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{"created":"2022-01-31T16:54:34.291374+00:00","id":"lit38518","links":{},"metadata":{"alternative":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft","contributors":[{"name":"Stumpf, C.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Beitr\u00e4ge zur Akustik und Musikwissenschaft 9: 1-16","fulltext":[{"file":"p0001.txt","language":"de","ocr_de":"[75, 39]\n1\nVerlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete (musikalische Anhedonie).\nVon\n0. Stumpe.\nUnsere Freude an der Musik ist teils durch die rein sinnliche Annehmlichkeit der Eindr\u00fccke, teils durch Form und Gehalt der Musikst\u00fccke bedingt. Die rein sinnliche Annehmlichkeit fasse ich als eine mit der Tonempfindung verkn\u00fcpfte, wesentlich zentral verursachte Mitempfindung. Form und Gehalt des Musikst\u00fcckes aber werden uns vermittelt durch vielf\u00e4ltige intellektuelle Verarbeitung der akustischen Eindr\u00fccke. Zum Teil erfolgt diese gewohnheitsm\u00e4fsig, mit der Selbstverst\u00e4ndlichkeit eines Instinktes, zum Teil aber auch infolge der willk\u00fcrlichen Hinlenkung unserer Aufmerksamkeit auf das Erfassen bestimmter Beziehungen, auch auf allgemeinere Gedanken mehr oder weniger bestimmter Art. Was der musikalische Mensch an Gem\u00fctsbewegungen beim Anh\u00f6ren eines Musikst\u00fcckes erlebt, ist nicht ohne solche ge-wohnheitsm\u00e4fsige oder absichtliche intellektuelle Verarbeitung m\u00f6glich. Aber die rein sinnliche Komponente in Form der Gef\u00fchlsempfindungen erh\u00f6ht den Reichtum und die Intensit\u00e4t des Erlebnisses. Sie ist auch sicherlich in der individuellen wie generellen Entwicklung der Ausgangspunkt aller Musikfreude. Sie mufs es sein, die die Aufmerksamkeit des Kindes zuerst auf das Tongebiet hinwendet, die die Konzentration des Bewufstseins, das Streben nach Unterscheidung, Vergleichung, Wiedererkennung der T\u00f6ne und Intervalle, nach zusammenfassendem \u00dcberblick der Modulation usw., kurz die fortschreitende passive und aktive Besch\u00e4ftigung mit dem Tongebiete zur Folge hat, wodurch die Unterlagen f\u00fcr die \u00e4sthe-\nStumpf, Beitr\u00e4ge 9.\t1","page":1},{"file":"p0002.txt","language":"de","ocr_de":"C. Stumpf.\n2\n[75, 40]\ntische Auffassung, zun\u00e4chst nach der formalen, dann aber auch nach der inhaltlichen Seite hin, gegeben werden.1\nK\u00f6nnten wir einem musikalisch hochgebildeten und feinf\u00fchligen Menschen pl\u00f6tzlich die sinnlichen Gef\u00fchlsempfindungen und deren Reproduktionen (Gef\u00fchlssinnes Vorstellung en) wegnehmen, so dafs ihm T\u00f6ne und Akkorde weder wohl noch \u00fcbel kl\u00e4ngen, auch keine Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit ins Ged\u00e4chtnis riefen, so w\u00fcrde zwar keineswegs das reim \u00e4sthetische Wohlgefallen, das in der Struktur der Melodien und Akkorde, der rationellen Stimmf\u00fchrung und Akkordbewegung, dem formvollendeten Bau eines ganzen St\u00fcckes wurzelt, ohne weiteres verschwinden2, es k\u00f6nnte von empf\u00e4nglichen Seelen auch noch ein Gehalt darin gefunden werden, der gewisse h\u00f6here Gef\u00fchle erregte, aber es w\u00fcrde eben doch ein starker Reiz wegfallen, die wohltuende Einwirkung auf das Nervensystem, wie sie der Musikalische deutlich an sich konstatieren kann. Wenn es sich aber um ein Individuum handelte, dem die Musik \u00fcberhaupt mehr Sinnengenufs als tiefste Gem\u00fctswirkung, und dem das Verst\u00e4ndnis der h\u00f6heren \u00e4sthetischen Seiten der Kunst nur wenig aufgegangen w\u00e4re, so w\u00fcrde ein solcher eben die Freude an der Musik \u00fcberhaupt verlieren..\n1\tVgl. hierzu Zeitschr. f. Psychol.44, 46 ff. und diese Beitr\u00e4ge 6, 146 fL\n2\tKann doch ein Musikalischer sogar beim blofsen Lesen eines St\u00fcckes, w\u00e4hrend er eine ganz andere Musik h\u00f6rt, von dem gelesenen St\u00fcck aber keine Ton-, sondern nur Gesichtsvorstellungen hat, die Gediegenheit der Komposition, die etwaigen Satzfehler usw. erkennen, wie ich dies an mir selbst oft genug erfahren habe.