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Methoden der Psychologie des Gefühlslebens

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{"created":"2022-01-31T14:23:38.933466+00:00","id":"lit39662","links":{},"metadata":{"alternative":"Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI: Methoden der experimentellen Physiologie. Teil B (2): Methoden der reinen Psychologie","contributors":[{"name":"St\u00f6rring, Gustav","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"In: Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI: Methoden der experimentellen Physiologie. Teil B (2): Methoden der reinen Psychologie, edited by Emil Abderhalden, 1125-1646. Berlin, Wien: Urban & Schwarzenberg","fulltext":[{"file":"p1125.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des\nGef\u00fchlslebens.\nVon Gustav St\u00f6rring, Lugano.\n(Mit 7 Abbildungen.)\nI. TEIL.\nAllgemeine Gef\u00fchlslehre.\nI. ABSCHNITT.\nDie pathopsychologischen Methoden und ihre Handhabung.\n1. Kapitel.\nAllgemeine Charakterisierung der pathopsychologischen Methoden.\nDie Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens hat es mit Methoden zu tun, die au\u00dferordentlich stark voneinander verschieden sind. Sie verwendet die Methode der Selbstbeobachtung, die experimentelle Methode in verschiedenen Gestaltungen, die pathopsychologischen Methoden, welche aus psychopathologischen Tatsachen Schl\u00fcsse auf das normale Seelenleben machen, und die v\u00f6lkerpsychologische Methode.\nEs soll unsere Aufgabe in diesen Untersuchungen sein zu zeigen, welches diese Methoden sind, wie sie in verschiedenen Gebieten der Gef\u00fchlspsychologie zur Darstellung kommen und was sie leisten.\nDas Gebiet der Gef\u00fchlspsychologie teilen wir, wie es \u00fcblich ist, in zwei Gruppen, die allgemeine Gef\u00fchlslehre und die spezielle Gef\u00fchlslehre.\nF\u00fcr die Gef\u00fchlspsychologie sind von grundlegender Bedeutung die pathopsychologischen Methoden.\nDie Handhabung dieser Methoden ist, wie sich zeigen wird, bei gegebenem psychopath ologischen Material nicht vorausetzungs-los. Sie setzen eine Orientierung \u00fcber einfache Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten voraus, welche durch die experimentellen Methoden auf dem Gebiete des intellektuellen Lebens gewonnen sind, und au\u00dferdem,\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t74","page":1125},{"file":"p1126.txt","language":"de","ocr_de":"1126\nG-. St\u00f6rring\nwie sich zeigen wird, Feststellungen \u00fcber Tatsachen ans dem Gebiete des Gef\u00fchlslebens, die in eindeutiger Weise sich mit einer durch experimentellen Betrieb gel\u00e4uterten Selbstbeobachtung ergeben.\nWir wollen jetzt dazu schreiten, eine allgemeine Charakteristik der pathopsychologischen Methoden zu geben. Es handelt sich also um diejenigen Methoden, welche psychopathologische Tatbest\u00e4nde zu Schl\u00fcssen f\u00fcr die normale Psychologie verwerten.\nDas krankhafte Seelenleben wird eben von denselben Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten beherrscht wie das normale Seelenleben. Ver\u00e4ndert sind, wenn man absieht von pathologischen Beizungszust\u00e4nden der Hirnrinde, welche das psychische Leben zerrei\u00dfen, die komplexen Bewu\u00dftseinsinhalte, welche dann ein differentes Geschehen bedingen.\nPsychologie und Psychopathologie stehen in Wechselwirkung zueinander. Die meisten psychopathologischen F\u00e4lle sind weit mehr der Beihilfe der Psychologie zur Erkl\u00e4rung derselben bed\u00fcrftig, als da\u00df sie f\u00fcr die normale Psychologie verwertet werden k\u00f6nnten. F\u00fcr die normale Psychologie verwertbar sind solche F\u00e4lle, die sich ans ehe n lassen als Experimente der Natur. Sie erweisen sich als f\u00f6rderlich f\u00fcr die psychologische Analyse und f\u00fcr die Feststellung von psychologischen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen.\nDie Analyse wird durch die psychopathologischen Tatbest\u00e4nde z. B. gef\u00f6rdert auf dem Gebiete des Ichbewu\u00dftseins. Hier liegen f\u00fcr den Selbstbeobachtungspsychologen gro\u00dfe Schwierigkeiten vor, weil hier dunkelbewu\u00dfte Gr\u00f6\u00dfen eine betr\u00e4chtliche Bolle spielen. Dazu ist das Ichbewu\u00dftsein der experimentellen Untersuchung noch nicht unterworfen. Auch f\u00fcr diese stellt die Mitwirkung von dunkelbewu\u00dften Tatbest\u00e4nden eine gro\u00dfe Schwierigkeit dar. Durch F\u00e4lle krankhaften Seelenlebens ist aber die Analyse in der sch\u00f6nsten Weise gef\u00f6rdert. Es stellt sich dabei heraus, da\u00df das Ichbewu\u00dftsein, so einheitlich es auch ist, keine einfache Gr\u00f6\u00dfe ist, sondern eine komplexe. Die einzelnen Komponenten des Ichbewu\u00dftseins lassen sich bei isolierter St\u00f6rung derselben erkennen. Eine dieser Komponenten ist die Empfindung des eigenen Leibes, deren Aufhebung oder st\u00e4rkere \u00c4nderung das Ichbewu\u00dftsein alteriert. Auch bei h\u00f6herer Entwicklung des Ichbewu\u00dftseins ist sie noch eine Komponente desselben. \u2014\nWas die Feststellung von Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen betrifft, welche durch Verwertung des psychopathologischen Materials erzielt wird, so mu\u00df man hier zwei Wege der Untersuchung unterscheiden : den Weg von der Ur-","page":1126},{"file":"p1127.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1127\nsache zur Wirkung und den umgekehrten von der W i r-kung zur Ursache.\nWas den Weg von der Wirkung zur Ursache betrifft, so wird derselbe z. B. da beschritten, wo man an Hand psycho-pathologischer Tatbest\u00e4nde Feststellungen \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeits-beziehungen des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit macht. Das Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit ist charakteristisch f\u00fcr die Denkvorg\u00e4nge. Wenn man die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit aufweist, so hat man damit \u2014 popul\u00e4r ausgedr\u00fcckt \u2014 das ,,Wesen\u201d des Denkens aufgedeckt. Die Psychologie der Selbstbeobachtung ist jahrtausendelang betrieben, hat aber diese Erkenntnis nicht gewonnen. Die Aufdeckung dieser Verh\u00e4ltnisse ist der pathopsychologischen Methode Vorbehalten geblieben1). Man findet n\u00e4mlich in gewissen psychopathologischen F\u00e4llen \u2014 bei Wahnideen \u2014 das Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit abnorm stark entwickelt, so stark, da\u00df keine Korrektur m\u00f6glich ist auch bei dem intellektuell entwickelten und im \u00fcbrigen urteilsf\u00e4higen Individuum. Wenn man nun reine F\u00e4lle aus w\u00e4hlt, solche F\u00e4lle, die keine Komplikation durch Halluzinationen, Illusionen oder durch allgemein herabgesetzte Urteilsf\u00e4higkeit aufweisen, so kann man sich den Tatbestand zunutze machen, da\u00df der Ursachenkomplex des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit hier bei dem abnorm gesteigerten G\u00fcltigkeitsbewu\u00dftsein deutlicher in die Erscheinung tritt als in der Norm.\nMethodologisch handelt es sich hier offenbar um eine A n-wendung der \u00dcbereinstimmungsmethode, nach der man von einer Wirkung die Ursachen aufsucht, indem man zusieht, welcher Komplex von Faktoren in dem, was man am besten den Komplex der Umst\u00e4nde nennt, unter denen ein Geschehen stattfindet, konstant ist. Das ist dann eben der Komplex der Bedingungen. \u2014\nIm psychischen Leben spielt bekanntlich die Aufmerksamkeit eine eminente Bolle. Zur Aufmerksamkeit geh\u00f6rt jedenfalls die Fixierung von Vorstellungen im Bewu\u00dftsein. Die Psychologen haben viel dar\u00fcber gestritten, wie diese Fixierung zustande kommt. Es fragt sich, ob dieselbe durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde bedingt ist oder nicht. Ein \u00e4lterer Psychologe, Herbart, hat angenommen, da\u00df die Vorstellungen sich selbst im Bewu\u00dftsein fixieren auf Grund ihrer eigenen Intensit\u00e4t, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde dabei nur Nebenerscheinungen sind, nur Anzeichen f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis von Vorstellungsenergien. Viele neuere Psychologen machen Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr diese Fixierung verantwortlich, so Lotze und\nx) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie in ihrer Bedeutung f\u00fcr die normale Psychologie. 1900, S. 376 ff.; Das urteilende und schlie\u00dfende Denken in kausaler Behandlung. Leipzig 1926. S. 7 ff.\n74*","page":1127},{"file":"p1128.txt","language":"de","ocr_de":"1128\nG. St\u00f6rring\nWundt. Eine Entscheidung bringen Mer psychopathologische F\u00e4lle, besonders F\u00e4lle von Zwangsgedanken. Einen gewissen Ansatz zn Zwangsgedanken findet man auch im normalen Seelenleben. Wenn man am Tage viel geistig gearbeitet nnd abends eine Reihe von Briefen geschrieben nnd dann die Briefe in die entsprechenden Briefumschl\u00e4ge gesteckt hat, da kann es einem passieren, da\u00df man zweifelt, ob man die richtige Zuordnung vollzogen hat; man erinnert sich etwa bestimmt, da\u00df man die Zuordnung in richtiger Weise vollzogen hat, und kann doch den Gedanken nicht los werden, da\u00df die Zuordnung vielleicht irrt\u00fcmlich vollzogen sei \u2014 bis da\u00df man zum \u00dcberflu\u00df noch eine Revision vornimmt.\nIn pathologischen F\u00e4llen ist der Zwangs Charakter solcher Gedanken viel st\u00e4rker ausgepr\u00e4gt. Mindestens in einer gro\u00dfen Gruppe dieser F\u00e4lle ist nun die Sache die, da\u00df die bestimmten Gedanken sich mit prim\u00e4rer Angst verbinden und da\u00df die Fixierung der Gedanken durch den sich mit ihnen verbindenden Gef\u00fchls -zustand der Angst zustande kommt: F\u00fcr die abnorme Intensit\u00e4t des zwangsm\u00e4\u00dfigen Sichaufdr\u00e4ngens ist hier kein anderer psychischer Tatbestand von abnormer Intensit\u00e4t aufweisbar als das Angstgef\u00fchl. Man mu\u00df eben beachten, da\u00df Vorstellungen, oder, besser gesagt, ihre Korrelate, eine zu schwache Intensit\u00e4t haben, als da\u00df sie dieses Sichauf dr\u00e4ngen von abnormer Intensit\u00e4t zustande bringen k\u00f6nnten.\nKach derselben Richtung werden wir sodann durch folgenden Tatbestand gewiesen: Wenn eine \u00c4nderung der Situation eintritt und sich infolgedessen \u2014 wie wir das sp\u00e4ter sehen werden \u2014 Angstgef\u00fchle an einen anderen, etwa leicht modifizierten Gedanken anschlie\u00dfen, so ist mit der ge\u00e4nderten Beziehung des Angstgef\u00fchles auch die Fixierung ge\u00e4ndert1) : Immer diejenigen Gedanken werden fixiert, an die sich das Angstgef\u00fchl anschlie\u00dft. Somit m\u00fcssen wir die Angstgef\u00fchle f\u00fcr die abnorme Fixierung der Gedanken verantwortlich machen.\nMethodologisch ist zu beachten, da\u00df wir hier den Weg von der Wirkung zur Ursache gehen: Einmal geleitet durch die abnorme Intensit\u00e4t der Ursache, eine Exklusion eine der beiden M\u00f6glichkeiten vollziehend, und sodann liegt hier bei der letzteren Schlu\u00dfweise offenbar auch ein Induktionsschlu\u00df nach der \u00dcbereinstimmungsmethode vor. \u2014\nFassen wir jetzt den Weg von der Ursache zur Wirkung ins Auge.\nWenn eine melancholische Verstimmung zur Entwicklung kommt, so zeigt sich die Wirkung derselben auf den\nx) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 406.","page":1128},{"file":"p1129.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1129\nverschiedensten Gebieten des psychischen Lebens. Zun\u00e4chst auf dem Gebiete des Vorstellungs verlauf es : Es tritt eine Verlangsamung des Vorstellungs verlauf es ein und eine inhaltliche \u00c4nderung der Vorstellungsreproduktionen gegen die Norm. Sodann auf dem Gebiete der Wahrnehmungen, sie werden modifiziert unter dem Einflu\u00df der Verstimmung. Auch Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die sich an Wahrnehmungen, Vorstellungen und bestimmte Gedanken anschlie\u00dfen, gestalten sich bei der so gegebenen Stimmungslage anders als bei indifferenter Stimmung. In Abh\u00e4ngigkeit von den so modifizierten Gef\u00fchlszust\u00e4nden und in direkter Abh\u00e4ngigkeit von der Verstimmung wird auch das Willensgeschehen beeinflu\u00dft. Ja sogar die Urteilsprozesse erfahren unter dem Einfl\u00fcsse dieser Verstimmung eine Modifikation. Es lassen sich an Hand solcher F\u00e4lle genaue Bestimmungen \u00fcber den Einflu\u00df der Verstimmung auf diesen so differenten psychischen Gebieten machen, wobei man nicht blo\u00df das \u201eDa\u00df\u201d dieser Ver\u00e4nderungen feststellen, sondern auch \u00fcber das \u201eWie\u201d Aufkl\u00e4rung geben kann. Im normalen Seelenleben wirkt die Stimmung auch auf diesen verschiedenen psychischen Gebieten ver\u00e4ndernd ein, wobei allerdings h\u00e4ufig, wie in den Urteilsprozessen, eine Kompensierung der Wirkung Platz greift, aber die Intensit\u00e4t der \u00c4nderung dieses emotionellen Faktors ist zu gering, als da\u00df auf Grund der Selbstbeobachtung genaue Bestimmungen \u00fcber die hier vorliegenden Komplexe des psychischen Geschehens gemacht werden k\u00f6nnten.\nHier sind wir den Weg von der Ursache zur Wirkung gegangen, geleitet durch eine Induktionsmethode, welche von John Stuart Will die ,,M ethode der sich begleitenden Ver\u00e4nderungen\u201d genannt wird. Deutsche Logiker haben sie als ,,Gradationsmethode\u201d bezeichnet. Aber man kann nicht blo\u00df bei quantitativer Modifikation eines Faktors eines \u201eUmst\u00e4nde\u201c-Komplexes einer Wirkung einen Induktionsschlu\u00df ziehen, sondern auch bei qualitativer.\nEin einfaches Beispiel eines solchen Induktionsschlusses unter quantitativer \u00c4nderung eines Faktors ist z. B. da gegeben, wo bei \u00c4nderung der Temperatur eines Metalls sich die Ausdehnung desselben \u00e4ndert und nun daraufhin eine kausale Beziehung zwischen Temperatur und Ausdehnung behauptet wird.\nAuf Grund qualitativer1) \u00c4nderung eines Faktors des ,,Umst\u00e4nde\u201d-Komplexes einer Wirkung wird z. B. da induktiv geschlossen, wo der Physiologe Claude Bernard in zwei gleichgestellten Flaschen mit demselben Aspirator unter gleichen Bedingungen der Intensit\u00e4t der Aspiration durch feinste Schw\u00e4mme, auf welchen keimende Pflanzensamen liegen, f\u00fcr die eine Flasche\n1) St\u00f6rring: Logik. S. 265.","page":1129},{"file":"p1130.txt","language":"de","ocr_de":"1130\nG. St\u00f6rring\natmosph\u00e4rische Luft, f\u00fcr die andere \u00c4therdampf aspirierte. Bach einigen Tagen waren unter diesen Bedingungen die Pflanzenkeime in der Flasche mit Luftaspiration zu langen Keimlingen gewachsen, die Pflanzenkeime mit \u00c4theraspiration zeigten aber kein Wachstum.\nF\u00fcr uns ist es nun von Wichtigkeit hervorzuheben, da\u00df diese Methode nicht blo\u00df, wie es von den Logikern dargestellt wird, experimentelle Methode ist, sondern auch Beobachtungs-method e1).\nEin solcher Induktionsschlu\u00df liegt z. B. da vor, wo man sagt: Ein Teil der Frauenhofersehen Linien wird um so dunkler, je tiefer der Stand der Sonne am Horizont ist, d. h. je st\u00e4rker die Luftschicht ist, welche das Licht zu passieren hat. Also h\u00e4ngt ein Teil der Frauenhof ersehen Linien von der Absorption des Lichtes in der Atmosph\u00e4re ab.\nHierher geh\u00f6rt dann offenbar auch unser in Bede stehender Fall, wo eine \u00c4nderung der Stimmungslage kausal verfolgt wird.\nEs ist leicht zu sehen, da\u00df es von Wichtigkeit ist, solche F\u00e4lle auszuw\u00e4hlen, wo nur eine Komponente eines \u201eUmst\u00e4nde\u201d-Komplexes prim\u00e4r ver\u00e4ndert ist, da man sonst nicht wei\u00df, auf welche der Komponenten der Wirkungskomplex zu beziehen ist. \u2014\nDie Experimente der Natur, mit denen wir es in vielen psycho-pathologischen F\u00e4llen zu tun haben, sehen wir auch angestellt nach der sogenannten Unterschiedsmethode. Diese Induktionsmethode hat zwei Formen, die beide f\u00fcr uns in Betracht kommen.\nBei der einen ist ein Faktor in einen gegebenen ,,Umst\u00e4nde\u201d-Komplex eingef\u00fchrt und es ist daraufhin eine Ver\u00e4nderung eingetreten. Man sieht dann, wenn die Versuchsbedingungen konstant gehalten sind, den eingef\u00fchrten Faktor als Mitursache f\u00fcr die aufgetretene Wirkung an. Ein Beispiel brauche ich hierf\u00fcr wohl nicht zu geben.\nBez\u00fcglich dieser Methode ist wieder zu konstatieren, da\u00df sie nicht nur experimentelle Methode, sondern auch Beobachtungsmethode ist. Wir werden sp\u00e4ter F\u00e4lle kennenlernen, in denen ein auftretender Ersch\u00f6pfungszustand Mitursache f\u00fcr die Entwicklung von Wahnideen ist.\nBei der anderen Form der Unterschiedsmethode wird beim Auftreten einer Wirkung aus dem ,, Umst\u00e4nde\u2019\u2019-Komplex ein Faktor entfernt. Dahin geh\u00f6ren die F\u00e4lle von Exstirpation bestimmter Partien des Gehirnes beim normal funktionierenden Tier, etwa die bekannten Experimente von Fritsch und Hitzig.\n1) St\u00f6rring: Logik. S. 266.","page":1130},{"file":"p1131.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1131\nPathopsychologisch interessieren nns Mer solche F\u00e4lle, in denen bestimmte Partien der Gro\u00dfhirnrinde an\u00dfer Funktion gesetzt sind, welche beim Sprechen, Lesen, Schreiben eine Bolle spielen. Durch Verarbeitung solcher F\u00e4lle kann man einen Einblick in den gesamten Mechanismus des Sprechens, Lesens, Schreibens gewinnen.\nSodann geh\u00f6ren hierher F\u00e4lle von St\u00f6rung oder Ausfall der Merkf\u00e4higkeit, der Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle usw.\nDie psychopathologischen Tatbest\u00e4nde k\u00f6nnen au\u00dfer in der bisher besprochenen Weise f\u00fcr die normale Psychologie so verwertet werden, da\u00df sie Verifikationsmaterial f\u00fcr psychologische Theorien darstellen. Das ist wichtig in solchen F\u00e4llen, wo eine experimentelle Bearbeitung nicht ang\u00e4ngig ist, die Selbstbeobachtung aber keine sichere Entscheidung \u00fcber die Dichtigkeit auf gestellt er Theorien erm\u00f6glicht. Vielleicht k\u00f6nnen wir diese Art der F\u00f6rderung der normalen Psychologie im Gegensatz zu den bisher besprochenen Arten der F\u00f6rderung als eine in vermittelter Weise vollzogene bezeichnen.\nIn dieselbe Klasse geh\u00f6rt dann noch die F\u00f6rderung der normalen Psychologie dadurch, da\u00df, wie es ja leicht verst\u00e4ndlich ist, die psychopathologischen Tatsachen eine starke Anregung zum Aufwerfen neuer Fragestellungen geben.\n2. Kapitel.\nDie Gef\u00fchlszust\u00e4nde in ihrer Beziehung zu den k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen.\n(Organge-f\u00fchle und AffeMe. Gef\u00fchle im engeren Sinn. Stimmungen.)\n1. Wir wollen die Gef\u00fchlszust\u00e4nde zum Gegenstand unserer Untersuchung machen. Da scheint es n\u00f6tig zu sein, zun\u00e4chst die Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu definieren. Das ist aber nicht der Fall. Man braucht eine Untersuchung in einem bestimmten Gebiet nicht mit einer endg\u00fcltigen Definition zu beginnen. Man kann sich mit einer vorl\u00e4ufigen Bestimmung begn\u00fcgen, mit einer Bestimmung, welche die Untersuchungsrichtung in eindeutiger Weise angibt. Im Laufe der Untersuchung selbst werden wir hier in die Lage gesetzt, eine endg\u00fcltige Definition der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu geben.\nEs gen\u00fcgt f\u00fcr die Bestimmung der Untersuchungsrichtung zu sagen, da\u00df wir zu den Gef\u00fchlszust\u00e4nden das rechnen, was man gew\u00f6hnlich Affekte nennt, Zust\u00e4nde wie Angst, Zorn, Schrecken usw., sodann Gef\u00fchle im engeren Sinn, n\u00e4mlich sich an Wahrnehmungen, Vorstellungen oder Beziehungsgedanken anschlie\u00dfende Zust\u00e4nde mit Lust- oder Unlustf\u00e4rbung und zuletzt","page":1131},{"file":"p1132.txt","language":"de","ocr_de":"1132\nG. Sfc\u00f6rring\nS t i m m u n g e n in dem Sinne, wie wir von fr\u00f6hlicher, trauriger, melancholischer, mi\u00dftrauischer usw. Stimmung sprechen k\u00f6nnen.\nDiese Einteilung wird sich sp\u00e4ter in einem Punkte als korrekturbed\u00fcrftig erweisen; sie gen\u00fcgt aber zur Sichtung s-be Stimmung der Untersuchung.\nEs fragt sich uns nun, in welcher Beziehung diese Zust\u00e4nde zu ihren k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen stehen. Diese Frage erheben wir zun\u00e4chst bez\u00fcglich der Affekte.\nAn k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der Affekte sind zu unterscheiden mimische Begleiterscheinungen derselben und innere organische Ver\u00e4nderungen, die bei Affekten auftreten.\nEs besteht gegenw\u00e4rtig ein Streit dar\u00fcber, welches die Beziehung der Affekte zu ihren inneren organischen Ver\u00e4nderungen ist.\nNehmen wir den Fall des Affektes der Angst. Die haupts\u00e4chlichsten inneren organischen Ver\u00e4nderungen der Angst bestehen in \u00c4nderung des Herzschlages, \u00c4nderung der Atmung, Bl\u00e4sse des Gesichtes, Tendenz zum Zittern der willk\u00fcrlichen Muskulatur, \u00c4nderung der Sekretionen. Wir k\u00f6nnen allgemein sagen, da\u00df die wichtigsten inneren organischen Ver\u00e4nderungen bei Affekten in \u00c4nderung der Atmung, des Herzschlages, der Blutverteilung, der Innervation der Muskulatur und der sekretorischen T\u00e4tigkeit des Organismus bestehen.\nBis vor einigen Dezennien hatte man fast allgemein die Anschauung, da\u00df diese inneren organischen Ver\u00e4nderungen der Affekte als Wirkungen der Affekte auf den K\u00f6rper anzusprechen seien. In der neueren Zeit haben William James und Carl Lange die Behauptung aufgestellt und zu beweisen gesucht, da\u00df es sich gerade umgekehrt verhalte, da\u00df diese k\u00f6rper-lichenVer\u00e4nderungendie Ursache der Affekte seien. In der \u00e4lteren Literatur finden wir eine \u00e4hnliche Anschauung vertreten durch Aristoteles und durch Gartesius.\nJames hat seiner Auffassung einen ungeschickten Ausdruck dadurch gegeben, da\u00df er sagte: ,,Wir weinen nicht, weil wir traurig sind, sondern wir sind traurig, weil wir weinen\u201d. Diese spezielle Behauptung ist sicher falsch, weil Weinen durch periphere Beize und gleichzeitiges Schluchzen erzeugt werden kann, aber keine Traurigkeit. Als k\u00f6rperliche Ursache eines Affektes kann hier nur figurieren die Gesamtheit der inneren organischen Ver\u00e4nderungen des Affektes.\nDer Pathologe und Nervenarzt Carl Lange in Kopenhagen1) hat das Problem in folgender Weise formuliert: ,,Wir haben bei jeder Gem\u00fctsbewegung als sichere und handgreifliche Faktoren 1. eine Ursache \u2014 einen Sinneseindruck, der in der Begel vermittels\nl) Garl Lange'. \u00dcber Gem\u00fctsbewegungen. \u00dcbersetzt von Kurelia. S. 50.","page":1132},{"file":"p1133.