokale), 2. kann es aufser T\u00f6nen auch Ger\u00e4usche hervorbringen (Fl\u00fcstervokale und Konsonanten), 3. kann es stetige \u00dcberg\u00e4nge ebenso wie sprunghafte erzeugen.\nDiese Eigenschaften sind nat\u00fcrlich nicht ausschliefslich der menschlichen Stimme eigen. Stetige \u00dcberg\u00e4nge z. B. kann man neben diskreten auch leicht mit manchen anderen Instrumenten hersteilen, obgleich sie in unserer Musik bisher nicht offiziell und in gr\u00f6fserem Mafsstabe verwendet werden. Aber\n1 Aus der im Manuskript \u00fcberreichten Festschrift zum 70. Geburtstage Max Friedl\u00e4ndbrs, hier in stark erweiterter Form.","page":38},{"file":"p0039.txt","language":"de","ocr_de":"[94, 2]\nSingen und Sprechen.\n39\nf\u00fcr die Funktionen des menschlichen Kehlkopfes sind diese drei Eigenschaften in Verbindung miteinander grundwesentlich und charakteristisch. Sie sind sozusagen sein t\u00e4gliches Brot und kommen in dieser Vereinigung und Vollkommenheit und in der Leichtigkeit der Umstellung aus der einen in die andere Funktion sonst nirgends vor.\nEs soll auch nicht gesagt sein, dafs unser Sprachorgan nicht noch anderer K\u00fcnste f\u00e4hig w\u00e4re. So k\u00f6nnen wir z. B. den gleichen (gleichbezeichneten) Vokal mit Brust- oder mit Kopfstimme singen, wobei ph\u00e4nomenal verschiedene Klangfarben entstehen (Register). Aber wesentlicher und ganz unentbehrlich f\u00fcr ein normales Stimmorgan sind die drei obigen Eigenschaften.\nNur vom stimmhaften Sprechen, nicht vom Fl\u00fcstern soll im folgendem die Rede sein. Beim Fl\u00fcstern sind stetige \u00dcberg\u00e4nge, wie \u00fcberhaupt Tonh\u00f6henver\u00e4nderungen, nur m\u00f6glich unter gleichzeitiger qualitativer Ver\u00e4nderung der gefl\u00fcsterten Laute selbst. Man kann z. B. ganz wohl eine stetige Tonbewegung erzielen, wenn man vom gefl\u00fcsterten A allm\u00e4hlich zum 0 oder zum E \u00fcbergeht, aber nicht auf dem A selbst, solange dessen Nuancierung genau dieselbe bleibt. Selbst bei einer geringen H\u00f6henver\u00e4nderung des Fl\u00fcsterlautes wird seine Vokalnuance mitge\u00e4ndert.\nVon den obigen drei Unterschieden h\u00e4ngt nun der letzte offenbar mit dem des Sprechens und Singens zusammen. Beim Sprechen ben\u00fctzen wir aufser sprunghaften fortw\u00e4hrend stetige Tonver\u00e4nderungen, beim Singen \u2014 prinzipiell wenigstens \u2014 nur sprunghafte. Beim Sprechen sind gerade die stetigen Ver\u00e4nderungen, auch die ganz geringf\u00fcgigen, ein wichtiges Ausdrucksmittel, sie beseelen die Sprache. Beim Singen dagegen, wie in der Musik \u00fcberhaupt (abgesehen von den primitiven Formen), d\u00fcrfen sie nur ausnahmsweise Vorkommen.\nDieses Unterscheidungsmerkmal findet man denn auch bereits im Altertum bei Aristoxenus, Ptolemaeus, Bacchius, Gaudentius, und so im allgemeinen bis in die neuere Zeit.1\n1 Eine Ausnahme macht unter den neueren Musikforschern nur Hugo Riemann. Er erkl\u00e4rt: \u201eLetzten Endes ist das Prinzip des Melodischen -die stetige Ver\u00e4nderung der Tonh\u00f6he, nicht die stufenweise.\u201c (\u201eWie h\u00f6ren wir Musik?\u201c S. 7. \u201eDie Elemente der musikalischen \u00c4sthetik.\u201c fi. 40.) Riemann meint, dafs, wenn auch die T\u00f6ne \u00e4ufserlich diskret","page":39},{"file":"p0040.txt","language":"de","ocr_de":"40\nC. Stumpf.\n[94,3J\nAuch Forscher, welche die Musik aus dem erregten Sprechen herleiten wollen, d\u00fcrften nicht leugnen, dafs f\u00fcr die entwickelte Musik, wie sie seit Jahrtausenden in Asien und Europa ge\u00fcbt wird, feste Intonation unentbehrlich ist und sich immer mehr durchgesetzt hat.* 1 Sie hat ja auch zur Einf\u00fchrung der Notierung auf Linien gef\u00fchrt. Aufzeichnungen der \u201eSprachmelodie\u201c in unserem Notensystem, so oft sie auch versucht wurden, behalten immer etwas Unnat\u00fcrliches. Die stetigen Tonver\u00e4nderungen der Sprache lassen sich r\u00e4umlich nur in Form von Kurven wiedergeben, wie sie auf objektivem Wege z. B. Sceiptuee durch Vergr\u00f6fserung grammophonischer Kurven2 oder Eggeet mit der MAEBEschen Rufsmethode 3 gewonnen haben.\nVergleicht man die meist sehr kurzen und trotzdem\naufeinanderfolgen, doch in der Phantasie ein stetiger \u00dcbergang stattfinde. Er geht so weit, es als eine \u201eManier mancher Virtuosen von grofsem Ton\u201c zu bezeichnen, wenn sie \u201emit Pr\u00e4zision jeden folgenden Ton sofort fest einsetzen\u201c. Das Portament nennt er \u201edie konkreteste Versinnlichung des melodischen Prinzips\u201c. In der zweitgenannten Schrift allerdings wird es bei Streichern und S\u00e4ngern \u201eeine plumpe Enth\u00fcllung der Natur und eine allzu drastische Nachhilfe f\u00fcr die Phantasie\u201c genannt.\nPsychologie war ebensowenig wie Akustik die St\u00e4rke des sonst so verdienten Forschers. Hier scheint er mir aber selbst mit der Logik etwas in Konflikt zu kommen.\n1\tVgl. die l\u00e4ngeren Ausf\u00fchrungen in meiner Abhandlung \u201eMusikpsychologie in England\u201c, Viertelj.-Schr. f. Musikwissenschaft 1885, S. 264 ff. und in \u201eAnf\u00e4nge der Musik\u201c 1911.\nJ. J. Rousseau, ein Hauptvertreter des sprachlichen Ursprunges der Musik, sagt doch in seinem \u201eDictionnaire de Musique\u201c, art. Voix: \u201eJe penserais que le vrai caract\u00e8re distinctif de la Voix de Chant est de former les sons appr\u00e9ciables dont on peut prendre ou sentir l\u2019unisson, et de passer de l\u2019un \u00e0 l\u2019autre par des Intervalles harmoniques et commen-surables; au lieu que dans la voix parlante, ou les sons ne sont pas assez soutenus, et, pour ainsi dire, assez unis pour pouvoir \u00eatre appr\u00e9ci\u00e9s, ou les Intervalles qui les s\u00e9parant ne sont point assez harmoniques, ni leurs rapports assez simples.\u201c\nMan kann den Unterschied nicht pr\u00e4ziser ausdr\u00fccken.\n2\tE. W. Scripture, Researches in Experimental Phonetics 1906, S. 63ff. Abbildungen nach derselben Methode auch in m. \u201eAnf. d. Mus.\u201c, S. 16 ff.\n3\tB. Eggert, Untersuchungen \u00fcber Sprachmelodie. Zeitschr. f. Psychol. 49 (1908), S. 230.","page":40},{"file":"p0041.txt","language":"de","ocr_de":"Singeil und Sprechen.\n41\n[94,4]\nschwankenden, vielfach auch ihrer H\u00f6he nach \u00e4ufserst undeutlichen Laute des gew\u00f6hnlichen, nicht zu stark affektbetonten Sprechens mit den langgehaltenen, vollen, kultivierten T\u00f6nen einer sch\u00f6nen Frauen- oder M\u00e4nnerstimme in einer getragenen Kanti-lene, aber auch selbst mit den kurzen in einem Rezitativ oder einer gut gesungenen Koloratur, so hat man zwei Welten vor sich, die zun\u00e4chst so verschieden erscheinen k\u00f6nnen wie T\u00f6ne und Ger\u00e4usche oder gar T\u00f6ne und Ger\u00fcche. Zwar gibt es unter Umst\u00e4nden auch beim Sprechen langgedehnte Silben ; aber in diesen F\u00e4llen stellt sich regelm\u00e4fsig zugleich eine vergr\u00f6fserte Schwankung der Tonh\u00f6he ein, und diese ist so wesentlich, dafs durch sie der Sinn des Ausdruckes vollst\u00e4ndig determiniert sein kann. Man spricht ein gedehntes \u201eSol\u201c aufsteigend bis zum Umfang etwa einer Duodezime, wenn man die Verwunderung \u00fcber etwas ganz Unerwartetes ausdr\u00fcckt, absteigend aber in gleichem Umfang, wenn man etwa jemand auf einer Spitzb\u00fcberei ertappt hat. In beiden F\u00e4llen kann mehr darin liegen als in ganzen S\u00e4tzen. So ausdrucksvoll sind hier gerade die stetigen, in der Musik grunds\u00e4tzlich unerlaubten Ver\u00e4nderungen.\nAuch ein Unterschied in der Klangfarbe ist nicht z\u00fc verkennen. Worin er besteht, ist freilich nicht ganz leicht zu sagen. Helmholtz meint (Tonempf. 4 S. 183), dafs beim Sprechen wahrscheinlich durch st\u00e4rkeren Druck der Stimmb\u00e4nder gegeneinander, wobei sie aufschlagende Zungen bilden, eine knarrende Klangfarbe, d. h. st\u00e4rkere Obert\u00f6ne als beim Singen gegeben werden. Ist dies richtig (und es hat viel f\u00fcr sich), so folgt zugleich, dafs die Formanten der Vokale, also die unterscheidenden Obertonpartien, kr\u00e4ftiger hervortreten, dafs aber auch alle Vokale aufser U durchschnittlich etwas heller werden m\u00fcssen als beim Singen. Bei diesem kommt es in erster Linie auf Deutlichkeit der intendierten Grundt\u00f6ne an; da darf kein Ton, auch nicht der leiseste, so \u201eunter den Tisch fallen\u201c, wie es beim Sprechen ganz gew\u00f6hnlich geschieht, ohne dafs darum die Vokalit\u00e4ten unerkennbar w\u00fcrden.\nZum Teil beruht der Unterschied in der Klangfarbe aber auch auf den der Sprechstimme mehr oder weniger beigemischten Ger\u00e4uschen, m\u00f6gen sie auf dem von Helmholtz angedeuteten Wege oder sonstwie zustande kommen.","page":41},{"file":"p0042.txt","language":"de","ocr_de":"42\nC. Stumpf.\n[94, \u00f6]\nDurch diesen Unterschied in der Klangfarbe und Ger\u00e4uschbeimischung ist die geringere Deutlichkeit der Tonh\u00f6hen beim Sprechen offenbar wesentlich mitbedingt.\nAber nicht blofs in den einzelnen Kl\u00e4ngen, die hier und dort zur Anwendung kommen, liegen wesentliche Unterschiede, sondern auch in ihrer Aufeinanderfolge. F\u00fcr das Sprechen ist mindestens ebenso wesentlich wie das Schwanken der Tonh\u00f6hen der Gebrauch undeutlicher und schwankender, nur etwa in der Richtung bei gleichen Anl\u00e4ssen gleichbleibender Ton-abst\u00e4nde, f\u00fcr das Singen aber der Gebrauch fester und von einer Tonlage zur anderen transponierbarer Intervalle. Wer unter Vermeidung stetiger Tonschwankungen jede Silbe auf einem bestimmten Tone spr\u00e4che, die kurzen, \u201eunbetonten\u201c, tief abgestimmten Silben nur etwas undeutlich in ihrer Intonation, dabei die Intervalle unserer Tonleitern geflissentlich umginge und sich ganz willk\u00fcrlich bald da bald dort im Tongebiet bei den akzentuierten Silben niederliefse, der w\u00fcrde uns immer noch im wesentlichen zu sprechen scheinen. In der Musik dagegen, also auch beim Singen, sind feste transponierbare Intervalle in bestimmter Auswahl (verschieden je nach den Musiksystemen) durchaus notwendig. An sie ist die Gef\u00fchlswirkung der Musik in so hohem Mafse gekn\u00fcpft, dafs diese bei ganz minimalen Abweichungen, die f\u00fcr das Sprechen gar nicht in Betracht kommen, schon ins Gegenteil Umschlagen kann. Unreinheit ist ja schlimmer als jede noch so scharfe unaufgel\u00f6ste Dissonanz, wenigstens f\u00fcr das feiner empfindende Ohr, wie es sich mit der Entwicklung der Musik ausgebildet hat.\nMit diesem Merkmal h\u00e4ngt nun offenbar das der Vermeidung und der Anwendung stetiger Tonver\u00e4nderungen zusammen, ja das erstere ist sogar das tieferliegende. Denn eben weil feste Intervalle n\u00f6tig sind, sind auch feste T\u00f6ne n\u00f6tig.\nWenn wir also sagen: beim Singen produziere der Kehlkopf 1 onfolgen aus festen T\u00f6nen und Intervallen, beim Sprechen aber neben einzelnen diskreten vielf\u00e4ltig stetige Tonver\u00e4nde rungen, sowie Tonabst\u00e4nde von schwankender Abmessung, so d\u00fcrfte die Unterscheidung nach der rein lautlichen Seite hin den Tatsachen entsprechen. Man kann unter Voraussetzung dieser Erl\u00e4uterungen auch kurz sagen: Singen ist gebundene.","page":42},{"file":"p0043.txt","language":"de","ocr_de":"[94,6]\nSingen und Sprechen.\n43\nSprechen freie Tongebung. Dafs auch in rhythmischer Hinsicht beim Sprechen, selbst dem in \u201egebundener Rede\u201c, gr\u00f6fsere Freiheit als beim Singen besteht, kann darunter mitverstanden werden.\n\u00a7 2. Unterschied in der Einstellung.