\nAuch ist es bekannt, dafs ein Instrument von erb\u00e4rmlichster Qualit\u00e4t,, dafs selbst M\u00e4ngel der reinen Stimmung, wenn sie nicht allzu arg sind, die intensive Freude \u00fcber das St\u00fcck als solches oft kaum vermindern. Aus meiner Jugendzeit ist mir in deutlichster Erinnerung, wie der ungeheure Reiz der Neuheit, der formalen Sch\u00f6nheit, des Ideengehalts der klassischen Kompositionen, als sie mir eine nach der anderen bekannt wurden,, mich gegen die Qualit\u00e4t der Auff\u00fchrung und vor allem der Instrumente fast gleichg\u00fcltig machte. Erst in \u00e4lteren Jahren fielen diese Momente f\u00fcr mich mehr ins Gewicht\nDies ist aber kein Widerspruch dagegen, dafs die Entwicklung von der sinnlichen Annehmlichkeit ihren Ausgang nimmt. Bei musikalischen Naturen ist eben die Entwicklung in Hinsicht des intellektuellemotionellen Musikgenusses mit dem J\u00fcnglingsalter bereits auf der H\u00f6he angelangt.","page":2},{"file":"p0003.txt","language":"de","ocr_de":"3\n[75, 41] Verlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\nDie Anhedonie an T\u00f6nen w\u00fcrde Apathie gegen\u00fcber der Musik zur Folge haben.\nIm folgenden will ich nun einen pathologischen Fall besprechen, dessen Deutung mir am besten in eben dieser Weise m\u00f6glich scheint. Ein Musikalischer ist durch pathologischen Wegfall der Gef\u00fchlsempfindungen bei T\u00f6nen zu einem Unmusikalischen geworden, er hat wenigstens die Freude an der Musik verloren, ohne dafs doch sein Geh\u00f6r selbst gelitten h\u00e4tte. Ist diese Deutung richtig, so haben wir hier eine Ausfallserscheinung, die die Auffassung der sinnlichen Tongef\u00fchle als zentraler Mitempfindungen zu st\u00fctzen geeignet ist. Ich m\u00f6chte auf pathologische F\u00e4lle zwar kein ungeb\u00fchrliches Gewicht legen, solange ihre Deutung nicht vollkommen zwingend erwiesen werden kann, und habe selbst k\u00fcrzlich in dieser Hinsicht das weit \u00fcbertriebene Gewicht bestritten, das R\u00e9v\u00e9sz und v. Liebermann auf die pathologischen Beobachtungen an dem letzteren gelegt haben. Aber das schliefst nicht aus, dafs wir solchen F\u00e4llen von Seite der Psychologie best\u00e4ndig die Aufmerksamkeit zuwenden, und sie, wenn sie uns Vorkommen, m\u00f6glichst genau untersuchen und beschreiben m\u00fcssen.\nVor einigen Jahren brachte mir der hiesige Ohrenarzt Prof. Dr. Haike in das Psychologische Institut einen Patienten, dessen Leiden rein ohren\u00e4rztlich r\u00e4tselhaft erschien, da sich akustische Defekte mit Ausnahme einer leichten St\u00f6rung der Klangfarbenperzeption nicht nachweisen liefsen. Prof. Haike hat seitdem auf der Wiener Naturforscherversammlung im Herbst 1913 \u00fcber seine Beobachtungen und seine Auffassung des Falles berichtet und weiterhin eine Abhandlung dar\u00fcber ver\u00f6ffentlicht.1 Er glaubt das Wesentliche in der St\u00f6rung der Klangfarbenperzeption finden zu m\u00fcssen. Ich berichte nun auch meinerseits \u00fcber die an dem Patienten in Anwesenheit seines Arztes gemachten Versuche (November 1911, Juni und Juli 1912). Bei der ersten Untersuchung waren die Herren Dr. v. Hornbostel und Dr. W. K\u00f6hler mitbeteiligt. Es liegt hier nicht nur ein psychologisches, sondern\n1 Sensorische Amusie im Gebiete der Klangfarbenperzeption. Monats-schr. f. Ohrenheilkunde 48, S. 249 ff. 1914.","page":3},{"file":"p0004.txt","language":"de","ocr_de":"4\nC. Stumpf.\n[75, 42]\nauch ein praktisches Interesse vor, insofern Ohren\u00e4rzten vielleicht auch noch andere \u00e4hnliche F\u00e4lle begegnen k\u00f6nnten und sich aus der Vergleichung ein bestimmt charakterisiertes besonderes Krankheitsbild ergeben k\u00f6nnte.\nDer Fall betraf einen fr\u00fcheren Milit\u00e4rmusiker N., der Posaune und Cello gespielt hatte, aber allm\u00e4hlich Schwierigkeiten im Zusammenspielen fand und jeden Genufs an der Musik verlor. Da die Geh\u00f6rsuntersuchung nichts besonderes ergab, wurde er gleichwohl noch eine Weile zur Mitwirkung bei der Kapelle angehalten; sp\u00e4ter aber wurde er doch als unverwendbar entlassen. Er selbst f\u00fchrte sein Leiden auf das Posaunenblasen zur\u00fcck. Uber den medizinischen Befund verweise ich auf die Arbeit von Prof. Haike. Es waren sichtbare St\u00f6rungen des Organismus und seiner Funktionen nicht vorhanden. Die Klagen des Patienten in dieser Hinsicht bezogen sich nur auf einen gewissen Druck in der Stirngegend. Die gew\u00f6hnlichen H\u00f6rpr\u00fcfungen fielen alle befriedigend aus, auch die auf h\u00f6chste T\u00f6ne mit dem Galton-Pfeifchen.