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1133\neiner Erinnerung oder einer assoziierten Vorstellung wirkt, und darauf 2. eine Wirkung, n\u00e4mlich . . . vasomotorische Ver\u00e4nderungen und die fernerhin aus ihnen hervorgehenden Ver\u00e4nderungen in k\u00f6rperlichen und geistigen Funktionen. Es entsteht nun die Frage: Was liegt zwischen diesen beiden Faktoren ? oder: Liegt \u00fcberhaupt etwas zwischen denselben ? Wenn ich ins Zittern gerate, weil ich mit einer geladenen Pistole bedroht werde, entsteht dann in mir erst ein seelischer Vorgang, entsteht eine Angst, welche das ist, was mein Zittern, mein Herzklopfen, mein sich verwirrendes Denken bewirkt oder werden diese k\u00f6rperlichen Ph\u00e4nomene unmittelbar von der erschreckenden Ursache hervorgerufen, so da\u00df die Gem\u00fctsbewegung ausschlie\u00dflich aus funktionellen St\u00f6rungen in meinem K\u00f6rper besteht?\u201d\nWenn wir die den Affekt ausl\u00f6sende Wahrnehmung oder Vorstellung zusammen mit der Auffassung der Bedeutung mit E oder V bezeichnen, den Affektzustand der Angst mit Aaf die k\u00f6rperlichen Modifikationen mit Mk und die durch letztere verursachten Organempfindungen mit (0E)lf (OE)2 . . . so ergibt sich f\u00fcr die Darstellung des Geschehens bei Entstehung eines Affektes nach der alten Anschauung das Symbol\nE oder V-y Aa ((OE)l9 (OU)2...,.\nV ^\nMk\nKach der neueren Auffassung ergibt sich das Symbol E oder V [(OE*)l9 (0E)2, (OE)3 . . .] = Aa\nMk\nDie Pfeile sollen eine kausale Beziehung darstellen.\nZum Beweis seiner Auffassung bringt Lange zwei Gruppen von Tatbest\u00e4nden bei. Durch gewisse Medikamente, sagt Lange, lassen sich die k\u00f6rperlichen Modifikationen bestimmter Arten von Affekten erzeugen. So lassen sich durch Alkoholaufnahme die k\u00f6rperlichen Modifikationen des Affektes der Freude zustande bringen: ,,Die Frequenz und St\u00e4rke der Herzschl\u00e4ge steigt, die Kapillaren erweitern sich, die willk\u00fcrliche Innervation wird erh\u00f6ht, die Blutzufuhr zum Gehirn wird gesteigert.\u201d Werden aber durch Alkoholaufnahme diese k\u00f6rperlichen Modifikationen zustande gebracht, wie man sie bei einer durch eine Vorstellung ausgel\u00f6ste Freude findet, so entsteht auch jedesmal der Affekt der Freude. Das entspricht nur der neueren Anschauung: Jfk l\u00f6st aus [(OE)x, (OE)2, (OE)z . . .] und dies ist der Affekt Aa, aber nicht der \u00e4lteren Auffassung: darnach wird durch die k\u00f6rperlichen Modifikationen Mk","page":1133},{"file":"p1134.txt","language":"de","ocr_de":"1134\nG-. St\u00f6rring\nausgel\u00f6st der Komplex (OJE)1? (\u00f6l1).,, (\u00f6l)3 .... Dieser Komplex Avird hier aber scharf unterschieden von dem Affekt Ma, der die k\u00f6rperlichen Modifikationen und indirekt den Organempfindungs-komplex ausgel\u00f6st hat.\n\u00c4hnlich wie Alkohol wirken Opium, Morphium, Haschisch. Die k\u00f6rperlichen Modifikationen eines depressiven Affektes werden dagegen durch Ipekakuanha ausgel\u00f6st.\nDie zweite Gruppe von Tatsachen, die Carl Lange f\u00fcr seine neue Hypothese anf\u00fchrt, sind solche psychopathologischer Art. Bei einer bestimmten krankhaften St\u00f6rung des vasomotorischen Systems entstehen pathologische Angstzust\u00e4nde, bei einer bestimmten anderen krankhaften \u00c4nderung dieses Systems entstehen pathologische Zornzust\u00e4nde.\nDie Argumentation von Lange lautet also: Wenn man die k\u00f6rperlichen Modifikationen eines Affektes durch medikament\u00f6se Mittel erzeugt oder wenn sie durch krankhafte Prozesse im K\u00f6rper erzeugt werden, dann entsteht auch jedesmal der entsprechende Affekt. Also sind diese k\u00f6rperlichen Modifikationen die Ursache und nicht die Wirkung des betreffenden Affektes.\nWas nun die kritische Stellungnahme zu diesen Argumenten von Carl Lange betrifft, so hat man viel gegen die Behauptung der Alkoholwirkung polemisiert. So hat man gesagt, Alkohol bewirke Lust auf einem zentralen Wege, an die Aufnahme des Alkohols seien Lustgef\u00fchle gebunden und die an die bei Aufnahme des Alkohols entstehenden Empfindungen sich anschlie\u00dfenden Lustgef\u00fchle wirkten auf den Gedankenverlauf, riefen lustgef\u00e4rbte Gedanken wach. Hier ist die unnat\u00fcrliche Konstruktion leicht zu erkennen. Tats\u00e4chlich ist die Sache die, da\u00df die von Lange behauptete Alkoholwirkung auch auftritt, wenn bei Aufnahme des Alkohols die Entstehung von Lustgef\u00fchlen durch ein mit Unlust sich verbindendes Lernen einer l\u00e4ngeren Beihe sinnloser Silben gehemmt wird. Erw\u00fcnscht w\u00e4ren Tierversuche mit Exstirpation des Gro\u00dfhirnes, in denen man die Wirkung von Alkohol usw. auf den K\u00f6rper in den hier in Betracht kommenden Beziehungen feststellte. Setzen wir an die Stelle der Aufnahme von Alkohol usw. die Applikation eines warmen Bades mit nachfolgenden k\u00fchlen \u00dcbergie\u00dfungen. Hier wird keiner leugnen k\u00f6nnen, da\u00df der so entstehende Gef\u00fchlszustand der Freude in der Hauptsache peripher aus dem K\u00f6rper entspringt, da\u00df die da entstehenden lustgef\u00e4rbten K\u00f6rperempfindungen peripher, jedenfalls in der Hauptsache, bedingt sind. Die ver\u00e4nderte Blutverteilung an der K\u00f6rperperipherie l\u00f6st einen Komplex lustgef\u00e4rbter Organempfindungen aus.","page":1134},{"file":"p1135.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1135\nUns interessieren hier in erster Linie die psychopathologischen Tatbest\u00e4nde. Wenn allerdings Lange sagt, da\u00df nach der Art der krankhaften St\u00f6rung des vasomotorischen Systems ein pathologischer Angst- oder ein pathologischer Zornaffekt entstehe, so 1st diese Betrachtungsweise wenig vorteilhaft. Von grundlegender Bedeutung ist dagegen die Betonung des Vorhandenseins vonAngst- undZornaf f ekten ohneObjekt. Es gibt eben eine pathologische Angst, in der das Individuum Angst hat, ohne Angst vor irgend etwas, zu haben und ebenso einen pathologischen Zorn, der sich nicht gegen jemand richtet ! Diese Tatsachen kann die alte Theorie sich nicht verst\u00e4ndlich machen: die durch eine Wahrnehmung oder einen Gedanken ausgel\u00f6ste Angst gibt der Angst ihr Objekt !\nAngst ohne Objekte findet man auch bei Neurasthenikern auftreten. Der intelligente Neurastheniker kann diese Angst mit der normalen, durch Gedanken oder Wahrnehmungen ausgel\u00f6sten Angst vergleichen und erkennt sie als qualitativ damit \u00fcbereinstimmend.\nEs ist zweckm\u00e4\u00dfig, hier auch auf eine Erfahrung hinzuweisen, die jeder Psychiater h\u00e4ufig bei Patienten mit Affektzust\u00e4nden macht, die sich auf einen Arzt oder eine Pflegerin oder einen Pfleger beziehen. Wenn solche Patienten in eine andere Klinik verlegt werden, so k\u00f6nnen diese Affektzust\u00e4nde nach einiger Zeit ihr Objekt verlieren, um nach l\u00e4ngerer Zeit in der neuen Umgebung wieder ein Objekt zu finden.\nNoch wichtiger erscheint mir folgende Beobachtung. Bei Kranken mit Melancholie findet man beim Abklingen der Erkrankung, da\u00df sie wochenlang und monatelang morgens an pathologischer objektloser Angst oder Angst mit Objekten leiden, abends aber von Angst und melancholischen Ideen v\u00f6llig frei sind. Sie wundern sich abends dar\u00fcber, da\u00df sie am Morgen Angst und ,,so t\u00f6richte Ideen\u201d gehabt haben. Am n\u00e4chsten Morgen tritt aber dieselbe objektlose Angst oder die Angst mit Objekten wieder auf. Hier mu\u00df man sich doch fragen : weshalb sollen gerade immer nur morgens monatelang diese Angstzust\u00e4nde auftreten? Hier mu\u00df man organische Faktoren f\u00fcr die Angst verantwortlich machen; die Angst gewinnt dabei sekund\u00e4r ihre Objekte. Hier sind nat\u00fcrlich auch solche F\u00e4lle beweiskr\u00e4ftig, wo dieAngst ihr Objekt hat!\nWir sind aber weit entfernt davon, auf Grund solcher Tatbest\u00e4nde behaupten zu wollen, was Lange aus jenen Tatbest\u00e4nden folgert, da\u00df die Affekte nichts anderes seien als eine Summe von Organempfindungen. Bei dieser Auf-","page":1135},{"file":"p1136.txt","language":"de","ocr_de":"1136\nG-. St\u00f6rring\nfas sung kann man von der Tatsache nicht Rechenschaft geben, da\u00df alle Affekte eine Lust- oder Unlustf\u00e4rbung haben. Man beachte wohl, da\u00df Lange behauptet, es handle sich bei den Affekten um eine Summe von Organempfindungen.\nAnders stellt sich die Sache, wenn man, wie das Meumann tut, annimmt, da\u00df wir es bei den Affekten mit einer Y e r-schmelzung von Organempfindungen zu tun haben. Dann tr\u00e4gt man jenem Argument Rechnung und scheint zugleich auch die Lust- und Unlustf\u00e4rbung verst\u00e4ndlich machen zu k\u00f6nnen: man sagt sich dann eben, da\u00df durch Verschmelzung ein q u a 1 i-tativneuer Faktor auftritt \u2014 wie das bei dem Paradigma der Verschmelzung, beim Klange, der Fall ist \u2014 und spricht nun als diesen neuen Faktor die Lust- und Unlustf\u00e4rbung der Affekte an.\nDiese Auffassung hat offenbar methodologisches Interesse. Denn sie nimmt f\u00fcr sich in Anspruch das \u201ePrinzip der Einfachheit in der Verwendung von Erkl\u00e4rungsprinzipien\u201d: Doch es l\u00e4\u00dft sich zeigen, da\u00df diesem Prinzip keine selbst\u00e4ndige Bedeutung zukommt, da\u00df man im einzelnen Fall immer wieder die Frage nach dem Grade der Wahrscheinlichkeit erheben mu\u00df1).\nIn unserem Fall mu\u00df ich nun die gro\u00dfe qualitative Differenz betonen, welche zwischen Empfindung einerseits und Gef\u00fchlen der Lust undUnlust andrerseits besteht. Beim Klange ist diese Differenz nicht entfernt so gro\u00df, und wir k\u00f6nnen auch keinen Fall von Verschmelzung auf weisen, wo die qualitative Differenz zwischen den in die Verschmelzung eingehenden Faktoren und dem durch Verschmelzung entstandenen neuen Faktor auch nur ann\u00e4hernd von gleicher Gr\u00f6\u00dfenordnung ist. Deshalb erscheint es mir zu gewagt, die Reduzierbarkeit von Lust und Unlust auf Empfindungen anzunehmen. Auf dem gegenw\u00e4rtigen Standpunkt der Forschung erscheint es mir geboten, die in den Affekten sich findende Lust und Unlust als gegen\u00fcber den Organempfindungen, die in den Affekten stecken, selbst\u00e4ndige psychische Tatbest\u00e4nde, die nicht weiter reduzierbar sind, anzu sehen.\nUnsere Argumente wiesen uns in die Richtung der James-Lang eschen Behauptung. Wir konnten aber die Behauptung nicht akzeptieren, da\u00df Affekte nichts anderes seien als eine Summe von Organempfindungen. Da die Affekte eine nicht auf Empfindungen reduzierbare Lust- oder Unlustf\u00e4rbung haben und die Lust oder Unlust mit den Organempfindungen verschmolzen sind und auch\nU St\u00f6rring: Logik. S. 292 ff.","page":1136},{"file":"p1137.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1137\ndie in die Affekte eingehenden Organempfindungen eine Verschmelzung untereinander aufweisen, so sehen wir uns gedr\u00e4ngt, die Affekte als Verschmelzungen von Organempfindungen mit Lust- oder Uni u stelementen, die wir Gef\u00fchlst\u00f6ne nennen wollen, anzu-s e h e n1).\nWir haben jetzt noch eine naheliegende Erg\u00e4nzung unserer Annahmen bez\u00fcglich der Gestaltung der Affekte zu vollziehen. Wir sahen, da\u00df die Organempfindungen der Affekte von Gef\u00fchlst\u00f6nen begleitet sind. Wenn aber die Organempfindungen von Gef\u00fchlst\u00f6nen begleitet sind, so m\u00fcssen wir auch den anderen Empfindungen und Vorstellungen sie begleitende Gef\u00fchlst\u00f6ne zusprechen. Dann haben wir aber in einem Affekt prim\u00e4re und sekund\u00e4re Gef\u00fchlst\u00f6ne zu unterscheiden, neben den an die Organempfindungen gebundenen, mit den Wahrnehmungen oder Vorstellungen, welche den Affekt ausl\u00f6sen, auftretenden. Bezeichnen wir die prim\u00e4ren mit trp, die sekund\u00e4ren mit Gs, so erhalten wir f\u00fcr einen von einer Wahrnehmung oder Vorstellung ausgel\u00f6sten Affekt folgendes Schema:\nE oder 7, Gp (EO)x, 081; (EO)2, GS2\nWir k\u00f6nnen jetzt zur Definition der Affekte schreiten, wenn wir noch ber\u00fccksichtigen, da\u00df nicht alle Verschmelzungen von Organempfindungen mit Gef\u00fchlst\u00f6nen Affekte sind. Ein schmerzhaftes Gef\u00fchl in der Lebergegend werden wir nicht als Affekt bezeichnen k\u00f6nnen ; wir nennen es Organgef\u00fchl. Zu einem Affekt geh\u00f6rt, da\u00df er eine solche Kombination von Organempfindungen darstellt, da\u00df dieselbe auch durch eine Wahrnehmung oder Vorstellung ausgel\u00f6st werden kann. Deshalb k\u00f6nnen wir von dem Affekt folgendes definierend sagen: Unter einem Affekt verstehen wir eine Verschmelzung von Organempfindungen und Gef\u00fchls t\u00f6nen, von Organempfindungen solcher Art, da\u00df sie auch durch Wahrnehmungen oder Vorstellungen im normalen Seelenleben ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen, wobei die Organempfindungen in dem Verschmelzungsprodukt auch als solche hervor treten.\nUnsere Auffassung der Affekte nimmt eine mittlere Stellung ein zwischen den Affekttheorien, welche die Affekte als Summe\np St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 19 ff.; Psychologie. 1923. S. 173 ff.","page":1137},{"file":"p1138.txt","language":"de","ocr_de":"1138\nG. St\u00f6rring\nbzw. als Verschmelzungen von Organempfindungen ansieht \u2014 man nennt sie periphere oder sensualistische Affekttheorien, \u2014 und solchen Affekttheorien, welche die Affekte rein zentral entstehen lassen und deshalb zentrale Affekttheorien hei\u00dfen.\nL\u00f6wenfeld1) hat gegen meine Auffassung der Affekte das ,,'Vorkommen somatischer Angstsymptome ohne begleitende Angstgef\u00fchle\u201d geltend gemacht. Wenn meine Auffassung \u00fcber die Entstehung von Angstgef\u00fchlen aus der Verschmelzung eines bestimmt gearteten Komplexes von Organempfindungen und dieselben begleitenden Gef\u00fchlst\u00f6nen richtig ist, so ist zu erwarten, da\u00df der Eindruck entsteht, den L\u00f6wenfeld wiedergibt: Dann wird sich nicht selten der Fall realisieren, da\u00df von dem gro\u00dfen Komplex der Organempfindungen der Angst, welche den verschiedensten Organen entspringen, nur ein Teil vorhanden ist und da\u00df dabei dann der Angstaffekt fehlt. Man ber\u00fccksichtigt dann eben nicht, da\u00df beim Ausfallen eines Teiles des gro\u00dfen Komplexes der Organempfindungen der Angst der Angstzustand nicht auftreten kann! Es ist \u00fcberhaupt sicherlich von au\u00dferordentlicher Schwierigkeit, eine sichere Feststellung dar\u00fcber zu machen, ob wirklich in einem gegebenen Falle der ganze Komplex der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen eines Angstzustandes vorhanden ist !\nStumpf hat gegen die Affekttheorie sowie gegen die peripheren Gef\u00fchlstheorien einen Einwand erhoben, der auch meine Theorie trifft, wenn er berechtigt ist. Stumpf sagt, die Atmung sei bei dem Affekt der Freude geradeso gestaltet wie bei dem Affekt des Zornes und sieht diesen Mangel an Differenz als Einwand gegen die periphere Gef\u00fchlstheorie an. Durch diesen Einwand von Stumpf veranla\u00dft, hat Ernst St\u00f6rring2) eine Untersuchung der Atemkurven bei Freude und Zorn vollzogen. Eine gewisse \u00c4hnlichkeit dieser Kurven scheint auf den ersten Blick allerdings vorhanden zu sein. Die n\u00e4here Untersuchung ergab in mehrfachen Beziehungen betr\u00e4chtliche Differenzen. Wir geben sie sp\u00e4ter bei Charakterisierung der Begleiterscheinungen der Affekte in Puls, Atmung usw. im einzelnen an.\n2. Von den Affekten sind zu scheiden Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die man als Gef\u00fchle im engeren Sinne bezeichnet. Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche sich an Wahrnehmungen und Vorstellungen, sowie an auf Wahrnehmungen und Vorstellungen gegr\u00fcndete Beziehungsgedanken anschlie\u00dfen.\nWas zun\u00e4chst die Empfindungsgef\u00fchle betrifft, so unterscheiden dieselben sich nicht, wie man auf den ersten Blick annehmen k\u00f6nnte, dadurch von Affekten, da\u00df in ihnen keine Organ-\n1)\tL\u00f6wenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen. S. 1315.\n2)\tE. St\u00f6rring: Arch. f. d. ges. Psychol. XIV.","page":1138},{"file":"p1139.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1139\nempfindungen stecken. Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die sick an Gesichtswahrnehmungen, Geschmackswahrnehmungen usw. anschlie\u00dfen, verbinden sich, wie die experimentelle Untersuchung uns zeigen wird, ebensogut wie Affekte mit k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen. Letztere l\u00f6sen dann Organempfindungen aus. Der Unterschied der Empfindungsgef\u00fchle von den Affekten besteht vielmehr darin, da\u00df in dem Yerschmelzungsprodukt von Organempfindungen und Gef\u00fchlst\u00f6nen, welches bei Empfindungsgef\u00fchlen vorhanden ist, die Organempfindungen mit den sekund\u00e4ren Gef\u00fchlst\u00f6nen sehr zur\u00fccktreten gegen\u00fcber den prim\u00e4ren. Ein Sch\u00fcler von Titchener, Nakashima, hat gefunden, da\u00df die Organempfindungen in dem Yerschmelzungsprodukt nicht mehr unmittelbar nachzuweisen sin d1).\nWie an Empfindungen und Vorstellungen, so schlie\u00dfen sich auch an Beziehungsgedanken Gef \u00fchlszust\u00e4nde an. Solche Beziehungsgedanken spielen eine dominierende Bolle in ethischen und \u00e4sthetischen Gef\u00fchlszust\u00e4nden. Die Auffassung eines Kunstwerkes schlie\u00dft im allgemeinen eine F\u00fclle von Beziehungsgedanken in sich. Ebenso steht es mit den ethischen Gef\u00fchlszust\u00e4nden. Schon die Sympathie mit den Leiden und der Freude anderer Menschen setzt die Auffassung des fremden Ichs als eines solchen voraus; somit sind die einfachen Sympathiegef\u00fchle von Beziehungsgedanken abh\u00e4ngig.\nDie auf Beziehungsgedanken sich gr\u00fcndenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde, so auch die \u00e4sthetischen und ethischen Gef\u00fchlszust\u00e4nde, k\u00f6nnen sogenannte Gef\u00fchle im engeren Sinne sein, o.der sie k\u00f6nnen Affekte sein, je nachdem die in denselben steckenden Organempfindungen in dem Yerschmelzungsprodukt unmittelbar nachweisbar sind oder nicht. Wir sprechen deshalb nicht blo\u00df von ethischen und \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen, sondern auch von ethischen und \u00e4sthetischen Affekten.\nDie Lust eines Empfindungsgef\u00fchles, z. B. eine Geschmackslust, ist qualitativ anders als eine Lust bei ethischer B\u00fcligung und als eine Lust bei \u00e4sthetischer Wertsch\u00e4tzung. Worauf beruht die verschiedene Qualit\u00e4t der Lustgef\u00fchle und die verschiedene Qualit\u00e4t der Unlustgef\u00fchle? Sie ist durch die differenten Organempfindungen bedingt. Die Gef\u00fchlst\u00f6ne der Lust m\u00fcssen wir ebenso wie die der Unlust, wie sich bei n\u00e4herer Untersuchung der physiologischen Korrelate der Gef\u00fchls-\nb Nakashima\\ Psychol. Rev. 2ft.\n/\tt/","page":1139},{"file":"p1140.txt","language":"de","ocr_de":"1140\nG. St\u00f6rring\nt\u00f6ne zeigen wird, als qualitativ gleichartig ansetzen.\n3. Wir haben jetzt die Stimmungen gegen\u00fcber den Affekten und den Gef\u00fchlen im engeren Sinne abzngrenzen.\nIch habe Stimmungslust neben Empfindungslust experimentell zur Darstellung gebracht und dadurch die Abgrenzung beider gegeneinander erleichtert. Stimmungslust wurde in der Weise erzeugt, da\u00df ich der Versuchsperson eine Geschmacksl\u00f6sung applizierte und dann auf ein bestimmtes Signal hin schlucken lie\u00df, wobei die suggestive Anweisung gegeben war, im Moment des Schluckens die Geschmacksempfindung als eine erledigte Tatsache zu betrachten. Unter diesen Bedingungen trat bei allen meinen Versuchspersonen beim Schlucken der L\u00f6sung an die Stelle der Geschmacks empfindungslust ein Lustzustand, der von den Versuchspersonen als S t i ni m a n g s lust bezeichnet wurde. Er hob sich in der Atmung deutlich ab gegen\u00fcber der vorausgehenden Empfindungslust.\nWenn ich sp\u00e4ter von der Aufnahme der Atmungskurven bei Lustzust\u00e4nden spreche, gebe ich die in der Atmung anftretende Differenz der Kurven n\u00e4her an.\nSubjektiv stellte sich die Differenz in folgender Weise'dar: Bei der anf\u00e4nglichen Empfindungslust war die Lust gebunden an die Geschmacksempfindung' und hatte keine Beziehung zu den \u00fcbrigen gleichzeitig vorhandenen intellektuellen Bewu\u00dftseinsinhalten. Bei der Stimmungslust aber hatten alle jeweilig vorhandene Bewu\u00dftseinsinhalte Teil an der Lust, erschienen \u201ew ie in den Lustzustand eingetauch t\u201d.\n\u00c4hnlich steht es mit der Beziehung der Empfindungsunlust zur Stimmungsunlust.\nSchwieriger ist es, eine Abgrenzung der Stimmung von den Affekten zu vollziehen, und zwar deshalb, weil hier allm\u00e4hliche \u00dcberg\u00e4nge vorhanden sind. In vielen pathologischen F\u00e4llen spricht man mit Becht von einer Affekt Stimmung. Bei einer schwachen Stimmung, die am weitesten von den Affekten abliegt, treten Organempfindungen aus dem Ganzen ebensowenig hervor, wie bei einem Gef\u00fchl im engeren Sinne.\nAm zweckm\u00e4\u00dfigsten erscheint es mir \u2014 die Zweckm\u00e4\u00dfigkeitsbetrachtung spielt ja beim Definieren eine entscheidende Bolle, nur mu\u00df man dabei gewisse Gefahren1) im Auge behalten \u2014,\nx) St\u00f6rring: Logik. S. 100 ff.","page":1140},{"file":"p1141.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1141\ndie Stimmungen so zu definieren, da\u00df man sagt : Wir haben es bei Stimmungen mit Gefiihlszust\u00e4nden zu tun, welche keine Beziehung zu \u2019 einem Objekt haben und welche mit den gleichzeitig im Bewu\u00dftsein vorhandenen intellektuellen Zust\u00e4nden innig verkn\u00fcpft sind. \u2014\nAm Beginn dieser Untersuchung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde und ihrer Beziehung zu k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen haben wir keine endg\u00fcltige Definition der Gef\u00fchlszust\u00e4nde gegeben, sondern nur eine Angabe gemacht, welche die Richtung der Untersuchung eindeutig bestimmte. Es hat sich wohl gezeigt, da\u00df diese vorl\u00e4ufige Angabe f\u00fcr diesen Zweck aus reichte. Am Schl\u00fcsse dieser Untersuchung 'k\u00f6nnen wir eine auf Einblick in die Tatbest\u00e4nde gegr\u00fcndete Definition der Gef\u00fchls zust\u00e4nde geben.\nWir unterscheiden an Gef\u00fchlszust\u00e4nden nicht wie zu Anfang Affekte, Gef\u00fchle im engeren Sinne und Stimmungen, sondern Organgef\u00fchle (von denen Affekte eine Art sind), Gef\u00fchle im engeren Sinne und Stimmungen. Als das Gemeinsame dieser Erscheinungen hat sich uns erwiesen die Verschmelzung von Organempfindungen mit Gef\u00fchlst\u00f6nen.\n3. Kapitel.\n\u2022 \u2022\nFolgerungen f\u00fcr die normale Psychologie der \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden mit Ausschlu\u00df der \u00dcbertragung bei verdr\u00e4ngten\nKomplexen.