\nMit alledem soll nat\u00fcrlich weder das Singen noch das Sprechen definiert, es sollen nur die beiden T\u00e4tigkeiten voneinander unterschieden werden, und dies auch nur nach der lautlichen Seite. Ohne Zweifel ist die ganze Intention oder Einstellung des Singenden eine andere als die des Sprechenden, von dieser so verschieden, wie eben die k\u00fcnstlerische, mehr auf die Gef\u00fchlswirkung abzielende, und die theoretische oder praktische, vorwiegend auf Mitteilung von Tatsachen und Gedanken oder auf Handlungen abzielende Geistesverfassung verschieden sind. Aber diese allgemeinsten Einstellungen sind hier nicht das Entscheidende. Denn der Evangelist in Bachs Passionen und der Prediger auf der Kanzel berichten beide \u00fcber die Tatsachen der Leidensgeschichte und wollen beide damit r\u00fchren. Aber der eine singt, der andere spricht. Entscheidend sind zuletzt speziellere Einstellungen: dem einen schweben in Verbindung mit den n\u00e4mlichen Tatsachen und Gef\u00fchlswirkungen Tonh\u00f6hen, Intervalle und melodische Wendungen vor (guten S\u00e4ngern oft auch bestimmte Modifikationen der Klangfarbe, des Einsatzes usf.), dem anderen nur etwa die Deutlichkeit und Eindringlichkeit des Vortrags, nicht aber die spezifisch-musikalischen Eigenschaften des Lautmaterials. Geht die Intention dar\u00fcber hinaus auf gr\u00f6fsere Zusammenh\u00e4nge, so sind auch diese entsprechend verschieden : der musikalische Sinn und die Gesamtstruktur der Melodie bestimmt die innere Haltung des S\u00e4ngers, der logische Sinn und die Gesamtform des Satzes, ja bis zu einem gewissen Grade auch der Zusammenhang, in dem er steht (Gegensatz, Beweis usf.), bilden den Bewufstseinsrahmen des Sprechers.\nAm sch\u00e4rfsten ist der Unterschied nat\u00fcrlich, wenn wir die Instrumentalmusik (\u201ereine, absolute Musik\u201c) dem gew\u00f6hnlichen Prosasprechen gegen\u00fcberstellen. Hier die verschiedenen Systeme artikulierter, mit Vorstellungen und Begriffen verkn\u00fcpfter Worte","page":43},{"file":"p0044.txt","language":"de","ocr_de":"44\nC. Stumpf.\n[04,7]\nund ihre Abfolge in den jeweiligen grammatischen Formen, dort bestimmte Intervallsysteme, Melodie- und Harmonieformen, an die zufolge einer langen Entwicklung mannigfache, fein abgestufte, eigenartige Gef\u00fchle gekn\u00fcpft sind. Diese Unterschiede sind nicht blofs objektiv vorhanden, sondern sind auch im Ausf\u00fchrenden mindestens als unmittelbar ausl\u00f6sungsbereite Dispositionen, zuweilen und teilweise aber auch als aktuelle Vorstellungsmassen wirksam. Es ist kein \u201epsychologischer Fehlschlufs\u201c, wenn wir die inneren Einstellungen mit dadurch definiert sein lassen.\nAber es besteht in dieser Hinsicht noch ein Gradunterschied. Bei dem Musizierenden pflegt die Ausf\u00fchrung doch mehr im Vordergr\u00fcnde zu stehen als beim Sprechenden. Dieser widmet dem Technischen nur in besonderen F\u00e4llen, wie beim Ein\u00fcben einer Rede oder Deklamation, n\u00e4here Beachtung, und dann sind es andere Eigenschaften, auf die er merkt. Der Musizierende, und speziell der S\u00e4nger, mufs fortw\u00e4hrend die Reinheit der Intonation, die dynamischen Schattierungen und sonstigen Vortragsbedingungen unter Kontrolle halten. Auch der gemeine Mann, der singt, wie ihm der Schnabel gewachsen ist, kann nicht umhin, dabei mehr als beim Sprechen die Bewegungen seines Stimmorgans und deren Produkte zu beachten, wenn die Sache nicht sehr \u00fcbel verlaufen soll.\n\u00dcber den Mechanismus des Nachsingens eines geh\u00f6rten (oder vorgestellten) Tones hat W. K\u00f6hler beachtenswerte, von den bisherigen abweichende Gedanken entwickelt (Psycholog. Beitr\u00e4ge zur Phonetik in Katzensteins Archiv f. experim. u. klin. Phonetik I S. 19 ff. 1913). Danach f\u00e4nde nicht eine feste Assoziation zwischen der Tonvorstqllung und einer bestimmten Muskelinnervation statt, sondern eine direkte Anpassung der Stimmlippenschwingungen an die Frequenz der Erregungen in der Schnecke (bzw. im Gehirn). Dem Bewufstsein bliebe nur die Aufgabe einer m\u00f6glichst strengen Fixation des geh\u00f6rten (vorgestellten) Tones. Ich halte dies f\u00fcr sehr wahrscheinlich, w\u00fcrde allerdings den Einflufs der \u00dcbung, sowie einer individuellen Anlage stark betonen. Die Kontrolle, von der wir oben im Texte sprechen, betrifft aber nicht blofs das Treffen eines einzelnen Tones, sondern auch das der Intervalle und des gesamten Vortrags. Und hierbei bleibt dem Bewufstsein doch sehr viel zu leisten.\nO. Abraham hat beim Singen eines Volksliedes (\u201eDeutschland, Deutschland\u201c) bedeutende Abweichungen von den reinen Intervallen selbst von seiten musikalischer und routinierter S\u00e4nger festgestellt und","page":44},{"file":"p0045.txt","language":"de","ocr_de":"[94, 8]\nSingen und Sprechen.\n45\ndie Richtung dieser Abweichungen in einer gewissen Abh\u00e4ngigkeit von der allgemeinen Melodiebewegung gefunden (Tonometrische Untersuchungen an einem deutschen Volkslied, Psychol. Forschung, Bd. 3, 1923, S. 1\u201422). Doch ist zu beachten, dafs beim Vortrag einer Melodie mit Text und zumal einer so umfangreichen (6r\u2014c1) und mit so viel Affekt habituell verkn\u00fcpften, wie \u201eDeutschland, Deutschland\u201c, die Einstellung nicht dieselbe ist wie bei isolierten Intervallen oder etwa einem aufgel\u00f6sten Dreiklang auf la\u2014la\u2014la; und besonders wenn noch ausdr\u00fccklich die Anweisung zu m\u00f6glichstem Reinsingen eingesch\u00e4rft wird. Hier d\u00fcrften bei kunstm\u00e4fsig geschulten S\u00e4ngern, die ihr Stimmorgan so in der Gewalt haben, dafs es ihren Intentionen jederzeit genau folgt, doch die Abweichungen von einer festen Stimmung geringer sein (noch geringer wahrscheinlich bei guten Violinisten). Dafs diese feste Stimmung mit der \u201ereinen\u201c Zusammenfalle, ist damit noch nicht gesagt, wie sich ja auch bei meinen Versuchen \u00fcber Beurteilung der Reinheit vorgelegter Intervalle gewisse konstante Abweichungen ergeben haben. Aber diese in Nebeneinfl\u00fcssen wurzelnden Abweichungen stehen der \u00dcberzeugung nicht entgegen, die aus der Entstehung und Struktur unseres Musiksystems fliefst, dafs die ihm zugrunde liegende und von den Ausf\u00fchrenden grunds\u00e4tzlich intendierte Stimmung die physikalisch reine ist.\nDie Einstellungen der Ausf\u00fchrenden \u00fcbertragen sich aber mutatis mutandis auch auf den H\u00f6renden, soweit dieser durch seine Nationalit\u00e4t und seinen individuellen Bildungsgang auf das Dargebotene vorbereitet ist. Er h\u00f6rt dann heraus, was jener hineinlegt. Wo beim Sprechen zuf\u00e4llig feste Intonationen und reine Intervalle unseres Tonsystems zum Vorschein kommen, bleiben sie als solche unbeachtet, und darum bleibt auch ihre Gef\u00fchlswirkung rudiment\u00e4r oder f\u00e4llt aus.\n\u00a7 3. \u00dcberg\u00e4nge und Mischungen.\nKehren wir nun zu dem hervortretendsten rein akustischen Unterscheidungsmerkmal, dem Gebrauche stetiger gegen\u00fcber sprunghaften Tonver\u00e4nderungen und schwankender gegen\u00fcber festen Intervallen, zur\u00fcck, so liegt es in der Natur der Sache, dafs trotz der prinzipiell scharfen Unterscheidung auch \u00dcberg\u00e4nge und Mischungen Vorkommen m\u00fcssen. Das Extrem einer Sprache mit ausschliefslich stetigen Tonver\u00e4nderungen gibt es in der Wirklichkeit nicht, und so k\u00f6nnen darin beliebige Ann\u00e4herungen an das Singen Platz greifen. \u00dcberdies m\u00fcssen die nationalen, lokalen und individuellen Gewohnheiten zu gewissen Regelm\u00e4fsigkeiten des Tonfalles f\u00fchren, die sich den","page":45},{"file":"p0046.txt","language":"de","ocr_de":"46\nC. Stumpf.\n[04,9]\nfesten Intervallen n\u00e4hern. Umgekehrt sind auch Ann\u00e4herungen des Singens an das Sprechen denkbar. Wir haben so tats\u00e4chlich einerseits den Sprachgesang, namentlich in der aufsereurop\u00e4ischen Musik weit verbreitet, sowie das Parlando und das Portamento unserer S\u00e4nger; und wir haben andererseits das singende Sprechen, das uns im Leben so oft begegnet. Von der einen wie der anderen Seite strecken sich Verbindungslinien hin\u00fcber.\nFassen wir diese beiden Klassen von Zwischenstufen etwas n\u00e4her ins Auge.\na) Beim Parlando-Singen l\u00e4fst sich der S\u00e4nger schon rhythmisch freier gehen, so wie es der Prosasprache, dem Sprechen im pr\u00e4gnantesten Sinn, eigen ist. Die Intervalle werden in unseren \u201eRezitativen\u201c in der Regel noch festgehalten.1 Aber bei Naturv\u00f6lkern finden sich hierin \u00dcberg\u00e4nge, die man fast ebensogut zu der einen wie der anderen Gattung rechnen kann, zumal da auch die Intervalle des Gesanges dort meist nicht so konstant innegehalten werden, wie wir es verlangen. Dennoch wird der Unterschied wohl niemals ganz verwischt und merkt man auch dem Vortragenden eine verschiedene Einstellung an, je nachdem er nur parlando singt oder wirklich spricht.\nEin sehr charakteristisches Parlando wird vielfach auch hervorgebracht durch Festhalten einer einzigen konstanten Tonh\u00f6he. So findet man bei Indianern gelegentlich ganze Ges\u00e4nge auf einem gleichbleibenden Ton, ohne dafs doch \u2014 wie in dem bekannten besonders ausdrucksvollen Liede von Cornelius 2 \u2014\n1\tBei einer Auff\u00fchrung von Schrekers \u201eSchatzgr\u00e4ber\u201c in Berlin verfiel der Kanzler im letzten Akte tats\u00e4chlich in Sprechen und erzielte damit eine sehr drastische Wirkung. Aber es sind hier in der Partitur bestimmte Noten f\u00fcr jede Silbe vorgeschrieben, die der Komponist, wie er mir sagte, auch innegehalten wissen will, in denen er sich allerdings dem Tonfall der nat\u00fcrlichen Kede m\u00f6glichst ann\u00e4hert. Der \u00dcbergang zum wirklichen Sprechen wird vom H\u00f6rer hier doch wie eine /uer\u00e4\u00dfaais sis \u00e0XXo y\u00e9vos empfunden.\n2\tNat\u00fcrlich w\u00e4re die Eint\u00f6nigkeit hier nicht so ausdrucksvoll, w\u00e4re sie nicht eben ein Ausnahmefall und nicht durch den Text motiviert. Kretzschmar sagt von diesem Liede (Gesammelte Aufs\u00e4tze \u00fcber Musik I, 1910, S. 28) : \u201eEs ist Deklamieren, ausdrucksvolles Sprechen und Stammeln,","page":46},{"file":"p0047.txt","language":"de","ocr_de":"[94,10]\nSingen und Sprechen.\n47\ndurch begleitende, geistreich wechselnde Harmonie die Monotonie aufgehoben w\u00fcrde. Auch die erz\u00e4hlenden Lieder der Zentral-Eskimo halten sich nach F. Boas\u2019 Aufschreibungen auf einem Ton, von dem sie nur an akzentuierten Stellen um einen Halbton ab weichen.* 1 Das Psalmodieren im Gregorianischen Gesang l\u00e4fst gleichfalls die Stimme ganze S\u00e4tze hindurch auf einem Tone verweilen, aber den Anfang und Schlufs machen hier Intervalle der diatonischen Leitern. Ebenso liest Raoul in den \u201eHugenotten\u201c den Brief der K\u00f6nigin auf dem konstanten Ton c1 vor, von dem er nur am Schlufs auf die tiefere Oktave herabgeht.2 Und schon in Cimaeosas \u201eMatrimonio segreto\u201c singt der alte Geron in dem Duett mit Geronimo sein in einem halblauten Parlando vorzutragendes Selbstgespr\u00e4ch auf dem konstanten Tone b, nur zweimal durch die h\u00f6here Oktave unterbrochen.\nDiese monotonen Rezitationen bleiben der gew\u00f6hnlichen Sprache auch vielfach durch den Verzicht auf feste Metren nahe. Dennoch fallen sie zweifellos unter den Begriff des Singens. Man reduziert nur die Leiterintervalle fast ganz auf die Prime, weil der an die \u00fcbrigen habituell gekn\u00fcpfte Gef\u00fchlsausdruck vermieden werden soll, wo es sich blofs um einen Bericht u. dgl. handelt. \u00dcbrigens l\u00e4fst sich leicht best\u00e4tigen, dafs man auch in der Sprache des Lebens beim Vorlesen eines Aktenst\u00fccks oder beim Ausrufen einer Meldung unwillk\u00fcrlich monoton wird, offenbar aus dem Gef\u00fchl heraus, dafs das Gesagte\ndas einen ganz ergreifenden Eindruck hinterlassen kann.