\nAuch mir machten die Antworten und Leistungen des Mannes in bezug auf die ihm gestellten Aufgaben den Eindruck eines zwar nur m\u00e4fsig musikalischen, aber mit Ausnahme der Gef\u00fchlsseite nicht irgendwie pathologisch affizierten Geh\u00f6rs. Da er vor seiner Erkrankung \u00fcberhaupt nicht auf solche Fragen hin untersucht worden war, ist es sehr wohl m\u00f6glich, dafs sein musikalisches Urteil, sein Erkennen der Intervalle usw. jetzt nicht schlechter ist als fr\u00fcher. Jedenfalls liegt keinerlei Grund vor, die bei der Untersuchung in dieser Beziehung hervortretenden M\u00e4ngel auf Geh\u00f6rsst\u00f6rungen zur\u00fcckzuf\u00fchren. Der Direktor der Milit\u00e4rmusikkapelle, der er fr\u00fcher angeh\u00f6rte, berichtet mir, dafs N. kein besonders musikalisches Mitglied seiner Kapelle gewesen sei, wie denn \u00fcberhaupt vielfach Soldaten dazu genommen werden m\u00fcfsten, die nur hinreichende technische Fertigkeiten bes\u00e4fsen, aber in musikalischer Hinsicht vieles zu w\u00fcnschen liefsen.","page":4},{"file":"p0005.txt","language":"de","ocr_de":"5\n[75, 43]\nVerlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\n1. Beurteilung und Nachbildung isolierter T\u00f6ne und Tonfolgen.1 *\nN. kann die a-Saite seines Cello und jede andere Saite mit grofser Genauigkeit nach einer angegebenen H\u00f6he, auch nach einem Klavierton stimmen, wenn die beiden T\u00f6ne nacheinander angegeben werden. Als er sein Cello nach einem anderen zu stimmen hatte, erkannte er noch mit Sicherheit eine minimale, auch mir nur eben merkliche Differenz. Seine Unterschiedsempfindlichkeit ist jedenfalls innerhalb der gew\u00f6hnlichen musikalischen Region durchaus normal, ja sie scheint besonders fein zu sein. In der f\u00fcnf gestrichenen Oktave vermag er mindestens bei Unterschieden von etwa einem halben Ton noch zu sagen, welcher Ton der h\u00f6here ist. N\u00e4her ist seine Unterschiedsempfindlichkeit hier nicht gepr\u00fcft. Es ist aber kein Grund, sie f\u00fcr geringer zu halten als die normale, die in dieser Region eben auch noch nicht genauer festgestellt ist.\nVorgesungene T\u00f6ne kann er nachsingen, und, wenn sie auf verschiedenen Vokalen gesungen werden, auch den Vokalcharakter richtig nachbilden. Er singt \u201eDeutschland \u00fcber alles\u201c mit und ohne Begleitung. Doch ist ihm das Singen unbequem und wird technisch schlecht ausgef\u00fchrt, da er sich niemals darin ge\u00fcbt hat. Klaviert\u00f6ne aus nicht sangbaren Tonregionen transponiert er richtig in seine Stimmlage. Bei c3 und g8 stockte er zwar, konnte aber den auf- und absteigenden Dreiklang aus der dreigestrichenen Oktave doch wieder richtig in seiner Stimmlage nachsingen, pfiff auch eine kleine Tonphrase\ndie ihm in der viergestrichenen Oktave gegeben wurde, richtig nach, mit Transposition um eine, auch zwei Oktaven. Ebenso transponierte er die T\u00f6ne E, Gis, H aus der grofsen Oktave richtig nach aufw\u00e4rts in seine Stimmlage.\n1 Den Ansdruck \u201eTon\u201c wollen wir hier im weiteren Sinne, also auch\nf\u00fcr Kl\u00e4nge mit Obert\u00f6nen, gebrauchen.","page":5},{"file":"p0006.txt","language":"de","ocr_de":"6\nC. Stumpf.\n[75, 44]\nIn der Benennung des Dur- und Moll-Dreiklanges bei blofser Sukzession der T\u00f6ne war er ziemlich sicher. Allerdings nannte er zuerst auch die Folge c d g Moll, erst allm\u00e4hlich wurde er sicher. Das wird man aber jederzeit bei Halbmusikalischen finden.\nIn der Benennung einzelner Intervalle aufeinanderfolgender T\u00f6ne als Terz, Quarte usw. durfte man nicht viel verlangen, da er eine Ausbildung in dieser Hinsicht nicht genossen hatte.\nSpielen eines St\u00fcckes auf dem Cello. Ein ihm noch unbekanntes St\u00fcck von Goltermann, das sich wesentlich auf der a-Saite des Cello bewegt und, ohne gr\u00f6fsere Schwierigkeiten zu bieten, doch Applikaturen in h\u00f6heren Lagen behufs reiner Intonation verlangt, spielte er vom Blatt so gut wie tadellos, auch mit den bei guten Cellisten \u00fcblichen Vortragsnuancen. Aber er erkl\u00e4rte, absolut keinen Genufs davon zu haben. Ebenso spielte er Glucks \u201eReigen seliger Geister\u201c zuerst solo, dann mit Klavier, und ein MozARTsches Menuett fix vom Blatt, sogar mit Ausdruck, behauptete aber wieder, absolut keinen Genufs zu haben.\nZwei seiner fr\u00fcheren Kameraden aus der Milit\u00e4rkapelle erz\u00e4hlten mir allerdings, dafs er nicht mehr recht rein gespielt und darum wieder Unterricht, aber ohne Erfolg, genommen habe. Ich kann nur sagen, dafs er bei unserer Pr\u00fcfung in dieser Beziehung gut bestand.\n2. Beurteilung gleichzeitiger T\u00f6ne.\nIm Urteil \u00fcber Einheit oder Mehrheit gleichzeitiger T\u00f6ne nimmt er wieder die Stellung eines Halbmusikalischen ein : eine Oktave, auch eine Quinte auf unserer Flaschenorgel (mit sehr weichen T\u00f6nen) erkennt er nicht bestimmt als Mehrheit. Bei Terzen merkt er die Mehrheit der T\u00f6ne, unterscheidet aber nicht sicher die grofse und kleine Terz voneinander, vermag also das Intervall auch hier nicht mit voller Sicherheit zu erkennen.\nWurde am Klavier zuerst c1 es1 g1, dann nur c1 g1 angegeben, so erkl\u00e4rte er beide Eindr\u00fccke f\u00fcr identisch, c1 e1 g1 schienen ihm drei T\u00f6ne, ebenso aber auch c1 g1, a e1 oder f1 h1.","page":6},{"file":"p0007.txt","language":"de","ocr_de":"! 