\nVon einer \u00dcbertragung von Gef\u00fchlen spricht man da, wo mit einer Wahrnehmung, Vorstellung, einem Gedanken oder einem Urteil sich ein Gef\u00fchlszustand verbindet, ohne da\u00df dieser Gef\u00fchlszustand durch diese intellektuellen Tatbest\u00e4nde selbst ausgel\u00f6st ist, und zwar auf Grund einer Beziehung, in welcher diese Tatbest\u00e4nde zu solchen Tatbest\u00e4nden stehen, welche sich mit einem Gef\u00fchlszustand der in Bede stehenden Art verbindet.\n1. Hier wollen wir die Entwicklung zun\u00e4chst eine Strecke weit an Hand normalpsychologischer Tatbest\u00e4nde durchf\u00fchren.\nAn einem bestimmten Ort habe ich h\u00e4ufig mit einem Freunde interessante wissenschaftliche Gespr\u00e4che gehabt. Komme ich sp\u00e4ter wieder an den Ort, so schlie\u00dft sich etwa an die Wahrnehmung des Ortes ein Gef\u00fchlszustand eigener Art an. Ich suche mir davon Rechenschaft zu geben und erinnere mich jetzt, da\u00df ich hier h\u00e4ufig\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI, Teil B/II.\t15","page":1141},{"file":"p1142.txt","language":"de","ocr_de":"1142\nG. St\u00f6rring\nmit einem Freunde zusammengetroffen bin. Der eigenartige Gef\u00fchlszustand hatte mit der Wahrnehmung des Ortes selbst nichts zu tnn. Die Wahrnehmung des Ortes ist zu dem Gedanken an die Gespr\u00e4che in innige assoziative Beziehung getreten und jetzt schlie\u00dft sich an die Wahrnehmung des Ortes im klaren Bewu\u00dftsein ein Gef\u00fchlszustand an, welcher eine Reproduktion der mit den fr\u00fcheren Gespr\u00e4chen verbundenen Gef\u00fchle darstellt. Hier spricht man von einer \u00dcbertragung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche sich an die wissenschaftlichen Gespr\u00e4che angeschlossen haben, auf die Wahrnehmung des Ortes.\nIn manchen \u00e4hnlichen F\u00e4llen l\u00e4\u00dft sich die intellektuelle Unterlage des betreffenden Gef\u00fchlszustandes noch als dunkelbewu\u00dfte Gr\u00f6\u00dfe im Bewu\u00dftsein nachweisen.\nEin Z\u00f6gling wird wegen einer ungeh\u00f6rigen Handlung energisch bestraft. Wenn der Z\u00f6gling nun sp\u00e4ter an diese Handlung denkt, so kann dadurch die Vorstellung der fr\u00fcher vollzogenen Bestrafung ausgel\u00f6st werden, an die sich dann ein entsprechender reproduzierter Gef\u00fchlszustand anschlie\u00dft. L\u00e4uft dieser Proze\u00df aber h\u00e4ufig ab, so tritt eine Modifikation ein: der Gedanke an die Bestrafung tritt immer mehr aus dem klaren Bewu\u00dftsein heraus, so da\u00df der Gef\u00fchlszustand sich an den Gedanken der Handlung unmittelbar anzuschlie\u00dfen scheint.\nHerbert Spencer charakterisiert die hier vorliegenden Beziehungen sehr anschaulich in folgender Weise: ,,Der Schrei des Baben ist kein angenehmer Ton; musikalisch ist es sogar das Gegenteil, dennoch bringt das Kr\u00e4chzen gew\u00f6hnlich angenehme Eindr\u00fccke hervor, die viele Leute der Katur des Lautes selbst zuschreiben. Kur die wenigen Personen, die sich mit der Analyse ihres eigenen Bewu\u00dftseins abgegeben haben, wissen, da\u00df ihnen dieser Schrei gef\u00e4llt, weil er ehemals mit einer zahllosen Menge ihrer besten Lustgef\u00fchle verkn\u00fcpft war, wie mit dem Pfl\u00fccken wildwachsender Blumen in der Kindheit, mit den Ausfl\u00fcgen an freien Kachmittagen, mit den Landpartien im Hochsommer, wenn man die B\u00fccher im Stich lie\u00df und die Unterrichtsstunde durch Spiele und Abenteuer in der freien Katur ersetzte, mit den frischen und sonnigen Vormittagen des reifen Alters, wenn man sich durch einen Spaziergang von der Arbeit k\u00f6stlich erholte. Und jetzt erweckt dieser Laut, obwohl er mit allen den vergangenen so zahlreichen und mannigfaltigen Lustgef\u00fchlen nicht urs\u00e4chlich zusammenh\u00e4ngt, weil er mit ihnen assoziiert ist, ein dunkles Bewu\u00dftsein dieser Lustgef\u00fchle, wie die Stimme eines alten Freundes, der unverhofft bei uns eintritt, pl\u00f6tzlich eine Flut von Gem\u00fctsbewegungen wachruft, die sich aus den Lustgef\u00fchlen unserer ehemaligen Kameradschaft ergeben1).\u201d\n*) Herbert Spencer : Principles of psychology. 2. 519, nach Bibot.","page":1142},{"file":"p1143.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1143\nIn den angezogenen Tatbest\u00e4nden hat sich die \u00dcbertragung der Gef\u00fchle vollzogen anf Grnnd der Gleichzeitigkeit der beiden intellektuellen Vorg\u00e4nge. Wie wir nns dabei das Zur\u00fccktreten des einen der beiden intellektuellen Faktoren im Bewu\u00dftsein oder die Mcht\u00e4ufweisbarkeit desselben im Bewu\u00dftsein bedingt zu denken haben, dar\u00fcber sp\u00e4ter.\nSymbolisch k\u00f6nnen wir diese \u00dcbertragung der Gef\u00fchle darstellen, indem wir den intellektuellen Tatbestand, auf welchen die \u00dcbertragung stattfindet, mit V1 bezeichnen, den intellektuellen Tatbestand, der sich urspr\u00fcnglich mit einem ausgepr\u00e4gten Gef\u00fchls-zustand bestimmter Art verbindet, mit V2 rmd den Gef\u00fchJszustand selbst mit O. Das Zur\u00fccktreten des zweiten intellektuellen Tatbestandes im Bewu\u00dftsein bezeichnen wir durch Einklammerung von V2; dann erhalten wir folgendes Schema:\nV1 \u2014 (V2)->G.\nIn anderen F\u00e4llen wirkt nicht die Gleichzeitigkeit, sondern die \u00c4hnlichkeit der intellektuellen Tatbest\u00e4nde.\nEin Mensch, der uns fremd ist, macht uns auf den ersten Blick einen sympathischen oder antipathischen Eindruck. Hier wirken offenbar Gef\u00fchlserlebnisse nach, welche wir mit Menschen von \u00e4hnlichem Gesichtsausdruck hatten.\nHier ist der Mechanismus leicht durchsichtig. Ein intellektueller Tatbestand ( V2) verbindet sich urspr\u00fcnglich mit einem bestimmten Gef\u00fchlszustande. Die Reproduktion dieses Gef\u00fchlszustandes ist nicht nur ausl\u00f6sbar durch V2, sondern auch durch einen \u00e4hnlichen intellektuellen Tatbestand Vt.\nZur Klarlegung des Geschehens bei \u00dcbertragung durch Gleichzeitigkeit der intellektuellen Tatbest\u00e4nde m\u00fcssen wir eine n\u00e4here Diskussion veranstalten, besonders da einige Psychologen eine Auffassung dieser Tatbest\u00e4nde haben, die von der von uns oben angedeuteten sehr verschieden ist. Die Deutung Ribots kommt in folgendem zum Ausdruck.\nEr sagt: ,,Es gibt keine \u00dcbertragung in dem Sinne, da\u00df das Gef\u00fchl von dem urspr\u00fcnglichen Eindruck losgel\u00f6st w\u00fcrde, um einem anderen angeheftet zu werden, sondern es gibt eine Bewegung der Verallgemeinerung oder Ausdehnung des Gef\u00fchles, das sich wie ein \u00d6lfleck verbreitet. Diese \u00dcbertragung kann sinnbildlich dargestellt werden. Bezeichnen wir den intellektuellen Zustand durch A, den Gef\u00fchlszustand, der ihn begleitet, durch s. A erweckt durch Assoziation B, 0, _D, JE usw. ; s wird nacheinander\n75*","page":1143},{"file":"p1144.txt","language":"de","ocr_de":"1144\nG. St\u00f6rring\nA\nauf A, B, G, JD, E usw. \u00fcbertragen. Wir erhalten zuerst \u2014 B G D E\ns\nA B G D E\nusw. und sp\u00e4ter --------------usw., so da\u00df G oder T) oder E usw.\ns\ns ganz wie A und ohne A unmittelbar hervorrufen k\u00f6nnen. Das Gef\u00fchl ist wachgerufen worden ohne Vermittlung der Vorstellung, an die es urspr\u00fcnglich gebunden war (Sully1).\u201d\nHier ist also die Sache so gedacht, da\u00df ein intellektueller Tatbestand A sich mit einem Gef\u00fchlszustand s verbindet und nun von A aus die intellektuellen Tatbest\u00e4nde B G D E usw. wachgerufen werden, so da\u00df s nacheinander auf B G D E usw. \u00fcbertragen wird. Kun wird sp\u00e4ter von B oder C oder D oder E usw. s wachgerufen \u201eohne Vermittlung\u201d der Vorstellung A ! Popul\u00e4r wird die \u00dcbertragung als eine Ausdehnung des Gef\u00fchles bezeichnet, das sich ,,wie ein \u00d6lfleck\u201d ausbreitet.\nGegen diese Deutung der \u00dcbertragung der Gef\u00fchle bei Gleichzeitigkeit der intellektuellen Tatbest\u00e4nde ist zun\u00e4chst folgendes geltend zu machen. Es wird behauptet, da\u00df bei dieser \u00dcbertragung die Reproduktion des Gef\u00fchlszustandes zustande kommt ,,ohne Vermittlung\u201d des intellektuellen Tatbestandes, an den sich urspr\u00fcnglich der Gef\u00fchlszustand anschlie\u00dft, d. h. also, da\u00df von B oder C oder D oder E die Reproduktion des Gef\u00fchlszustandes unmittelbar erfolgt.\n\u00dcber diese Behauptung ist zun\u00e4chst zu sagen, da\u00df sie sich zum mindesten in ihrer Allgemeinheit nicht haltenl\u00e4\u00dft. Es lassen sich F\u00e4lle auf weisen, in welchen von B oder C oder I) aus die Reproduktion des Gef\u00fchlszustandes in der Weise erfolgt, da\u00df diese intellektuellen Tatbest\u00e4nde zun\u00e4chst A in Gestalt eines dunkelbewu\u00dften Tatbestandes reproduzieren und da\u00df nun das dunkelbewu\u00dfte A die Reproduktion des Gef\u00fchlszustandes bedingt. In manchen F\u00e4llen der Gef\u00fchls-\u00dcbertragung findet man, da\u00df zun\u00e4chst an einen intellektuellen Tatbestand B oder G oder D usw. sich unmittelbar ein Gef\u00fchlszustand anzuschlie\u00dfen scheint, der in Wirklichkeit urspr\u00fcnglich auf das Konto von A zu setzen war.\nSucht man sich dann von der Entstehung des Gef\u00fchlszustandes Rechenschaft zu geben, so taucht A auf, und man erkennt, da\u00df mit A sich ein Gef\u00fchlszustand verbindet, der mit dem hier aufgetretenen Gef\u00fchlszustand von gleicher Qualit\u00e4t ist. Zugleich ist man zuweilen in der Lage, mit Bestimmtheit in diesen F\u00e4llen, wo also a n B, 0, _D, R s i c h unmittelbar der betreffende Gef\u00fchlszustand anzuschlie\u00dfen schien, die Aussage zu machen,\nb Bibot: Psychologie der Gef\u00fchle. \u00dcbersetzt von Ufer. S. 221.","page":1144},{"file":"p1145.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1145\n*\nda\u00df A schon vorher bei Reproduktion des s dunkelbewu\u00dft vorhanden war! \u00dcber eine solche Behauptung wird man sich vielleicht wundern. Aber das st\u00f6rt mich nicht. Ich habe als Versuchsperson bei Reprodnktionsversuchen und bei tachistoskopischen Versuchen h\u00e4ufig derartige Feststellungen mit Bestimmtheit machen k\u00f6nnen.\nAlso gegen diese Auffassung v on Bibot und Sully sprechen zun\u00e4chst F\u00e4lle, in denen sichl als d u n k e 1 b e w u \u00df t e Gr\u00f6\u00dfe die Reproduktion von s vermittelnd mit Sicherheit darstellt.\nWird aber von B oder G oder D usw. aus in manchen F\u00e4llen nach weislich durch Vermittlung eines dunkelbewu\u00dften A der Gef\u00fchlszustand reproduziert, so ist nat\u00fcrlich zu sagen, da\u00df in vielen F\u00e4llen diese Reproduktion des Gef\u00fchlszustandes \u00fcber ein dunkelbewu\u00dftes A hinaus stattfinden wird, ohne da\u00df A als dunkelbewu\u00dft vorhanden erkannt wird.\nManche Psychologen werden sodann in solchen F\u00e4llen, wo ein dunkelbewu\u00dftes A nicht aufweisbar ist, das Wirken der physiologischen Korrelate von A f\u00fcr die Reproduktion von s in Anspruch nehmen, wobei nat\u00fcrlich ebenfalls nicht von einer unmittelbaren Reproduktion von s durch B oder G usw. gesprochen werden kann.\nEs bleibt nun noch die M\u00f6glichkeit, da\u00df neben der von uns aufgewiesenen Art des Ablaufes des Prozesses sich noch in einigen F\u00e4llen ein anderer findet, bei dem weder A noch seine physiologischen Korrelate bei Reproduktion von s eine Rolle spielen. Wie steht es mit den Assoziationen zwischen B und s, G und s usw. ? Sie k\u00f6nnen sich in ihrer Wirkungskr\u00e4ftigkeit auf keinem Fall messen mit der W i r k u n g s k r \u00e4 f t i g k e i t der Beziehung zwischen A und s. Das sieht man sehr deutlich daraus, da\u00df Gef\u00fchle nicht fixierend wirken, wie man bei Melancholikern feststellen kann, auf jeden intellektuellen Tatbestand, der gleichzeitig mit ihnen zusammen im Bewu\u00dftsein ist, sondern nur auf denjenigen intellektuellen Tatbestand, durch den sie selbst ausgel\u00f6st sind und auf denjenigen, der durch diese Gef\u00fchle etwa ausgel\u00f6st ist ! Die Assoziationen zwischen B und s, G und s usw. kann also h\u00f6chstens ganz hypothetisch als die Reproduktion durch ein dunkelbewu\u00dfte&M","page":1145},{"file":"p1146.txt","language":"de","ocr_de":"1146\nGr. St\u00f6rring\noder die psychologischen Korrelate von A nnterst\u00fctzend angesehen werden. \u2014\nUnsere bisherigen Feststellungen bez\u00fcglich der \u00dcbertragung der Gef\u00fchle m\u00fcssen wir aber noch zu vertiefen suchen. Es fragt sich, wie es kommt, da\u00df unter den angegebenen Bedingungen der gef\u00fchlsstarke Gedanke im Bewu\u00dftsein zur\u00fccktritt, dunkelbewu\u00dft wird oder in physiologische Korrelate zusammenschrumpft.\nEs ist eine leicht konstatierbare psychische Tatsache, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde h\u00e4ufig fr\u00fcher im Bewu\u00dftsein klar hervortreten als die entsprechenden intellektuellen Unterlagen, da\u00df letztere, wenn \u00fcberhaupt, erst nach den entsprechenden Gef\u00fchlszust\u00e4nden im Bewu\u00dftsein klar auftreten. Beim ersten Auftreten der Gef\u00fchlszust\u00e4nde waren die intellektuellen Unterlagen noch dunkelbewu\u00dft. Daraus ergibt sich zugleich, da\u00df die Zentren f\u00fcr die Ausl\u00f6sung von G e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e n h\u00e4ufig schon beim Anklingen intellektueller Tatbest\u00e4nde angesprochen werden und Gef\u00fchlszust\u00e4ndeausl\u00f6sen.\nEine gesteigerte Anspruchsf\u00e4higkeit von Zentren f\u00fcr die Ausl\u00f6sung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden wird aber au\u00dfer anderem zustande gebracht durch eine Bahnung, welche durch das wiederholte Abl\u00e4ufen solch intellektuellemotioneller Prozesse entsteht. Man sieht h\u00e4ufig deutlich, da\u00df psychische Traumen erst nach Ablauf \u00e4hnlicher affektvoller Erlebnisse entstehen, wie sich sp\u00e4ter zeigen wird !\nLaufen also die oben charakterisierten Prozesse\nF, \u2014 V2 -> G\nwiederholt ab, so wird die Ausl\u00f6sung von G immer mehr erleichtert, d. h., es tritt V2 immer mehr im Bewu\u00dftsein zur\u00fcck, weil sp\u00e4ter, d. h. nach h\u00e4ufiger Wiederholung, schon ein ganz dunkelbewu\u00dftes V2 die Ausl\u00f6sung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zustande bringt.\nDer Proze\u00df des Zur\u00fcckhaltens von V2 l\u00e4uft in dieser Richtung bei Gef\u00fchlen, welche eine gro\u00dfe psychophysische Energie repr\u00e4sentieren, deshalb schneller ab, weil die so entwickelten G e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e auf das weitere Hervortreten des dunkelbewu\u00dften V2 derivativ hemmend wirken.\n2. Wir f\u00fchren die Untersuchung der \u00dcbertragung von Gef\u00fchls-zust\u00e4nden jetzt weiter an Handpsychopathologischer Tatbest\u00e4nde.\na) Ich gebe zun\u00e4chst einen sch\u00f6nen Fall L\u00f6wenfelds, welcher die Vervielf\u00e4ltigung von Phobien betrifft, wobei","page":1146},{"file":"p1147.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1147\neine \u00dcbertragung der Angstgef\u00fchle dnrch das Prinzip der \u00c4hnlichkeit zustande gebracht wird.\n9fPatientin, 33 Jahre alt, seit 15 Jahren verheiratet, Mutter von zwei Kindern, ist von m\u00fctterlicher Seite erblich in geringem Ma\u00dfe belastet. Hat als Kind Pneumonie durchgemacht. Schon vor ihrer Verheiratung litt Patientin an Agoraphobie, welche damit ihren Anfang nahm, da\u00df sie eines Tages beim \u00dcberschreiten eines sehr weiten, leeren Platzes (Exerzierplatzes) von \u201eSchwindel\u201d befallen wurde. In der Folge stellte sich bei ihr regelm\u00e4\u00dfig Angst beim \u00dcberschreiten freier Pl\u00e4tze ein, weshalb sie solche jahrelang mied. Einige Zeit nach ihrer Verheiratung wurde sie beim Nachhausegehen in sp\u00e4ter Abendstunde von einem Angstanfall heimgesucht. Dies gab den Ansto\u00df zur Entwicklung einer eigenen Phobie, der Angst vor dem Ausgehen zurAbend- bzw. Nachtzeit, weil der Torschlu\u00df der H\u00e4user sie verhindern k\u00f6nnte, bei Menschen Hilfe zu suchen, wenn ihr etwas zusto\u00dfen w\u00fcrde. Diese Phobie, welche sie jahrelang am Ausgehen abends verhinderte, wurde im Laufe der Zeit Ausgangspunkt einer Anzahl weiterer Phobien von zum Teil h\u00f6chst bizarrer Art. Zwei Jahre nach ihrer Verheiratung kam Patientin in das Wochenbett. W\u00e4hrend dieser Zeit wurde vis-\u00e0-vis von ihrem Wohnzimmer ein P\u00fcckgeb\u00e4ude aufgef\u00fchrt. Als sie dies nach dem Wiederaufstehen zum ersten Male erblickte, stellte sich sofort bei ihr die Idee ein, da\u00df sie hier nun ebenso zwischen Mauern eingeschlossen sei wie abends in den Stra\u00dfen bei geschlossenen H\u00e4usern, womit sich eine ungeheure Angst verkn\u00fcpfte. In der Folge kam es dahin, da\u00df bei ihren Ausg\u00e4ngen in allen Stra\u00dfen die Geb\u00e4ude ihr mehr und mehr Angst einfl\u00f6\u00dften, sie gewisserma\u00dfen beengten und sie zu Hause best\u00e4ndig von dem Gedanken gequ\u00e4lt wurde, da\u00df au\u00dferhalb ihrer Wohnung H\u00e4user seien, die sie am Ausgehen beengen w\u00fcrden. Das P\u00fcckgeb\u00e4ude vis-\u00e0-vis ihrem Wohnzimmer besch\u00e4ftigte sie in ihren Gedanken sehr lange und r\u00fcckt in ihrer Phantasie immer n\u00e4her. Zuf\u00e4llig regnete es eines Tages, w\u00e4hrend sie diesen Ideen nachhing. Sofort tauchte bei ihr, begleitet von furchtbarer Angst, der Gedanke auf, da\u00df der Pegen sie ebenso wie die Mauern der H\u00e4user beenge, umschlie\u00dfe und ihr Denken hemme, und diese Vorstellung kehrte in der Folge bei jedem Pegen wieder. Die mit Angst verkn\u00fcpfte Idee des Beengt-und Umschlossenwerdens \u00fcbertrug sich im Laufe der Zeit auch auf den Schnee, den Nebel, das Firmament, die Nacht und namentlich \u00d6rtlichkeiten, welche die Idee des Umschlossenseins anzuregen geeignet sind. Diese Idee erfuhr jedoch, soweit sie sich nicht an starre Objekte kn\u00fcpft, allm\u00e4hlich eine bemerkenswerte Metamorphose, und zwar dahin, da\u00df an Stelle der Vorstellung des physischen Beengt- und Umschlossenseins, die vagere der","page":1147},{"file":"p1148.txt","language":"de","ocr_de":"1148\nGr. St\u00f6rring\ngeistigen Unfreiheit trat. Wenn z. B. die Vorstellung des Begens bei ihr auftaucht, kn\u00fcpft sich daran die Angst, es k\u00f6nnte ihr der Gedanke kommen, da\u00df es nicht regnen sollte, w\u00e4hrend der Begen fortdanert, da\u00df sie dann von dieser Idee beherrscht und dadurch in einen Znstand geistiger Unfreiheit gelangen k\u00f6nnte; \u00e4hnlich bei der Nacht.\u201c\nL\u00f6wenfeld spricht hier von einer Vervielf\u00e4ltigung einer Phobie unter dem Einflu\u00df des Assoziationsprinzips der \u00c4hnlichkeit.\nHier findet also dadurch eine Vervielf\u00e4ltigung der Phobien statt, da\u00df ein pathologischer Angstaffekt durch \u00e4hnliche intellektuelle Unterlagen ausgel\u00f6st wird, wobei die \u00c4hnlichkeit einen ganz bestimmten Charakter tr\u00e4gt.\nDie \u00c4hnlichkeit betrifft in allen F\u00e4llen denselben Punkt der intellektuellen Unterlage des Angstaffektes, und dieser ist so beschaffen, da\u00df er, f\u00fcr sich genommen, die Ausl\u00f6sung eines \u00e4ngstlichen Affektes begreiflich macht. Dieser gemeinsame Faktor ist gegeben in dem Gedanken des Umschlossenseins, des Beengtseins durch \u00e4u\u00dfere Tatbest\u00e4nde: durch \u00e4u\u00dfere Objekte oder durch geistige Tatsachen.\nMan sieht, da\u00df diese Art der \u00c4hnlichkeit vor anderen sich durch Wirkungskr\u00e4ftigkeit auszeichnet.\nDie Wirkungskr\u00e4ftigkeit wird hier sodann noch von einer anderen Seite gesteigert: von seiten der Disposition zur Entwicklung von Angstzust\u00e4nden. Es handelt sich ja doch um das Auftreten dieser Vervielf\u00e4ltigung der Phobie bei einer Patientin, bei der die Disposition zur Entwicklung von Angstzust\u00e4nden eine sehr starke ist. Patientin litt ja doch vorher schon lange an Agoraphobie.\nb) Wir wollen aus dem psychopathologischen Material sodann eine eigenartige Wirkung der \u00dcbertragung von Unlustgef\u00fchlen herausheben.\nEs handelt sich um einen Zwangsneurotiker von L\u00f6wenfeld1). \u201eWenn ich gehe, sagt der Patient, und die schlimmen Gedanken mich befallen, mu\u00df ich still stehen und einen Schritt zur\u00fcckmachen, um die schlimmen Gedanken zu verbessern; es ist dies, als wenn ich einen Irrtum in einem Bechenbuche beseitige.\u201d\nHier findet also eine \u00dcbertragung der Unlustgef\u00fchle der \u201eschlimmen\u201d Gedanken\nx) L\u00f6wenfeld: 1. c. S. 404.","page":1148},{"file":"p1149.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1149\nauf das Erleben des Gebens statt. Durch diesen Anschlu\u00df des Unlustaffektes an das Erleben des Gehens ist dann die Tendenz bedingt, dieses Erleben des Gehens zu modifizieren. \u2014\nc) Wir greifen jetzt \u2014 unter vorl\u00e4ufigem Ausschlu\u00df der \u00dcbertragung bei \u201everdr\u00e4ngten Komplexen\u201d \u2014 diejenigen F\u00e4lle von \u00dcbertragung aus dem psychopath o-logischen Material heraus, wo beide intellektuelle Unterlagen, die bei der \u00dcbertragung mit wirken, sich mit ausgepr\u00e4gten Gef\u00fchls-zust\u00e4nden verbinden und wo eine der intellektuellen Unterlagen eine Hemmung erf\u00e4hrt. In den bisher besprochenen F\u00e4llen der \u00dcbertragung war ja vorausgesetzt, da\u00df nur eine der betreffenden intellektuellen Unterlagen mit einem ausgepr\u00e4gten Gef\u00fchlszustande verbunden war.\nIch gebe ein paar F\u00e4lle aus einer Untersuchung \u00fcber Zwangsgedanken von Friedmann.\n,,21j\u00e4hriges M\u00e4dchen, einzige Tochter einer Witwe in bescheidenen, ausk\u00f6mmlichen Verh\u00e4ltnissen, ohne Belastung, gesund und munter, von Charakter einwandfrei, t\u00fcchtig und ordentlich. Sie war seit etwa einem Jahr verlobt, offenbar \u00fcbrigens ohne jeden intimeren Verkehr, als der flatterhafte Br\u00e4utigam sie pl\u00f6tzlich ohne irgendwelchen Grund verlie\u00df, als da\u00df ein anderes M\u00e4dchen ihm besser gefiel, das er dann auch heiratete. In der ersten Verzweiflung unternimmt unsere Patientin einen ernsten Selbst-mordv ersuch, wobei sie sich an den Pulsadern ziemlich verletzte. Gl\u00fccklich gerettet, kommt sie gleichwohl nicht zur Buhe. Sie klagt zwar nicht mehr \u00fcber die Untreue des Mannes, den sie sogar ziemlich ruhig auf der Stra\u00dfe Wiedersehen konnte; sie sei zu gut, um \u00fcber einen solchen Mann zu trauern. Um so fassungsloser indessen geb\u00e4rdet sie sich vor Beue \u00fcber ihre Verzweiflungstat: wie sie sich so weit habe hinrei\u00dfen lassen, ihrer Mutter so etwas habe antun k\u00f6nnen ! Keinem Menschen mehr d\u00fcrfe sie ruhig in die Augen sehen, niemand d\u00fcrfe die Karben an dem Arm erblicken, weil sie vor Scham verginge. Sie zerrei\u00dft sich f\u00f6rmlich, weint in ihrer Kammer stundenlang, wird ihres Lebens nicht mehr froh, interessiert sich f\u00fcr nichts mehr, verrichtet mechanisch und verst\u00f6rt ihre Arbeit und h\u00f6rt gar nicht mehr auf, sich anzuklagen.