\u201c Der Subsumtion unter das Sprechen oder gar Stammeln w\u00fcrde ich aber doch widersprechen, und sie ist auch sicherlich von dem geistreichen Musikforscher nur als ein kr\u00e4ftiger Ausdruck zur Beschreibung der k\u00fcnstlerischen Wirkung gemeint.\n1\tNotenbeispiele vgl. in \u201eAnf. d. Musik\u201c S. 93, 157, 170.\n2\tSeltsamerweise ist dies gerade eine Frage. Man kann aber aus der interessanten Abhandlung von F. Mies \u201e\u00dcber die Behandlung der Frage im 17. und 18. Jahrhundert (Zeitschr. f. Musikwissenschaft, 4. Jahrg. S. 286ff.) ersehen, dafs zwar die aufsteigende Bewegung, besonders der phrygische Schlufs mit Aufstieg zur Dominante, in der Vertonung der Frage vorherrscht, dafs aber auch genug Ausnahmen Vorkommen. Bei Lully z. B. ist die Frage meist abw\u00e4rts gef\u00fchrt. \u201eDie Franzosen fragen grofsenteils anders als die Welschen\u201c \u2014 schreibt einmal Graun an Telemann. Vielleicht hat dieser Umstand auch bei Meyerbeer mitgewirkt.","page":47},{"file":"p0048.txt","language":"de","ocr_de":"48\nC. Stumpf.\n[94,11]\nnicht als Ausdruck der eigenen Gedanken oder Gem\u00fctsbewegungen erscheinen soll. Beim Psalmodieren ist diese Deutung allerdings nicht anwendbar, hier d\u00fcrfte es sich vielmehr zun\u00e4chst darum handeln, dafs man eigentlich gehoben sprechen, deklamieren w\u00fcrde, wenn nicht das Zusammensprechen Vieler mit ihren verschiedenen und schwankenden Tonh\u00f6hen eine so abscheuliche und zugleich das Verst\u00e4ndnis sch\u00e4digende Wirkung t\u00e4te. Dazu kommt aber gewifs auch das positive Bed\u00fcrfnis der Uniformierung und Verst\u00e4rkung der von vielen gemeinsam vorgetragenen Gebete und der Ausschaltung aller individuellen Unterschiede gegen\u00fcber dem Unendlichen. Man kann experimentell beobachten1, wie die sonst leicht erkennbare individuelle Eigenart des Sprechens (abgesehen von gr\u00f6beren Klangfarbenunterschieden) verschwindet, sobald ein bestimmter Ton festgehalten wird. Die Anfangs- und Schlufsintervalle aber und der Tonfall beim Punkt, Komma, Fragezeichen, wie sie im liturgischen Ges\u00e4nge vorgeschrieben waren und noch sind, wurden so gew\u00e4hlt, dafs sie den in der Sprache gebr\u00e4uchlichen m\u00f6glichst nahe blieben. Gleitende Tonbewegung in gr\u00f6fserem Umfange findet sich an bestimmten Stellen in Ges\u00e4ngen der Naturv\u00f6lker, besonders ein Abw\u00e4rtsgleiten am Schl\u00fcsse. Reste solcher Bewegungen kommen auch im europ\u00e4ischen Volks-gesange vor.2 Sie stellen gleichfalls leichte Ann\u00e4herungen an das Sprechen dar.\nIn der Kunstmusik geh\u00f6rt das Portamento hierher, wie es von S\u00e4ngern und Streichern gebraucht wird. Ein stark aufgetragenes Portamento soll nur selten angewandt werden, wenn etwa der Leitton besonders dr\u00e4ngend zur Tonika hin\u00fcbergef\u00fchrt werden soll oder an Stellen wie \u201eF\u00fclle der Liebe* *4 in Goethe-Brahms\u2019 Rhapsodie, wo Hermine Spies mit dem aufsteigenden Portamento von ais bis e2 eine ergreifende Wirkung erzielte (jetzt soll auch Sigrid Onegin den gewaltigen Schritt\n1 Vgl. Passows u. Schaefers \u201eBeitr\u00e4ge z. Anatomie ... des Ohres usw.\u201c Bd. 17, 1921, S. 184.\n* S. Anf. d. Musik, S. 82 f. Auch in den von Bart\u00f6k herausgegebenen Volksges\u00e4ngen der ungarischen Rum\u00e4nen (4. Bd. der \u201eSammelb\u00e4nde f. vergleichende Musikwissenschaft\u201c v. Stumpf und v. Hornbostel, vgl. Einf\u00fchrung S. X, XVI) finden sich viele gleitende Bewegungen, besonders am Schlufs ein Hinabgleiten zur Unterquarte.","page":48},{"file":"p0049.txt","language":"de","ocr_de":"{94,12]\nSingen und Sprechen.\n49\nin dieser Weise, mit vielleicht noch ausgepr\u00e4gterem Portament, vollziehen). Aber in fast unmerklicher Form, nur angedeutet, ist es in vielfacher und ganz unentbehrlicher Verwendung. In Verbindung mit einem leisen Vibrieren beseelt es den Vortrag. Streicher k\u00f6nnen Legato-Stellen, wie z. B. die ersten zwei Noten von Schumanns A-dur-Quartett (fis2\u2014&1), unm\u00f6glich ausdrucksvoll wiedergeben, wenn sie nicht beim Verlassen der \u2022ersten (auf der A-Saite gegriffenen) Note den Finger leicht abw\u00e4rts gleiten lassen. Das Gleiten mufs aber sehr rasch, nur eben merklich, erfolgen und die zweite Note doch wieder scharf eingesetzt werden, so dafs der Eindruck der festen und reinen Tonhaltung nicht verloren geht. Es w\u00e4re interessant, dieses Verfahren einmal graphisch aufzunehmen, da f\u00fcr die direkte Beobachtung die Tonbewegung viel zu undeutlich und fl\u00fcchtig ist. Bei den modernen Streichern wird freilich das Portament oft ungeb\u00fchrlich \u00fcbertrieben. Viele k\u00f6nnen eine Kantilene nicht ohne best\u00e4ndiges Hin\u00fcberrutschen von einem Ton zum anderen vortragen. In Kaffeeh\u00e4usern mag dies wirken, in Konzerts\u00e4len beleidigt es feinere Ohren. Es verst\u00f6fst gegen Geist und Wesen der Tonkunst. Unleidlich sentimental wirkt es bei der Zither mit ihren ohnedies schon larmoyant piepsenden T\u00f6nen. So darf also auch der S\u00e4nger selbst, dem diese Vortragsmanieren na\u00f6heifern wollen, nur mit gr\u00f6fster Diskretion von gleitender Tongebung Gebrauch machen.\nEs g\u00e4be noch andere M\u00f6glichkeiten stetiger Tonbewegung in der Musik. Auf eine solche, sogar in Quintenparallelen, habe ich schon einmal (Tonpsychol. II, 180) hingewiesen. Aber man mufs fast f\u00fcrchten, dergleichen zu verraten. Solche Effekte d\u00fcrften wieder nur \u00e4ufserst sparsam zu ganz bestimmten Ausdruckszwecken eingestreut werden, wenn nicht Musik aufh\u00f6ren soll, Musik zu sein.\nEine Ann\u00e4herung an stetige Tonbewegungen bewirken aber auch schon rasche chromatische G\u00e4nge von gr\u00f6fserem Umfange. Dabei entf\u00e4llt das eigent\u00fcmliche Ethos, der spezifische Gef\u00fchlsausdruck, der an die Intervalle der diatonischen Leiter, auch an die alterierten, gekn\u00fcpft ist, es bleibt nur der Eindruck des Dahinrollens \u00fcber eine gewisse Strecke des Tonreiches; erst der Schlufston bringt wieder seiner Leiterstellung gem\u00e4fs ein bestimmtes Intervallgef\u00fchl mit sich. Eine Kette von Viertelstumpf, Beitr\u00e4ge 9.\t4","page":49},{"file":"p0050.txt","language":"de","ocr_de":"50\nC. Stumpf.\n[94,18]\ntonstufen w\u00fcrde die Ann\u00e4herung nat\u00fcrlich noch weiter treiben. Im arabisch-t\u00fcrkischen Stil ist in der Tat der Gesang vielfach durchsetzt mit Koloraturen, bei denen mit grofser Schnelligkeit eine Reihe kleinster Intervalle (nat\u00fcrlich nicht in scharfer Abmessung) durchlaufen werden, was dem Europ\u00e4er leicht wie ein stetiges Auf- und Abheulen erscheint. Aber es sind hier nicht wirklich gleitende Bewegungen beabsichtigt; wie denn auch auf Instrumenten mit festen Griffen \u00e4hnliche G\u00e4nge ausgef\u00fchrt werden. Ich habe w\u00e4hrend des Krieges in Gefangenenlagern viel dergleichen geh\u00f6rt, besonders gut in dem griechischen Internierungslager zu G\u00f6rlitz bei St\u00fccken, die offenbar unter t\u00fcrkischem Einflufs standen.\nEs d\u00fcrfte wohl auch die Ornamentierung in unserer eigenen Musik (Triller, Doppelschlag usf.) nicht aufser Zusammenhang mit dem Bed\u00fcrfnis stehen, die Fesseln der starren Intonation wenigstens scheinbar zu lockern und sich der freibewegten Tongebung des ausdrucksvollen Sprechens zu n\u00e4hern, ohne doch der an die Intervalle gekn\u00fcpften Gef\u00fchlswirkungen verlustig zu gehen. Doch wirken hier vielerlei Motive zusammen.1\nb) Singendes Sprechen andererseits ist ein Sprechen, bei dem sich feste und diskrete Tonh\u00f6hen dem H\u00f6renden aufdr\u00e4ngen. Spricht man zun\u00e4chst m\u00f6glichst affektlos, trocken und nicht zu laut ein einsilbiges Wort, so ist es immer leicht, die Tonh\u00f6he, die unter diesen Umst\u00e4nden nahezu konstant bleibt, auf dem Klavier anzugeben, vorausgesetzt nat\u00fcrlich, dafs der Sprechende nicht eine zu rauhe Stimme hat.2 Hier ist Sprechen und Singen dem Klangbestande nach tats\u00e4chlich\n1\tVgl. Bart\u00f6k a. a. 0. \u00fcber die Ausf\u00fcllung der Quinte oder Quarte durch rasche Durchgangst\u00f6ne.\nWie aus dem gehaltenen Ton durch das Streben nach Beseelung das Vibrando, Balancement, Tremolando und daraus weiter die Zerlegung in mehrere gleichep oder benachbarte T\u00f6ne hervorgehen, hat B. Lach, Studien zur Entwicklung der ornamentalen Melop\u00f6ie, S. 47 f. gut geschildert. Die Hereinziehung des Darwinismus in diese Dinge, sei es auch nur als Analogie, kann ich allerdings nicht gl\u00fccklich finden.\n2\tDer Ton entspricht dem neutralen Zustande der Stimmlippen zwischen Anspannung und Entspannung, dessen phonetische Bedeutung W. K\u00f6hler in Katzensteins Archiv f. experim. u. klin. Phonetik I (1913) S. 14 ff. untersucht hat. F\u00fcr mich liegt dieser \u201ephonische Nullpunkt\u201c","page":50},{"file":"p0051.txt","language":"de","ocr_de":"[94,14]\nSingen und Sprechen.\n51\ndasselbe, obgleich die Aufmerksamkeit des H\u00f6rers einmal auf den Ton, das andere Mal etwa auf den Dialekt, die Aussprache der Vokale und Konsonanten oder den Sinn des Gesprochenen gerichtet sein kann und er demgem\u00e4fs das eine Mal Gesang, das andere Mal blofse Sprache zu h\u00f6ren angibt.\nSelbst mehrsilbige Interjektionen und Ausrufungsformeln kann man oft genug ebensogut als gesungene auffassen. So das \u00fcberraschte \u201eNanu!\u201c des Berliners, das je nach dem Grade des Erstaunens von der Terz bis zur Septime und weiter geht, wobei zugleich die Betonung der zweiten Silbe w\u00e4chst; oder ein lebhafteres \u201eJawohl!\u201c \u201eGewifs!\u201c oder ein resigniertes \u201eJa, Ja!\u201c \u2014 gar nicht zu reden von der Musik der \u201ewarmen W\u00fcrstchen\u201c auf th\u00fcringischen Bahnstationen. \u00dcberall da pflegen die Intervalle sehr deutlich und keine merklichen Tonschwankungen vorhanden zu sein. Ist dies nun Singen oder-Sprechen? Ich m\u00f6chte sagen: es ist Singen, wenn die Intervalle so weit im Bewufstsein zur Geltung kommen, dafs das spezifische Intervallgef\u00fchl der Quarte usf., wie es sich bei musikalischen Menschen eines bestimmten Kulturkreises ausgebildet hat, dadurch ausgel\u00f6st wird. Aufserdem ist es Sprechen. Also je nach dem Subjekt und seiner Verfassung. In der Geh\u00f6rserscheinung als solcher ist kein wesentlicher Unterschied. Etwas l\u00e4ssiger pflegt ja immerhin der Sprechende die Tonbildung zu behandeln, und etwas Nachsicht mufs also der H\u00f6rer mit dem Vortrag haben, wenn er Gesang h\u00f6ren will.\nSpricht man in gr\u00f6fserem Zusammenhang, so kann eine Ann\u00e4herung an das Singen schon eintreten, wenn der Sprechende auch nur auf einer einzelnen Silbe ungew\u00f6hnlich lang eine bestimmte Tonh\u00f6he festh\u00e4lt, sei\u2019s auch unwillk\u00fcrlich, oder wenn er oft und nachdr\u00fccklich auf diese Tonh\u00f6he zur\u00fcckkommt. Ebenso erweckt eine ungew\u00f6hnlich hohe Stimme leicht den Eindruck des Singens. Besonders aber der stereotype Gebrauch bestimmter, hervorstechender Intervalle an akzentuierten Stellen. Man wird dann geneigt, die stetigen Teile der Stimmbewegung aufser acht zu lassen und sich an diese ausgezeichneten Punkte der Sprachkurve zu halten.\nDurch die Anwendung eines solchen ausw\u00e4hlenden und summarischen Verfahrens kann man auch schon in der gew\u00f6hnlichen, nicht \u201esingenden\u201c, Rede leicht Melodien finden.\n4*","page":51},{"file":"p0052.txt","language":"de","ocr_de":"52\nC. Stumpf.