75, 45] Verlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\n7\nDie Aufgabe, die T\u00f6ne eines Mehrklanges nachzusingen, l\u00f6ste er fast regelm\u00e4fsig durch Nachsingen des h\u00f6chsten Tones \u25a0allein. Doch gab er \u00f6fters an, dafsnoch etwas dabei sei (vgl. dazu Tonpsychologie II 365 ff.).\nWenn bei gleichbleibenden \u00e4ufseren T\u00f6nen der mittlere Ton eines Dreiklanges wechselte, konnte er die dadurch gegebene Tonfolge der mittleren Stimme nicht regelm\u00e4fsig heraush\u00f6ren:\nBei 1. gelang es ihm (durch Nachsingen bewiesen), bei 2. wurde es ihm schwer, selbst nachdem die Tonfolge es1 f1 es1 dazwischen f\u00fcr sich allein gespielt worden war.\nWenn eine bekannte Melodie gleichzeitig durch dar\u00fcber und darunter liegende, dazu passende Harmonien begleitet und ziemlich stark zugedeckt wurde, konnte er sie beim ersten Versuche nicht, wohl aber beim zweiten Versuche heraush\u00f6ren.\nAls w\u00e4hrend eines gleichm\u00e4fsig andauernden lauten Akkordes gesprochen wurde, konnte er es vollkommen verstehen.\nBeim Mitspielen im Orchester behauptet er sich selbst nicht mehr spielen zu h\u00f6ren. Aber das kann einem Cellisten auch sonst begegnen. Es wird davon abh\u00e4ngen, wie stark die anderen Instrumente und wie stark er selbst spielt. Immerhin mufs er irgendeinen Unterschied gegen\u00fcber fr\u00fcher dabei gefunden haben. Auch gibt er an, wenn in einem grofsen Saale das Publikum durcheinander spreche, k\u00f6nne er nichts heraush\u00f6ren. Es sei alles eine Masse, auch wenn einer lauter spreche. Diese Klage vernimmt man sehr gew\u00f6hnlich von Schwerh\u00f6rigen, auch bei Diplakusis (vgl. Tonpsychologie I, S. 269 ft.) Doch liegen derartige Defekte bei ihm nicht vor. Es scheint nur die Analysierungsf\u00e4higkeit im allgemeinen etwas gelitten zu haben.\nBenennung von Dreikl\u00e4ngen. Dur- und Moll dreikl\u00e4nge unterscheidet er voneinander bei gleichzeitigem Erklingen der drei T\u00f6ne bedeutend unsicherer als bei Sukzession.","page":7},{"file":"p0008.txt","language":"de","ocr_de":"8\nC. Stumpf.\n[75, 46]\nDie Dreikl\u00e4nge d f as, d fis ais schienen ihm \u201esonderbar\u201c. Zu benennen wnfste er diese sicherlich in seinem fr\u00fcheren Zustande auch nicht, aber sie konnten ihm als Musiker doch nicht gerade sonderbar erscheinen.\nDas Reinstimmen seines Cello bei gleichzeitigem Anstreichen zweier Saiten gelang ihm vollkommen befriedigend. Also die Unterschiedsempfindlichkeit f\u00fcr Simultan-Intervalle ist, ebenso wie die beim Unisonstimmen einer Saite nach einer anderen in der Sukzession, durchaus erhalten.\n3. Beurteilung von Klangf ar b en und Instrumenten..\nDafs N. Vokale sicher unterscheiden und nachbilden kann, ist ein Zeichen, dafs ihm die Klangfarbenunterschiede im weiteren Sinne des Wortes nicht verloren gegangen sind. Aber es beginnt doch im Gebiete der Klangfarben sich ein Defekt geltend zu machen, zu dessen Charakterisierung wir zun\u00e4chst nur seine eigenen \u00c4ufserungen ben\u00fctzen wollen.\nBeim Ausziehen der \u201eVokalr\u00f6hre\u201c (einer Zunge mit ausziehbarem Ansatzrohr, wodurch sukzessive immer tiefere Teilt\u00f6ne verst\u00e4rkt werden und so die Klangfarbe dunkler wird) fand er nur einen Unterschied in der St\u00e4rke. Doch kann man hierauf nicht viel geben, da es sich um ein f\u00fcr ihn ganz ungewohntes Instrument handelte.\nDa W. K\u00f6hlek gerade seine Beobachtungen \u00fcber die \u00c4hnlichkeit von T\u00f6nen mit Vokalen ver\u00f6ffentlicht hatte, pr\u00fcften wir den Mann auf diesen Punkt. Auf die Frage, welcher Vokal dumpfer sei, U oder I, O oder E, gab er ohne weiteres die richtige Antwort. Ebenso erkannte er, dafs der Ton c5 \u00c4hnlichkeit mit I habe, w\u00e4hrend er f\u00fcr cs keine Vokal\u00e4hnlichkeit fand. Den Ton g bestimmte er als O oder U.\nDafs ein scharfes und ein weiches a1, wenn es z. B. von einer Zungen- und einer Fl\u00f6tenpfeife hervorgebracht wird, verschieden klingen, erkennt er wohl, will aber durchaus kein Pr\u00e4dikat f\u00fcr den Unterschied angeben. Es sei eben \u201eanders\u201c, aber \u201ealles nicht so, wie es sein sollte\u201c. Schliefslich bringen wir ihn durch Forderung genauerer Angaben dazu,, dafs er das weiche a1 als \u201emehr rund, mehr wie Horn\u201c, das scharfe als \u201emehr wie Oboe\u201c bezeichnet; was ja auch zutrifft.","page":8},{"file":"p0009.txt","language":"de","ocr_de":"9\n[75, 47] Verlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\nEr erkennt leicht die gr\u00f6beren Unterschiede der gew\u00f6hnlichen Instrumente. Die Klarinette, das Cello,, die Fl\u00f6te usw. kann er nach dem Klang als solche erkennen.