\nDabei ist sie sonst ganz klar und besonnen, h\u00e4lt sich gut in Kleidung und Auftreten, hat keine Angstgef\u00fchle, i\u00dft ordentlich und sieht auch eigentlich ziemlich gut und jugendfrisch aus. Da\u00df sie verstimmt und unfroh ist, erkennt man freilich bald. Warum sie ihre Tat, wegen der ihr kein Mensch Vorw\u00fcrfe gemacht hat,","page":1149},{"file":"p1150.txt","language":"de","ocr_de":"1150\nG. St\u00f6rring\nselbst so tragisch nimmt, wei\u00df sie auch in der Tat nicht recht. Der Gedanke lasse ihr eben keine Ruhe.\u201d\nDer andere Fall \u00e4hnlicher Art ist folgender:\n\u201e41 j\u00e4hriger mittlerer Beamter, m\u00e4\u00dfig nerv\u00f6s, sonst znfrieden, leidet an einer nicht schweren chronischen Nephritis, die sp\u00e4ter ansgeheilt ist nnd ihm nicht viel Sorgen macht. Durch seine Erregtheit verwickelt er sich in einen Kompetenzstreit, wobei ihm der j\u00e4hzornige Gegner ins Gesicht schl\u00e4gt. Er strengt zwar B eleidignngsklage an, len g net aber die Ohrfeige iiberhanpt ab, welcher sich sein Gegner r\u00fchmt. Diese Sache ist ihm offenbar peinlich. W\u00e4hrend nun der Proze\u00df sehr langsam sich abspielt, beginnt der Patient sich mehr nnd mehr mit jenem bekannten h\u00e4ufigen K\u00e4ltegef\u00fchl am (linken) Knie zu besch\u00e4ftigen, das auch bei ihm da nnd dort vorhanden war. Er merkt jetzt, da\u00df es h\u00e4ufiger kommt nnd wird \u00fcber die Ma\u00dfen \u00e4ngstlich. Bald denkt er an Tabes, bald an Tuberkulose; kurz, die Nephritis l\u00e4\u00dft ihn k\u00fchl, aber die Geschichte am Knie raubt ihm Schlaf und Ruhe und treibt ihn fast dem Selbstmord zu. Schlie\u00dflich ist es die Selbstmordidee ihrerseits, die ihn verfolgt und au\u00dfer sich bringt, also jetzt sogar eine regelrechte Zwangsidee ! Denn der Patient erkl\u00e4rt selbst, es sei Unsinn f\u00fcr ihn, an so etwas zu denken.u\nZum Gl\u00fcck erledigt sich nach mehr als Jahresfrist der Proze\u00df zu seinen Gunsten, und nun kommt die interessante Folge : auch die hypochondrische Idee schwindet bald1).\nFriedmann deutet den ersten Fall, der typisch ist f\u00fcr eine ganze Klasse von F\u00e4llen, in folgender Weise: \u201eDer Fall spricht, so scheint mir, f\u00fcr sich selbst. Ohne allzu gro\u00dfe Menschenkenntnis err\u00e4t man, da\u00df unsere Patientin ganz vern\u00fcnftigerweise sich selbst bel\u00fcgt. Tats\u00e4chlich gilt ihre Verzweiflung noch ihrem Ausgangspunkt, der ersten gro\u00dfen Entt\u00e4uschung in ihrem Leben. Aber da ihr lobenswerter Stolz sich dagegen emp\u00f6rt, \u00fcber jenen Menschen zu trauern und verzweifelt zu sein, erfa\u00dft sie das zweite geringere und ihr sympathischere Objekt, den Gedanken der Reue \u00fcber die rasche Tat. Kein Geringerer als Ibsen hat in der \u201eWildente\u201d und auch sonst jenen Gedanken der \u201eAbw\u00e4lzung\u201d unter dem Namen der zur Notwendigkeit werdenden \u201eLebensl\u00fcge\u201d poetisch und psychologisch dargestellt. Unsere Patientin wird so durch ihre Selbstbeschuldigung ihren Frieden ganz gewi\u00df schneller wiederfinden als beim Gedenken der gescheiterten Lebenshoffnung\u201d 2).\n1)\tFriedmann: Zur Auffassung und Kenntnis der Zwangsideen und der isolierten \u00fcberwertigen Ideen. Zeitschr. f. Neurol, u. Psych. 21. 358 ff.\n2)\tFriedmann: 1. c. S. 358.","page":1150},{"file":"p1151.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1151\nFriedmann spricht hier von einem \u201eProze\u00df der Stimmungs-abw\u00e4lzung\u201d, ohne einen Yersnch zn machen, einen klaren Einblick in diesen Proze\u00df zn gewinnen.\nDer Gedanke an die aufgehobene Verlobung hat sich zun\u00e4chst mit einem starken Unlustaffekt verbunden. Im Laufe der Zeit hat sich ein Proze\u00df der Hemmung f\u00fcr die Entwicklung dieses Gedankens und erst recht f\u00fcr die l\u00e4ngere Fixierung desselben gebildet, indem sie sich sagt, \u201esie sei sich zu gut, um \u00fcber einen solchen Mann zu trauern\u201d. Der so gehemmte Gedanke l\u00f6st aber immer noch einen Affektzustand aus \u2014 wenn auch von geringerer Intensit\u00e4t als bei seinem ersten Auftreten ohne Hemmung.\nHemmend wirkt aber auf diesen Gedanken nicht blo\u00df der gef\u00fchlsstarke Gedanke, sie sei sich zu gut, um \u00fcber einen solchen Mann zu trauern\u201d, sondern zugleich der zuerst ausgepr\u00e4gt willensm\u00e4\u00dfig vollzogene, sp\u00e4ter sich nach h\u00e4ufiger Wiederholung mechanisch mit einer leichten willens m\u00e4\u00dfigen Tendenz und mit einem Gef\u00fchl der Befriedigung aufdr\u00e4ngende Gedanke an den vollzogenen Selbstmordversuch. Der \u00dcbergang von dem ersten Gedanken auf den zweiten verbindet sich mit Befriedigung, aber bei Konzentration auf den Gedanken des vollzogenen Selbstmordversuches entsteht nat\u00fcrlich ein Unlustaffekt. Dieser Unlustaffekt erscheint aber unverh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig stark.\nDa\u00df dieser Unlustaffekt unverh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig stark erscheint, ist folgenderma\u00dfen bedingt : Der an den Gedanken der aufgehobenen Verlobung sich anschlie\u00dfende Affektzustand nimmt Stimmungs Charakter an, nachdem ein \u00dcbergang von dem Gedanken der aufgehobenen Verlobung auf den Gedanken des vollzogenen Selbstmordversuches mit Befriedigung vollzogen ist. Ich konnte n\u00e4mlich Stimmung experimentell erzeugen1), wenn ich den Versuchspersonen eine wohlschmeckende L\u00f6sung applizierte, die L\u00f6sung auf ein Signal hin schlucken lie\u00df mit der suggestiven Anweisung, den Geschmacksreiz als eine erledigte Tatsache zu betrachten. Hier im gegenw\u00e4rtigen Fall vollzieht sich bez\u00fcglich des Gedankens der aufgehobenen Verlobung das gleiche wie in jenem Falle bez\u00fcglich der Geschmacksempfindung. Sie wird mit dem \u00dcbergang auf den zweiten Gedanken als eine erledigte Tatsache betrachtet. Unter dem Einflu\u00df dieser Unluststimmung wird der Affektzustand, der sich an den zweiten Gedanken anschlie\u00dft, von st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t, als wenn der zweite Gedanke auf eine indifferente Stimmung gesto\u00dfen w\u00e4re. Zu dieser so gesteigerten Intensit\u00e4t des Unlustaffektes kommt dann noch der G e f \u00fc h 1 s z u s t a n d der Stimmungsunlust, die Gef\u00fchlsmasse ver-\nx) St\u00f6rring: Psychologie. S. 181.","page":1151},{"file":"p1152.txt","language":"de","ocr_de":"1152\nG-. St\u00f6rring\ngr\u00f6\u00dfernd, hinzu. Wir sehen jetzt auch, da\u00df es nicht berechtigt ist, wenn Friedmann von einem Proze\u00df der \u201eS tim-mnngsabw\u00e4lziing\u201d spricht : abgew\u00e4lzt, beiseite geschoben wird nicht die Stimmung, sondern ein l\u00e4stiger Gedanke!\nEtwas anders gestaltet sich der Proze\u00df, wenn der Vorstellungs -und Gedankenverlauf nicht zuerst auf den Gedanken an die Aufhebung der Verlobung st\u00f6\u00dft und dann der \u00dcbergang auf den Gedanken an den Selbstmordversuch sich entwickelt, sondern wenn von diesen beiden Gedanken zuerst der Gedanke an den Selbstmordversuch auf tritt. Da wird sich an diesen Gedanken ein Unlustaffekt anschlie\u00dfen. Verst\u00e4rkt wird der Unlustaffekt durch Gedanken an die durch den Selbstmordversuch entstandenen Narben, ,,niemand d\u00fcrfe die Narben an dem Arm erblicken, weil sie vor Scham vergehe\u201d. Aber n\u00e4her liegt noch bei dem Gedanken an den Selbstmordversuch der Gedanke an das Motiv, und so wird auch bei diesem zweiten Ausgangspunkt der Unlustaffekt mobil gemacht, der sich mit dem Gedanken an das Motiv verbindet.\nMan spricht gew\u00f6hnlich von einer \u00dcbertragung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde nur bei diesem zweiten Modus des Geschehens. Zur Erl\u00e4uterung wollen wir eine symbolische Darstellung geben. Wir nennen den Gedanken an die aufgehobene Verlobung Vv den an den Selbstmordversuch U2. An V1 schlie\u00dft sich ein Unlustaffekt, den wir Gux nennen, anU2 ein Unlustaffekt, den wir durch Gu2 bezeichnen. Es liegt also vor der Tatbestand\n( V) G\u00abi\nv2_y Gu2.\nIch sage nun, wenn der Proze\u00df von V2 ausgeht und sich an V2 nicht nur Gu2 anschlie\u00dft, sondern f\u00fcr V2 durch reproduktive Anregung von V1 auch Gu\u00b1 mobil gemacht wird, so ist das ein Geschehen ganz im Sinne der gew\u00f6hnlichen \u00dcbertragung nach dem Schema\nVz-iVJ^Gui.\n| A\nAnders stellt sich nat\u00fcrlich die Sache beim Ausgang des Prozesses von VDa findet nicht auf den Ausgangspunkt V1 eine ,,\u00dcbertragung\u201d statt, sondern f\u00fcr V2 werden emotionelle Energien mobil gemacht, die ihm nur durch die Beziehung zu einer anderen Vorstellung, einem anderen Gedanken zukommt.\nEs erscheint mir aber zweckm\u00e4\u00dfig, diese beiden F\u00e4lle zusammenzufassen: in beiden handelt es sich darum, da\u00df eine Vorstellung,","page":1152},{"file":"p1153.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1153\nein Gedanke, sich mit einer emotionellen Energie verbindet, die nicht durch ihn selbst ausgel\u00f6st wird, sondern durch seine Beziehung zu einer anderen gef\u00fchlsstarken Vorstellung, einen gef\u00fchlsstarken Gedanken.\nDer Terminus \u201e\u00dcbertragung\u201d war bisher schon mi\u00dflich, da eine eigentliche \u201e\u00dcbertragung\u201d von Gef\u00fchlszust\u00e4nden ja nicht stattfindet. Wenn man ihn beibehalten will, m\u00fc\u00dfte man seine Bedeutung in der bezeichneten Weise erweitern, oder man k\u00f6nnte von \u201eprim\u00e4ren\u201d und \u201esekund\u00e4ren\u201d Gef\u00fchlszust\u00e4nden sprechen, je nachdem ein Gef\u00fchlszustand durch eine Vorstellung, einen Gedanken, selbst ausgel\u00f6st wird oder erst durch Beziehung zu einer anderen Vorstellung, einem anderen Gedanken f\u00fcr eine Vorstellung, einen Gedanken mobil gemacht wird.\nGanz \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse wie in dem ersten der beiden angezogenen F\u00e4lle finden sich im zweiten. Der Streit mit dem Gegner l\u00f6st einen Unlustaffekt, einen anderen Unlustaffekt der dem Patienten sympathischere Gedanke an hypochondrische Beschwerden. F\u00fcr die Entwicklung des Gedankens des Streites mit dem Gegner bestehen Hemmungen (Ohrfeige).\nFriedmann sagt mit Becht von der Leitung des Affektes auf das hypochondrische Gebiet: \u201eEben dieses hypochondrische leben geieise wird in Tausenden von \u00e4hnlichen F\u00e4llen benutzt, was jeder von uns, der etwas Erfahrung besitzt, best\u00e4tigen wird. Alle die Personen mit peinlichen Erlebnissen und qu\u00e4lenden Zwangsdenken daran fl\u00fcchten hierher: die Verurteilten, die gescheiterten Existenzen, die zu fr\u00fch Pensionierten, die nicht verstandenen Frauen und die Entt\u00e4uschten \u00fcberhaupt schaffen sich eine \u201eLebensl\u00fcge\u201d oder doch einen sympathischeren Gegenstand der fortw\u00e4hrenden Sorge, indem sie \u00e4ngstlich, sei es kleinere Gesundheitsst\u00f6rungen, sei es die ohnehin schon vorhandene Nervosit\u00e4t hegen und pflegen\u201d 1).\n4. Kapitel.\nPathopsyehologische Folgerungen bez\u00fcglich des Einflusses der Gef\u00fcldszust\u00e4nde auf den Vorstellungs- und Gedankenverlauf.\nI. Eeproduktionswirkung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden.\nEs l\u00e4\u00dft sich weiter durch pathopsyehologische Methode zun\u00e4chst ein mannigfacher Einflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf die Beproduktion der Vorstellungen und Gedanken erkennen.\nEs kommt hier zun\u00e4chst ein quantitativ-zeitlicher Einflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Betracht.\n1) Friedmann: 1. c. S. 359.","page":1153},{"file":"p1154.txt","language":"de","ocr_de":"1154\nG. St\u00f6rring\nBei pathologisch unlustartiger Verstimmung mit passivem Charakter findet man zun\u00e4chst eine ausgepr\u00e4gte Verlangsamung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufs. Sie tritt bei melancholischer Verstimmung deutlich hervor. Die Reaktionszeit der Patienten auf einfache Fragen des Arztes ist sehr stark verl\u00e4ngert.\nIch spreche nur von pathologischer unlustartiger S t immun g s \u00e4nderung, nicht von pathologischen unlustartigen Affekten. Bei Affekten kommt noch ein weiterer Faktor hinzu. Die Affektzust\u00e4nde stellen eine relativ gro\u00dfe psychophysische Energie dar, und es wird sich uns sp\u00e4ter zeigen, da\u00df sie eine Hemmung auf die intellektuellen Prozesse aus\u00fcben. Da w\u00fcrde also ein zweiter Faktor hinzukommen, wenn bei pathologischen Unlust-affekten passiver Art Verlangsamung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes eintritt.\nEine weitere Komplikation ergibt sich da, wo die pathologischen Unlustaffekte aktiven Charakter tragen, wie das z. B. beim Querulantenwahn oder bei einfachem Verfolgungswahn der Fall ist. Da kann man bei entsprechender Auspr\u00e4gung des aktiven Charakters eine Beschleunigung des Vorstellungs verlauf es eintret en sehen, trotz der hemmenden Wirkung starker Affekte auf Vorstellungs- und Gedankenverlauf.\nAktiven Charakter kann aber nicht nur der pathologische Unlustaffekt haben, sondern auch die pathologische Unluststimmung. So die Stimmungslage des Paranoischen, speziell des Querulanten.\nDie pathologische unlustartige Verstimmung mit passivem Charakter zieht aber nicht nur eine Verlangsamung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes nach sich, sondern auch Verarmung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes, die reproduzierten Prozesse zeigen sich deutlich weniger inhaltsreich als in der Korm.\nAuch bei normaler depressiver Verstimmung passiven Charakters sieht man Verlangsamung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes auftreten, aber hier im pathologischen Gebiet tritt diese Wirkung deutlicher in Erscheinung. Und bei normaler unlustartiger Verstimmung passiven Charakters ist eine Verarmung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes angedeutet, aber auch h\u00e4ufig nur angedeutet; hier ist diese Beziehung mit Sicherheit feststellbar und sie mu\u00df deshalb auch f\u00fcr das Gebiet des normalen psychischen Geschehens als g\u00fcltig angenommen werden. Denn die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten sind auf beiden Gebieten dieselben; \u00c4nderungen des Geschehens sind nur durch Differenz der psychischen Inhalte und zwar durch Differenz der Kom-","page":1154},{"file":"p1155.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1155\nb i n a t i o n elementarer physischer Inhalte bedingt \u2014 abgesehen von pathologischen Eeizznst\u00e4nden des Gehirnes.\nMit der Feststellung der Yerarmnng des Vorstellnngs- und Gedankenverlaufes in diesen F\u00e4llen sind wir nat\u00fcrlich schon \u00fcber \u00c4nderung der Reproduktion in quantitativ-zeitlicher Beziehung hinausgegangen zur Konstatierung einer qualitativen \u00c4nderung der Reproduktion.\nEine Verlangsamung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes h\u00e4ngt aber selbst wieder bei unlustartiger \u00c4nderung der Stimmung passiven Charakters von einer Herabsetzung der Erregbarkeit der physiologischen Korrelate der betreffenden psychischen Prozesse ab. Auf die Verarmung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes wirken dann zwei Faktoren: die geringere Intensit\u00e4t der Reproduktionstendenzen der die Reproduktion ausl\u00f6senden Prozesse und sodann die geringere Ansprechbarkeit der Reproduktionsgrundlage, die in den physiologischen Dispositionen zur Reproduktion gegeben sind.\nEine qualitative \u00c4nderung der Reproduktion der Vorstellungen und Gedanken unter dem Einflu\u00df der pathologischen Gef\u00fchlszust\u00e4nde l\u00e4\u00dft sich weiter in Gestalt der Wirkung einer Herabsetzung des unmittelbaren Behaltens konstatieren. Sp\u00e4ter werden wir sehen, da\u00df die Auf merks a m-keits prozesse von emotionellen Tatbest\u00e4nden abh\u00e4ngen, da\u00df dieselben eine St\u00f6rung durch unlustartige Verstimmung passiven Charakters erfahren. Eine Herabsetzung des unmittelbaren Behaltens tritt bei St\u00f6rung der Aufmerksamkeitsprozesse deshalb auf, weil das unmittelbare Behalten in sehr starker Weise von Aufmerksamkeitsprozessen abh\u00e4ngt, wie uns die experimentelle Psychologie mit Sicherheit zeigt \u2014 viel st\u00e4rker als mittelbares Behalten.\nAber auch das mittelbare Behalten zeigt sich bei pathologischer unlustartiger Verstimmung mit passivem Charakter deutlich gest\u00f6rt. Hier wirkt \u2014 in schw\u00e4cherem Ma\u00dfe wie vorhin \u2014 die St\u00f6rung der Aufmerksamkeitsprozesse durch die emotionelle Modifikation, und hier wirkt sodann die Herabsetzung der Erregbarkeit der physiologischen Zentren.\nIn der Verarmung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes, der Wirkung der Herabsetzung des unmittelbaren Behaltens auf die Reproduktionsprozesse und der Herabsetzung der Funktion des mittleren Behaltens haben wir es \u00fcberall mit einer qualitativen \u00c4nderung der Reproduktion zu tun, die einen negativen Charakter hat. Es liegen hier eben Ausfallserscheinungen gegen\u00fcber einer nicht unlustartigen Stimmung vor. Qualitative","page":1155},{"file":"p1156.txt","language":"de","ocr_de":"1156\nG. St\u00f6rring\nModifikationen der Reproduktion von positivem Charakter werden wir sogleich besprechen.\nVorher haben wir aber noch den Einflu\u00df pathologischer lustartiger Verstimmung zu untersuchen.\nMan k\u00f6nnte denken, da\u00df sich hier leicht von dem Verhalten des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes bei den mania-kalischen Zust\u00e4nden Schl\u00fcsse machen lie\u00dfen. Aber so einfach liegen hier die Dinge nicht. Denn der maniakalische Zustand stellt in dieser Beziehung keinen reinen Fall dar. Es handelt sich bei demselben nicht einfach um eine krankhaft gehobene Stimmungslage, sondern diese hat einen zornartigen Einschlag. Und sodann verbindet sich die \u00c4nderung der Stimmung mit einer \u00c4nderung der Erregbarkeit der psychomotorischen Zentren, einer Steigerung der Erregbarkeit. Diese Steigerung der Erregbarkeit der psychomotorischen Zentren bringt auch eine Steigerung der Erregbarkeit der Vorstellungszentren mit sich. Da l\u00e4uft man also Gefahr, auf das Konto der pathologisch-gehobenen Stimmung Erscheinungen zu setzen, die ganz oder zum Teil von einer Steigerung der Erregbarkeit der physiologischen Korrelate der Vorstellungen abh\u00e4ngen.\nNun k\u00f6nnte man an die Verwertung von F\u00e4llen des manischen Stupors denken, wo mit heiterer Verstimmung sich eine Hemmung der Funktion der psychomotorischen Zentren verbindet. Bei manischem Stupor findet man Verlangsamung des Vorstellungsund Gedankenverlaufes.\nAuf einem ganz anderen Wege kommen wir zum Ziel, indem wir F\u00e4lle verwerten, in welchen wir es mit eineg pathologischen Herabsetzung der Erregbarkeit f\u00fcr lustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu tun haben. Diese Betrachtungsweise w\u00fcrde dann, methodologisch genommen, dem Experimentieren nach der Gradations m\u00e9thode bei Herabsetzung der Intensit\u00e4t von einem der Faktoren entsprechen, welche zu dem Umst\u00e4ndekomplex des Geschehens geh\u00f6ren. Wir k\u00f6nnen nat\u00fcrlich aus der Herabsetzung der Intensit\u00e4t eines Faktors des Umst\u00e4ndekomplexes bei Auftreten einer \u00c4nderung in dem Geschehen gerade so gut einen Schlu\u00df ziehen wie aus der Steigerung der Intensit\u00e4t eines Faktors.\nSolche pathologische Herabsetzung der Erregbarkeit f\u00fcr lustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde findet man aber in gewissen F\u00e4llen von Akinese. Hauptmann hat die bei Postenzephalitis auftretende Akinese in zwei Gruppen geteilt: in F\u00e4lle, bei denen die Willens Vorg\u00e4nge und damit auch die in dieselben eingehenden Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge keine St\u00f6rung erfahren, wo die St\u00f6rung allein in der Ausf\u00fchrung des Willensbesehlusses liegt, wo also die","page":1156},{"file":"p1157.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1157\nmotorischen Zentren allein gest\u00f6rt sind, und in eine zweite Gruppe von F\u00e4llen, wo die Akinese von einer St\u00f6rung der Willens Vorg\u00e4nge, und zwar der in sie eingehenden Gef\u00fchlsprozesse abh\u00e4ngt, wo eine pathologische Gleichg\u00fcltigkeit vorliegt. Er hat eine sehr sch\u00f6ne Charakterisierung einiger hierher geh\u00f6riger F\u00e4lle gegeben.\nDer eine von den F\u00e4llen, die wir heranziehen wollen, betrifft eine 38j\u00e4hrige Patientin1).\nM\u00e4\u00dfig starke Akinese. Faltengesicht. Kein Bigor. \u201eEs falle ihr seit der Krankheit alles so schwer.\u201d \u201eDie Lebenslust sei fort.\u201d \u201eEs sei ihr alles zu viel.\u201d \u201eAm liebsten habe sie, wenn man sie ganz in Euhe lasse. Sie k\u00f6nne sich \u00fcber nichts mehr freuen. Sie habe doch ihre Kinder so lieb gehabt, jetzt aber sei es ihr ganz gleich, was mit ihnen sei. . . Wenn sie im Haushalt etwas tun m\u00fcsse, so sehe sie wohl, wo es fehle, sie wisse auch, was sie zu tun habe. .., sie sage sich auch, da\u00df sie jetzt voran machen m\u00fcsse, sie k\u00f6nne sich aber doch nicht dazu entschlie\u00dfen. Es m\u00fcsse schon ganz schlimm kommen, z. B. m\u00fcsse der Topf auf dem Herd kochen, dann rege sie sich. Sie empfindet keine wesentliche muskul\u00e4re Behinderung, meint, da\u00df die St\u00f6rung im Willen liege. Sie beschreibt charakteristische Schwankungen der Willensst\u00f6rung; abends sei es immer leichter als morgens. . . .\nDas Denken sei auch ver\u00e4ndert: Auffassung und Behalten seien gleich geblieben; wenn sie sich aber keine M\u00fche gebe, sei immer nur ein Gedanke da, der mit der aktuellen Gegenwart nichts zu tun habe, f\u00fcr sie auch ganz gleichg\u00fcltig sei; sie beklagt sich dar\u00fcber, da\u00df ihr von selbst nichts einfalle, da\u00df sie lange nachdenken m\u00fcsse, um an ein bestimmtes Ziel zu kommen, und da\u00df der Denkproze\u00df als solcher ihr schwer falle. ,S i e bringe nichts mehr zusammen\u2019 und wisse, wenn sie angefangen habe, einem bestimmten Gedanken nachzugehen, schon kurz nach dem Beginn gar nicht mehr, was sie eigentlich gewollt habe. Es sei ihr dann ganz dumm im Kopf und der letzte Gedanke bleibe stehen. Sie wisse dann gar nicht, wie sie im Denken dahin gekommen sei und was die betreffende Vorstellung zu bedeuten habe.\nObjektiv ist dieser Eall dahin zu erg\u00e4nzen, da\u00df der Ablauf von Handlungen, wenn man sie erst einmal zu einer gebracht hat, ziemlich ungest\u00f6rt ist. . . . Es m\u00fcssen Aufforderungen, wenn sie Erfolg haben sollen, so gew\u00e4hlt sein, da\u00df sie von irgendeiner Seite her das Interesse der Patientin wecken. . . .