\n[94,15]\nSo sind die vielen Versuche entstanden, die Sprachmelodie in unseren Noten zu fixieren. Es kommt ihnen nur ein sehr relativer Wert zu, da gerade das Wesentlichste der Sprache dabei aufser acht bleibt. Immerhin k\u00f6nnen sie gewissen Zwecken dienen, namentlich der Vergleichung der einzelnen Sprachen und Dialekte, ja auch der Individuen in bezug auf den Tonfall bei bestimmten Gelegenheiten (Sievers) oder der Festsetzung der verschiedenen auf- oder absteigenden Intervalle, durch die ein und dasselbe Wort im Chinesischen und in afrikanischen Sprachen mehrere verschiedene Bedeutungen erh\u00e4lt. 1 Dafs dabei gleichwohl, wenn nicht objektive Methoden ben\u00fctzt werden, ein weniger ge\u00fcbtes Geh\u00f6r starken T\u00e4uschungen ausgesetzt ist, scheint mir unter anderem F. Sarans durchgef\u00fchrte Notierung von Goethes \u201eZueignung\u201c zu lehren 2, wonach sich das ganze Gedicht in seiner eigenen Deklamation und der mehrerer anderer Sprecher fast nur innerhalb eines Ganztons bewegen w\u00fcrde. Ich kann dies nur f\u00fcr eine starke Geh\u00f6rst\u00e4uschung halten, auch bei norddeutschem Tonfall, es sei denn, dafs eine ganz abnorme Sprechweise vorl\u00e4ge, deren gleichzeitiges Vorkommen bei den untersuchten Individuen doch \u00e4ufserst unwahrscheinlich w\u00e4re. Das Auf- und Absteigen im allgemeinen mag dabei aber richtig wiedergegeben sein, nur nicht die Intervalle. 3\n1\tVgl. u. a. Hbepe, Experimentalphonetische Untersuchungen \u00fcber die Tonh\u00f6hen im Jaunde. Abh. des Hamburgischen Kolonialinstituts, Bd. 24. Die hier wiedergegebenen Kurven sind auch f\u00fcr die Stetigkeit der Tonbewegung auf einer Silbe lehrreich. Eigent\u00fcmlich ist das von H. hervorgehobene Vorherrschen der Quarte, Quinte und Oktave, also der ersten Konsonanzen, als Zielpunkten der Bewegung, nat\u00fcrlich nicht in exakter Abstimmung. Auch dafs die Stimme am Schlufs oft bis zu einer ganzen Oktave herabsinkt, hat sein Analogon in primitiven Ges\u00e4ngen.\n2\tF. Saran, Melodik und Rhythmik der Zueignung Goethes. 1903.\n3\tW. K\u00f6hler, der in seinen \u201eAkustischen Untersuchungen\u201c III (Zeitschr. f. Psychol. 72, S. 106ff.) den Sprachnotierungen doch wohl allzu skeptisch gegen\u00fcbersteht, hebt mit Recht hervor, dafs man den Tonumfang des Sprechens vielfach untersch\u00e4tze. Kritisches \u00fcber fr\u00fchere Notierungsversuche, namentlich die L. Merkels, in meiner oben S. 40 zitierten Abhandlung in der Viertelj.-Schr. f. Musikwiss., S. 278ff., wo auch gewisse Einwirkungen der Sprachmelodie auf den Gesang und selbst auf die Instrumentalmusik besprochen werden.","page":52},{"file":"p0053.txt","language":"de","ocr_de":"[94,16]\nSingen und Sprechen.\n53\nBeim \u201esingenden Sprechen\u201c ist nun der stets vorhandene Tonfall der Rede ausgepr\u00e4gter, auffallender, es treten gewisse Intervalle mit besonderer Regelm\u00e4fsigkeit auf, zumal solche, die ihrer Gr\u00f6fse oder Richtung nach dem H\u00f6rer ungewohnt sind und darum seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen.1 2 So kann der Eindruck graduell in den des Singens \u00fcbergehen oder sich ihm wenigstens n\u00e4hern.\nBeim Deklamieren zur Musik (Melodram) wird von guten Sprechern die Ann\u00e4herung k\u00fcnstlich vollzogen, um den Gegensatz zu mildern. So pflegt sich L. W\u00fcllner (und \u00e4hnlich tat es fr\u00fcher Possart) in Byron-Schumanns \u201eManfred\u201c vielfach auf akzentuierten Stellen derart der Begleitung zu akkommodieren, dafs wirklich ein Zwischending von Singen und Sprechen entsteht. Er spricht gleichsam in einer bestimmten Tonart, wlnn er auch nirgends die genauen Intervalle gebraucht. Die Wiederkehr bestimmter, mit den Instrumentalt\u00f6nen zusammenfallender absoluter Tonh\u00f6hen an ausgezeichneten Punkten bewirkt hier diesen Eindruck. Auch sonst gibt es in der k\u00fcnstlerisch gehobenen Sprache manche Ann\u00e4herungen an das Singen. So war es eine Art musikalischen Genusses, wenn Charlotte Wolter etwa \u201eEilende Wolken, Segler der L\u00fcfte\u201c rezitierte. Auch ihre subjektive Einstellung d\u00fcrfte hier zwischen Singen und Sprechen in der Mitte gelegen haben. Schon ein besonders sch\u00f6ner Stimmklang, wie sie ihn besafs, kann durch seinen physischen Reiz zu der musikalischen Wirkung beitragen. In solchen F\u00e4llen ist \u201esingendes Sprechen\u201c auch nichts weniger als ein Tadel.\nDa es n\u00fctzlich ist, \u00fcber eine der allt\u00e4glichen Beobachtung so offen vorliegende Sache auch die Meinungen geistreicher Nichtfachm\u00e4nner zu h\u00f6ren, so sei hier noch eine \u00c4ufserung Carl Spittelers 2 angef\u00fchrt. Er dreht gewissermafsen die alten Definitionen um. Die sogenannte singende Aussprache habe nichts mit dem musikalischen Singen zu tun, nichts mit festen Tonh\u00f6hen, Dreiklangfolgen, j\u00e4hem Wechsel von hohen und tiefen T\u00f6nen. Der Italiener, der am besten singe, spreche nicht singend. \u201eDer Slawe, der bald in den h\u00f6chsten Fistelt\u00f6nen, bald im Brummbafs redet, und ganze S\u00e4tze auf eine einzige Note stimmt, singt nicht. Der\n1\tDarum h\u00f6rt man, wie H. Lachm\u00fcnd (Vokal u. Ton, Zeitschr. f. Psychol. 88, S. 33) richtig bemerkt, bei dem eigenen Dialekt die Tonh\u00f6hen oft nicht, w\u00e4hrend Fremde ihn f\u00fcr singend erkl\u00e4ren.\n2\tLachende Wahrheiten, 1920, S. 168ff. : \u201eSingende Aussprache\u201c.","page":53},{"file":"p0054.txt","language":"de","ocr_de":"54\nC. Stumpf.\n[94,17]\nS\u00fcddeutsche und Schweizer dagegen, wenn er sich noch sc monoton zwischen zwei naheliegenden Intervallen (sc. T\u00f6nen) bewegt, singt. N\u00e4mlich unter Singen versteht man das Schwanken der Tonh\u00f6he innerhalb eines einzigen Vokals, und w\u00e4re die Schwankung noch so gering. Solch eine Schwankung entsteht aber, wenn der Sprechende einen Gef\u00fchlsausdruck in den Vokal legen will. Ein freudiges Ja, ein \u00e4rgerliches Nein, durchl\u00e4uft beim S\u00fcddeutschen eine ganze Tonskala, was einem Romanen, einem Slawen, niemals widerf\u00e4hrt. Was tun denn diese in vorliegendem Fall? Sie verwenden das Tempo, die Tonst\u00e4rke und die Tonh\u00f6he, sie f\u00fcgen allerlei Adjektiva hinzu, aber unter keinen Umst\u00e4nden werden sie von der einmal angeschlagenen Tonh\u00f6he innerhalb des n\u00e4mlichen Vokals hinauf- oder hinabgleiten. Nie werden Sie aus italienischem Munde ein No in so ausdrucksvoller Weise vernehmen, wie unser \u201eNein\u201c ; es bleibt bei dem festen No. Sie k\u00f6nnen den Unterschied innerhalb des Deutschen selbst wahrnehmen: schildert einer seilte \u00fcberstandenen furchtbaren Zahnschmerzen derart, dafs er durch die T\u00f6ne, die er in das a und u des Wortes \u201efurchtbar\u201c legt, Eindruck zu machen vereucht, dann singt er. Der andere, Nichtsingende, verlegt zu demselben Zweck das ganze Wort \u201efurchtbar\u201c in die h\u00f6chste Fistelregion.\u201c\nDiese und noch weitere Bemerkungen Spitteleks haben unstreitig viel Wahres in sich, und man mufs zugeben, dafs mit dem \u201esingenden Sprechen\u201c verschiedene Eigenschaften gemeint sein k\u00f6nnen. Die Ann\u00e4herung kann eben auf verschiedenen Wegen erfolgen; wir brauchen das wesentlichste Unterscheidungsmerkmal darum nicht aufzugeben. Gewifs werden ungew\u00f6hnlich grofse Schwankungen der Tonh\u00f6he auf einer einzigen Silbe als singendes Sprechen empfunden, weil sie die Aufmerksamkeit auf die Tonbewegung als solche hinlenken. Aber kleinere Schwankungen ben\u00fctzt doch auch das nicht-singende Sprechen best\u00e4ndig, und zwar auch im Italienischen und Franz\u00f6sischen. Das \u201eNo\u201c des Italieners freilich wird so kurz gesprochen, dafs zu Tonver\u00e4nderungen kaum Zeit ist, wie sie dem Engl\u00e4nder auf seinem \u201eYes\u201c, \u201eNo\u201c und dem Deutschen bei Ja und Nein m\u00f6glich sind. \u201eFurchtbar\u201c w\u00fcrde ich unter den angegebenen Umst\u00e4nden durch eine sehr hohe erste und tiefe zweite Silbe ausdr\u00fccken; wenn es arg war, vielleicht durch eine Duodezime und mehr, selbst mit Hilfe der Kopfstimme bei der ersten Silbe, aber nicht durch eine stetige Tonver\u00e4nderung. Ich sehe also nicht ein inwiefern dieses Beispiel Spittelebs These erh\u00e4rten soll.\n\u00a7 4. W. K\u00f6hlers Anschauung.\nDas alte Merkmal: feste T\u00f6ne und Intervalle gegen\u00fcber gleitenden und schwankenden, vermag also nicht blofs dem prinzipiellen Unterschied, sondern auch den in Wirklichkeit","page":54},{"file":"p0055.txt","language":"de","ocr_de":"[94,18]\nSingen und Sprechen.\n55\nvorkommenden Ann\u00e4herungen, Mischungen und \u00dcberg\u00e4ngen am besten gerecht zu werden.\nGleichwohl ist auf experimental-psychologischer Seite eine tiefergreifende ganz radikale Trennung mit Nachdruck vertreten worden. Nach K\u00f6hlee w\u00fcrde den Sprachlauten gegen\u00fcber musikalischen Kl\u00e4ngen ein Attribut, eine sinnliche Grundeigenschaft fehlen, die er als \u201eTonh\u00f6he\u201c bezeichnet. Das Tonmaterial w\u00e4re qualitativ verschieden: T\u00f6ne mit und ohne Tonh\u00f6he.1 Unter Tonh\u00f6he versteht K\u00f6hlee (S. 2) \u201edie Eigenschaft, auf die man gerichtet ist, wenn man einen Ton oder Klang nachsingend treffen will oder wenn man einen gegebenen Ton als Quinte eines anderen bezeichnet\u201c.\nWir nennen jetzt zumeist \u201eTonh\u00f6he\u201c die Eigenschaft, die sich parallel mit den Schwingungszahlen ver\u00e4ndert und wonach eben tiefe und hohe, tiefere und h\u00f6here T\u00f6ne unterschieden werden. Pr\u00e4gnanter nennt man sie wohl auch \u201eHelligkeit\u201c. Dagegen unterscheiden wir davon die Eigenschaft, die T\u00f6nen von gleicher Buchstabenbezeichnung, z. B. allen \u00a3)\u2019s, abgesehen von den Zahlenindices, gemeinsam ist. Diese werden seit Lotze und Beentano als \u201emusikalische Qualit\u00e4t\u201c, auch kurz als \u201eQualit\u00e4t\u201c bezeichnet. Also c und c1 haben dieselbe musikalische Qualit\u00e4t, die sie eben zu \u00a9\u2019s macht, aber ungleiche H\u00f6he oder Helligkeit. Die musikalische Qualit\u00e4t ist auch f\u00fcr die Unterscheidung der Intervalle innerhalb der Oktave wesentlich (wenngleich nicht allein ausschlaggebend), und sie ist es, auf der das \u201eabsolute Tonbewufstsein\u201c in erster Linie beruht, bei dem ja h\u00e4ufig der Tonname richtig, die H\u00f6henlage falsch angegeben wird.\nWas nun K\u00f6hlee mit der \u201eTonh\u00f6he\u201c meint, die den Sprachlauten fehle, ist offenbar die musikalische Qualit\u00e4t. Denn wenn ein Bassist einen vorgegebenen Ton aus der 2-ge-strichenen Oktave mit Bruststimme nachsingt und trifft, so trifft er eben nur die gleiche musikalische Qualit\u00e4t, aber nicht die H\u00f6he. Und wenn K\u00f6hlee unter den Tonerscheinungen,\n1 Bericht \u00fcber den 5. Kongiefs f\u00fcr experimentelle Psychologie 1912, &. 152. Ausf\u00fchrlich in \u201eAkustische Untersuchungen III\u201c, Zeitschr. f. Psychol. 72 (1915) S. 103 ff.","page":55},{"file":"p0056.txt","language":"de","ocr_de":"56\nC. Stumpf.\n[94,19]\ndenen die Tonh\u00f6he fehle, neben der Sprache auch die T\u00f6ne der 6-gestrichenen Oktave anf\u00fchrt, an denen man zwar noch Helligkeits- oder Spitzigkeitsunterschiede aber keine musikalischen Intervalle mehr wahrnehme, so geht daraus das n\u00e4mliche hervor. Es ist mir dies auch m\u00fcndlich best\u00e4tigt worden. c, c\\ c2 haben also nach K. die n\u00e4mliche \u201eTonh\u00f6he\u201c.1 Der Unterschied zwischen Sprechen und Singen ist K\u00f6hler zufolge von \u00e4hnlicher Art wie der zwischen Ger\u00e4usch und Ton. Ger\u00e4usche haben in der Tat, wie es scheint, keine musikalischen Qualit\u00e4ten. Wenn man Intervalle, Melodien darin erkennt, se mag es an beigemischten T\u00f6nen liegen. Nur der Helligkeit nach sind sie abgestuft. So sieht sich K\u00f6hler dazu gef\u00fchrt, die Sprachlaute tats\u00e4chlich den blofsen Ger\u00e4uschen beizuz\u00e4hlen. Er \u00fcbersieht nicht, dafs man aus der Sprache gewisse Intervalle mehr oder weniger deutlich heraush\u00f6ren kann, will dies aber lieber als ein Hineinh\u00f6ren bezeichnen, und findet, dafs in demselben Moment auch der ph\u00e4nomenale Charakter des Sprechens in den des Singens \u00fcbergehe.