\nDie h\u00f6heren Kl\u00e4nge eines Zungenapparates (700, 900 Schwingungen) verglich er ganz richtig mit denen einer Ziehharmonika oder Oboe, die h\u00f6heren der Flaschenorgel mit der Pfeife auf dem Dampfer, auch wohl mit der Fl\u00f6te. Doch klinge ihm alles ger\u00e4uschiger wie fr\u00fcher.\nEs wurde ihm nun die Aufgabe gestellt, sein eigenes Cello von einem anderen (besseren) zu unterscheiden, wobei hinter seinem R\u00fccken eine kleine identische Phrase auf beiden Instrumenten abwechselnd gespielt wurde. Die Unterscheidung gelang ihm einigermafsen, doch nicht mit Sicherheit. Man mufs aber sagen, dafs eine solche Aufgabe auch f\u00fcr gut musikalische Menschen schon zu den schwereren geh\u00f6rt, da es sich dabei um ziemlich feine Unterschiede in der Klangfarbe handeln kann. Auch mir f\u00e4llt sie bei der Violine, die mir am meisten vertraut ist, schwer, wenn der Unterschied in der G\u00fcte der Instrumente nicht sehr grofs ist.\nEs wurde weiter die Aufgabe gestellt, den Ton a auf der freien a-Saite und denselben Ton auf der ^-Saite des Cello, ferner das freie d und das d auf der #-Saite zu unterscheiden. Dies fiel ihm schwer; er hatte das Gef\u00fchl, es \u00fcberhaupt nicht zu k\u00f6nnen. In diesem Fall allerdings liegt schon ein merklicherer Unterschied der Klangfarbe vor, und man kann es f\u00fcr wahrscheinlich halten, dafs er fr\u00fcher dazu f\u00e4hig war, dafs also hier ein gewisser Defekt vorliegt. Aber es kann nicht die Rede davon sein, dafs eine Schw\u00e4chung der Unterscheidungsf\u00e4higkeit f\u00fcr relativ immerhin geringe Klangfarbenunterschiede jemand f\u00fcr die Aus\u00fcbung der musikalischen Praxis unf\u00e4hig machen k\u00f6nnte.\nObgleich er ja nun die Unterschiede der Klangfarbe und der Instrumente praktisch ganz gen\u00fcgend erkennt, fehlt ihm doch an allen Kl\u00e4ngen irgend etwas. Es ist alles, auch die menschliche Sprache, \u201enicht, wie es sein sollte, klingt nicht, ist trocken, zu abgerundet, nicht scharf\u201c. Das sind immer wiederkehrende Ausdr\u00fccke, mit denen er seinen Defekt schildert und beklagt. Sie leiten uns \u00fcber zu einem anderen Gebiete :","page":9},{"file":"p0010.txt","language":"de","ocr_de":"10\nC. Stumpf.\n[75, 48]\n4. Gef\u00fchlswirkungen der T\u00f6ne und Tonverbindungen.\nDer Patient hat schlechterdings kein Wohlgefallen mehr an der Musik, und er empfindet diese Ver\u00e4nderung mit grofser Traurigkeit. Sowohl die einzelnen Kl\u00e4nge als die Melodien und Harmonien sind ihm gleichg\u00fcltig geworden. Wenn er klagt, dafs sein Cello jetzt klinge, wie wenn es aus Pappe w\u00e4re oder wenn er Bindfaden striche (Haike), so meint er damit offenbar die \u00c4hnlichkeit der Gef\u00fchlswirkung. Denn von einer Verwechselung des Cello- oder Klaviertones mit einkm solchen Ger\u00e4usch ist, wie wir zum \u00dcberflufs durch besondere Versuche feststellten, nicht entfernt die Rede. Aber die Annehmlichkeit, der Reiz fehlt da wie dort. \u201eDer Klavierton klingt nicht, ist nicht angenehm.\u201c Es sei ein Unterschied gegen fr\u00fcher wie Tag und Nacht.\nSelbst der reine C-dur-Akkord ist ihm \u201ekein Genufs\u201c. Zwischen Dur-, Moll- und \u00fcberm\u00e4fsigen Dreikl\u00e4ngen findet er keinen Unterschied der Annehmlichkeit. \u201eAlles egal, wieder angenehm noch unangenehm.\u201c Eine vollstimmige krasse Diskordanz klingt ihm st\u00e4rker, aber nicht unangenehmer als ein einzelnes dissonantes Intervall.\nWenn zu einer Melodie zweite Stimme gesungen wird, war es ihm fr\u00fcher lieb. Jetzt ist es ihm \u201eegal\u201c. Fr\u00fcher machte es ihm Freude, ein Orchester spielen zu h\u00f6ren und die Stimmen zu verfolgen, jetzt kann er es nach seiner Angabe auch noch, wenn er sich M\u00fche gibt, aber es hat alles \u201ekeinen Klang\u201c. Dreiklangakkorde auf einem Zungenapparat zieht er denselben Akkorden auf der Flaschenorgel vor; aber positiv angenehm sind sie ihm beide nicht.\nDabei erkennt er ganz wohl den Hauptunterschied der verschiedenen Zusammenkl\u00e4nge in bezug auf ihre harmonische Funktion, je nachdem sie n\u00e4mlich als Schlufs-akkord stehen k\u00f6nnen oder nicht. Ich legte ihm an der Orgel einen vollstimmigen Dur- und einen Mollakkord vor mit der Frage: Kann man damit schliefsen? Antwort in beiden F\u00e4llen: Ja. Dann einen stark dissonierenden Akkord: Nein. Ebenso am Dreiklangapparat bei 800:1000:1200 Ja, bei 700 : 900 : 1100 Nein. Als \u201eDeutschland \u00fcber alles\u201c einmal","page":10},{"file":"p0011.txt","language":"de","ocr_de":"[75, 49] Verlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\nU\nrichtig und einmal falsch harmonisiert wurde, erkannte er sogleich den Unterschied.