\nEs wird eine Ged\u00e4chtnisst\u00f6rung dadurch vorget\u00e4uscht, da\u00df sie nach der Antwort auf eine Frage, die sich\nx) Hauptmann: Arch. f. Psych. 66.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t76","page":1157},{"file":"p1158.txt","language":"de","ocr_de":"1158\nGr. St\u00f6rring\nan ihr fr\u00fcheres Wissen richtet, gar nicht sucht; dr\u00e4ngt man sie, so findet sie fast immer den Zugang. . . .\nEs kommt bisweilen vor, da\u00df sie mitten in einer Erz\u00e4hlung inneh\u00e4lt, unruhig wird und nicht weiter wei\u00df. Sie wiederholt dann die letzten Worte und hat tats\u00e4chlich den Zusammenhang mit dem Vorhergehenden verloren. Einmal konnte ich beobachten, da\u00df sie an einer solchen Stelle nach einer inhaltlich ganz andersartigen, logisch mit der Ausgangs- und Zielvorstellung gar nicht zusammenh\u00e4ngenden Gedankenrichtung a b b o g. Sie begann von dem Besuch von Verwandten aus dem Auslande zu erz\u00e4hlen, schildert deren fremdartiges Benehmen, ihre auffallende Kleidung, stockte dann einen Augenblick und fuhr dann mit der Mitteilung des Empfanges eines Briefes ihres Mannes fort, aus dessen Inhalt sie berichtete.\nZur Bede gestellt, hatte sie den \u00dcbergang aus dem ersten Thema in das zweite gar nicht bemerkt, konnte sich aber noch an den Stoff des ersten Themas erinnern. Ich betone, da\u00df nicht etwa das erste Thema erledigt war, und sich nun irgendein anderes aktuell bedingtes anschlo\u00df; man merkte vielmehr deutlich, da\u00df der Flu\u00df der Erz\u00e4hlung unvermittelt abri\u00df (der Satz war gar nicht vollendet), da\u00df dann eine kurze Pause eintrat, nach welcher das zweite Thema aufgenommen wurde. Koch ein zweites Mal konstatierte ich das gleiche Ph\u00e4nomen, wobei das Umbiegen des einen Themas in das andere noch nicht einmal durch eine den Abri\u00df der ersten Gedankenreife markierenden Pause gekennzeichnet war; ganz unvermittelt m\u00fcndete ihre Erz\u00e4hlung, die mit dem Bericht \u00fcber die letztvergangene Kaeht begann, in eine Schilderung der fr\u00fcheren Erkrankung ihres Kindes. Dabei vermochte sie meine Frage, weshalb sie mir das erz\u00e4hle, nicht zu beantworten, hatte augenscheinlich auch das Anfangs-thema unseres Gespr\u00e4ches vergessen.\u201d\nWir wollen noch einen zweiten, sehr interessanten Fall heranziehen.\nPatient, 32j\u00e4hriger Ingenieur.\nM\u00e4\u00dfige Akinese, rechts st\u00e4rker als links; rechts auch gelegentliches Zittern. Bechts deutlicher Bigor. Auffallend langsame Pupillenreaktion.\nDer Fall ist haupts\u00e4chlich deshalb bemerkenswert, weil Patient infolge seiner halbseitigen motorischen St\u00f6rung selbst deren beide Komponenten unterschied: Er habe das Gef\u00fchl, ,,stumpfer\u201d geworden zu sein. \u201eWo ist meine fr\u00fchere Lebenslust geblieben? Fr\u00fcher wollte ich B\u00e4ume ausrei\u00dfen, jetzt langts nicht mal zu einem Haar.\u201c Er interessiere sich mehr aus \u201ePflicht\u201d f\u00fcr seinen Beruf, w\u00e4hrend er fr\u00fcher seine Freude an der Bet\u00e4tigung gehabt h\u00e4tte. \u201eWenn ich einen Auftrag bekommen hatte, so lie\u00df er mir","page":1158},{"file":"p1159.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1159\ntags und nachts keine Ruhe, bis ich ihn ausgearbeitet hatte, jetzt bleibt alles liegen und man mu\u00df mich dr\u00e4ngen, da\u00df ich daran gehe\u201d. \u201eEs w\u00e4re mir am liebsten, wenn man mir meine T\u00e4tigkeit ganz genau vorschrieb, damit ich mich nicht selbst entschlie\u00dfen mu\u00df.\u201d \u201eIch mache alles, aber ohne Lus t.\u201d Sexuelle Bed\u00fcrfnisse, die bei ihm fr\u00fcher eine gro\u00dfe Rolle spielten, stellte er ganz in Abrede. Wenn er in weiblicher Gesellschaft sei, lasse ihn das jetzt \u201eganz kalt\u201d. Neben diesem \u201eStumpfsinn\u201d als Ursache dieser mangelnden Aktivit\u00e4t empfindet er nun deutlich die auf der rechten Seite sitzende muskul\u00e4re St\u00f6rung. \u201eWenn ich schon mal zu etwas Lust habe, so gehts mit dem rechten Arm doch nicht.\u201d Er hat sich infolgedessen auch angew\u00f6hnt, eine ganze Anzahl von Hantierungen links zu machen; \u201eda brauche ich wenigstens nicht auch auf den Arm achtzugeben.\nEr gibt selbst eine \u00fcberaus treffende Analyse seiner Merkst\u00f6rung: \u201eM irist alles gleich, darum bleibt nichts sitzen.\u201d Er empfindet eine Leere des Kopfes. \u201eFr\u00fcher konnte ich zehn Sachen auf einmal denken, jetzt gehts \u00fcberhaupt nicht voran.\u201d Er mu\u00df sich immer wieder klarmachen, wor\u00fcber er denn denken will, sonst \u201estehts\u201d einfach still. Er k\u00f6nne seine Ingenieurarbeiten nur ganz mechanisch verrichten, sei ganz au\u00dferstande, etwas Neues zu erfinden. Es fallen ihm immer nur die alten Skizzen ein. Wenn er versucht, neue Wege zu gehen, so zeichne und berechne er wohl, merke aber dann pl\u00f6tzlich, da\u00df er irgendeinen sehr wichtigen Bestandteil vergessen habe, so da\u00df er von vorne anfangen m\u00fcsse.\nDiese Einschr\u00e4nkung seiner Denkt\u00e4tigkeit trat auch objektiv zutage, insofern er im Gespr\u00e4ch wie von selbst aus dem Bereich des einmal angeschlagenen Themas heraustrat, innerhalb dieses auch kein eigenes brachte, sondern nur Tatsachen reproduzierte. Das gleiche berichteten auch seine Angeh\u00f6rigen, die ihn im Gegensatz zu fr\u00fcher \u201elangweilig\u201d fanden.\nIn diesen F\u00e4llen finden wir bei herabgesetzter Erregbarkeit f\u00fcr lustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde zun\u00e4chst eine Verlangsamung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes. Sodann tritt hier deutlich hervor eine V erarmung dieser Prozesse. Beide Patienten klagen selbst dar\u00fcber. Der erkrankte Ingenieur sagt: \u201eFr\u00fcher konnte ich zehn Sachen auf einmal denken, jetzt gehts \u00fcberhaupt nicht mehr.\nIn dem einen dieser F\u00e4lle tritt weiter ein pl\u00f6tzliches Umbiegen eines Themas in ein anderes ein, ohne da\u00df es von der Patientin bemerkt wird. Der angesponnene Gedankengang bricht pl\u00f6tzlich ab und an seine Stelle treten \u00c4u\u00dferungen, welche durch auf getretene Sinneseindr\u00fccke veranla\u00dft sind; im Fall des an \u00e4hnlicher Erkrankung leidenden Ingenieurs h\u00f6ren wir, da\u00df, wenn\n76*","page":1159},{"file":"p1160.txt","language":"de","ocr_de":"1160\nG-. St\u00f6rring\ner ihm gestellte Aufgaben l\u00f6sen will, er in einem fort den Faden verliert: \u201eer mu\u00df sich immer wieder klar machen, woran er denkt.\u201d In beiden F\u00e4llen liegt also eine pathologische Herabsetzung des unmittelbaren Behaltens vor.\nSodann ist auch das mittelbare Behalten gest\u00f6rt. Die in Bede stehende Patientin vermochte auf die Frage des Arztes, warum sie ihm dies erz\u00e4hle, nicht zu antworten, sie verga\u00df das Anfangsthema. \u00c4hnliches tritt bei dem Ingenieur auf, wenn er mit L\u00f6sung von Aufgaben besch\u00e4ftigt ist.\nF\u00fcr diese Erscheinungen ist mit sehr gro\u00dfer Wahrscheinlichkeit jedenfalls in der Hauptsache die vorliegende Herabsetzung der Erregbarkeit f\u00fcr lustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde verantwortlich zu machen.\nHier sind aber dieselben Erscheinungen aufgetreten wie bei der Entwicklung einer pathologischen unlustartigen Stimmung passiven Charakters. Auch dort fanden wir Verlangsamung und Verarmung des Vorstellungs- und Gedankenverlaufes und Herabsetzung der Funktionen des unmittelbaren und mittelbaren Behaltens. Wir w\u00fcrden demnach sagen k\u00f6nnen, da\u00df eine Steigerung der Erregbarkeit f\u00fcr lustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde die entgegengesetzten Wirkungen auf den Vorstellung s-und Gedanken verlauf hat, wie eine Steigerung der Erregbarkeit f\u00fcr unlustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nVon vornherein ist dieser Antagonismus der Wirkung lu stund unlustartiger Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf den Vorstellungs- und Gedankenverlauf nach diesen vier verschiedenen Bichtungen ja auch wahrscheinlich, aber die antagonistischen Wirkungen in diesen verschiedenen Punkten sind nat\u00fcrlich nicht selbstverst\u00e4ndlich. \u2014\nWir haben bis jetzt den quantitativ-zeitlichen Einflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf den Vorstellungs- und Gedankenverlauf besprochen und sodann den qualitativen Einflu\u00df, soweit er negativen Charakter hat.\nWir gehen jetzt zur Besprechung des positiven qualitativen Einflusses der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf den Vorstellungs- undGedankenverlauf \u00fcber.\nEine Patientin m. B., die an einem akuten Verwirrtheitszustand mit starken Angstgef\u00fchlen litt, \u00e4u\u00dferte in einem ihrer Angstzust\u00e4nde schnell hintereinander folgendes:\n\u201eWas habe ich denn nur begangen?\nWas habe ich denn nur gemacht ?\nWen habe ich denn lassen eingehen ?\n\u2019s ist ja Feier, Trauertag, der Knabe ist ja blind.\u201d","page":1160},{"file":"p1161.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1161\nDie hier aufeinanderfolgenden Reproduktionen von Gedanken haben inhaltlich nichts miteinander zu tun. In einem Punkte stimmen sie \u00fcberein: alle verbinden sich mit einem Angstgef\u00fchl. Die Aufeinanderfolge wird uns nur verst\u00e4ndlich, wenn wir annehmen, da\u00df der vorhandene Angstzustand der Patientin reproduzierend gewirkt hat auf diese \u00e4ngstlichen Gedanken.\n\u00c4hnliche Tatbest\u00e4nde treten uns sehr h\u00e4ufig im pathologischen Seelenleben, wo die Affekte eine st\u00e4rkere Intensit\u00e4t haben, hervor; so sehen wir bei Patienten mit melancholischer Verstimmung, da\u00df von ihren Erlebnissen fast ausschlie\u00dflich diejenigen reproduziert werden, die sich selbst mit depressiven Gef\u00fchlszust\u00e4nden verbunden haben. Dieselbe Erscheinung tritt bei Kranken mit mi\u00dftrauischer Verstimmung hervor. Bei krankhaft mi\u00dftrauischer Deutung eines komplexen Tatbestandes, welcher etwa der j\u00fcngsten Vergangenheit angeh\u00f6rt, werden nur diejenigen Z\u00fcge reproduziert, welche der mi\u00dftrauischen Verstimmung wieder Nahrung geben, d. h. die so beschaffen sind, da\u00df der Gedanke an sie sich selbst wieder mit einem mi\u00dftrauischen Gef\u00fchlszustand verbindet; dagegen solche Seiten des komplexen Tatbestandes, die keine mi\u00dftrauische Deutung zulassen, treten in der Reproduktion meist gar nicht auf.\nAus psychopathologischen Tatsache n ergibt sich somit eindeutig, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf den inhaltlichen Verlauf der Vorstellungen und Gedanken einen bestimmenden Einflu\u00df aus\u00fcben k\u00f6nnen. Einige psychologische Autoren haben, obgleich sie sich nicht auf psychopatho-logische Tatbest\u00e4nde st\u00fctzten, die Behauptung aufgestellt, da\u00df alle Reproduktionen von Vorstellungen und Gedanken inhaltlich durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde bestimmt seien. Da schie\u00dft man \u00fcber das Ziel sehr weit hinaus. Die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten, welche man festgestellt hat beim Auswendiglernen sinnloser Silben, k\u00f6nnen nicht als gesetzm\u00e4\u00dfige Beziehungen zwischen Gef\u00fchlszust\u00e4nden aufgefa\u00dft werden, welche sich mit den einzelnen sinnlosen Silben verbinden ! Und wenn wir sinnvolles Material ins Auge fassen, so k\u00f6nnen auch f\u00fcr seine Reproduktionen nicht nur Gef\u00fchlszust\u00e4nde verantwortlich gemacht werden, welche die einzelnen Vorstellungen und Gedanken begleiten. Die Gef\u00fchlszust\u00e4nde stellen allerdings gro\u00dfe qualitative Differenzen dar, in der Hauptsache durch Differenzen der Kombinationen von Organempfindungen bedingt -\u2014aber diese Differenzen sind doch nicht so gro\u00df wie die Differenzen des entsprechenden intellektuellen Materials; das ist schon durch die Verschmelzung der Organempfindungen bedingt : wenn der Dozent ins Auditorium hineinsieht, so hat er es mit scharf","page":1161},{"file":"p1162.txt","language":"de","ocr_de":"1162\nG-. St\u00f6rring\nvoneinander geschiedenen Komplexen von Gesichtswahrneh-mnngen zn tun, w\u00e4hrend sich in seinen Gef\u00fchlszust\u00e4nden Ganze darbieten, deren Komponenten sich schwer und unvollst\u00e4ndig ans dem entsprechenden Ganzen des Gef\u00fchlsznstandes heransholen lassen.\nIn dem hier vorliegenden Fall gilt nicht von der Wirkung psychischer Tatbest\u00e4nde von schwacher und mittlerer Intensit\u00e4t, was von der Wirkung dieser Tatbest\u00e4nde bei starker und sehr starker Intensit\u00e4t Geltung hat. Es gilt nur f\u00fcr starke oder sehr starke Gef\u00fchlszust\u00e4nde, da\u00df sie inhaltlich den Vorstellung s- und Gedankenverlauf bestimmen, aber nicht f\u00fcr Gef\u00fchlszust\u00e4nde mittlerer und schwacher Intensit\u00e4t. Das kann befremdlich erscheinen, besonders wo wir bei Verwendung psycho-pathologischer Tatbest\u00e4nde f\u00fcr Feststellung von Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten des normalen Seelenlebens au\u00dfer anderem sagen, da\u00df im pathologischen Seelenleben die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten deutlicher heraustreten, da wie dort psychische Tatbest\u00e4nde bei pathologisch starker Intensit\u00e4t in ihren Wirkungen und Ursachen leichter verfolgen k\u00f6nnen ! Hier nehmen wir doch f\u00fcr die st\u00e4rkeren Intensit\u00e4ten dieselbe Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit an wie f\u00fcr die schw\u00e4cheren !\nWas ist dazu methodologisch zu sagen?\nDie Schwierigkeit l\u00f6st sich so, da\u00df hier bei schwachen und mittelstarken Gef\u00fchlszust\u00e4nden Komplikationen auftrete n, welche bei sehr starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden nicht vorhanden sind: schwache und mittelstarke Gef\u00fchlszust\u00e4nde \u00e4hnlicher Qualit\u00e4t treten im psychischen Leben relativ h\u00e4ufig im Anschlu\u00df an verschiedene Vorstellungen und Gedanken auf, so da\u00df beim Vorhandensein von Gef\u00fchlszust\u00e4nden schwacher und mittelstarker Intensit\u00e4t sich Hemmungen f\u00fcr die Kepro-duktion der entsprechenden intellektuellen Vorg\u00e4nge entwickeln, w\u00e4hrend sehr starke Gef\u00fchlszust\u00e4nde relativ selten aufterten, so da\u00df diese als Beproduktionstendenzen relativ wenig unter Hemmungen, \u201ereproduktiven\u201d Hemmungen, zu leiden haben.\nBei schwachen und starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden macht sich also dieselbe Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit geltend wie bei sehr starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden, nur wird das In-die-Er s chei-nung-Treten dieser Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit durch Komplikationen verhindert, welche entgegengesetzt wirken!","page":1162},{"file":"p1163.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1163\nII. Derivative Hemmungs Wirkungen von\nGef\u00fchlszust\u00e4nden.\nGef\u00fchlszust\u00e4nde weisen nach dem psychopathologischen Material nicht blo\u00df Repro duktions Wirkungen auf, sondern auch Hemmnngswirknngen.\nIch bespreche hier nicht diejenigen Hemmungsprozesse, welche eine Kehrseite der Reproduktionen darstellen: Wenn mehrere Reproduktionen miteinander konkurrieren und eine derselben sich realisiert auf Kosten einer anderen, so sagen wir von dieser anderen, da\u00df sie gehemmt wird. Diese Art der Hemmung ist zum Reproduktionsverlauf der Vorstellungen und Gedanken zu rechnen.\nHier besprechen wir Hemmungsprozesse, die unmittelbar auf das Konto von Gef\u00fchlszust\u00e4nden zu setzen sind.\nIch gebe einen Fall von der Wirkung eines Angstzustandes in einem epileptischen \u00c4quivalent.\nEin gebildeter Kranker meiner Beobachtung (Jurist), der an Anf\u00e4llen von Angst litt, die als epileptische \u00c4quivalente anzusehen waren, sagte mir wiederholt, da\u00df in einem solchen Zustande sein Bewu\u00dftsein ganz eingenommen sei von dem Gedanken an seine Atembeklemmung, infolgedessen er dann den unwiderstehlichen Drang empfinde, davonzulaufen. Dabei stand also im Vordergrund seines Bewu\u00dftseins der Gedanke an die Atembeklemmung.\nDer abnorm starke Angstzustand mit Atembeklemmung nimmt hier die im Moment disponible psychophysische Energie so in Anspruch, da\u00df im \u00fcbrigen nur noch der unwiderstehliche Drang empfunden wird, davon zu laufen. F\u00fcr andere psychische Leistungen bleibt keine Energie mehr \u00fcbrig.\nIch nenne diese unmittelbar durch die in den Gef\u00fchlszust\u00e4nden repr\u00e4sentierte psychophysische Energie ausgel\u00f6ste Hemmung eine derivative Hemmung. Es liegt hier, wue man sieht, eine Hemmung vor, die zustande kommt ohne Interferenzwirkung.\nUm dieselbe physiologisch verst\u00e4ndlich zu machen, m\u00f6chte ich auf die elementare Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit rekurrieren, da\u00df beim Auftreten des Funktionierens eines Organs dasselbe auf Grund vasomotorischer Einfl\u00fcsse eine st\u00e4rkere Versorgung mit Blut erh\u00e4lt, das nat\u00fcrlich nicht funktionierenden Partien entzogen wird. Hier kommen nicht funktionierende Partien des Gro\u00dfhirnes in Frage; ihre Funktion ist dann derivativ gehemmt.\nAls einen besonderen Fall derivativer Hemmung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden fasse ich die Verdr\u00e4ngung von Vorstellung^- und Gedankenkomplexen durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf.","page":1163},{"file":"p1164.txt","language":"de","ocr_de":"1164\nG. St\u00f6rring\nIII. Verdr\u00e4ng un g von Vorstellung s- nnd Gedankenkomplexen dnrcli Gef\u00fchlszust\u00e2nde.\n1. Die eminent wichtige Tatsache der Verdr\u00e4ngung von Vor-stellungs- nnd Gedankenkomplexen durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde ist zuerst durch Breuer und Freud auf gedeckt.\nEine an eitriger Rhinitis leidende Kranke wurde wegen subjektiver Geruchsempfindungen, durch die sie sehr stark bel\u00e4stigt wurde, von einem Spezialarzt f\u00fcr Nasenleiden dem Nervenarzt \u00fcberwiesen. Die betreffenden Geruchsempfindungen waren mit peinlichen Gef\u00fchlen verbunden, welche auf einen anderweitig psychisch bedingten Ursprung hinwiesen. Die Geruchsempfindungen selbst wurden bestimmt als die von verbrannter Mehlspeise.\nIm Zustand der Hypnose wurde nun die \u00c4tiologie dieses Ph\u00e4nomens festzustellen gesucht. Auf die Frage, ob sie sich erinnere, bei welchem Anla\u00df die Geruchsempfindung der verbrannten Mehlspeise entstanden sei, gab Patientin folgende Auskunft: ,,Es war vor ungef\u00e4hr zwei Monaten, zwei Tage vor meinem Geburtstage. Ich war mit den Kindern im Schulzimmer (Patientin ist Gouvernante) und spielte mit ihnen (zwei M\u00e4dchen) Kochen, da wurde ein Brief hereingebracht, den der Brieftr\u00e4ger eben abgegeben hatte. Ich erkannte an Handschrift und Poststempel, da\u00df der Brief von meiner Mutter in Glasgow sei, wollte ihn \u00f6ffnen und lesen. Da kamen die Kinder auf mich losgest\u00fcrzt, rissen mir den Brief aus der Hand und riefen: Nein, Du darfst ihn jetzt nicht lesen, er ist gewi\u00df f\u00fcr Deinen Geburtstag, wir werden ihn Dir aufheben.\nW\u00e4hrend die Kinder so um mich spielten, verbreitete sich pl\u00f6tzlich ein intensiver Geruch. Die Kinder hatten die Mehlspeise, die sie kochten, im Stich gelassen, und die war angebrannt. Seit damals verfolgt mich dieser Geruch, er ist eigentlich immer da und wird st\u00e4rker bei Aufregung\u201d. ,Sie sehen diese Szene deutlich vor sich?\u2019 \u2014 \u201eGreifbar, wie ich sie erlebt habe.\u201d ,Was konnte Sie daran so aufregend \u2014 ,,Es r\u00fchrte mich, da\u00df die Kinder so z\u00e4rtlich gegen mich waren. . . ; Ich hatte n\u00e4mlich die Absicht, zu meiner Mutter zu reisen, und da fiel es mir so schwer aufs Herz, diese lieben Kinder zu verlassen.\u201d Hausgenossinnen hatten n\u00e4mlich gegen sie intrigiert, deshalb hatte sie dem Vater der Kinder ihre Demission angeboten, worauf ihr geantwortet war, sie m\u00f6chte sich doch die Angelegenheit noch zwei Wochen \u00fcberlegen, ehe sie sich definitiv entscheide. In dieser Zeit der Schwebe war sie damals.\nFreud bemerkt dazu (1. c. S. 98): ,,So schien denn die Analyse der subjektiven Geruchsempfindung vollendet; dieselbe war in der Tat dereinst eine objektive gewesen, und zwar innig assoziiert","page":1164},{"file":"p1165.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1165\nmit einem Erlebnis, einer kleinen Szene, in welchem widerstreitende Affekte einander entgegengetreten waren, das Bedanern, diese Kinder zn verlassen nnd die Kr\u00e4nkungen, welche sie doch zn diesem Entschl\u00fcsse dr\u00e4ngten.\nDer Brief der Mutter hatte sie begreiflicherweise an die Motive zu diesem Entschlu\u00df erinnert, da sie von hier zu ihrer Mutter zu gehen gedachte. Der Konflikt der Affekte hatte den Moment zum Trauma erhoben, und als Symbol des Traumas war ihr die damit verbundene Geruchsempfindung geblieben. Es bedurfte noch der Erkl\u00e4rung daf\u00fcr, da\u00df sie von all den sinnlichen Wahrnehmungen jener Szene gerade den einen Geruch zum Symbol gew\u00e4hlt hatte. Ich war aber schon darauf vorbereitet, die chronische Erkrankung ihrer K\u00e4se f\u00fcr diese Erkl\u00e4rung zu verwerten. Auf mein direktes Fragen gab sie auch an, sie h\u00e4tte gerade zu dieser Zeit wieder an einem so heftigen Schnupfen gelitten, da\u00df sie kaum etwas roch. Den Geruch der verbrannten Mehlspeise nahm sie aber in ihrer Erregung doch wahr.\u201d Eines blieb jetzt dem Exploranten noch r\u00e4tselhaft. Es fragte sich, warum das Ganze nicht ,auf dem Boden des normalen psychischen Lebens\u2019 blieb, warum sie sich nicht best\u00e4ndig an die Szene selbst erinnerte, ,anstatt an die mit ihr verkn\u00fcpfte Sensation, die sie als Symbol f\u00fcr die Erinnerung bevorzugte?\u2019 Es handelte sich doch nicht um eine alte Hysterika, sondern um eine durch dieses psychische Trauma erworbene Hysterie. Kun war ihm aus der Analyse \u00e4hnlicher F\u00e4lle bekannt, \u201eda\u00df, wo Hysterie neu akquiriert werden soll, eine psychische Bedeutung hierf\u00fcr unerl\u00e4\u00dflich ist, n\u00e4mlich, da\u00df eine Vorstellung absichtlich aus dem Bewu\u00dftsein verdr\u00e4ngt, von der assoziativen Verarbeitung ausgeschlossen werde.\u201d\nDie weitere Exploration in der Hypnose ergab auf direktes Befragen, da\u00df Patientin zu Zeiten die Hoffnung gen\u00e4hrt hatte, bei den Kindern die Stelle der Mutter einzunehmen.\nDieser Gedanke war ihr aber in letzter Zeit vollst\u00e4ndig entschwunden gewesen, nachdem sie sich einige Zeit denselben aus dem Kopf zu schlagen bem\u00fcht hatte, weil es ihr peinlich war, Keigung gegen einen Mann zu hegen, in dessen Dienst sie stand.