\n\u00c4hnlich, aber noch weitergehend, urteilt E. R. Jaensch (Die Natur der menschl. Sprachlaute, Zeitschr. f. Sinnesphysiologie 47, 1913, S. 2561): \u201eDie wirklich ausgepr\u00e4gten Vokale, die gesprochenen, zeigen das charakteristische Merkmal der T\u00f6ne, die H\u00f6he, entweder gar nicht oder nur in \u00e4hnlich undeutlicher Weise wie die Ger\u00e4usche .... Das andere Merkmal der Tonreihe, die . . . musikalische Qualit\u00e4t, fehlt nat\u00fcrlich den Vokalen erst recht/\nJaensch\u2019 Sch\u00fcler H. Lachm\u00fcnd findet (Vokale und T\u00f6ne, Zeitschr. f. Psychol. 88, S. 33), dafs K\u00f6hler mit Unrecht Jaensch\u2019 \u00c4ufserung als Zustimmung zu seiner Ansicht auffasse. \u201eBei Jaensch steht, wie sich der Leser unschwer \u00fcberzeugen wird, etwas ganz anderes. Es heifst daselbst, nicht, dafs die H\u00f6he den gesprochenen Vokalen fehlt, sondern nur dafs sie in \u00e4hnlicher Weise undeutlich [nur hier gesperrt], wie bei den Ger\u00e4uschen, ist und gelegentlich \u2014 n\u00e4mlich in einem sogleich zu erw\u00e4hnenden Grenzfall [den gefl\u00fcsterten Vokalen] \u2014 auch fehlen kann.\u201c\nDer \u00fcbereifrige Sch\u00fcler hat hier doch des Guten zu viel getan. Er\nEine harte Terminologie, die sich schwerlich einb\u00fcrgern wird^ S. 112 spricht er denn auch spezieller von der \u201emusikalischen Tonh\u00f6he , womit ich aber lieber die durch die Notenbuchstaben ein-schliefslich der Indices angezeigte Stellung in der Tonreihe aus-dr\u00fccken w\u00fcrde. An dieser Stelle setzt K. \u00fcbrigens auch ausdr\u00fccklich diese \u201emusikalische Tonh\u00f6he\u201c und die Helligkeit (H\u00f6he im gew\u00f6hnlichen Sinn) einander gegen\u00fcber.","page":56},{"file":"p0057.txt","language":"de","ocr_de":"[94,20]\nSingen und Sprechen.\n57\nhat den Wortlaut der Behauptung, von der sich der Leser \u201eunschwer \u00fcberzeugen\u201c soll, seinerseits ganz wesentlich ver\u00e4ndert. Er ersetzt n\u00e4mlich \u201eentweder fehlt oder undeutlich ist\u201c durch \u201enicht fehlt sondern undeutlich ist\u201c. Das ist sehr zweierlei! In Wahrheit liegt die Sache so : Jaensch beh\u00e4lt sich den R\u00fcckzug vor ; bei Lachm\u00fcnd wird er tats\u00e4chlich angetreten.\nIn einer Hinsicht hat aber Jaensch den Unterschied zwischen gesprochenen und gesungenen Lauten sogar noch mehr als K\u00f6hler versch\u00e4rft. K\u00f6hler will (was er allerdings deutlicher, ausdr\u00fccklicher h\u00e4tte sagen m\u00fcssen) nur die Tonh\u00f6he im Sinne der \u201emusikalischen Qualit\u00e4t\u201c den Sprachlauten absprechen, nicht die mit der Schwingungszahl parallel ver\u00e4nderliche Tonh\u00f6he (Helligkeit). Jaensch dagegen spricht ihnen beides ab, das letztere bedingt (\u201eentweder gar nicht oder undeutlich\u201c), das erstere aber unbedingt und ebenso nachdr\u00fccklich wie K\u00f6hler selbst.\nUnsere Kritik im Text richtet sich nur gegen K\u00f6hler. Sie w\u00fcrde aber gegen Jaensch\u2019 weitergehende Behauptung \u00e4hnlich lauten.\nScheinbar, n\u00e4mlich den Worten nach, lehren \u00fcbrigens auch schon die altgriechischen Theoretiker einen Unterschied in den Attributen: wenn sie n\u00e4mlich gesungenen T\u00f6nen die \u201eBreite\u201c absprechen, die gesprochene bes\u00e4fsen. Aber sie meinen damit nur jene gleitende Bewegung \u00fcber eine gewisse Zone des Tonreiches, jene sukzessive Breite, von der wir schon gesprochen haben.\nDiese Formulierung der Tatsachen kann ich nun doch nicht unterschreiben. Ich w\u00fcrde sagen, dafs nicht das Lautmaterial selbst sich dabei \u00e4ndere, sondern nur die Richtung und Verteilung der Aufmerksamkeit. H\u00e4tte die Aufmerksamkeit die Kraft, das gegebene Lautmaterial selbst in einem so wesentlichen Punkte umzugestalten, dafs ihm eine Grundeigenschaft zuw\u00fcchse oder geraubt w\u00fcrde, so d\u00fcrfte man auch Helligkeitsund St\u00e4rkeunterschiede nur dann in den Sprachlauten (ebenso in den Ger\u00e4uschen) anerkennen, wenn zuf\u00e4llig die Aufmerksamkeit des H\u00f6renden auf solche Unterschiede gerichtet ist. Im \u00fcbrigen w\u00e4ren die Sprachlaute weder hoch noch tief, weder dunkelnochhell, weder starknoch schwach. Wie aber, wenn der H\u00f6rende \u00fcberhaupt nicht auf das Tonmaterial, sondern auf den Sinn des Gesprochenen achtet, wie dies doch eigentlich beim Sprechenh\u00f6ren die Regel ist ? Dann w\u00e4re eben damit die ganze sinnliche Grundlage, die Tonerscheinung samt all ihren Attributen, verschwunden und nur der abstrakte Gedanke oder allenfalls die visuelle Vorstellung der besprochenen Gegenst\u00e4nde noch vorhanden. Wir w\u00fcrden verstehen, ohne \u00fcberhaupt etwas zu h\u00f6ren. Auch bei der","page":57},{"file":"p0058.txt","language":"de","ocr_de":"58\nG. Stumpf.\n[94,21]\nMusik selbst kann es Vorkommen, dafs wir in eine Melodie als solche, in diese bestimmte Tongestalt und ihren Reiz versunken sind, ohne daran zu denken, ob sie laut oder leise, hoch oder tief, rechts oder links von uns gesungen wird. Sollen wir da sagen, dafs all diese konkreten Bestimmungen, die Attribute der St\u00e4rke, H\u00f6he, \u00d6rtlichkeit in keiner Weise im Bewufstsein repr\u00e4sentiert seien? Und wenn wir ein Buch lesen und nachher nicht anzugeben wissen, ob es in Antiqua oder Fraktur gedruckt war (was leicht Vorkommen kann) : sollen wir sagen, dafs wir es tats\u00e4chlich in keiner von beiden Drucksorten oder in einer unbestimmten Zwischensorte gelesen haben ? Gewifs kann man die Beschreibung der Erscheinungen in diesem Sinne unter Schaffung einer neuen Terminologie und Kategorientafel umzugestalten versuchen. Aber ich kann vorl\u00e4ufig weder die Notwendigkeit noch die Fruchtbarkeit dieser m\u00fchsamen Operation erkennen.\nOhne Zweifel findet eine \u00c4nderung in unserem Bewufstsein in dem Moment statt, wo wir eine Quarte, eine Oktave in der gesprochenen Rede bemerken. Aber sie besteht nicht darin, dafs sozusagen ein neues Register der Stimme aufgezogen w\u00fcrde, welches eine Grundeigenschaft mehr in seinen Kl\u00e4ngen enthielte \\ sondern darin, dafs unsere gewohnten Intervalle, die in der gesprochenen Rede nur sporadisch, zuf\u00e4llig, auf Augenblicke auftauchen, ohne ein Interesse oder eine Gef\u00fchlsbetonung mit sich zu f\u00fchren, jetzt pl\u00f6tzlich von Bedeutung werden. Es ist, kurz gesagt, ein Wechsel der Auffassung, nicht der Empfindung, der Apperzeption, nicht der Perzeption, des psychischen Verhaltens, nicht der sinnlichen Erscheinung.\nAn der Anerkennung dieser Sachlage ist K\u00f6hler dadurch verhindert, dafs es f\u00fcr ihn unbemerkte Empfindungsinhalte\n1 Der Mechanismus dieser automatischen Registrierung m\u00fcfste nicht im Sprechenden, sondern im H\u00f6renden, und da nat\u00fcrlich im Gehirn gesucht werden, wo allerdings f\u00fcr Hypothesen noch Spielraum genug ist. Geht der Sprecher selbst zum Singen \u00fcber, so m\u00fcfste das Auftreten des neuen Attributs auch in den Sprachwerkzeugen selbst, in ihrer Funktionsweise, aufzeigbar sein, was auf Schwierigkeiten stofsen d\u00fcrfte. Aber wir lassen physiologisch-genetische Fragen hier \u00fcberhaupt beiseite.","page":58},{"file":"p0059.txt","language":"de","ocr_de":"[94,22]\nSingen und Sprechen.\n59\n\u00fcberhaupt nicht gibt.1 Was wir augenblicklich nicht beachten, ist danach tats\u00e4chlich nicht und in keiner Weise im Empfindungs-inhalt vorhanden. Wir k\u00f6nnen auf diese allgemeinere Frage hier nicht eingehen. Aber gerade Konsequenzen, wie die obigen stehen eben auch der allgemeinen These entgegen. Unbemerkte Teilinhalte (\u00fcbrigens nur ein Grenzfall, da von der vollen Beachtung bis zum vollen Nichtbemerken viele Stufen f\u00fchren) bieten keine Schwierigkeit f\u00fcr den, der zwischen einer psychischen Funktion und ihrem Inhalt, beispielsweise zwischen dem Bemerken eines Tones (oder einer Toneigenschaft oder eines Tonverh\u00e4ltnisses) und dem bemerkten Tone selbst (der Eigenschaft, dem Verh\u00e4ltnis) als einer gegebenen Erscheinung unterscheidet. Die Welt der Sinneserscheinungen, die unserer psychischen Verarbeitung unterliegt, birgt eine F\u00fclle von Eigenschaften, Beziehungen, Gesetzlichkeiten, die wir erst nach und nach, vollst\u00e4ndig wohl niemals, uns zum Bewufstsein bringen. Diese Unterscheidung aber zwischen den Funktionen und den Erscheinungen, ihrem Material und ihrer Unterlage, kehrt in mehr oder weniger versteckter Form doch \u00fcberall wieder. Und auch die Lehre von der sch\u00f6pferischen Kraft der Aufmerksamkeit, die neue prim\u00e4re Bewufstseins-inhalte, neue Dimensionen des Sehraumes, neue Grundeigenschaften des Tongebietes mit einem Schlage produzieren soll, statuiert nicht blofs eine von den Inhalten verschiedene Funktion, sondern mutet dieser sogar Leistungen zu, die die Grenze des Wunderbaren schon \u00fcberschreiten. In allen F\u00e4llen bleibt es von Wichtigkeit, sich auch an unserem konkreten Falle zu vergegenw\u00e4rtigen, wie alle diese Fragen und Stellungnahmen unter sich Zusammenh\u00e4ngen.\nBei dieser Gelegenheit m\u00f6chte ich gegen\u00fcber Mifsverst\u00e4ndnissen feststellen, dafs ich niemals behauptet habe, durch ver\u00e4ndertes funktionelles Verhalten, z. B. durch das Bemerken einer vorher nicht bemerkten Teilerscheinung, k\u00f6nne die gegebene Erscheinung nicht ge\u00e4ndert werden, sondern immer nur: sie m\u00fcsse nicht unter allen Umst\u00e4nden ge\u00e4ndert werden, obgleich es unter den gew\u00f6hnlichen komplizierten Umst\u00e4nden des psychischen Verlaufes tats\u00e4chlich der Fall sein m\u00f6ge. Und selbst in dieser starken Einschr\u00e4nkung war es ausdr\u00fccklich \u201enicht als sicher\n1 S. seine Abhandlung \u201e\u00dcber unbemerkte Empfindungen und Urteilst\u00e4uschungen\u201c in der Zeitschr. f. Psychol. 66 (1918), S. 51 ff.","page":59},{"file":"p0060.txt","language":"de","ocr_de":"60\nG. Stumpf.\n[94,23]\nbeweisbarer Satz, sondern als These oder Hypothese\u201c bezeichnet. Die Beispiele, die ich anf\u00fchrte, m\u00f6gen daher der Selbstbeobachtung anderer sich anders darstellen. Aber selbst dann, wenn niemals funktionelle Ver\u00e4nderungen ohne Erscheinungsver\u00e4nderungen m\u00f6glich w\u00e4ren, w\u00e4re dies kein Gegenbeweis gegen die Unterscheidung beider. Diese ruht noch auf anderen Fundamenten. So habe ich die Sachlage ausdr\u00fccklich bereits in meiner Akademie-Abhandlung \u00fcber Erscheinungen und psychische Funktionen 1907, S. 15 auseinandergesetzt.