\nAus diesen Beobachtungen scheint sich mir folgendes Bild des Zustandes zu ergeben.\nZweifellos m\u00fcssen wir bei einem Klangeindruck den rein inhaltlichen, sozusagen theoretischen, und den gef\u00fchlsm\u00e4fsigen Bestandteil unterscheiden. Auf den inhaltlichen Bestandteil beziehen sich die Urteile \u00fcber St\u00e4rken- oder H\u00f6henunterschiede, Klangfarbe, Einheit oder Vielheit der gleichzeitigen T\u00f6ne, Abstand und musikalisches Intervall, nach meiner Ansicht auch die \u00fcber Dur oder Moll und \u00fcber Konsonanz oder Dissonanz. Die Gef\u00fchlswirkungen spielen zwar bei solchen Urteilen vielfach als Kriterien eine Rolle. Aber das Urteil bezieht sich nicht auf die Gef\u00fchlswirkung selbst, sondern auf bestimmte wohldefinierbare Eigent\u00fcmlichkeiten des akustischen Empfindungsinhaltes. Dur und Moll z. B. unterscheiden sich dadurch, dafs das erste Intervall (bei der ersten Lage) vom Grundtone aus einmal eine grofse, das andere Mal eine kleine Terz ist ; und diese beiden Intervalle unterscheiden sich dadurch, dafs beim Hinaufgehen in der diatonischen Leiter der zweite Schritt einmal ein Ganzton, das andere Mal ein Halbton ist. Das sind wenigstens die n\u00e4chstliegenden Definitionen, obgleich man sich auch viel gelehrter ausdr\u00fccken kann. Es ist nicht gesagt, dafs man sich bei der Beurteilung des einzelnen Falles nach einem solchen theoretischen Kriterium richtet. Da m\u00f6gen allerlei Hilfskriterien herangezogen werden. Aber die Eigenschaften, auf die sich das Urteil bezieht, lassen sich jedenfalls als immanente Eigenschaften des akustischen Empfindungsinhaltes selbst definieren. Aufser diesen finden wir in unserem Bewufstsein aber noch den sog. Gef\u00fchlston, die Gef\u00fchlswirkung oder Gef\u00fchlsseite des Klanges, zun\u00e4chst seine Annehmlichkeit oder Unannehmlichkeit. Wie man dieses Element auch benennen und theoretisch deuten m\u00f6ge: unser Fall scheint zu zeigen, dafs eine Abspaltung oder ein Schwund desselben unabh\u00e4ngig von den immanenten Eigenschaften des Klanges selbst stattfinden kann.","page":11},{"file":"p0012.txt","language":"de","ocr_de":"12\nC. Stumpf.\n[75, 50]\nDas ist meines Erachtens, nach dem ganzen Befunde, der Grundcharakter der hier aufgetretenen Ver\u00e4nderungen. Ich schliefse daraus, dafs der sogenannte Gef\u00fchlston trennbar ist von den T\u00f6nen selbst, also keine immanente Eigenschaft ist. Wer aber gleichwohl dabei bleiben will, ihn als eine Eigenschaft der T\u00f6ne zu bezeichnen, der wird eben den Begriff der Eigenschaft so zu fassen haben, dafs sie auch verloren gehen kann,, w\u00e4hrend ihr Subjekt erhalten bleibt. Tatsache ist, dafs die Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit der T\u00f6ne und Tonverbindungen f\u00fcr den Patienten so gut wie verschwunden sind, w\u00e4hrend sein Geh\u00f6r f\u00fcr die St\u00e4rke, H\u00f6he, Klangfarbe u. dgl. nicht oder nur ganz unwesentlich gelitten hat. Das ist das Wesentliche des psychologischen Tatbestandes.\nDie n\u00e4chste Folge hiervon ist, dafs auch die Affekte, die ganze Freude an der Musik, das Wohlgefallen an der Aufeinanderfolge und Gleichzeitigkeit von T\u00f6nen, an dem Aufbau eines St\u00fcckes, an dem Heraush\u00f6ren von Stimmen aus dem Orchester u. dgl. f\u00fcr diesen Patienten verschwunden sind. Insofern l\u00e4fst sich der Zustand nicht blofs als musikalische Anhedonie, sondern auch als musikalische Apathie bezeichnen. Nur f\u00fcr einen hochentwickelten Musikverstand k\u00f6nnte unter solchen Umst\u00e4nden, wenn der sinnliche Reiz der T\u00f6ne und Tonverbindungen weggefallen ist, noch ein \u00e4sthetisches Wohlgefallen \u00fcbrig bleiben, sicher aber nicht f\u00fcr einen durchschnittlichen Milit\u00e4rmusiker.\nBez\u00fcglich der Klangfarbe entsteht zun\u00e4chst eine Paradoxie, wenn man bedenkt, dafs Klangfarbenunterschiede bei gleicher absoluter Tonh\u00f6he haupts\u00e4chlich durch die Anzahl und Ordnungszahl der Obert\u00f6ne bedingt sind. Wenn einer nun aber die einzelnen Teilt\u00f6ne normal h\u00f6rt, wenn sein Geh\u00f6r keine Tonl\u00fccken und keine Schw\u00e4chungen einzelner T\u00f6ne aufweist, dann begreift man zun\u00e4chst nicht, wie es zu einer St\u00f6rung der Klangfarbe kommen kann.