\nSo war diese Vorstellung von ihrem Bewu\u00dftsein abgespalten, wirkte aber doch in demselben in der affektbetonten Geruchsempfindung nach.\nIn jener absichtlichen Verdr\u00e4ngung der Vorstellung erblickt Freud die Ursache f\u00fcr das, was er \u201eKonversion der Erregungssumme\u201d nennt. Die Erregungssumme, die nicht in psychische Assoziation treten soll, findet, sagt er, \u201eum so eher den falschen Weg zu einer k\u00f6rperlichen Innervation. Grund der Verdr\u00e4ngung selbst konnte aber nur eine Unlustempfindung sein, die Unvertr\u00e4glichkeit der einen zu verdr\u00e4ngenden Idee mit der herrschenden","page":1165},{"file":"p1166.txt","language":"de","ocr_de":"1166\nG-. St\u00f6rring\nVorstellungsmasse des Ich. Die verdr\u00e4ngte Vorstellung aber r\u00e4cht sich dadurch, da\u00df sie pathogen wird\u201d (1. c. S. 99). Unter Konversion versteht der Autor also \u201eUmsetzung psychischer Erregung in k\u00f6rperliche Dauersymptome\u201d.\n2.\tFreud gibt von solcher Verdr\u00e4ngung in folgender Weise Rechenschaft: \u201eEine Wunscherregung tritt in Gegensatz zu den sonstigen W\u00fcnschen des Individuums, ist unvertr\u00e4glich mit den ethischen, \u00e4sthetischen usw. Anspr\u00fcchen des Individuums.\u201d Es entsteht ein innerer K\u00e4mpf, dessen Resultat ist \u201eVerdr\u00e4ngung des Tr\u00e4gers des mit unseren Grundbestrebungen unvereinbaren Wunsches\u201d. Die Verdr\u00e4ngung dieses unvereinbaren Wunsches geschieht nach Freud durch einen Akt unseres Willens. Die verdr\u00e4ngte Vorstellung kann au\u00dfer k\u00f6rperlichen Dauersymptomen zustande bringen \u201epsychische Ersatzbildungen\u201d und psychische Hemmungserscheinungen, Hemmungserscheinungen, wie sie z. B. bei der erw\u00e4hnten Patientin auf treten, Ersatzbildungen in Gestalt von Vorstellungen, welche der verdr\u00e4ngten Vorstellung \u00e4hnlich sind. Die verdr\u00e4ngte Vorstellung wirkt auf das Bewu\u00dftsein durch Vermittlung unbewu\u00dfter Reflexionen (!), unbewu\u00dfter Willens akte (!).\n3.\tWas nun die Erkl\u00e4rung der Verdr\u00e4ngung betrifft \u2014 auf die Erkl\u00e4rung der Nachwirkungen kommen wir erst sp\u00e4ter zu sprechen \u2014 so kann ich zur Erkl\u00e4rung der Verdr\u00e4ngung nicht den Willen, das Erlebnis zu vergessen, in Anspruch nehmen. Man begreift nicht, wie der Wille diese Wirkung zustande bringen kann. Der Wille kann f\u00fcr den Augenblick ein Verdr\u00e4ngen aus dem Bewu\u00dftsein durch anderweitige Konzentration erzeugen, aber nicht eine dauernde Verdr\u00e4ngung. Das liefe auf das Rezept hinaus, welches Kant sich verschrieb, als er unter dem Gedanken an die Treulosigkeit seines jahrelangen Dieners litt: \u201eLampe soll vergessen werden.\u201d\nDie Erkl\u00e4rung der Verdr\u00e4ngung habe ich im engsten Anschlu\u00df an die gegebenen Tatbest\u00e4nde in folgender Weise vollzogen1).\nWenn wir uns die konkreten Verh\u00e4ltnisse, wie sie bei der Hysterie gegeben sind, genau ansehen, wird sich das R\u00e4tsel l\u00f6sen. Wir m\u00fcssen uns daran erinnern, da\u00df bei dieser Erkrankung die reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nde von abnormer Intensit\u00e4t und abnorm leicht ausl\u00f6sbar sind, weil abnorme emotionelle Labilit\u00e4t besteht. Deshalb werden die reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nde in starker Intensit\u00e4t schon von Vorstellungen aus, die eben erst anklingen, ausgel\u00f6st werden k\u00f6nnen. Starke Gef\u00fchlszust\u00e4nde, Affekte, wirken aber bekannterweise hemmend auf die Reproduktion von Vorstellungen (wie sie das anfangen, hat sich bereits ergeben). Diese Hemmung betrifft allerdings, wie sich\n1) St\u00f6rring Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. 1900. S. 230 ff.","page":1166},{"file":"p1167.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1167\nzeigen wird, zun\u00e4chst nur Vorstellungen, die mit dem Affekt in keiner Beziehung stehen, bei weiterer Steigerung desselben aber nimmt derselbe immer ausschlie\u00dflicher das Bewu\u00dftsein ein nnd hemmt auch die mit ihm in naher Beziehung-stehenden Vorstellungen und Gedanken. Man sieht also: wenn von einer eben anklingenden Vorstellung schon ein Affekt aus gel\u00f6st wird, der eine st\u00e4rkere Intensit\u00e4t hat, so ist zu verstehen, wie derselbe das deutliche und klare Hervortreten selbst derjenigen Vorstellung und Gedanken hemmen kann, durch die er ausgel\u00f6st worden ist1). Man kann deshalb von einer Hemmung dieser Vorstellungen und Gedanken in statu nascendi sprechen.\nDiese Theorie \u00fcber die Entstehung der verdr\u00e4ngten Komplexe habe ich in meinen Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie im Anschlu\u00df an eine ausf\u00fchrliche Diskussion \u00fcber die Genesis der hysterischen F\u00e4lle von Astasie und Abasie entwickelt2).\nWenn die reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei Hysterischen in der besprochenen Weise wirken k\u00f6nnen, dann m\u00fcssen sie nat\u00fcrlich auch imstande sein, unter gewissen Bedingungen die Beproduktion von irgendwelchen willk\u00fcrlichen Bewegungen entsprechenden Bewegungsvorstellungen, hier die auf das Stehen und Gehen bez\u00fcglichen, zu hemmen. Das w\u00fcrde aber dann der Fall sein, wenn diese Bewegungsvorstellungen mit st\u00e4rkeren Gef\u00fchlszust\u00e4nden eine innige assoziative Verbindung eingegangen sind. Die liegt aber in den in Betracht kommenden F\u00e4llen von hysterischer Astasie und Abasie vor.\nDas Anklingen der bez\u00fcglichen Bewegungsvorstellungen w\u00fcrde also einen hemmenden reproduzierten Gef\u00fchlszustand ausl\u00f6sen.\nWerden Bewegungen intendiert, die eine fortlaufende Beihe von Beproduktionen von Bewegungsvorstellungen voraussetzen, so erkl\u00e4rt sich nat\u00fcrlich die Hemmung der Tendenz zur Beproduktion der auf die ersten Bewegungsvorstellungen normalerweise folgenden viel einfacher \u2014 wie, ergibt sich nach dem Gesagten von selbst.\nBeg\u00fcnstigt wird das Auftreten der Verdr\u00e4ngung sodann wohl in den meisten F\u00e4llen noch dadurch, da\u00df dem zum psychischen Trauma entwickelten Erlebnis fr\u00fcher ein oder einige \u00e4hnliche Erlebnisse voran gegangen sind.\n1)\tSt\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 230 ff.\n2)\t1. c. S. 230.","page":1167},{"file":"p1168.txt","language":"de","ocr_de":"1168\nGr. St\u00f6rring\nDie fr\u00fcheren \u00e4hnlichen Erlebnisse haben jedenfalls die Anspruchsf \u00e4higkeit der bei Entstehung der betreffenden Gef\u00fchlszu-st\u00e4nde funktionierenden Zentren gesteigert.\nIch freue mich, feststellen zu k\u00f6nnen, da\u00df Bleuler, der viel psychoanalytisch gearbeitet hat, die von mir zuerst kurze Zeit nach dem Erscheinen der Arbeit von Breuer und Freud \u00fcber Hysterie gegebene Erkl\u00e4rung der Verdr\u00e4ngung von Komplexen durch eine Hemmung in statu nascendi1) akzeptiert2).\nDer eigentlichen Verdr\u00e4ngung sieht man h\u00e4ufig einen Kampf des Willens vorangehen. Dieser hat eine Steigerung der Reizbarkeit der bei Entstehung der betreffenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde funktionierenden Zentren zur Folge.\nDas Auftreten von Symptom-oder Symbolvorstellungen macht sich von meinem Standpunkt aus in der Weise verst\u00e4ndlich, da\u00df bei Anregung des Komplexes durch die intellektuelle Seite und zugleich durch die Gef\u00fchlsseite desselben ein der intellektuellen Seite \u00e4hnlicher Gedanke wachgerufen werden kann.\nIst dieser Gedanke der Gedanke einer Handlung, so kann er Anla\u00df geben zu dem, was die Freudsche Schule \u201eSymptomhandlungen\u201d nennt.\nIch kann Bleuler nicht beistimmen in der begrifflichen Charakteristik, welche er von der pathologischen Verdr\u00e4ngung von Komplexen gibt.\nBleuler3) sagt: ,,Der scheinbare Widerspruch, da\u00df Komplexe verdr\u00e4ngt und dann vom Bewu\u00dftsein aus unbeeinflu\u00dfbar seien, w\u00e4hrend sie selbst doch best\u00e4ndig unser bewu\u00dftes Denken und F\u00fchlen und Handeln beeinflussen und sogar vom Bewu\u00dftsein aus zu solchen Kundgebungen zuweilen in T\u00e4tigkeit gesetzt werden, l\u00f6st sich nur leicht. Das physiologische Prototyp ist auch hier das Beispiel vom Briefe, den ich, ohne daran zu denken, in der Tasche trage, bis ich zu einem Briefeinwurf komme, in den ich ihn werfen kann. Der ganze Gedanke an den Brief ist allerdings hier nicht als unertr\u00e4glich ,,verdr\u00e4ngt\u201d, sondern nur abgespalten, durch Besch\u00e4ftigung mit anderen Dingen ,,unter dr\u00fcckt\u201d worden. Der Unterschied ist nur ein quantitativer und in der Beziehung, worauf es hier ankommt, ganz bedeutungslos. Der Anblick des Briefeinwurfes l\u00f6st die Handlung aus, die nun automatisch oder bewu\u00dft ausgef\u00fchrt werden kann. Das Wesentliche dabei ist die Ingang-\nx) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie und ihre Bedeutung f\u00fcr die normale Psychologie. 1900: 1. c. Zeitschr. f. Pathopsych. II. 147.\n2)\tAllg. Zeitschr. f. Psych. 76. 681.\n3)\tAllg. Zeitschr. f. Psych. 76. 680.","page":1168},{"file":"p1169.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1169\nSetzung eines Apparates, der den Brief besorgen soll. Prinzipiell nicht anders ist es bei den verdr\u00e4ngten Komplexen.\u201d\nIch kann die Behauptung Bleulers nicht anerkennen, da\u00df die bezeiehnete normal-psychologische Verdr\u00e4ngung des Gedankens ein Prototyp der pathologischen Verdr\u00e4ngung derselben, von ihr nur in der Intensit\u00e4t verschieden sei.\nDieser normal-psychologische Komplex ist unbewu\u00dft nur im Sinne von physiologischen Tatbest\u00e4nden; es handelt sich aber nicht um einen Komplex, der in statu nascendi gehemmt ist und der deshalb abnorm schwer reproduzierbar ist.\nDazu wird der normal-psychologische Komplex durch die betreffende Handlung ,,abgestellt\u201d (um mich eines Ausdruckes von Bleuler zu bedienen) ; etwas \u00c4hnliches ist bei dem pathologischen Komplex nat\u00fcrlich nicht m\u00f6glich.\nUnd wenn der pathologische Komplex Handlungen betrifft, wie im Falle einer Patientin, die auf Grund ihres Komplexes unf\u00e4hig war, Wasser zu trinken, so bringt der in dem Komplex hergestellte ,,Apparat\u201d eben keine Handlungen, sondern H e m-m u n g e n derselben zustande.\n5. Kapitel.\nVerwertung der psyehopathologisehen Tatbest\u00e4nde der Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken zur Bestimmung der Rolle der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in den Fixierungsprozessen der Aufmerksamkeit.\n1. F\u00fcr die. Entwicklung des intellektuellen Lebens ist es von eminenter Wichtigkeit, da\u00df die intellektuellen Prozesse nicht nur auf Empfindungsreize hin und in Beproduktionsprozessen neben-und nacheinander ablaufen, sondern da\u00df auch die M\u00f6glichkeit der Fixierung einzelner intellektueller Tatbest\u00e4nde besteht. Eine solche Fixierung ist Bedingung der Aufmerksamkeitsvorg\u00e4nge, durch welche erm\u00f6glicht wird, eine sch\u00e4rfere Auffassung der Wahrnehmungen vor allem zustande zu bringen und sie ist Bedingung aller Denkprozesse, da die Denkprozesse wieder Aufmerksamkeitsprozesse zur Voraussetzung haben.\nAus psyehopathologisehen Tatbest\u00e4nden, wie sie gegeben sind in Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken, l\u00e4\u00dft sich schlie\u00dfen, da\u00df durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde eine Fixierung von intellektuellen Vorg\u00e4ngen zustande gebracht werden kann.\nG. Westphal definierte die Zwangsvorstellungen oder Zwangsideen in folgender Weise: \u201eZwangsideen sind solche Vorstellungen, welche gegen und wider Willen des betreffenden Menschen in den Vordergrund des Bewu\u00dftseins treten, welche sich nicht verscheuchen lassen, den normalen Ablauf der Vorstellungen hindern und durch-","page":1169},{"file":"p1170.txt","language":"de","ocr_de":"1170\nGr. St\u00f6rring\nkreuzen, welche der Befallene stets als abnorm, ihm fremdartig anerkennt nnd denen er mit seinem gesunden Bewu\u00dftsein gegen\u00fcber teilt.\u201d\nAnstatt von Zwangsideen oder Zwangsvorstellungen sollte man von Zwangs Vorstellungen und Zwangs gedanken sprechen, da zwangsm\u00e4\u00dfig von intellektuellen Tatbest\u00e4nden nicht nur einzelne Vorstellungen im Bewu\u00dftsein gegen unseren Willen fixiert werden, sondern auch Gedanken \u2014\u2022 gemeint sind Beziehungsgedanken, in denen Vorstellungen zueinander in Beziehung gesetzt werden, wie das in Urteilen, Vermutungen und Bef\u00fcrchtungen geschieht.\nZwangsvorstellungen und Zwangsgedanken kommen auch im normalen psychischen Leben vor, nur nicht in so starker Auspr\u00e4gung wie im pathologischen Seelenleben. Wenn man tags\u00fcber viel gearbeitet hat und dann am sp\u00e4ten Abend noch eine Beihe von Briefen geschrieben und die Kuverts mit den entsprechenden Aufschriften versehen hat, so kann es einem passieren, da\u00df man, nachdem man die Zuordnung der Briefe zu den Kuverts vollzogen hat, von dem Gedanken bel\u00e4stigt wird, da\u00df man vielleicht eine falsche Zuordnung vollzogen habe \u2014 auch dann, wenn diese Zuordnung mit Aufmerksamkeit vor sich gegangen ist.\nIn pathologischen F\u00e4llen sind diese Tatbest\u00e4nde sch\u00e4rfer hervortretend und in ihren Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen viel leichter zu verfolgen.\nIch gebe zun\u00e4chst nach meiner Erinnerung summarisch einen Fall meiner Beobachtung.\nEin Patient, Metzger von Beruf, wurde beim Betrieb seines Gewerbes h\u00e4ufig von dem Zwangs gedanken bel\u00e4stigt, da\u00df er mit dem Beil, das er handhabte, seine Frau und seine Kinder erschlagen k\u00f6nnte. Dieser Gedanke trug nat\u00fcrlich den Charakter einer Bef\u00fcrchtung. Er machte sich immer wieder klar, wie t\u00f6richt eine solche Bef\u00fcrchtung sei. Der Gedanke verlie\u00df ihn aber nicht, obgleich er sich sehr bem\u00fchte, denselben willensm\u00e4\u00dfig zu verdr\u00e4ngen. Er peinigte Patienten so, da\u00df derselbe sich zuletzt veranla\u00dft sah, eine psychiatrische Klinik aufzusuchen.\nIn der Klinik war zu bemerken, da\u00df moralische Vorw\u00fcrfe, welche er sich solcher und \u00e4hnlicher Gedanken wegen machte, steigernd auf die Intensit\u00e4t der Fixierung solcher Gedanken wirkten. Machte man ihm klar, da\u00df moralische Vorw\u00fcrfe dabei ganz unbegr\u00fcndet seien, so verschwanden die Selbstvorw\u00fcrfe f\u00fcr einige Zeit und damit sanken die Zwangsgedanken auf ein niedrigeres Mveau der Intensit\u00e4t herab.\nHier ist der Zwangsgedanke der Gedanke einer Handlung; deshalb verbindet sich mit diesem Gedanken zugleich ein Impuls zur Realisierung der Handlung.","page":1170},{"file":"p1171.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1171\nWir wollen uns nun mit der Behandlung der Frage besch\u00e4ftigen: Wras wirkt bei den Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken zwingend, fixierend?\nDie einen sagen: eine abnorme Intensit\u00e4t der betreffenden Vorstellungen und Gedanken, die anderen: die Affekte, insbesondere der Angstaffekt.\nDie \u00e4ltere Psychiatrie hat die Intensit\u00e4t der Vorstellungen f\u00fcr die Zwangserscheinungen verantwortlich gemacht. Das ist auch verst\u00e4ndlich. Die Vorstellungen sind psychische Gr\u00f6\u00dfen, von denen man sich sagte, da\u00df sie bestimmte physiologische Korrelate haben; mit diesen kann man rechnen. In pathologischen F\u00e4llen liegt h\u00e4ufig eine Steigerung der Erregbarkeit der Hirnzentren vor. Da ist es begreiflich, da\u00df man bei Erkl\u00e4rungen viel mit Steigerung der Intensit\u00e4t von Vorstellungen operierte. Und das um so mehr, als man mit den Gef\u00fchlszust\u00e4nden bei der Erkl\u00e4rung nichts rechtes anzufangen wu\u00dfte, w\u00e4hrend man bez\u00fcglich der Vorstellungen mit den einfachen Beproduktionsgesetzen leicht operieren konnte.\nBei den Angstaffekten, welche man bei Zwangsvorstellungen und Zwangshandlungen auftreten sieht, unterscheidet man prim\u00e4re und sekund\u00e4re. Als prim\u00e4re Angst bezeichnet man die Angst, welche etwa den betreffenden Vorstellungen oder Gedanken vorangeht. Als sekund\u00e4re Angst wird einmal diejenige Angst bezeichnet, welche sich im Kampf des Willens gegen die Bel\u00e4stigung durch den Zwang entwickelt.\nMan mu\u00df aber zwei Arten der sekund\u00e4ren Angst unterscheiden: neben der bezeichneten diejenige Angst, welche sich an den betreffenden Zwangsgedanken unmittelbar anschlie\u00dft.\nDie zuerst charakterisierte sekund\u00e4re Angst kann nat\u00fcrlich f\u00fcr die Entstehung der Zwangserscheinung nicht in Betracht gezogen werden, sie setzt ja schon die Zwangserscheinung voraus.\nWir wollen nun die Frage zu beantworten suchen, ob bei dem Proze\u00df der zwangsm\u00e4\u00dfigen Fixierung der betreffenden Vorstellungen oder Gedanken Angst als Ursache oder Mitursache anzusprechen ist. Die Beantwortung dieser Frage schlie\u00dfe ich an die Darstellung von sehr eingehend beschriebenen F\u00e4llen an.\nZun\u00e4chst wollen wir hier einen Fall von Binswanger geben1).\n,,Patientin, 65 Jahre alt, hat sich als Kind ganz normal entwickelt und war ein gesundes, junges, fr\u00f6hliches M\u00e4dchen. Aber schon bald nach ihrer Verheiratung (in ihrem 21. Lebensjahre) wurde sie von ihrem Manne mit ihrer \u00fcbertriebenen Schreckhaftigkeit geneckt. Sie war, trotzdem sie ihren Mann in seiner gesch\u00e4ftlichen T\u00e4tigkeit in vorz\u00fcglicher Weise unterst\u00fctzte, die\nx) Binswanger: Pathologie und Therapie der Neurasthenie. Jena 1896.","page":1171},{"file":"p1172.txt","language":"de","ocr_de":"1172\nG-. St\u00f6rring\nB\u00fccher f\u00fchrte, das Ladengesch\u00e4ft leitete, auffallend unselbst\u00e4ndig und entschlu\u00dfunf\u00e4hig, sobald sie aus der gewohnten und t\u00e4glich ge\u00fcbten Sph\u00e4re ihrer beruflichen und h\u00e4uslichen T\u00e4tigkeit heraus -treten sollte. Besonders aber zeigte sie eine \u00fcbertriebene \u00c4ngstlichkeit in der Pflege ihrer drei Kinder, die in den ersten Jahren ihrer Ehe rasch aufeinander folgten. Sie konnte abends vor dem Gedanken nicht einschlafen, ob die Kinder richtig gebettet seien, ob die Fenster in dem Kinderzimmer richtig verschlossen, ob die Einrichtungsgegenst\u00e4nde desselben alle an ihrem richtigen Platz w\u00e4ren und sie schlief erst ein, nachdem sie sich einige Male im Kinderzimmer von der Sachlage \u00fcberzeugt hatte. Auch sp\u00e4terhin, als die Kinder die Schule besuchten, wurde sie \u00f6fters von der Vorstellung befallen, es k\u00f6nnte den Kindern auf dem Schulwege etwas passiert sein. Sie wurde abends immer von der Sorge gequ\u00e4lt, ob auch alle Gash\u00e4hne richtig geschlossen seien. Es war ihr unm\u00f6glich, allein oder mit ihren Kindern, ohne Begleitung ihres Mannes, eine Beise zu unternehmen, da sie schon auf dem Wege zum Bahnhofe von angstvollen Vorstellungen beherrscht wurde, es w\u00fcrde ihr irgendein Ungl\u00fcck auf dieser Beise widerfahren.\nEine bestimmte Gestaltung aber gewannen diese Furcht-Vorstellungen erst in ihren sp\u00e4teren Lebensjahren nach dem Tode ihres Mannes (vor 20 Jahren), welcher sechs Jahre lang leidend gewesen und dessen Pflege sie neben allen gesch\u00e4ftlichen Sorgen und M\u00fchewaltungen zu leiten hatte. Der Schlaf der Patientin war w\u00e4hrend der Leidenszeit des Mannes vielfach gest\u00f6rt, die allgemeine \u00c4ngstlichkeit war durch den an sich berechtigten Gedanken, es w\u00fcrde die unheilbare Krankheit des Mannes bald t\u00f6dlich enden, dauernd verst\u00e4rkt worden. Als der Tod wirklich eintrat, war sie k\u00f6rperlich und geistig v\u00f6llig ersch\u00f6pft. Drei Tage nach dem Tode trat ganz pl\u00f6tzlich und unvermittelt ,,wie ein Blitz aus heiterem Himmel\u201d und ohne da\u00df eine besondere Gem\u00fctserregung vorausgegangen war, die Vorstellung auf, sie h\u00e4tte den Tod ihres Mannes verschuldet, indem sie eine Salbe, welche dem Patienten im Kacken h\u00e4tte eingerieben werden sollen, vielleicht seinem Munde nahe gebracht und ihn vergiftet habe. Sie war sich der Absurdit\u00e4t dieser Gedankenreihe vollst\u00e4ndig bewu\u00dft, konnte dieselbe aber gar nicht \u00fcberwinden.\nEin Jahr sp\u00e4ter entwickelten sich dann die Zwangsvorstellungen, welche die Kranke bis auf den heutigen Tag mit wechselnder Intensit\u00e4t beherrschen. Sie stellten sich ein, nachdem eine vielj\u00e4hrige Hausgenossin, welche die Patientin bei ihrer T\u00e4tigkeit treulich unterst\u00fctzt und die ihr durch ihren starken, energischen Charakter viele Entschlie\u00dfungen abgenommen hatte, schwer erkrankt war. Unsere Patientin wurde jetzt wiederum von der Vorstellung befangen, sie w\u00e4re an dieser Erkrankung schuld. Alle","page":1172},{"file":"p1173.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1173\nHaus- und Wirtschaftsgegenst\u00e4nde wurden in ihrem Geist in die engste urs\u00e4chliche Beziehung zu diesem Gedanken gebracht, z. B. sie k\u00f6nnte durch Schwefelh\u00f6lzer, Glasscherben, Kohlen, unreine E\u00df- und Trinkgeschirre, unsaubere W\u00e4sche Gift bzw. einen Infektionskeim zugetragen haben (es war damals eine Typhusepidemie in jener Stadt). Die Zwangsvorstellung erweiterte sich allm\u00e4hlich dahin, da\u00df sie \u00fcberhaupt Schaden stifte durch alle Verrichtungen. Alles, was sie erlebte, trat mit dieser Vorstellung in enge Beziehung. Am gef\u00e4hrlichsten war f\u00fcr sie der Anblick von Stecknadeln, Scheren, Messern, \u00fcberhaupt von spitzigen Gegenst\u00e4nden, weil sofort der Gedanke auftauchte, sie k\u00f6nnte mit denselben jemanden verletzen. Wenn sie ein E\u00dfgeschirr erblickte, so spann sie die Vorstellungreihe aus, sie k\u00f6nnte Gift an dasselbe gebracht haben und einer ihrer Hausgenossen k\u00f6nnte durch Benutzung desselben in Krankheit verfallen.\nSo lebte Patientin in steter Furcht und Sorge 5 wenn sich die Zwangsvorstellungen h\u00e4uften, so traten die heftigsten Angstanf\u00e4lle auf, die von der Wirbels\u00e4ule zum Brustbeine durch dr\u00e4ngen. Ein Frostgef\u00fchl befiel sie, die Glieder starben ihr ab, ein allgemeines Zittern packte sie, in ihrer Angst und Verzweiflung warf sie sich auf den Boden, brach in konvulsivisches Weinen aus und flehte den Himmel an, sie von ihren Leiden durch den Tod zu erl\u00f6sen. ,,Diese Vorstellungen sind furchtbar, das Widersinnige emp\u00f6rt mich; folge ich ihnen nicht, suche ich mit Aufbietung aller meiner Kr\u00e4fte ihnen zu entrinnen, so steigert sich die Angst nur noch mehr und ich finde sogar eine Art von Erl\u00f6sung, wenn ich wieder zu den Gedanken zur\u00fcckkehre. Ich lebe in unaufh\u00f6rlichem Kampfe, der mich gem\u00fctlich aufreibt und dem Selbstmorde nahe bringt.