\nWesentlich anders liegt nun freilich die Sache, wenn der Sprechende selbst w\u00e4hrend des Sprechens seine Aufmerksamkeit dem Tonfall seiner Rede zuwendet. Dann wird das gesamte Tonmaterial sich \u00e4ndern, auch dann freilich nicht durch einfaches Hinzutreten eines Attributs und nicht durch die blofse Zuwendung der Aufmerksamkeit an sich, sondern infolge durchaus angebbarer und verst\u00e4ndlicher Zwischenglieder. Wer etwa die beiden S\u00e4tze: \u201eBist du spazieren gegangen? Ich bin spazieren gegangen\u201c im Angesichte der HELMHOLTzschen Notierung der Sprachmelodie oder in Erinnerung daran spricht, um die Richtigkeit der Notierung zu pr\u00fcfen, der ist in einer ganz anderen Bewufstseinsverfassung, sowohl den Inhalten als den Funktionen nach. Die Noten schweben ihm vor und er hat sich eine Aufgabe gesetzt, zwar nicht die des Treffens, sondern nur des Vergleichens. Aber kann er sich dem Einfl\u00fcsse der Noten ganz entziehen? Schwerlich. Unwillk\u00fcrlich wird sich doch sein Tonfall den Noten mehr oder weniger anpassen. Die Sprache wandelt sich dabei allm\u00e4hlich in Gesang, wie Daphne in einen Lorbeerbaum. Aber worin besteht die Verwandlung? In erster Linie im besseren Hervortreten der schon vorhandenen, wenigstens in den betonten Silben vorhandenen, Tonh\u00f6hen. Dieses Hervortreten selbst wird vermittelt durch eine gedehntere und zugleich pr\u00e4zisere Wiedergabe der T\u00f6ne auf den Vokalen und durch Zur\u00fccktretenlassen der Konsonanten, wie dies beim Singen Vorschrift ist, vor allem aber durch Vermeidung der kleinen Tonschwankungen zu Beginn und Schlufs von Silben, durch strenge Beschr\u00e4nkung auf die notierten T\u00f6ne und Intervalle in m\u00f6glichst genauer reiner Stimmung. In demselben Mafse, wie diese Ver\u00e4nderung fortschreitet, wird das Sprechen zum Singen.\nAuch in der Subsumtion der Sprachlaute unter die G e -","page":60},{"file":"p0061.txt","language":"de","ocr_de":"[94, 24]\nSingen und Sprechen.\n61\nrausche k\u00f6nnen wir sonach K\u00f6hlee nicht folgen. Zu verkennen ist freilich nicht, dafs die Sprache in weit n\u00e4herer Beziehung zu den Ger\u00e4uschen steht als der Gesang. Die Fl\u00fcstersprache besteht im wesentlichen aus Ger\u00e4uschen, denen nur schwache Tonelemente beigemischt sind. Bei der stimmhaften Sprache spielen die Konsonanten, die gr\u00f6fstenteils Ger\u00e4uschformen sind, eine ganz entscheidende Rolle. In slawischen Sprachen gibt es sogar W\u00f6rter, die nur aus Konsonanten bestehen. Beim Gesang m\u00fcssen dagegen, wie erw\u00e4hnt, die Konsonanten gegen die Vokale zur\u00fccktreten und d\u00fcrften wohl W\u00f6rter wie Krc auch von tschechischen S\u00e4ngern vermieden werden. Selbst die Vokale sind beim Sprechen in der Regel ger\u00e4uschiger als beim Singen (s. o. S. 41). Viele Sprechstimmen haben etwas Belegtes, Pelziges, ohne dafs es uns irgendwie st\u00f6rte. Bei totaler Heiserkeit kann man noch sprechen und verstanden werden, w\u00e4hrend der S\u00e4nger dann zum Schweigen verurteilt ist. Dies alles kann zugegeben werden. Aber daraus folgt noch lange nicht, dafs man darum die Sprachlaute einfach den Ger\u00e4uschen beizuz\u00e4hlen oder auch nur irgendwie zu koordinieren h\u00e4tte.\nSchliefslich ist auch nicht einzusehen, wie sich die oben skizzierten objektiv vorhandenen mannigfachen Mittelstufen und \u00dcberg\u00e4nge zwischen den extremen Formen des Singens und Sprechens sollten verstehen lassen, wenn ein so fundamentaler Unterschied unter den Klangerscheinungen selbst best\u00e4nde. Wo sollte die Sprache anfangen? Etwa wenn jede Spur einer erkennbaren Tonh\u00f6he getilgt w\u00e4re? Dann gibt es \u00fcberhaupt kein Sprechen. Oder wo sollte, wenn man vom Sprechen ausgeht, das Singen anfangen? Etwa erst wenn zwischen s\u00e4mtlichen T\u00f6nen feste und genau wiederkehrende Intervalle best\u00e4nden? Dann sind die meisten exotischen Ges\u00e4nge und alle unrein gesungenen unserer Musik noch ein blofses Sprechen.\nWir k\u00f6nnen also die hier vorgeschlagene Grenzregulierung nicht als eine gl\u00fcckliche L\u00f6sung betrachten.","page":61},{"file":"p0062.txt","language":"de","ocr_de":"62\nC. Stumpf.\n[94, 25]\n\u00a7 5. Zur Ph\u00e4nomenologie der stetigen Ton Ver\u00e4nderungen.\nEine Seite der Sache bleibt indessen noch zu erw\u00e4gen, die zu tieferem Eindringen auffordert und uns aus einer gewissen Richtung der K\u00d6HLERschen Anschauung n\u00e4her f\u00fchrt.\nIn allen Sinnesgebieten sind stetige und sprunghafte \u00dcberg\u00e4nge begrifflich scharf zu unterscheiden. Ein stetiger \u00dcbergang oder eine Ton-Bewegung im pr\u00e4gnanten Wortsinn ist nicht eine Summe aufeinanderfolgender T\u00f6ne, mag auch physiologisch eine diskrete Reihe wenig verschiedener Fasern erregt werden, sondern eine einheitliche, qualitativ eigenartige Tonerscheinung, so einheitlich wie ein festliegender Ton.1 Ob die Stetigkeit dabei wirklich eine urspr\u00fcngliche immanente Eigenschaft der gegebenen Sinneserscheinung ist (wie ich glaube), oder ob nur unmerklich verschiedene diskrete Empfindungen rasch aufeinanderfolgen, die aber durch ein apriorisches Verfahren des Verstandes oder einer \u201eproduktiven\n1 Vgl. Tonpsychol. I, 183 ff. Diese Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Erscheinungsweise des Kontinuums wurzeln in den gr\u00fcndlichen Untersuchungen F. Brentanos in seiner Metaphysikvorlesung v. J. 1868/9, wo er anl\u00e4fslich der eleatischen Argumente den Begriff der Bewegung als der \u201efliefsenden Wirklichkeit\u201c von dem der ruhenden unterschied. Weiter zur\u00fcck mag wohl die aristotelische Definition der Bewegung als Jv\u00e9\u00e7yeia \u00e4rel^\u201c die Vorl\u00e4uferin dieser Unterscheidung gewesen sein. Dafs Brentano von der objektiven Wirklichkeit sprach, w\u00e4hrend hier von den Erscheinungen die Bede ist, macht nichts aus, da der Begriff der objektiven Bewegung nat\u00fcrlich aus dem Anschauungsbilde der erscheinenden gewonnen werden mufs.\nBewegungen in diesem allgemeinen Sinne lassen sich, scheint es, bei den Qualit\u00e4ten aller Sinne neben diskreten Ver\u00e4nderungen herstellen. In neuerer Zeit hat man bei den Bewegungen im engeren Sinne, den durch die Gesichts- und Tastempfindungen wahrgenommenen r\u00e4umlichen Bewegungen, diese Eigenart der sinnlichen Erscheinung n\u00e4her studiert und die \u201eoptischen Bewegungsempfindungen\u201c sogar als eine selbst\u00e4ndige Qualit\u00e4tenklasse, einen besonderen Sinn neben den Wahrnehmungen ruhender Gr\u00f6fsen und Gestalten in Anspruch genommen. Dies geht aber zu weit. Man m\u00fcfste sonst auch die bewegten Tonh\u00f6hen einem anderen Sinn als dem Tonsinn zuweisen.\nEs ist m\u00f6glich und liegt im Sinne der neueren \u201eGestaltpsychologie\u201c, den Begriff der Bewegung unter den der Gestalt zu subsumieren, indem man sie als eine stetige Sukzessivgestalt definiert. Doch kann diese weitere Verallgemeinerung hier beiseite bleiben.","page":62},{"file":"p0063.txt","language":"de","ocr_de":"[94,26]\nSingen und Sprechen.\n63\nEinbildungskraft\u201c zu einer stetigen Linie verschmolzen werden, braucht uns hier nicht zu besch\u00e4ftigen.1 Jedenfalls glauben wir stetige \u00dcberg\u00e4nge ebenso wie sprunghafte sinnlich wahrzunehmen und ist zwischen beiden ein prinzipieller begrifflicher Unterschied. Nur insofern k\u00f6nnte man beide unter einen Hut bringen, als man den ruhenden Ton als einen Grenzfall ans\u00e4he, dem man sich bei Verkleinerung des Bewegungsraumes immer mehr n\u00e4hert, gewissermafsen als einen unendlich wenig bewegten Ton. Das w\u00e4ren aber begriffliche Operationen, die die Verschiedenheit der sinnlichen Eindr\u00fccke in sich selbst nicht aufheben.2\nWie verh\u00e4lt es sich nun mit den beiderseitigen Attributen? \u2014 Die Frage ist bisher noch kaum besprochen. Die ganze Ph\u00e4nomenologie der bewegten Erscheinungen liegt ja noch in den Windeln, wie auch die experimentelle Untersuchung erst begonnen hat. Folgendes d\u00fcrfte sich vorl\u00e4ufig sagen lassen.\nOhne Zweifel hat auch der bewegte Ton eine H\u00f6he und eine St\u00e4rke. Seine H\u00f6he erstreckt sich nur eben in fliefsender Form vom Anfangs- bis zum Endpunkte der Bewegung, z. B. von c bis g, wobei diese Strecke in gleichbleibender oder in wechselnder Richtung und dann mit den verschiedensten Umkehrpunkten (auch \u00fcber die Grenzpunkte hinaus) durchlaufen werden kann. Die St\u00e4rke kann w\u00e4hrenddessen konstant bleiben oder sich gleichfalls zwischen bestimmten Grenzen in verschiedener Weise \u00e4ndern. Immer wird es bei stetiger Ver\u00e4nderung nicht ein Aggregat aufeinanderfolgender einzelner H\u00f6hen oder St\u00e4rken, sondern eine einheitliche H\u00f6he oder St\u00e4rke sein, nur eben in anderem, fliefsendem, Sinne. \u00dcbrigens kann\n1\tVgl. dazu Tonpsychol. a. a. 0. und II, 116 (Akkommodation der spezifischen Energien).\n2\t\u00dcber diese Schlufsweise bzw. ihren Mifsbrauch sagte k\u00fcrzlich F. Hillebrand (Zur Theorie der stroboskopischen Bewegungen, Zeitschr. f. Psychol. 89, 1922, S. 213) ebenso richtig wie schalkhaft: \u201eBetrachtungen, die sich auf dem \u00dcbergang einer endlichen Gr\u00f6fse zum Nullwert aufbauen, sind nie ganz ungef\u00e4hrlich. Man kann leicht dahin kommen, einem Menschen, der nichts besitzt, noch immer ein Verm\u00f6gen zuzu-scbreiben . . . Aber die Philosophen man\u00f6verieren mit 0 und oo von jeher mit einer Sorglosigkeit, als wenn es sich um echte Zahlen handelte, deren Handhabung ihnen sichtlich viel schwerer f\u00e4llt.\u201c","page":63},{"file":"p0064.txt","language":"de","ocr_de":"64\nG. Stumpf.\n[94,27]\nsich die St\u00e4rke ja auch schon bei einer festen Tonh\u00f6he w\u00e4hrend deren Dauer stetig ver\u00e4ndern und kann umgekehrt w\u00e4hrend einer Tonbewegung eine St\u00e4rke die andere unstetig abl\u00f6sen.\nMan m\u00fcfste f\u00fcr die bewegten Tonh\u00f6hen besondere Bezeichnungen und Symbole erfinden und hat es zuweilen versucht. Verl\u00e4uft die Bewegung in gleichbleibender Richtung und St\u00e4rke, so ist sie zwar durch Angabe ihrer Grenzpunkte im allgemeinen charakterisiert, aber selbst dann gibt es noch zahllose Modifikationen je nach dem Tempo; und dieses selbst kann f\u00fcr die einzelnen Teilst\u00fccke verschieden sein, wof\u00fcr besondere Epitheta und Zeichen erforderlich w\u00e4ren. Noch mehr bed\u00fcrfte es solcher f\u00fcr die Unterschiede des H\u00f6henverlaufes selbst zwischen den beiden Endpunkten. Bleibt die St\u00e4rke konstant, so bedarf es f\u00fcr sie keiner anderen Mafsbezeichnungen als f\u00fcr die eines ruhenden Tones; ver\u00e4ndert sie sich aber ebenfalls, so sind wieder besondere Kategorien einzuf\u00fchren, wie sie die Musik f\u00fcr ihre diskreten Tonschritte und die festen Einzelt\u00f6ne im \u201eCrescendo, Diminuendo\u201c usw. und den entsprechenden anschaulichen Zeichen besitzt.\nLassen wir die \u201eVokalit\u00e4t\u201c als eine selbst\u00e4ndige Grundeigenschaft neben H\u00f6he und St\u00e4rke bei ruhenden T\u00f6nen gelten so kommt auch dieses Attribut bewegten T\u00f6nen in analoger Weise wie H\u00f6he und St\u00e4rke zu und kann auch seinerseits in Bewegungsform auftreten. Wenn z. B. bei einem freudig \u00fcberraschten \u201eAh!\u201c die Stimme stetig in die H\u00f6he und wieder herabsteigt, kann der Vokalcharakter gleichbleiben oder sich mitver\u00e4ndern.\nNeuerdings hat Isserlin auf objektivem Wege, durch Ausz\u00e4hlung der Zacken von Vokalkurven, gezeigt, dafs in der lebendigen Sprache mit der Tonh\u00f6he tats\u00e4chlich auch die Klangfarbe der Vokale stetig wechselt, indem der Formant einunddesselben Lautes w\u00e4hrend des Aussprechens beim Fragesatz steigt, bei der Affirmation sinkt.1 Mit dem Formanten \u00e4ndert sich dabei nat\u00fcrlich der Vokal selbst, es ist eben, genau gesprochen, nicht mehr dasselbe A oder 0, sondern ein sich stetig erhellendes oder verdunkelndes. Es w\u00e4re dann also\n1 Isserlin, Psychologisch-phonetische Untersuchungen (Sitzungsber.), Zentralbl. /'. d. gesamte Neurologie u. Psychiatrie 26, S. 77.","page":64},{"file":"p0065.txt","language":"de","ocr_de":"[94,28]\nSingen und Sprechen.\n65\n\u00e4hnlich wie beim Fl\u00fcstern (s. o. S. 39). Dagegen fanden sich solche gleitende Ver\u00e4nderungen der Klangfarbe bei gesungenen Vokalen nicht. Also auch in dieser Beziehung der Jnterschied der schwankenden und festen Tongebung. Irom whin wird man die Festigkeit auch nur cum grano salis verstehen d\u00fcrfen.