\nNun ist zu beachten, dafs mit den Kl\u00e4ngen der verschiedenen Instrumente auch bestimmte rein sinnliche Gef\u00fchlswirkungen verbunden sind. Und diese sind so charakteristisch, dafs sie wie Eigenschaften des Klanges selbst erscheinen. Die sprachlichen Pr\u00e4dikate : dumpf, weich, schmelzend (Mozarts \u201eButtergeige\u201c), hart, scharf, markig usw. sind wohl","page":12},{"file":"p0013.txt","language":"de","ocr_de":"13\n[75, 51]\nVerlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\ndurch solche Gef\u00fchlsempfindungen mit veranlafst. Aus diesem Grunde hatte ich im ersten Bande der Tonpsychologie die Klangfarbe \u00fcberhaupt als ein Gef\u00fchl definiert. Das war zu weit gegangen und wurde im zweiten Bande in dem Sinne berichtigt, dafs die Grundlage der Klanggef\u00fchle doch bestimmte tonale Eigenschaften der Kl\u00e4nge selbst sein m\u00fcssen, und dafs in solchen das eigentliche Wesen der Klangfarbe zu suchen sei. Hier\u00fcber hat inzwischen W. K\u00f6hleb weitere Betrachtungen angestellt und die Theorie durch die Annahme sogenannter Intervallcharaktere, die an die Verh\u00e4ltnisse der Teilt\u00f6ne zueinander gekn\u00fcpft seien, zu erg\u00e4nzen versucht. Wie es sich auch damit verhalte: soviel bleibt doch unbestreitbar, dafs die Anwendung von Ausdr\u00fccken obiger Art durch die an T\u00f6ne gekn\u00fcpften Gef\u00fchlsempfindungen (und die dadurch bewirkten Analogien mit anderen Sinnen) veranlafst wird.1 2 * * Darum ist es uns verst\u00e4ndlich, wenn der Patient klagt, dafs ihm alle Kl\u00e4nge gleichm\u00e4fsig \u201etrocken\u201c und \u201eger\u00e4uschig\u201c klingen, \u201enicht so, wie es sein sollte\u201c, ja dafs sie \u00fcberhaupt \u201enicht klingen\u201c.\nDer Ausdruck \u201eger\u00e4uschiger als fr\u00fcher\u201c deutet allerdings darauf hin, dafs auch eine rein akustische Modifikation Platz gegriffen hat, insofern das viele Kl\u00e4nge begleitende charakteristische Ger\u00e4usch, das wir zur Klangfarbe im weiteren Sinne rechnen, st\u00e4rker als im normalen Zustande empfunden wird. Aber auch wo das Ger\u00e4usch nicht objektiv veranlafst ist, scheint das Zusammenklingen vieler T\u00f6ne bei ihm eine Ge-komponente in den Klang hineinzubringen, die beim normalen H\u00f6ren zwar im Gefolge starker und rascher Schwebungen auch auftreten kann, aber in der Kegel unbemerkt bleibt. Und hiermit mag wohl auch eine gewisse Verschwommenheit\n1\tVgl. Tonpsych. II, S. 530.\n2\tEin von Urbantschitsch (Lehrb. d. Ohrenheilkunde 5, S. 77) nur\nganz kurz beschriebener Fall ist bereits von Haike zur Vergleichung herangezogen: \u201eEin Musiker verlor ohne bekannte Ursachen allm\u00e4hlich immer mehr die Empfindung der Klangf\u00fclle und Klangfarbe f\u00fcr Violin-t\u00f6ne, wobei sich sein Geh\u00f6r f\u00fcr Sprachlaute und Ger\u00e4usche vollkommen normal verhielt. Der Zustand hat mehrere Jahre angehalten, ist gegen-\nw\u00e4rtig bedeutend besser.\u201c\nM\u00f6glich, dafs hier ein analoger Fall vorlag. Was sonst in der ziemlich reichen Literatur \u00fcber St\u00f6rungen des musikalischen H\u00f6rens angef\u00fchrt wird, betrifft immer schon weitgreifende rein akustische Defekte.","page":13},{"file":"p0014.txt","language":"de","ocr_de":"14\nC. Stumpf.\n[75, 52]\ndes Eindruckes mehrerer gleichzeitiger T\u00f6ne Zusammenh\u00e4ngen, die die Analyse beeintr\u00e4chtigt. Diese Ger\u00e4uschbeimischung ist aber nur st\u00e4rker gegen\u00fcber dem normalen H\u00f6ren geworden, sie \u00fcberwiegt nicht etwa schlechthin das Tonale. Sonst w\u00e4re der Mann nicht f\u00e4hig, konkordante und diskordante Mehrkl\u00e4nge, Dur- und Molldreikl\u00e4nge zu unterscheiden und T\u00f6ne aus einem Mehrklange herauszuh\u00f6ren.\nAuch die Ausdr\u00fccke \u201ezu rund, nicht scharf\u201c gegen\u00fcber gewohnten Klangfarben k\u00f6nnen daraus erkl\u00e4rt werden, dafs durch das bei Einzelkl\u00e4ngen aus zahlreichen Teilt\u00f6nen hervorgerufene Ger\u00e4usch die h\u00f6heren Teilt\u00f6ne schw\u00e4cher oder gar nicht zur Wirkung gelangen l\u00e4fst. Dadurch mufs dann notwendig der Klang runder, einem weichen Hornklang \u00e4hnlicher werden.\nDie Sch\u00e4digung des rein Akustischen an seinen Empfindungen kann also auch in bezug auf die Klangfarbe nur eine geringf\u00fcgige sein, nur eine gewisse Zunahme der Ger\u00e4uschkomponente. In der Tat unterscheidet er ja ganz leicht die gebr\u00e4uchlichen Instrumente voneinander.