\u201d\nDie Zwangsvorstellungen treten, wie schon oben erw\u00e4hnt, mit sehr wechselnder Intensit\u00e4t auf. In den Zeiten k\u00f6rperlichen Wohlbefindens, besonders wenn der Nachtschlaf ausgiebig ist, vermag Patientin dieselben im Keim zu unterdr\u00fccken, indem sie ihre Aufmerksamkeit anderen Gegenst\u00e4nden zuwendet. Sie ist in diesen ruhigen Zeiten eine treffliche Hausfrau, die ihre h\u00e4uslichen und Verm\u00f6gensangelegenheiten ganz selbst\u00e4ndig verwaltet. Irgendein k\u00f6rperliches \u00dcbelbefinden aber oder gesteigerte Anforderungen an ihre Muskelt\u00e4tigkeit oder Gem\u00fctsbewegungen und geistige \u00dcberanstrengungen haben ein verst\u00e4rktes Auftreten der Zwangsvorstellungen zur Folge. Zuerst entwickelt sich, wie Patientin mit aller Bestimmtheit angibt, ein allgemeines unbestimmtes Angstgef\u00fchl und die ganz vage Vorstellung, sie h\u00e4tte irgendein Unheil angerichtet. Erst wenn dieser Zustand einige Tage angedauert hat, erfolgt ein paroxvstischer Ausbruch, in welchem die geschilderten einzelnen Zwangsvorstellungen mit\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden, Abt. VI, Teil B/II.\t77","page":1173},{"file":"p1174.txt","language":"de","ocr_de":"1174\nG-. St\u00f6rring\naller Gewalt auf sie einst\u00fcrmen und jene Zust\u00e4nde v\u00f6lliger Haltlosigkeit und Verzweiflung bedingen.\u201d\nIn diesem Fall tritt sehr deutlich krankhaft starke Angst als Ursache der krankhaft starken Fixierung gewisser Ideen hervor.\nDie Kranke leidet an einer \u201e\u00fcbertriebenen \u00c4ngstlichkeit\u201d. Ideen verbinden sich bei ihr mit aasgesprochenem Angstaffekt, die sich bei anderen Menschen nur mit einem Gef\u00fchl der Besorgnis verbinden, so der Gedanke, da\u00df die Kinder nicht richtig gebettet seien, da\u00df den Kindern auf dem Schulwege etwas passieren k\u00f6nne und \u00c4hnliches. In anderen F\u00e4llen tritt Angst auf, wo sie sich bei anderen Menschen nicht einstellt, so bei dem Gedanken, da\u00df ihr bei einer bevorstehenden Beise ein Ungl\u00fcck widerfahren k\u00f6nne, da\u00df sie den Tod ihres Mannes beim Einreiben einer Salbe durch eine in Wirklichkeit blo\u00df gedachte zuf\u00e4llige Applikation derselben an den Mund herbeigef\u00fchrt haben k\u00f6nnte, da\u00df sie Gift an ein E\u00df-geschirr bringen und damit die Hausgenossen vergiften k\u00f6nne, da\u00df sie mit Stecknadeln, Scheren, Messern usw. Unheil anrichten k\u00f6nne u. dgl.\nSie wird von diesen Gedanken bel\u00e4stigt, sie kann dieselben, wenn sie ihr einmal gekommen sind, nicht wieder los werden.\nWovon h\u00e4ngt nun diese abnorm zwangsm\u00e4\u00dfige Fixierung bei ihr ab? Es l\u00e4\u00dft sich daf\u00fcr hier kein anderes Moment verantwortlich machen, als die abnorm starken Angstgef\u00fchle, die a u s einer abnormen Disposition zur Erzeugung derselben hervorgehen. Es sind nicht etwa bestimmte Vorstellungen von dem und dem Inhalt, die sich etwa auf Grund ihrer \u201eabnorm starken Intensit\u00e4t\u201d zwangsm\u00e4\u00dfig aufdr\u00e4ngten, die Inhalte der fixierten Ideen sind durchaus wechselnde, gemeinsam ist denselben nur, da\u00df sie sich mit einem Angstaffekt verbinden \u2014 und zwar mit einem Angstaffekt auf Grundlage einer abnormen Disposition zur Erzeugung desselben. Mit dieser Disposition \u00e4ndert sich die H\u00e4ufigkeit des Auftretens der Zwangsvorstellungen : ein verst\u00e4rktes Auftreten der Zwangsvorstellungen tritt allemal dann ein, wenn durch k\u00f6rperliches \u00dcbelbefinden oder durch \u201egesteigerte Anforderungen an ihre M u s k e 11 \u00e4 t i g k e i t oder Gem\u00fctsbewegungen und geistige \u00dcberanstrengungen\u201d ein \u201eallgemeines unbestimmtes Angstgef\u00fchl\u201d zur Entwicklung gekommen ist. \u201eErst wenn dieser Zustand einige Tage angedauert hat, erfolgt ein paroxystischer Ausbruch, in welchem die geschilderten einzelnen Zwangsvorstellungen mit aller Gewalt auf sie einst\u00fcrmen.\u201d","page":1174},{"file":"p1175.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1175\nWenn ein solch allgemeines nnbestimmtes Angstgef\u00fchl sich entwickelt hat, m\u00fcssen nat\u00fcrlich die einzelnen Angstgef\u00fchle, die sich an konkrete Gedanken anschlie\u00dfen, eine noch st\u00e4rkere Intensit\u00e4t annehmen als vorher, nnd es mu\u00df h\u00e4ufiger zur Ansbildnng von Angstaffekten kommen.\nIch bemerke \u00fcbrigens nebenbei, da\u00df sich hier alle drei Arten der Angst finden, die wir bei Zwangsvorstellungen nnd Zwangsgedanken als m\u00f6glicherweise gegeben nnterschieden hatten : als prim\u00e4re Angst ein nnbestimmtes allgemeines Angstgef\u00fchl, sodann eine sekund\u00e4re Angst, die sich mit dem betreffenden Gedanken direkt verbindet nnd zuletzt eine zweite Art sekund\u00e4rer Angst derart, da\u00df sie erst auftritt nach der Fixierung und zwar dann, wenn die Kranke sich von den bel\u00e4stigenden Gedanken zu befreien sucht.\nSo wie hier die Angst als Ursache der Zwangsgedanken hervortritt, so l\u00e4\u00dft sie sich auch in einer gro\u00dfen Reihe anderer F\u00e4lle mit Bestimmtheit als Ursache der zwangsm\u00e4\u00dfigen Fixierung nachweisen.\nWir haben nun also die Tatsache festgelegt, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf Vorstellungen und Gedanken fixierend wirken k\u00f6nnen, und zwar besonders auf Grund der zuerst von mir gemachten Feststellung, da\u00df, wo bei den Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken die fixierten Vorstellungen und Gedanken im Laufe des Zwangsgeschehens sich \u00e4ndern, die Fixierung immer solche Vorstellungen und Gedanken trifft, welche von Angstaffekten begleitet sind1). Es hat sich uns sodann gezeigt, da\u00df bei den Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken auch die gesteigerte Dauer der Fixierung und die gesteigerte H\u00e4ufigkeit des Wiederauftretens durch Wirkung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde verst\u00e4ndlich wird. Wir wollen besonders unterstreichen, da\u00df durch die Wirkung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch das Mittelglied der durch die Gef\u00fchlszust\u00e4nde erzeugten Stimmung die H\u00e4ufigkeit des Wiederauftretens der Zwangsgedanken verst\u00e4ndlich wird, indem wir mit causae verae arbeiten, uns an die gegebenen Tatsachen halten und eine bekannte Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit verwerten. Die gesteigerte Dauer der Fixierung lie\u00dfe sich ja auch durch die Annahme der Gegner verst\u00e4ndlich machen, da\u00df hier eine gesteigerte Intensit\u00e4t der Vorstellungen und Gedanken das Wirksame ist.\nVielleicht k\u00f6nnen wir aber einen Schritt weitergehen und die fixierende Wirkung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde nicht einfach als\n1) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 306, 406, 407.\n77*","page":1175},{"file":"p1176.txt","language":"de","ocr_de":"1176\nG-. St\u00f6rring\nTatsache hinnehmen, sondern selbst wieder ableiten. Die intellektuellen Unterlagen des Affektes und der Affekt selbst sind nat\u00fcrlich Vorg\u00e4nge und die intellektuelle Unterlage hat den Affektzustand ausgel\u00f6st. ISTun l\u00e4uft die intellektuelle Unterlage schneller ab als der Affektzustand. Der Affektzustand tendiert aber dazu, intellektuelle Vorg\u00e4nge zu reproduzieren, die sich selbst wieder mit einem \u00e4hnlichen Affekt verbinden. Also wird von dem Affektzustand aus seine eigene intellektuelle Unterlage wieder reproduktiv angeregt und diese l\u00f6st wieder einen Affektzustand gleicher Art aus. Wir w\u00fcrden es hier dann in diesem Fixierungsproze\u00df mit der Wirkung eines Dynamoprinzips zu tun haben. \u2014\nBei unserer Festlegung der Tatsache, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde fixierend auf Vorstellungen und Gedanken wirken k\u00f6nnen, haben wir \u2014 methodologisch betrachtet \u2014 einen Schlu\u00df nach der Induktionsmethode der \u00dcbereinstimmung gemacht: Jedenfalls bei einer ganzen Gruppe von Erkrankungen an Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken stimmen alle Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken darin \u00fcberein, da\u00df dabei ein Angstaffektzustand vorliegt, der durch die betreffende Vorstellung, den betreffenden Gedanken, ausgel\u00f6st ist, wobei die fixierten Vorstellungen und Gedanken im Fall des einzelnen Patienten im allgemeinen wechseln.\nEs l\u00e4\u00dft sich zeigen, da\u00df in einer anderen Gruppe von F\u00e4llen von Zwangsvorstellungen und Zwangsgedanken die Fixierung anstatt durch Angstaffekte durch Spannungszust\u00e4nde bedingt ist, die jedenfalls zum Teil pathologisch organischen Ursprung haben1). (Postenzephalitische Zust\u00e4nde). Hier sind es dann ebenfalls nicht Vorstellungen und Gedanken, die sich selbst fixieren !\nEs ist auch einigerma\u00dfen methodologisch interessant zu sehen, wie die Annahme, da\u00df eine gesteigerte Intensit\u00e4t der Vorstellungen die Fixierung herbeif\u00fchrt, gegen die emotionelle Annahme verteidigt wird, zumal von einem in diesem G-ebiet so bewanderten Psychopathologen wie M. Friedmann. Ich gebe seine Argumente und die von mir an ihnen vor l\u00e4ngerer Zeit ge\u00fcbte Kritik.\nF\u00fcr die gedachte Behauptung, da\u00df eine gesteigerte Intensit\u00e4t der Vorstellungen die Fixierung herbeif\u00fchrt, wird zun\u00e4chst angef\u00fchrt ,,die Tatsache des Zwanges, d. h., da\u00df sich die Vorstellung unserem Wollen zum Trotz behauptet, da\u00df sie andere, uns angenehmere abdr\u00e4ngt, da\u00df sich diese Vorstellung auch bei gr\u00f6\u00dfter Abscheu auf dr\u00e4ngt\u201d.\nIch mu\u00df nun allerdings sagen: ich sehe gar nicht ein, weshalb eine Vorstellung, die sich uns gegen unseren Willen, auch bei gr\u00f6\u00dfter Abscheu, aufdr\u00e4ngt, und angenehmere zur\u00fcckdr\u00e4ngt, dies nur durch abnorm starke Intensit\u00e4t ihrer\nB Ernst St\u00f6rring : \u00dcber Zwangsdenken bei Blickkr\u00e4mpfen. Arch. f. Psychiatr.\n89. (1930).","page":1176},{"file":"p1177.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1177\nKorrelate soll zustande bringen k\u00f6nnen. Ich finde darin gar nichts Merkw\u00fcrdiges, da\u00df eine Vorstellung, die sich mit einem starken Unlustgef\u00fchl verbindet, eine angenehmere Vorstellung zur\u00fcckdr\u00e4ngt. In starken Unlustgef\u00fchlen ist eben eine weit gr\u00f6\u00dfere psychophysische Energie repr\u00e4sentiert als in Lustgef\u00fchlen.\nDoch sehen wir uns den konkreten Fall an, mit welchem exemplifiziert wird: \u201eEin Mann hatte die komische Idee, vor einem Hause neben seinem Gesch\u00e4ftslokal nicht Vorbeigehen zu k\u00f6nnen und mu\u00dfte daher den Umweg um das ganze Stra\u00dfen quadrat machen. Das Haus hat gar nichts Besonderes an sich, aber er hatte sich einmal unbehaglich gef\u00fchlt, als er vorbeiging. Diese Assoziation des Hauses mit der Erinnerung des Unbehagens kehrte nun zur\u00fcck, sobald er das Haus erblickt hatte, nat\u00fcrlich zu seiner Verzweiflung. Die Mittel, die wir sonst haben, unsere Gedanken durch andere sympathischere Ideen abzulenken, scheitern somit hier, und gerade das nennen wir Zwang, d. h. die Unm\u00f6glichkeit der Verscheuchung aus dem Bewu\u00dftsein.\u201d\nEs soll also hier die Wahrnehmung des betreffenden Hauses die \u201eErinnerung des Unbehagens\u201d hervorrufen, das Patient einmal beim Vorbeigehen an dem Hause gehabt hat. Diese Erinnerung soll sich mit abnormer Macht auf dr\u00e4ngen und ihn verhindern, an dem betreffenden Hause vorbeizugehen, weil eine abnorme Intensit\u00e4t der Korrelate einer Vorstellung vorliege. Es ist hier nicht klar, dem Korrelat welcher Vorstellung das Vorrecht zukommen soll, eine abnorme Intensit\u00e4t zu haben, der Vorstellung des Hauses, die das Unbehagen ausl\u00f6st oder der Vorstellung der Ereignisse, welche das Unbehagen prim\u00e4r erzeugten. Die Vorstellungen der betreffenden Ereignisse k\u00f6nnen daf\u00fcr nicht in Anspruch genommen werden, es ist gar nicht gesagt, da\u00df diese dem Individuum sich besonders aufgedr\u00e4ngt h\u00e4tten, solche Vorstellungen treten auch tats\u00e4chlich in \u00e4hnlichen F\u00e4llen ganz zur\u00fcck.\nDann m\u00fc\u00dfte also wohl f\u00fcr die Vorstellung des betreffenden Hauses abnorm starke Intensit\u00e4t ihrer Korrelate angenommen werden. Diese abnorm starke Intensit\u00e4t w\u00fcrde dann das Sichaufdr\u00e4ngen des Gef\u00fchls des Unbehagens verst\u00e4ndlich machen sollen. Wenn sich aber ein Gef\u00fchl auf Grund einer Vorstellung, mit der es erst sekund\u00e4r verbunden ist, mit Macht auf dr\u00e4ngt, so braucht das nat\u00fcrlich nicht an der abnorm starken Intensit\u00e4t der betreffenden Vorstellung, es kann auch an der abnorm starken Intensit\u00e4t des Gef\u00fchls oder ihrer Verbindung oder mehrerer dieser Faktoren zusammen liegen. Ich kann also hier keinen Beweis f\u00fcr abnorme Intensit\u00e4t der Korrelate der Vorstellung sehen.\nVielleicht wird man aber sagen, abnorm starke Intensit\u00e4t wird hier f\u00fcr die Korrelate der Vorstellung des Unbehagens in Anspruch genommen. Dies ist jedenfalls das, was sich gegen den Willen des Individuums fixiert. Auf die Inanspruchnahme einer Vorstellung des Unbehagens komme ich erst zuletzt, weil ich sie nicht als Vorstellung anerkenne. Es handelt sich hier um eine Koproduktion des Gef\u00fchls des Unbehagens und dieses Gef\u00fchl dr\u00e4ngt sich dem Individuum auf gegen seinen Willen. Ich kann deshalb hier \u00fcberhaupt nicht von einer Zwangsvorstellung oder einer Zwangsidee, sondern man mu\u00df von einem blo\u00dfen Zwangsgef\u00fchl sprechen. Der Fall ist also ung\u00fcnstig gew\u00e4hlt, ich bin auf denselben besonders deshalb eingegangen, um die Zwangsideen den Zwangsgef\u00fchlen gegen\u00fcber zu charakterisieren.\nWenn sodann als Argument zu gleichem Zweck geltend gemacht wird, da\u00df sich mit der Zwangsvorstellung, nachdem sie l\u00e4ngere Zeit das Bewu\u00dftsein beherrscht habe, ein \u201epeinlicher Affekt\u201d sekund\u00e4r verbinde, so erwidere ich darauf : aus diesem Faktum l\u00e4\u00dft sich nur auf die Intensit\u00e4t des Zwanges schlie\u00dfen, \u00fcber die Entstehung des Zwanges ist damit noch nichts ausgemacht.\nFerner soll f\u00fcr die gedachte Auffassung die Tatsache sprechen, da\u00df die Zwangsideen \u201ebei jedweder Konkurrenz um die zu bildende Assoziation obsiegen, da\u00df sie mit anderen Worten logisch und assoziativ weit n\u00e4her verwandte Ideen ausschlie\u00dfen k\u00f6nnen und die verr\u00fccktesten Gedanken vollziehen hei\u00dfen\u201d. Zum Beleg hierf\u00fcr bringt Friedmann einen an sich genommen sch\u00f6nen Fall bei: \u201eEin junges, ganz intelligentes und zu jeder anderen Zeit n\u00fcchternes und nat\u00fcrliches M\u00e4dchen, dem jede erbliche Belastung fehlte, war durch Chlorose und Gem\u00fctsbewegung in einen stark nerv\u00f6sen Zustand geraten. Im Momente, als sie einmal aus dem Zimmer ging, h\u00f6rte sie einen Schrei und erfuhr, da\u00df ein Nachbarkind","page":1177},{"file":"p1178.txt","language":"de","ocr_de":"1178\nG. St\u00f6rring\naus dem Fenster gest\u00fcrzt sei. Seitdem kam ihr die Erinnerung mit Macht, sobald sie die T\u00fcr \u00f6ffnen wollte und sie geriet dadurch in einen Zustand der peinlichsten Art, da\u00df sie nicht einmal hei k\u00f6rperlichen Bed\u00fcrfnissen es wagen wollte, aus dem Zimmer herauszugehen.\u201d\n,,Der psychologischeVorgang ist sehr einfach, es liegt eine zeitliche Assoziation vor, welche aber mit Leichtigkeit bei normalem Denken sich gel\u00f6st h\u00e4tte, da man das Fehlen der verbindenden Kausalit\u00e4t erkannt und also eine andere Vorstellung (des Zufalles) assoziiert h\u00e4tte.\u201d\nIch kann nun leider hierin nichts finden, was die in Rede stehende Anschauung zu bekr\u00e4ftigen imstande w\u00e4re. Es hat sich hier eine assoziative Verbindung zwischen der Vorstellung des \u00d6ffnens der T\u00fcr und der Vorstellung des Ungl\u00fcckfalles mit dem sich daran anschlie\u00dfenden Affektzustand ausgebildet. Ein Affektzustand, hervorgerufen durch einen solchen Ungl\u00fccksfall, ist schon bei einem normal f\u00fchlenden Individuum von betr\u00e4chtlicher Intensit\u00e4t. Die Intensit\u00e4t des durch die Vorstellung des Ungl\u00fcckfalles ausgel\u00f6sten Affektes mu\u00dfte aber bei dem \u201edurch Chlorose und Gem\u00fctsbewegung\u201d in einen stark nerv\u00f6sen Zustand geratenen M\u00e4dchen eine die Norm \u00fcbersteigende sein, so da\u00df auch die Reproduktion dieses Affektes eine weit st\u00e4rkere Intensit\u00e4t hat als sie bei einem nerv\u00f6s Gesunden haben w\u00fcrde.\nDiese Reproduktion mu\u00df sich aber dann besonders stark aufdr\u00e4ngen, wenn das Individuum sich vornimmt, die T\u00fcr wieder zu \u00f6ffnen, weil dann eben wieder die Situation gegeben ist, in der die Assoziation mit jenem eminent affektbetonten Erlebnis sich vollzog. Das Individuum erf\u00e4hrt, da\u00df, sobald bei ihm jene Absicht auftritt und solange es dieselbe hegt, Bel\u00e4stigung durch jenen Affektzustand gesetzt ist, und sobald es jene Absicht fallen l\u00e4\u00dft, sich wieder Beruhigung einstellt. So bedingt die abnorme Intensit\u00e4t des Affektzustandes, da\u00df das Individuum in seinem Handeln beeintr\u00e4chtigt ist.\nDie Wirkung des abnorm intensiven Affektes mag auch noch dadurch verst\u00e4rkt werden, da\u00df derselbe die assoziative Verbindung zu einer innigeren macht.\nDer Ablauf der psychischen Prozesse kann sich sogar dann in der geschilderten Weise vollziehen, wenn dabei der Gedanke auftritt, da\u00df die objektiven Vorg\u00e4nge in zuf\u00e4lliger, nur zeitlicher Beziehung zueinander stehen. Hat der reproduzierte Affekt eine geh\u00f6rige Intensit\u00e4t, so wird dieser Gedanke \u00fcberhaupt post festum kommen, tritt er aber in dem Verlaufe dieser Prozesse ein, so sehe ich nicht ein, wie der reproduzierte Affekt durch ihn aufgehoben werden soll. Dieser Affekt gr\u00fcndet sich ja nicht auf die gedachte Voraussetzung einer kausalen Beziehung der objektiven Vorg\u00e4nge.\nWeiter soll abnorme Intensit\u00e4t der Korrelate der Zwangsvorstellung daraus gefolgert werden m\u00fcssen, da\u00df Zwangsvorstellungen sich h\u00e4ufig von abnorm starken aktiven und hemmenden Impulsen begleitet zeigen. So soll die Wahrnehmung eines Messers bei Patienten, welche an Zwangsvorstellungen leiden, mit der Vorstellung geliebter Personen verkn\u00fcpft werden und nun den Impuls, dieselben zu t\u00f6ten, mit sich f\u00fchren. Dabei tritt die Verbindung der Wahrnehmung eines Messers mit der Vorstellung geliebter Personen \u201eaus keinem anderen als dem mechanischen Grunde\u201d ein, da\u00df z. B. die Kinder die lebhaftesten Vorstellungen sind, die au\u00dfer dem erblickten Gegenst\u00e4nde gerade das Bewu\u00dftsein erf\u00fcllen\u201d. \u201eSie werden daher eher assoziiert als irgendein gleichg\u00fcltiger Gegenstand, ein St\u00fcck Holz, in welches man schneiden k\u00f6nnte.\u201d\nAn einem solchen konkreten Falle springt das Absurde einer solch mechanischen Denkweise sehr deutlich in die Augen. Wie ich einen solchen Tatbestand deuten w\u00fcrde, ergibt sich nach dem Gesagten von selbst.\nIm allgemeinen habe ich bez\u00fcglich der Beweiskr\u00e4ftigkeit der aktiven und hemmenden Impulse, die sich mit Zwangsvorstellungen verbinden, einen gleichen Einwand zu machen, wie ich ihn bei dem aus dem Auftreten sekund\u00e4rer Affekte hergenommenen Argument gemacht habe: bewiesen wird nur die Intensit\u00e4t des Zwanges, aber nichts \u00fcber seine Genese1).\nB St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. 1900. S. 309 ff.","page":1178},{"file":"p1179.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1179\nFriedmann li\u00e2t in sp\u00e4teren Ver\u00f6ffentlichungen \u00fcber diesen Gegenstand die Wirkung von Affekten auf das psychische Zwangsgeschehen anerkannt; es unterscheidet dann ein emotionell und intellektuell bedingtes Zwangsgeschehen. Ob es ein intellektuell bedingtes Zwangsgeschehen gibt und in welchen Grenzen, brauchen wir hier nicht n\u00e4her zu er\u00f6rtern. F\u00fcr unseren Zweck gen\u00fcgt es, festgesteilt zu haben, da\u00df es ein emotionell bedingtes Zwangs -geschehen gibt.\nAus der Diskussion Friedmanns ergibt sich uns, da\u00df er die Tatsache \u00fcbersehen hat, da\u00df in vielen Krankheitsf\u00e4llen jedenfalls die fixierten Vorstellungen und Gedanken wechseln, w\u00e4hrend die Fixierung immer von Affektzust\u00e4nden begleitete Vorstellungen und Gedanken trifft. Sodann haben wir gesehen, da\u00df mannigfach konstruktive Betrachtungen eingef\u00fchrt sind.\n2. Wir sind unseren Gegnern in der Deutung des psychischen Zwangsgeschehens dadurch entgegengekommen, da\u00df wir ihre eigene Position verbesserten1). Lotze hat gegen die Annahme einer \u201eIntensit\u00e4t\u201d der Vorstellungen begr\u00fcndete Bedenken erhoben. Wir haben diese Schwierigkeiten beseitigt, indem wir bei der Bede von der Intensit\u00e4t der Vorstellungen in Wirklichkeit die Intensit\u00e4t der physiologischen Korrelate der Vorstellungen meinen.\nJetzt wollen wir versuchen, ob sich mit unserer Feststellung, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf Vorstellungen und Gedanken fixierend wirken k\u00f6nnen, nicht die Annahme der Mitwirkung der Vorstellungen in der Weise verbinden l\u00e4\u00dft, da\u00df wir durch die Gef\u00fchlszust\u00e4nde eine Verst\u00e4rkung der Intensit\u00e4t der physiologischen Korrelate der Vorstellungen zustande gebracht denken und die Fixierung nun von der emotionell bedingten Verst\u00e4rkung der Intensit\u00e4t der physiologischen Korrelate der Vorstellungen abh\u00e4ngig denken. Zur Diskussion dieser M\u00f6glichkeit sind wir um so mehr veranla\u00dft, als sich zeigen l\u00e4\u00dft, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde eine Steigerung der Intensit\u00e4t der physiologischen Korrelate von Vorstellungen zustande bringen.\nDiese letztere Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung ergibt sich aus psycho-pathologischen Tatbest\u00e4nden.\nIn einzelnen \u2014 allerdings nur seltenen F\u00e4llen \u2014 sieht man die Intensit\u00e4t von Vorstellungen, welche in die Zwangsgedanken eingehen, zu Pseudohalluzinationen gesteigert. (Einige Autoren sprechen hier auch von Halluzinationen; Janet nimmt an, da\u00df\n!) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie und ihre Bedeutung f\u00fcr die normale Psychologie. S. 308 ff.","page":1179},{"file":"p1180.txt","language":"de","ocr_de":"1180\nGr. St\u00f6rring\nhier Halluzinationen nur bei Hysterischen auftreten, bei Psych-asthenischen nur Pseudohalluzinationen).