\nWie steht es endlich mit der \u201emusikalischen Qualit\u00e4t\u201c bewegter T\u00f6ne? Gibt es da eine Identit\u00e4t der Oktaven, gibt es musikalische Intervalle, gibt es absolutes Tonbewufstsein?\nSetzen wir zuerst den Fall, dafs es sich nur um kleine H\u00f6henschwankungen, etwa im Rahmen eines Halbtons, handle und dafs eine zweite Tonbewegung um eine Oktave h\u00f6her als die erste, sonst aber in genau analoger Weise nach Richtung und Verlauf erfolge, so wird man hier wohl noch einen Oktaveneindruck haben, indem man in Gedanken einen festen f\u00fcr den schwankenden Ton einsetzt, wie man es bei schlechter Musik, bei einer tremolierenden Stimme ja auch wohl oder \u00fcbel tun muls. Aber das ist nicht eigentlich das verlangte Urteil auf Grund des bewegten Tones als solchen. Die Frage ist also, ob auch gr\u00f6fsere Bewegungen, etwa von c bis g oder gis, als Tr\u00e4ger einer einheitlichen musikalischen Bewegungsqualit\u00e4t aufgefafst werden, derart, dafs man ihre Wiederholung in der Oktave als Wiederauftreten einer gleich en musikalischen Qualit\u00e4t, ihre Wiederholung in der Quarte als Quartenintervall zwischen zwei bewegten T\u00f6nen auffafste, und dafs Ge\u00fcbte imstande w\u00e4ren, eine gegebene Bewegung als eine bestimmte, in Bewegungsform auftretende musikalische Qualit\u00e4t (mit Absehen von der H\u00f6henlage) zu bezeichnen.\nSystematische Versuche dar\u00fcber liegen nicht vor. Es mufs dabei in erster Linie experimentell daf\u00fcr gesorgt werden, dafs der Anfangs- und der Schlufspunkt der Bewegung in keiner Weise objektiv ausgezeichnet werden, dafs namentlich kein Verweilen darauf stattfindet. Dies ist durch Abschlufsvor-richtungen an einer durch eine Wand gef\u00fchrten R\u00f6hrenleitung, durch Ausschneiden eines zeitlichen St\u00fcckes aus einer schon im Gange befindlichen Tonbewegung zu erzielen. Meines Wissens haben nur 0. Abraham und E. v. Hornbostel im Verlauf ihrer (bisher nicht ver\u00f6ffentlichten) Untersuchung \u00fcber Vergleichung von Tondistanzen Versuche mit einer solchen\nStumpf, Beitr\u00e4ge 9.\t5","page":65},{"file":"p0066.txt","language":"de","ocr_de":"66\nC. Stumpf.\n[94, 29]\nEinrichtung f\u00fcr Tonbewegungen gemacht, weil sie hofften, auf diesem Wege reine Distanzurteile ohne Einmischung von Intervallurteilen zu bekommen. Sie fanden aber, dafs tats\u00e4chlich auch hier Intervallurteile abgegeben wurden. Man erkennt den Anfangs- und den Schlufspunkt der Bewegung, obgleich sie nur punktuell, streng momentan, gegeben werden. Psychologisch h\u00e4tte man dies nicht wohl Voraussagen k\u00f6nnen, da eine Erscheinung, die nicht eine gewisse endliche Zeit andauert, sonst nicht erkannt werden kann. Es mufs eben doch eine innere Markierung der objektiven Grenzpunkte stattfinden. In der Empfindung oder in der Vorstellung (und wohl schon zentral-physiologisch) m\u00fcssen die Grenzpunkte sich in Dauert\u00f6ne verwandeln, an die das Intervallurteil sich halten kann.\nSo interessant dies Ergebnis ist, liefert es doch nicht etwa den Beweis, dafs den Tonbewegungen als solchen musikalische Qualit\u00e4ten zukommen. Denn es wird hier durch die innere Markierung doch wieder eine Reduktion auf feste Grenzt\u00f6ne erzielt, auf die sich dann das musikalische Urteil bezieht. Werden zwei Tonbewegungen unter solchen Umst\u00e4nden verglichen und als im Oktaven- und Quartenverh\u00e4ltnis zueinander stehend beurteilt, so sind es in Wahrheit zwei Schritte zwischen je zwei festen T\u00f6nen, die verglichen werden (z. B. c\u2014es und cl\u2014es1 oder f\u2014as).\nAber, k\u00f6nnte man fragen, ist es denn eigentlich bei den bewegten Tonh\u00f6hen anders? Nennen wir z. B. eine Tonbewegung h\u00f6her oder umfangreicher (distanzgr\u00f6fser) als eine andere, tun wir\u2019s dann nicht auch nur, weil die Grenzpunkte der einen h\u00f6her bzw. weiter auseinanderliegen als die der anderen ? Wir haben eben kein anderes Mittel, Tonbewegungen in Hinsicht ihrer H\u00f6he wie ihrer musikalischen Qualit\u00e4t zu charakterisieren als durch die Eigenschaften der festen T\u00f6ne, die an ausgezeichneten Punkten auftreten oder durchlaufen werden.\nDennoch ist hier ein Unterschied zwischen H\u00f6he und musikalischer Qualit\u00e4t. Bei einer aufsteigenden Tonbewegung haben wir, auch abgesehen vom Anfangs- und Endpunkt, auch w\u00e4hrend des Verlaufes selbst, den ganz zwingenden Eindruck der H\u00f6benver\u00e4nderung in bestimmter Richtung, der Erhellung oder Verdunkelung, Erh\u00f6hung oder Vertiefung. Haben wir","page":66},{"file":"p0067.txt","language":"de","ocr_de":"[94,30]\nSingen und Sprechen,\n67\nebenso den Eindruck einer stetigen Umwandlung der musikalischen Qualit\u00e4ten? Erscheint uns die gesamte so durchlaufene Tonlinie als eine Spirale mit so vielen Windungen als sie Oktaven auf weist?\nIch habe dies fr\u00fcher (Tonpsychologie II, 196 ff.) rundweg verneint und daraus geschlossen, dafs die Eigenschaft, die wir jetzt nach Lotze und Bkentano als musikalische Qualit\u00e4t bezeichnen, nicht zu den Grundeigenschaften der T\u00f6ne geh\u00f6re. Ich glaubte sie damals empiristisch, als Produkt der individuellen musikalischen Entwicklung, insbesondere der Verschmelzungserfahrungen, erkl\u00e4ren zu sollen. Die damals angef\u00fchrten Beobachtungen erscheinen mir auch jetzt noch unter der dort erw\u00e4hnten Bedingung richtig, dafs man sich eine gleitende Tonbewegung von tiefen zu immer h\u00f6heren T\u00f6nen in raschem Tempo vorf\u00fchrt, ja auch bei einer rasch ausgef\u00fchrten chromatischen Tonfolge, selbst einem rapiden Glissando \u00fcber die weifsen Tasten. Dabei wird man kaum etwas von Oktavenwiederkehr, von spiraliger Bewegungsform bemerken. Die geradlinige H\u00f6hen Ver\u00e4nderung dominiert. Wenn aber die Bewegung langsam genug erfolgt und die Aufmerksamkeit scharf auf diesen Fragepunkt konzentriert bleibt, d\u00fcrfte es f\u00fcr einen gut Musikalischen und Ge\u00fcbten nicht unm\u00f6glich sein, das Wiederauftreten gleicher musikalischer Qualit\u00e4ten an bestimmten Punkten (bzw. innerhalb kleiner Teilstrecken) wahrzunehmen. Das Urteil tut sich nur schwerer, diese Punkte (Strecken) herauszuheben, als bei den Anfangs- und Sehlufs-punkten.\nTreffen wir Einrichtungen, wodurch die Bewegung jedesmal, wenn \u00fcbereinanderliegende Oktaven eines gewissen Tones, z. B. des Ausgangstones, passiert werden, ein wenig verlangsamt oder der Ton ein wenig verst\u00e4rkt wird (beides auch wieder in stetigen \u00dcberg\u00e4ngen), so wird diese Erkenntnis beg\u00fcnstigt, es werden die musikalischen Qualit\u00e4ten doch auch innerhalb einer stetigen Tonver\u00e4nderung, und zwar selbst als stetig ver\u00e4nderte \u201efliefsende\u201c Qualit\u00e4ten bemerkbar werden.\nEs scheint mir hiernach bei bewegten T\u00f6nen zwischen der musikalischen Qualit\u00e4t und den \u00fcbrigen Attributen nur ein gradueller Unterschied zu bestehen. An sich ist auch eine stetige Qualit\u00e4tsver\u00e4nderung vorhanden und mit der H\u00f6hen-\n5*","page":67},{"file":"p0068.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\n[94,31]\nVer\u00e4nderung ebenso integrierend verkn\u00fcpft, wie es bei sprunghaften Ton Ver\u00e4nderungen der Fall ist. Aber sie ist nur f\u00fcr Individuen mit sehr ge\u00fcbtem musikalischen Geh\u00f6r unter besonders g\u00fcnstigen Umst\u00e4nden bemerkbar. (Wer unbemerkte Eigenschaften der Sinneserscheinungen nicht zugibt, mufs eben sagen, dafs sie nur unter diesen Umst\u00e4nden \u00fcberhaupt vorhanden ist. Aber auch dann ist gegen\u00fcber den sonstigen Attributen kein prinzipieller, sondern nur ein gradueller Unterschied.)\nDer graduelle Unterschied ist immerhin bedeutend genug. Hat man eine in jeder Hinsicht (nach St\u00e4rke, H\u00f6he usw.) unregelm\u00e4fsig schwankende Tonbewegung, wie das Heulen des Sturmes, geh\u00f6rt, so bleibt ein relativ deutliches Bild des St\u00e4rkeverlaufes im Bewufstsein, ein vielleicht etwas undeutlicheres der H\u00f6hen-, ein noch undeutlicheres der Klangfarben Ver\u00e4nderungen, das undeutlichste aber wrohl von den musikalischen Intervallen zwischen den einzelnen H\u00f6henwendepunkten.\nEs ist schon fr\u00fcher die Vermutung ausgesprochen worden, dafs die H\u00f6henunterschiede phylogenetisch fr\u00fcher aufgetaucht seien als die der musikalischen Qualit\u00e4ten. Diese d\u00fcrften sich erst im Verlaufe der Musikentwicklung, im Zusammenhang mit der Auswahl fester Tonstufen ausgebildet haben ; wie sie denn auch heute noch in sehr ungleichem Mafse bei den Tonempfindungen verschiedener Individuen (bei manchen vielleicht gar nicht) vorhanden sind. Auf die stetigen Tonver\u00e4nderungen sind sie dann erst von den sprunghaften aus hin\u00fcber gewandert. Daraus w\u00fcrde sich verstehen lassen, warum sie bei den stetigen nur rudiment\u00e4r und schwach vertreten sind. Sie sind da ja auch nur zwecklose Nebenerscheinungen. Entwickelte sich etwa in Zukunft eine Musik, die auf den kunstvollen Gebrauch stetiger Ton Ver\u00e4nderungen gegr\u00fcndet w\u00e4re und nur aus solchen best\u00e4nde, so w\u00fcrden die Intervallbeziehungen mit allen daran gekn\u00fcpften Emotionen auch wieder verschwinden; es m\u00fcfsten dann andere wirksame Reize gefunden werden, um Ersatz zu schaffen und den Jammer wieder in Genufs zu verwandeln.1\n1 Ich kann nicht leugnen, dafs das polyphone Geheul, welches die W\u00f6lfe und Schakale des Zoologischen Gartens \u00f6fters im Tage anstimmen (einer f\u00e4ngt an und sofort folgen die anderen) meinem durch futuristischatonale Musik schon einigermafsen abgeh\u00e4rteten Ohr ein gewisses Ver-","page":68},{"file":"p0069.txt","language":"de","ocr_de":"[94,32]\nSingen und Sprechen.\n69\nKehren wir nun zu dem Unterschied des Singens und Sprechens zur\u00fcck, so ergibt sich, dafs in den bewegten Teilen der Rede, bei den gr\u00f6fseren stetigen H\u00f6henschwankungen der Stimme, die musikalischen Qualit\u00e4ten gegen die \u00fcbrigen Grundeigenschaften stark zur\u00fccktreten m\u00fcssen, wenn sie auch nicht vollst\u00e4ndig fehlen. Wenn wir daher die Noten, durch welche die erkennbaren relativ festen Tonh\u00f6hen der Rede angegeben werden, durch gerade Striche oder andere Kurven, die die stetigen \u00dcberg\u00e4nge andeuten, miteinander verbinden, so ist dabei zu beachten, dafs durch diese das lebendige Sprechen vielf\u00e4ltig durchsetzenden stetigen Tonver\u00e4nderungen der musikalische Eindruck der Sprachmelodie ganz wesentlich beeintr\u00e4chtigt werden mufs. Aber es darf nicht \u00fcbersehen werden, dafs hieran nur die bewegten Teile der Rede Schuld sind und dafs bei diesen eben in der Stetigkeit der Tonver\u00e4nderung selbst die letzte Ursache dieses Unterschiedes liegt. Das grundlegende unterscheidende Merkmal liegt also tats\u00e4chlich in dem Gebrauche stetiger neben sprunghaften Tonver\u00e4nderungen durch die Sprache gegen\u00fcber dem prinzipiellen Ausschl\u00fcsse stetiger H\u00f6henver\u00e4nderungen in der Musik. Die griechischen Musiktheoretiker haben dies vollkommen richtig erfafst, wenngleich nicht allseitig genug erl\u00e4utert.\n\u00a7 6. R\u00fcckblick auf K\u00f6hlers These.\nWir verstehen nun aber auch besser das Zustandekommen und die Wurzeln der K\u00d6HLEEschen These. K\u00f6hlee selbst geht von der Stetigkeit der Ton Ver\u00e4nderungen in der Sprache aus, ja er scheint geneigt, diskrete Stufen, Schritte in festen T\u00f6nen, hier \u00fcberhaupt f\u00fcr ausgeschlossen zu halten (a. a. 0. 