\nMan k\u00f6nnte sich wundern, dafs die reine Intonation von Melodieintervallen auf dem Cello sowie das Rein stimmen gleichzeitiger Quinten so gut gelang, da doch wohl im normalen Zustand dabei Gef\u00fchlsempfindungen (Reinheitsgef\u00fchle) eine grofse Rolle spielen. Indessen beruht das richtige Spielen eines St\u00fcckes zum grofsen Teil auf muskul\u00e4rem Ged\u00e4chtnis und richtiger motorischer Innervation. Allerdings mufs dabei einigermafsen auch die Kontrolle eines durch langj\u00e4hrige \u00dcbung geschulten Geh\u00f6rs mitwirken. Aber das Reinheitsgef\u00fchl konnte ersetzt werden durch ein sehr gesch\u00e4rftes Tondistanzurteil. F\u00fcr den Streicher ist jede Note mit einem bestimmten Griff und jeder Griffwechsel mit der Vorstellung eines bestimmten Unterschiedes der beiden individuellen T\u00f6ne, also mit einer genauen akustischen Distanzvorstellung verkn\u00fcpft; und diese braucht nicht im mindesten gelitten zu haben. Was endlich das Reinstimmen gleichzeitiger Quinten anlangt, so hat hier der Streicher an den Differenz- und Obert\u00f6nen und deren Schwebungen, auch \u2019wenn er nicht ausdr\u00fccklich darauf achtet, starke Hilfen. Der reine Quintenklang ist ein besonders einheitlicher, stark verschmelzender Klang ; \u00fcberdies fehlt ihm bei einfachen nicht allzuhohen T\u00f6nen jegliche Rauhig-","page":14},{"file":"p0015.txt","language":"de","ocr_de":"15\n[75, 53]\nVerlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete.\nkeit, bei Kl\u00e4ngen mit Obert\u00f6nen fehlen ihm wenigstens alle langsameren Schwebungen, er fliefst vollkommen gleichm\u00e4fsig dahin. Das macht sich als Empfindungseigenschaft des Klanges selbst, unabh\u00e4ngig von dem spezifischen Reinheitsgef\u00fchl, bemerkbar. Im normalen Zustand eines ausgebildeten musikalischen Geh\u00f6rs wirkt das Reinheitsgef\u00fchl mit diesen akustischen Hilfen zusammen, unter Umst\u00e4nden ihnen sogar entgegen, beim Wegfall der Gef\u00fchlsempfindungen bleiben aber die direkt akustischen Kriterien \u00fcbrig.\nSo scheint sich der interessante pathologische Fall am befriedigendsten auffassen zu lassen. Zu w\u00fcnschen aber bleibt, dafs die Ohren\u00e4rzte auf das Vorkommen \u00e4hnlicher F\u00e4lle achten. Wie es eine An\u00e4sthesie in bezug auf die T\u00f6ne selbst gibt, so kann es auch eine An\u00e4sthesie f\u00fcr die daran gekn\u00fcpften Gef\u00fchlsempfindungen, eine musikalische Anhedonie geben, -die niemand als krankhaft empfindet, wenn sie ihm \u2014 wie allen Unmusikalischen \u2014 angeboren ist, die aber pathologisch wird, wenn sie den Wegfall eines bei diesem Individuum bis dahin normal funktionierenden zentralen Prozesses bedeutet.\n\u00dcber die Art der anzunehmenden anatomisch-physiologischen St\u00f6rungen m\u00f6chte ich mich jeder eigenen Hypothese enthalten, kann aber nicht unterlassen, \u00c4ufserungen v. Monakows anzuf\u00fchren, die wie auf den vorliegenden Fall zugeschnitten erscheinen.1 Er meint, im allgemeinen k\u00f6nne bez\u00fcglich Schmerz, und Lust jede Windung entbehrt werden, doch sei \u201ewahrscheinlich jedes kortikale Sinnesfeld mit jenen Gef\u00fchlen resp. Reizqualit\u00e4ten derart ausgestattet, dafs z. B. bei Zerst\u00f6rung eines grofsen Teils der Sehsph\u00e4re Lust- und Unlustempfindungen nicht mehr von der Retina, bei Zerst\u00f6rung des Temporallappens (sensorische Aphasie) nicht mehr oder nur in geringem Grade vom Schallapparat aus ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen, und zwar auch dann, wenn der normale Rest jener Sph\u00e4ren so grofs ist, dafs die bez\u00fcglichen Sinnesleitungen noch ausreichend funktionieren und die entsprechenden Sinnesreize roh empfunden werden.\u201c\nDer ausgezeichnete Hirnforscher h\u00e4lt also einen Verlust\n1 \u00dcber die Lokalisation der Hirnfunktionen. S. 23\u201424. 1910.","page":15},{"file":"p0016.txt","language":"de","ocr_de":"16\nC. Stumpf.\nder Gef\u00fchlsempfindungen an T\u00f6nen bei ausreichend erhaltenen Tonempfindungen f\u00fcr m\u00f6glich, selbst wenn man sich beide in ein und demselben Gehirnteile lokalisiert denkt. Es kann sich dann eben immer noch um verschiedene Gebilde oder wenigstens verschiedene Prozesse innerhalb dieses Teiles handeln. Nat\u00fcrlich ist die Trennung noch leichter denkbar, wenn f\u00fcr die Gef\u00fchlsempfindungen eines Sinnesgebietes irgendwelche andere benachbarte oder entfernte, bestimmter oder unbestimmter begrenzte, Teile in Anspruch genommen werden. Dies alles bleibt dem Anatomen \u00fcberlassen. F\u00fcr die Psychologen ist in erster Linie nur die Trennbarkeit selbst wichtig.","page":16}],"identifier":"lit38518","issued":"1924","language":"de","pages":"1-16","startpages":"1","title":"Verlust der Gef\u00fchlsempfindungen im Tongebiete (musikalische Anhedonie)","type":"Journal Article","volume":"9"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T16:54:34.291379+00:00"}