105, 108). Gerade in diesen best\u00e4ndigen Schwankungen erblickt er den Grund f\u00fcr das Fehlen der musikalischen Qualit\u00e4t. \u201ePh\u00e4nomenal gesprochen, ist eben mit dem ,festen Ton\u2018 die Tonh\u00f6he [musi-\ngn\u00fcgen bereitet. Wie jeder seine Weise durchf\u00fchrt, jede klar und deutlich unterscheidbar, mit verschiedenen Wende- und H\u00f6hepunkten, mit voller Unabh\u00e4ngigkeit der Stimmen \u2014 eine Art linearer Kontrapunkt \u2014, wie Klage, Wut, Resignation darin ausgedr\u00fcckt scheinen, das kann fesseln und interessieren, freilich nicht auf l\u00e4ngere Zeit. Das Konzert ist denn auch immer nach wenigen Minuten zu Ende.","page":69},{"file":"p0070.txt","language":"de","ocr_de":"G. Stumpf.\n70\n[94,33J\nkalische Qualit\u00e4t] entstanden, die in der gleitenden Sprach-bewegung nicht m\u00f6glich war\u201c (S. 115).\nSoviel ist klar: wenn man die beiden Pr\u00e4missen zugibt,\n1.\tdafs nur stetige Ver\u00e4nderungen im Sprechen Vorkommen,\n2.\tdafs solche mit musikalischer Qualit\u00e4t unvertr\u00e4glich sind, dann folgt K\u00f6hleks These mit Notwendigkeit, auch wenn man von allen prinzipiellen Fragen \u00fcber die Existenz unbemerkter Teilinhalte u. dgl. absieht.\nAber die eine wie die andere Pr\u00e4misse scheint mir eben zu weit zu gehen. Die erste k\u00f6nnte nur etwa vom rein mathematisch-physikalischen oder metaphysischen Gesichtspunkt aufrecht erhalten werden. Wenn man\u2019s absolut genau nimmt, beh\u00e4lt objektiv wohl jede noch so kurze Silbe ihre Tonh\u00f6he nicht bei. \u201eAlles fliefst.\u201c Ich m\u00f6chte dies sogar auch subjektiv, f\u00fcr die Ph\u00e4nomene, behaupten. Aber es w\u00fcrde doch genau so auch von gesungenen T\u00f6nen gelten. Und da hat man sogar recht erhebliche Schwankungen auf graphischem Wege bei den besten S\u00e4ngern nachgewiesen. Hierin kann also kein Unterschied liegen. Es k\u00f6nnte sich nur um solche H\u00f6henschwankungen handeln, die sich wenigstens f\u00fcr ge\u00fcbte Ohren als solche bemerklich machen, ja aufdr\u00e4ngen. F\u00fcr solche Schwankungen kann man aber die obige Pr\u00e4misse nicht fest-halten, d. h. man kann nicht behaupten, dafs beim Sprechen immerfort H\u00f6henschwankungen stattf\u00e4nden, die f\u00fcr ge\u00fcbte Ohren als solche bemerkbar w\u00e4ren oder gar sich aufdr\u00e4ngten, und dafs infolgedessen auch niemals musikalische Intervalle bemerkbar w\u00e4ren. In den Beispielen zweisilbiger W\u00f6rter oder Redensarten, die wir oben S. 51 erw\u00e4hnten, haben die beiden Silben so gut ihre festen Tonh\u00f6hen und Intervalle wie beim Singen. Und so tausendfach.\nDafs aber die zweite Pr\u00e4misse von K\u00f6hler tats\u00e4chlich zugrunde gelegt w\u00fcrde, k\u00f6nnte zun\u00e4chst um so mehr wundernehmen, als er nicht blofs f\u00fcr die H\u00f6hen im Sinne der Helligkeiten, sondern auch f\u00fcr die Vokalit\u00e4ten der Sprache stetige Ver\u00e4nderlichkeit in Anspruch nimmt (S. 117). F\u00fcr die Intensit\u00e4ten gilt nat\u00fcrlich dasselbe. Wenn nun alle \u00fcbrigen Attribute stetige Ver\u00e4nderungen zulassen, warum sollten sie bei der musikalischen Qualit\u00e4t ausgeschlossen sein? Die begrifflichen Schwierigkeiten sind keine anderen und gr\u00f6fseren hier wie dort.","page":70},{"file":"p0071.txt","language":"de","ocr_de":"[94,34]\nSingen und Sprechen.\n71\nIn Wirklichkeit werden denn auch von K\u00f6hler, wie ich durch m\u00fcndliche Aufkl\u00e4rung und Hinweis auf eine etwas versteckte, vorher \u00fcbersehene Stelle seiner Abhandlung erfahre, fliefsende musikalische Qualit\u00e4ten der Sprache durchaus nicht aberkannt, sondern nur feste. Nur solche h\u00e4lt er f\u00fcr unvertr\u00e4glich mit der gleitenden Bewegung. Nachdem er sehr richtig den fundamentalen Unterschied diskreter und bewegter Erscheinungen betont hat, f\u00fcgt er in einer Anmerkung hinzu (S. 116) : \u201eIn welchem Material die Sprachmelodie im engeren Sinn verl\u00e4uft, bleibt nach den obigen Ausf\u00fchrungen noch unentschieden; nur die Tonh\u00f6hen werden ausgeschlossen. Und man kann nun zwei M\u00f6glichkeiten pr\u00fcfen : entweder ist Sprachmelodie Helligkeitsbewegung, oder aber es gibt ein ,Hinauf, Hinunter' und mehr dynamische Erscheinungen verwandter Art, die sich zu Tonh\u00f6hen \u00e4hnlich verhalten, wie gesehene Bewegung zu gesehenen Punkten (hier gesperrt), und die ebensowenig in ein Nacheinander von Tonh\u00f6hen aufzul\u00f6sen sind wie Bewegung in sukzessiv aneinandergereihte ,Raumwerte', \u2014 dafs solche Erscheinungen die Sprachmelodie ausmachen, ist die zweite M\u00f6glichkeit. Die Realit\u00e4t solcher Erscheinungen an und f\u00fcr sich m\u00fcfste sich auch sonst nach weisen lassen.\u201c\nHieraus geht klar hervor, dafs K\u00f6hler unter den \u201eTonh\u00f6hen\u201c, die der Sprache fehlen sollen, nur die festen musikalischen Qualit\u00e4ten versteht. Er gibt dagegen zu, dafs fliefsende begrifflich m\u00f6glich sind, und h\u00e4lt es auch nicht f\u00fcr unm\u00f6glich, dafs solche der Sprache zukommen. Dies bedeutet eine sehr wesentliche Milderung seiner These zum Unterschiede von der Fassung, die sich nach dem Wortlaute zun\u00e4chst wohl jedem auf dr\u00e4ngt, wonach musikalische Qualit\u00e4ten \u00fcberhaupt der Sprache fehlen sollten.\nEs d\u00fcrfte gleichwohl nicht \u00fcberfl\u00fcssig sein, \u00fcber die obige zweite Pr\u00e4misse noch einiges zu bemerken. Denn die Anschauung liegt ja nahe und wird von Kennern der Akustik vertreten, dafs musikalische Qualit\u00e4ten ihrer ganzen Natur und Entstehungsweise nach nur als diskrete ausgezeichnete Punkte der Tonlinie m\u00f6glich seien. Jede Tonleiter besteht eben aus einer bestimmten Anzahl fester Stufen, und es ist ja auch richtig und von mir selbst stets hervorgehoben, dafs der Ur-","page":71},{"file":"p0072.txt","language":"de","ocr_de":"72\nC. Stumpf.\n[94,35]\nsprung der Musik im eigentlichen Sinne mit der Einf\u00fchrung fester Stufen zusammenf\u00e4llt, und dafs die wesentlichsten Wirkungen der Musik auch heute noch durchaus an feste Stufen gebunden sind.\nGleichwohl mufs ich, wie vor Jahren1, behaupten, dafs die diskreten \u201ehistorischen Qualit\u00e4ten\u201c, wie sie in den Leitern vorliegen, einer an sich stetigen Reihe musikali-scher Qualit\u00e4ten entnommen sind. G\u00e4be es nur eine einzige Leiterform auf der Welt und bliebe sich auch die absolute H\u00f6he der Leitert\u00f6ne, die Stimmung, stets genau gleich, dann freilich l\u00e4ge die Annahme nahe, dafs die musikalischen Qualit\u00e4ten nur an ganz bestimmte einzelne Tonh\u00f6hen gebunden w\u00e4ren. Aber verschiedene Zeiten und V\u00f6lker nehmen sich verschiedene Qualit\u00e4tensysteme heraus, unterscheiden \u201eausgezeichnete Punkte\u201c nach sehr verschiedenen Gesichtspunkten; und wir selbst erheben, wenn wir die Stimmung um einen Viertelton h\u00f6her nehmen, durchweg andere Punkte zu ausgezeichneten als kurz vorher. Mit den Tonh\u00f6hen sind meiner Meinung nach auch die ben\u00fctzten Qualit\u00e4ten durchweg etwas verschoben. Man nennt das neue a1 freilich auch jetzt noch a1, ebenso wie die Anwendung des Wortes und Begriffes \u201eRot\u201c auf eine vorliegende Farbe eine gewisse Nuancen breite einschliefst, sich \u00fcber einen gewissen Abschnitt des Spektrums erstreckt. Aber eine Ver\u00e4nderung der Empfindung liegt doch vor, und zwar ist die Ver\u00e4nderung in Hinsicht der musikalischen Qualit\u00e4t meinem Urteil nach sogar gr\u00f6fser als die nach der blofsen Helligkeit. Mit der neuen Qualit\u00e4t ist dann durch die Verh\u00e4ltnisse der Oktavenidentit\u00e4t, der Verschmelzungsgrade, der Intervalle ein ganzes System neuer Qualit\u00e4ten wieder fest gegeben.\nWollte man daran festhalten, dafs die musikalischen Qualit\u00e4ten, wie sie jetzt vorliegen, ihrer Natur nach diskret sind, so m\u00fcfste man bei Transposition um einen Viertelton annehmen, dafs das System dieser Qualit\u00e4ten sich innerhalb einer gewissen Breite der Schwingungsfrequenzen verschieben, d. h. dafs mit etwas verschiedenen H\u00f6hen sich die gleichen Qualit\u00e4ten verbinden k\u00f6nnen. Das w\u00fcrde zu eigent\u00fcmlichen Konsequenzen\n1 Bericht \u00fcber den 6. Kongrefs f. exp. Psychol. 1914, S. 324, 348.","page":72},{"file":"p0073.txt","language":"de","ocr_de":"[94,36]\nSingen und Sprechen.\n73\nf\u00fchren, die hier auf sich beruhen m\u00f6gen. Jedenfalls kann nicht davon die Rede sein, dafs ausschliefslich bei bestimmten unver\u00e4nderlichen Schwingungszahlen sich musikalische Qualit\u00e4ten f\u00e4nden, bei den dazwischenliegenden aber \u00fcberhaupt keine.\nEs k\u00f6nnte immerhin daran gedacht werden, dafs phylogenetisch der Prozefs umgekehrt verlaufen w\u00e4re, dafs zun\u00e4chst nur einige Punkte der stetigen Helligkeitslinie sozusagen einen qualitativen Schimmer annahmen, und dafs dieser sich erst allm\u00e4hlich infolge des Wechsels der absoluten Tonh\u00f6hen beim Bingen und Spielen auf die ganze musikalisch gebrauchte Region ausdehnte, aus deren nun stetig gewordenen Qualit\u00e4tenschatz dann weiterhin die jeweiligen Gebrauchsleitern entnommen w\u00fcrden. Aber das sind alles Spekulationen, die hier, wo es nur die Beschreibung des vorliegenden Tatbestandes gilt, besser beiseite bleiben.\nSo scheint mir die Annahme einer an sich stetigen Qualit\u00e4tenlinie die einzige zu sein, die ungezwungen und ohne Hilfshypothesen mit den elementaren Tatsachen der Musik zurecht kommt.\n\u00a7 7. Ergebnis.\nIn summa: Sprache und Gesang sind in ph\u00e4nomenal-akustischer Hinsicht nicht spezifisch, d. h. nicht durch irgend eine Grundeigenschaft, sondern nur gradweise verschieden. Aber der Gradunterschied ist im allgemeinen doch so einschneidend, dafs die beiden Klassen menschlicher Lautprodukte in gew\u00f6hnlichen und ausgepr\u00e4gten F\u00e4llen leicht unterschieden werden.1 Der einschneidende Gradunterschied beruht haupts\u00e4chlich darauf, dafs die Sprache in vielf\u00e4ltigster Weise und grofsem Umfang stetige Ton Ver\u00e4nderungen ben\u00fctzt, der Gesang dagegen, wie die Musik \u00fcberhaupt, prinzipiell nur diskrete Tonstufen, w\u00e4hrend stetige \u00dcberg\u00e4nge hier nur als Vortragsmodifikationen in Anwendung kommen, die in der entwickelten Kunst das deutliche Hervortreten der festen Tonstufen in\n1 Es ist also logisch-formell ein \u00e4hnliches Verh\u00e4ltnis, wie ich es zwischen \u201eEmpfindungen\u201c und \u201eVorstellungen\u201c eingehend nachzuweisen versuchte.","page":73},{"file":"p0074.txt","language":"de","ocr_de":"74\nC. Stumpf.\n[94,37]\nkeiner Weise beeintr\u00e4chtigen d\u00fcrfen. Die Gef\u00fchlswirkungen der Sprache kn\u00fcpfen sich wesentlich gerade an stetige Tonver\u00e4nderungen und wo sprunghafte gebraucht werden, kommt es auf einen Viertelton h\u00f6her oder tiefer nicht im mindesten an, w\u00e4hrend die musikalischen Gef\u00fchlswirkungen in erster Linie an feste Intervalle fester T\u00f6ne gekn\u00fcpft sind und kleine Abweichungen von diesen gerade am unangenehmsten empfunden werden.\nMit diesen prim\u00e4ren Unterschieden h\u00e4ngen weitere, wie der gr\u00f6fsere Anteil an Ger\u00e4uschen, die geringere Deutlichkeit der Tonh\u00f6hen bei unakzentuierten Silben, die gr\u00f6fsere Freiheit des zeitlichen Verlaufes in der gew\u00f6hnlichen Sprache zusammen.\nNoch verschiedener als die Lauterscheinungen im H\u00f6renden sind die subjektiven Einstellungen des Sprechenden und des Singenden. Sie sind verschieden nach den allgemeinsten Intentionen, wie nach den speziellen Bewufstseinsunterlagen. Aber auch hier k\u00f6nnen gegenseitige Ann\u00e4herungen Platz greifen.","page":74}],"identifier":"lit38509","issued":"1924","language":"de","pages":"38-74","startpages":"38","title":"Singen und Sprechen","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T15:27:44.609730+00:00"}