\nHeilbronner hat einen Fall ver\u00f6ffentlicht, in welchem eine Patientin zu Beginn der Erkrankung immer denken mu\u00dfte, \u201esie werde jemand umbringen, mit der Axt erschlagen m\u00fcssen; sie sah auch \u00f6fters eine Axt vor sich\u201d. Von den so gesehenen \u00c4xten sagt Patientin, \u201eda\u00df die \u00c4xte, die sie wirklich sah, genau das Aussehen der Axt hatten, die sie biswe\u00fcen vor Augen hatte.\u201d\nL\u00f6wenfeld1) berichtet von mehreren F\u00e4llen \u00e4hnlicher Art. Eine Patientin, 14 Jahre alt, Menses seit zwei Jahren, in letzter Zeit alle 14 Tage und protrahiert, leidet seit sechs Wochen an Angstzust\u00e4nden, besonders beim Alleinsein bei Tag und Nacht. Seit einiger Zeit tritt au\u00dferdem fast jede Nacht die Halluzination einer Hand auf. Die Patientin sieht die Hand vor dem Einschlafen oder beim Aufwachen in der Nacht \u00fcber ihrem Bett an der Wand, und zwar nicht als Schattenbild, sondern deutlich k\u00f6rperlich hervortretend, \u00fcberlebensgro\u00df und mit einem Binge versehen. \u00dcber die Entstehung dieser anscheinend sonderbaren Halluzination wu\u00dfte Patientin anf\u00e4nglich nichts N\u00e4heres anzugeben; auf Befragen, ob sie nicht von etwas \u00c4hnlichem geh\u00f6rt oder gelesen habe, gab sie jedoch sofort zu, da\u00df sie einen Boman (Die h\u00fcbsche Mi\u00df Neville von Crooker) gelesen hatte, in welchem das Erscheinen einer gespenstischen Hand erz\u00e4hlt wird. An diese mu\u00dfte sie in der Folge \u00f6fters denken (Zwangsgedanken) und einige Zeit sp\u00e4ter sah sie nachts die Hand. Die Halluzination verlor sich a]sbald wieder1).\nIch gebe noch einen der F\u00e4lleL\u00f6wenfelds1). \u201ePatientin, Lehrerin, 40 Jahre alt, erblich etwas belastet (beide Eltern von aufbrausendem Temperament), Patientin war von Jugend auf nerv\u00f6s und gem\u00fctlich leicht erregbar. Yor dem Auftreten der sogleich zu erw\u00e4hnenden Erscheinung hatte sie jahrelang viele berufliche \u00dcberanstrengungen, viele Aufregungen und St\u00f6rungen der Nachtruhe infolge langwieriger Erkrankung ihrer Mutter durchzumachen. Nach dem Ableben dieser war sie gen\u00f6tigt, ihr in Wertpapieren angelegtes Verm\u00f6gen selbst zu verwalten. Diese Papiere verwahrte sie in ihrer Wohnung in einer Kommode. Infolge dieser Umst\u00e4nde wurde sie in Zeiten gr\u00f6\u00dferer Abspannung wochen- und monatelang t\u00e4glich nach dem Zubettegehen von dem Gedanken gequ\u00e4lt, da\u00df sie irgend etwas in bezug auf ihre Wertpapiereverabs\u00e4umthabe. Diese Idee beunruhigte sie, obwohl sie sich eines \u00dcbersehens nicht bewu\u00dft war, derart, da\u00df sie l\u00e4ngere Zeit nicht einschlafen konnte und oft nur durch Aufstehen und Nachsehen sich Erleichterung verschaffen konnte.\nl) L\u00f6wenfeld: Die psychischen Zwangserscheinungen. S. 204.","page":1180},{"file":"p1181.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t2181\nSeltsamerweise bezog sich die Beunruhigung der Patientin weniger auf die Papiere, welche sie tats\u00e4chlich hatte, als auf solche, welche sich gar nicht in ihrem Besitze befanden, sondern ihr nur bekannt waren. Diese Papiere, die den von ihr besessenen in ihrem \u00c4u\u00dferen \u00e4hnlich waren, sah sie oft in vollster Deutlichkeit in ihrer Kommode liegen.\nL\u00f6wenfeld nimmt in diesen und einigen \u00e4hnlichen F\u00e4llen an, da\u00df die Halluzination oder Pseudohalluzination hier durch die Zwangsvorstellung assoziativ ausgel\u00f6st sei. Tats\u00e4chlich ist hier aber sehr weitgehende partielle Identit\u00e4t zwischen einer Vorstellung des Zwangsgedankens (bestimmte im Besitz befindliche Banknoten) und den pseudohalluzinatorisch gesehenen Banknoten vorhanden.\nF\u00e4lle dieser Art machen es schon einigerma\u00dfen wahrscheinlich, da\u00df in den F\u00e4llen des Zwangsgedankens durch den aufgetretenen Affektzustand Korrelate von Vorstellungen des Zwangsgedankens in ihrer Intensit\u00e4t gesteigert werden und da\u00df nun in einzelnen F\u00e4llen diese Steigerung den betreffenden Vorstellungen pseudohalluzinatorischen Charakter gibt.\nEine Steigerung der Intensit\u00e4t der Korrelate von solchen Vorstellungen lie\u00dfe sieh verst\u00e4ndlich machen einmal durch die mit den Affekten gesetzte Steigerung der Erregbarkeit und sodann durch die vom Affekt hervorgerufene Einengung des Bewu\u00dftseins.\nGr\u00f6\u00dfere Bedeutung m\u00f6chte ich Feststellungen aus einem ganz anderen Gebiete beimessen.\nKretschnikofj1) hat \u2014- worauf wir sp\u00e4ter noch n\u00e4her zu S2>rechen kommen werden \u2014 Patienten mit pathologischen Affektzust\u00e4nden bei geschlossenen Augen ohne Hypnose \u00fcber ihre Affektzust\u00e4nde berichten lassen und dabei festgestellt, da\u00df die Reproduktionen der intellektuellen Unterlagen der einzelnen Affekterlebnisse von auff\u00e4lliger Vollst\u00e4ndigkeit waren, so da\u00df man annehmen mu\u00df, da\u00df die Einpr\u00e4gung der Erlebnisse, auch der zuf\u00e4lligen Wahrnehmungen und Vorstellungen, d. h. derjenigen, die mit dem Affekt nicht in kausaler Beziehung standen, eine au\u00dfergew\u00f6hnlich gute war. Das wird nur durch Annahme einer st\u00e4rkeren Intensit\u00e4t der Korrelate der Vorstellungen und Wahrnehmungen verst\u00e4ndlich, welche mit dem Affekt zu-sammen erlebt wurden.\n1) KretscTinikoff: Arch. f. Psych. 88. 387 (1929).","page":1181},{"file":"p1182.txt","language":"de","ocr_de":"1182\nG. St\u00f6rring\nDiese Feststellung stimmt mit Erfahrungen des gew\u00f6hnlichen Lehens \u00fcberein, da\u00df von dem einzelnen Menschen solche Erlebnisse ans der Vergangenheit am besten reproduziert werden, die sich mit Affekten verbanden, und da\u00df dabei h\u00e4ufig zuf\u00e4llige Umst\u00e4nde mit gro\u00dfer Deutlichkeit hervortreten.\nWenn wir nun aber auch annehmen, da\u00df beim Zwangserleben die darin gegebenen Affekte eine Steigerung der Intensit\u00e4t der Korrelate von Vorstellungen mit sich bringen, welche in den Zwangsgedanken e ingehen, so k\u00f6nnen wir doch nicht das Zwangserleben auf das Konto dieser in ihrer Intensit\u00e4t gesteigerten Korrelate von Vorstellungen setzen:\nEs sind doch nur seltene F\u00e4lle, in welchen diese Steigerung der Intensit\u00e4t zu Pseudohalluzinationen f\u00fchrt, d. h. aber, es bleibt im allgemeinen die Intensit\u00e4t der Korrelate der betreffenden Vorstellungen unter der Intensit\u00e4t von Empfindungen und Wahrnehmungen. Dann wird aber nicht verst\u00e4ndlich, wie die Zwangsvorstellungen gegen die st\u00e4rkeren Willensenergien mit den in ihnen gegebenen emotionellen Energien, in denen doch wieder ganze Komplexe von Organempfindungen stecken, sich behaupten k\u00f6nnen. Das wird nur verst\u00e4ndlich, wenn den Willensenergien, welchen die psychophysische Energie von Empfindungsko m-plexen zukommt, welche durch Aufmerksam-keits- und Urteilsprozesse noch in ganz besonders wirkungskr\u00e4ftige Situation gebracht sind, andere Komplexe von Empfindungen, wie sie in Affektzust\u00e4nden repr\u00e4sentiert sind, gegen\u00fcberstehen.\nUnd sodann haben wir ja auch schon gezeigt, wie die Affektzust\u00e4nde im Zwangserleben die Fixierung der Vorstellungen und Gedanken in einer Art von Dynamo-Proze\u00df zustande bringen. Es war f\u00fcr uns also nur noch die M\u00f6glichkeit zu diskutieren, ob die in ihrer Intensit\u00e4t durch den Affekt gesteigerten Korrelate von Vorstellungen, die in den Zwangsgedanken eingehen, in derselben Whise ein Zwangsgeschehen herbeif\u00fchren, wie die Affekte unmittelbar.","page":1182},{"file":"p1183.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1183\n3.\tWir haben noch eine n\u00e4here Bestimmung dar\u00fcber zn machen, welche Vorstellungen und Gedanken durch einen gleichzeitigen Gef\u00fchlszustand fixiert werden.\nWir sahen, da\u00df eine verst\u00e4rkte Einpr\u00e4gung auch die zuf\u00e4llig mit dem Affekt gleichzeitig im Bewu\u00dftsein auftretenden Wahrnehmungen und Vorstellungen erfahren, d. h. auch die nicht kausal mit ihm zusammenh\u00e4ngenden.\nAnders ist das mit der Fixierung. Eine Fixierung durch Affekte haben wir nur erwiesen f\u00fcr solche intellektuelle Tatbest\u00e4nde, durch die der Affekt selbst ausgel\u00f6st wird.\nDie Beobachtung an Melancholischen und Paranoischen zeigt auch, da\u00df Gedanken, welche mit dem betreffenden Affekte nicht in kausaler Beziehung stehen, keine Fixierung im Bewu\u00dftsein erfahren.\n4.\tWir sehen an pathologischen F\u00e4llen, was wir auch schon im gew\u00f6hnlichen Leben durch Selbstbeobachtung feststellen k\u00f6nnen, da\u00df Affekte die intellektuelle Verarbeitung der intellektuellen Unterlagen der Affekte derivativ hemmen. Bei schw\u00e4cheren Gef\u00fchlszust\u00e4nden, wie sie in Aufmerksamkeits- und Denkprozessen auf-treten, findet eine solche Hemmung anscheinend nicht statt.\nWir werden hier zu der Frage angeregt, ob in denF\u00e4llen der Aufmerksamkeits- und Denkprozesse nur wegen der geringen Gef\u00fchlsintensit\u00e4t eine Herabsetzung dieser Hemmung vorliegt oder ob hier noch neue Faktoren ins Spiel treten.\nLetzteres ist der Fall: bei schwacher Gef\u00fchlsintensit\u00e4t bleiben die in den Gef\u00fchlszust\u00e4nden steckenden Organempfindungen im Hintergrund des Bewu\u00dftseins, weil die Organempfindungen eines Gef\u00fchlszustandes, da sie sich nicht in \u00e4hnlicher Weise wie z. B. die Gesichts Wahrnehmungen voneinander abheben und so Gelegenheit zu assoziativen Anschlu\u00df von Erfahrungen verschiedener Art geben, weniger Assimilationen anregen als z. B. die Gesichts Wahrnehmungen und deshalb weniger Chancen haben, in den Vordergrund des Bewu\u00dftseins zu treten.\n5.\tIch will hier die \u201eunabgeschlossenen Vorstellungen\u201d Friedmanns nicht unerw\u00e4hnt lassen.\nBumke sagt dar\u00fcber : \u201eIn jedem Denken, in dem normalen wie im krankhaften, wohnt dieser ganzen Gruppe von unabgeschlossenen Vorstellungen der ihren Tr\u00e4ger irritierende und ihn verfolgende Charakter des Denkzwanges bei, sei es, da\u00df der Abschlu\u00df aus einem","page":1183},{"file":"p1184.txt","language":"de","ocr_de":"1184\nG. St\u00f6rring\nlogischen Grunde oder durch ein tats\u00e4chliches Hindernis versagt bleibt. Es sind das die vier Kategorien der Sorge und Bef\u00fcrchtung, der Erwartung, des Zweifels und endlich der ganz isoliert bleibenden und unverstandenen Vorstellungen, z. B. einer einfachen, abnormen Empfindung. Allen gemeinsam ist die Ungewi\u00dfheit ; beim Zweifel ist sie eine logische, bei den \u00fcbrigen Formen, deren Abschlu\u00df und Ausgang der Zukunft anheimsteht, eine tats\u00e4chliche.\u201d\nWenn Friedmann von ,,unabgeschlossenen Vorstellungen\u201d spricht, so ist das irref\u00fchrend; es handelt sich um unabgeschlossene Urteile. Was hier den Zwangscharakter bedingt, sind aber nicht Vorstellungen oder Urteile, sondern mit den unabgeschlossenen Urteilen verbundene Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nMan mu\u00df hierbei unterscheiden zwischen Abh\u00e4ngigkeits-beziehungen des h\u00e4ufigen Auftretens der entsprechenden Gedanken und den Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen des Zwangs Charakters. Sodann ist hier zu beachten, da\u00df die hier in Betracht kommenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde nicht nur in peinlichen Zust\u00e4nden der Ungewi\u00dfheit gegeben sind, sondern auch in den Gef\u00fchlszust\u00e4nden, die sich an die Gedanken der einzelnen M\u00f6glichkeiten anschlie\u00dfen, bez\u00fcglich derer man ungewi\u00df ist.\nDas h\u00e4ufige Wiederauf treten der in den unabgeschlossenen Urteilen steckenden Gedanken h\u00e4ngt davon ab, da\u00df die Ungewi\u00dfheit, welche der Unabgeschlossenheit der Urteile entspringt, eine Materie betrifft, die das Individuum emotionell tangiert. S o wirkt auf das h\u00e4ufige Wiederauftreten der entsprechenden Gedanken die Unabgeschlossenheit der Urteile zusammen mit emotionellen Faktoren.\nDas h\u00e4ufig wiederholte Ventilieren der die aktuellen Interessen des Individuums betreffenden affekt starken Gedanken steigert aber in einemfort die Intensit\u00e4t dieser Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Dazu kommt noch die durch das Schwanken zwischen verschiedenen M\u00f6glichkeiten herbeigef\u00fchrte Steigerung der Intensit\u00e4t der Affekte.\nW\u00e4hrend das h\u00e4ufige Wiederauftreten derselben Gedanken von der Unabgeschlossenheit der Urteile und emotionellen Faktoren abh\u00e4ngt, wobei beide Faktoren nicht unabh\u00e4ngig voneinander wirken, h\u00e4ngt der Zwangscharakter allein von den bei Ventilierung der verschiedenenM\u00f6g-lichk eiten auftretenden affektiven Gef\u00fchlszust\u00e4nde ab.","page":1184},{"file":"p1185.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1185\n6. Kapitel.\nPathopsyehologisehe Folgerungen bez\u00fcglich der Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen der \u00c4nderung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde selbst (der \u00c4nderung\nder Intensit\u00e4t, Dauer und der Reproduktionsf\u00e4higkeit).\nI. \u00c4nderung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchls zustande.\n1. Wir haben in den ersten Kapiteln die \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden und Wirkungen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf den Vorstellung^- und Gedankenverlauf und auf die Fixierungsprozesse bei Aufmerksamkeit und Denkvorg\u00e4ngen ins Auge gefehlt. Bevor wir zu komplizierten Wirkungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde im psychischen Leben \u00fcbergehen, wollen wir an Hand psycho-pathologischer Tatbest\u00e4nde Feststellungen \u00fcber Abh\u00e4ngigkeits-beziehungen von Gef\u00fchlsmodifikationen zu machen suchen. Ich werde die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen der \u00c4nderung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde untersuchen (der Steigerung und Herabsetzung der Intensit\u00e4t derselben), sodann die \u00c4nde^ rung der Dauer der Gef\u00fchlszust\u00e4nde, weiter die Reproduktion von Gef\u00fchlszust\u00e4nden. Das Abreagieren behandle ich bei Besprechung der psychoanalytischen Tatbest\u00e4nde.\nF\u00fcr die Untersuchung der \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden und des Abreagierens m\u00fcssen Tatsachen der psychoanalytischen Beeinflussung des pathologischen Seelenlebens in weitgehender Weise herangezogen werden.\nVon der \u00c4nderung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde behandle ich zun\u00e4chst die Steigerung der Intensit\u00e4t von Gef\u00fchlszust\u00e4nden im pathologischen Seelenleben in ihrer Bedeutung f\u00fcr die normale Psychologie.\nWenn man den Einflu\u00df der Wiederholung des Ablaufes eines starken Affektes bestimmter Qualit\u00e4t auf seine Intensit\u00e4t feststellen will, so mu\u00df man zwei Gruppen von Erscheinungen auseinander halten: die wiederholte Erzeugung derselben Qualit\u00e4t von Affekt auf Grund verschiedener erlebter Geschehnisse und die wiederholte Erzeugung derselben Qualit\u00e4t des Affektes auf Grund von wiederholter Betrachtung eines und desselben Geschehens.\nBei Erzeugung derselben Qualit\u00e4t von Affekt auf Grund wiederholter Betrachtung eines und desselben Geschehens tritt nur unter ganz besonderen Bedingungen eine Verst\u00e4rkung des Affektes auf. Anders steht es bei wiederholter Erzeugung derselben Qualit\u00e4t von Affekt auf Grund verschiedener erlebter Geschehnisse. Da sehen wir in pathologischen F\u00e4llen auch zuweilen bei gro\u00dfen zeitlichen Intervallen deutliche Summationserscheinungen","page":1185},{"file":"p1186.txt","language":"de","ocr_de":"1186\nG-. St\u00f6rring\nauftreten. So sieht man bei der kathartisch-analytischen Behandlung von Psychoneurosen, wie sich uns das sp\u00e4ter n\u00e4her zeigen wird, da\u00df sich ganze Schichten von Affektzust\u00e4nden, meist Angstzust\u00e4nde, \u00fcbereinander gelagert haben. Ein Erlebnis, das sich mit einem au\u00dferordentlich starken Affekt verbindet, wird fast nie zum psychischen Trauma, wenn nicht ein anderes Erlebnis mit einem Affekt gleicher Qualit\u00e4t v o r a n g e g a n g e n ist.\nIch will hier von Summation gleichartiger 6e-f\u00fchlszust\u00e4nde sprechen. Diese Erscheinung ist sehr scharf zu scheiden von dem, was ich als Summationszentren von Gef\u00fchlszust\u00e4nden zu bezeichnen pflege. Der begrifflichen Bestimmung der letzteren, die erst weiter unten erfolgen wird, schicke ich voran, da\u00df wir es mit einem Summationszentrum von Gef\u00fchlszust\u00e4nden, z. B. bei dem Gedanken an einen Freund, an die Lebensgef\u00e4hrtin, zu tun haben. Bei der Summation gleichartiger Gef\u00fchlszust\u00e4nde sind die intellektuellen Unterlagen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde different, die Gef\u00fchls zu st\u00e4nde aber qualitativ dieselben, bei den Summationszentren von Gef\u00fchlszust\u00e4nden haben wir es mit ein und derselben intellektuellen Unterlage und qualitativ differenten Gef\u00fchlszust\u00e4nden zu tun.\nEs fragt sich nun, wie diese Summation gleichartiger Gef\u00fchlszust\u00e4nde bedingt ist.\nHier kommt eine Steigerung der allgemeinen emotionellen Erregbarkeit weniger in Betracht als eine Steigerung der speziellen Erregbarkeit f\u00fcr Ausl\u00f6sung eines Affektes gerade der einen bestimmten Qualit\u00e4t.\nDiese Steigerung der speziellen emotionellen Erregbarkeit \u00e4u\u00dfert sich bei st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t in einer bestimmten Art patkologischerVerstimmung, etwa einer \u00e4ngstlichen Stimmungslage.\nDa\u00df diese Summation gleichartiger Gef\u00fchlszust\u00e4nde sich in schw\u00e4cherer Weise und mit derselben Art von Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung auch im normalen Seelenleben geltend macht, liegt ohne weiteres auf der Hand. \u2014\nIch sagte, da\u00df die wiederholte Erzeugung derselben Art von Affekt auf Grund von Betrachtung eines und desselben Geschehens nur unter bestimmten weiteren Bedingungen zur Steigerung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fchren kann.","page":1186},{"file":"p1187.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1187\nBekannt ist ja schon ans der Vulg\u00e4rpsychologie die A b-stnmpfnng von Gef\u00fchlszust\u00e4nden bei Wiederholung. Die introspektive Methode der wissenschaftlichen Psychologie stellt fest1), da\u00df dabei die Hauptrolle die Aufmerksamkeit spielt, die bei h\u00e4ufigen Wiederholungen derselben Erlebnisse im allgemeinen an Intensit\u00e4t betr\u00e4chtlich abnimmt, so da\u00df dann in den sp\u00e4teren Wiederholungen die intellektuelle Unterlage der Gef\u00fchlszust\u00e4nde sich weniger vollst\u00e4ndig und klar auspr\u00e4gt.\nDie abstumpfendeWirkung der Wiederholung tritt nun hier bei pathologischen Affektzust\u00e4nden nicht so schnell auf wie im normalen Seelenleben. Each entgegengesetzter Richtung wirkt hier eine viel st\u00e4rker als im normalen Seelenleben auftretende Steigerung der allgemeinen und speziellen emotionellen Erregbarkeit, wenigstens bei nicht zu gro\u00dfen zeitlichen Intervallen der emotionellen Reize.\nMethodologisch sei hier wieder bemerkt, da\u00df eine solche im pathologischen und normalen Leben in verschiedener Intensit\u00e4t sich auspr\u00e4gende Interferenzerscheinung zu der Auffassung verf\u00fchren kann, als ob im normalen Seelenleben andere Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten herrschten als im pathologischen.\nIn F\u00e4llen von Psychoneurosen sieht man h\u00e4ufig sodann die Phantasiebet\u00e4tigung der abstumpfenden Wirkung der Wiederholung entgegenwirken2).\nDiese psychopathologische Feststellung hat man sich psychologisch in der Weise verst\u00e4ndlich zu machen, da\u00df die Phantasiebet\u00e4tigung eine Bereicherung der intellektuellen Unterlagen des Gef\u00fchlszustandes mit sich bringt.\nMethodologisch ist zu beachten, da\u00df hier die psychopathologische Untersuchung eine kausale Feststellung macht, die durch Zuhilfenahme anderer psychologischer Methoden noch der weiteren Reduktion auf allgemeine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten zug\u00e4nglich ist.\nMan findet sodann, ebenfalls in F\u00e4llen von Psychoneurosen, da\u00df eine Steigerung der Intensit\u00e4t des betreffenden Affektes durch sp\u00e4tere Herstellung einer ,,Eigenbeziehung\u201d zustande kommen kann.\nIch gebe ein paar hierher geh\u00f6rige F\u00e4lle von Friedmann.\n,,33j\u00e4hriger Handwerker. Fr\u00fcher gesund, doch bereits an Schlaflosigkeit, Herzklopfen und \u00e4ngstlichem Gef\u00fchl seit \u00fcber\nx) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Anfl. S. 104 ff.\n2) M. Friedmann : Zur Auffassung und zur Kenntnis der Zwangsideen unter isolierten \u00fcberwertigen Ideen. Zeitschr. f. Neurol, u. Psych. 21. 391.","page":1187},{"file":"p1188.txt","language":"de","ocr_de":"1188\nGr. St\u00f6rring\nzwei Monaten leidend. Liest in der Zeitung ausf\u00fchrlich von dem scheu\u00dflichen Familienmord, den ein Mann hier in der Stadt ver\u00fcbt hat nnd der au\u00dfergew\u00f6hnliches Aufsehen gemacht hat. Spricht sehr viel davon nnd denkt in seinen schlaflosen N\u00e4chten oft dar\u00fcber. Drei Wochen sp\u00e4ter \u00fcberf\u00e4llt ihn selbst die Idee, er k\u00f6nne in seinem Nervenzustande etwas \u00c4hnliches ver\u00fcben, nnd dann erfa\u00dft ihn gleich darauf der Impuls, sich und seine Familie zu t\u00f6ten. Er ger\u00e4t dar\u00fcber in heftige Angst, weil er in Wirklichkeit in bester Harmonie mit Frau und Kindern lebt und selbst keinen Grund hat, sich aus dem Leben zu w\u00fcnschen. Gleichwohl kann er die Ideen und Impulse nicht mehr aus seinem Denken vertreiben. Immerhin dauert der peinliche Zustand nicht lange und ist nach f\u00fcnf bis sechs Wochen wieder vor\u00fcber\u201d1).\n\u00c4hnlich ist der folgende Fall.\n,,41j\u00e4hrige verst\u00e4ndige Frau. Seit geraumer Zeit wohl infolge von Krankenpflege und vielfacher Arbeit nerv\u00f6s heruntergekommen. Sonst bisher nicht besonders nerv\u00f6s. W\u00e4hrend ihrer Menses gerade ziemlich stark aufgeregt; als sie dabei mit Kartoffelsch\u00e4len besch\u00e4ftigt dasa\u00df, h\u00f6rte sie zu, wie dicht nebenan ein j\u00e4hzorniger Hausgenosse mit ihrem Mann in Streit geriet und diesem drohte, er werde ihm das Messer in den Leib stechen. Sie erschrak, regte sich stark auf und f\u00fcrchtete nun ernstlich eine Zeitlang, da\u00df jener seine Drohnung wahrmachen k\u00f6nne. Ein bis zwei Monate sp\u00e4ter trat in ihr selbst der Impuls auf, sooft sie ein Messer in die Hand bekam, damit ihren Kindern den Hals durchzuschneiden. Die Furcht, da\u00df sie das wirklich in der Aufregung tun k\u00f6nne, verlie\u00df sie nun nicht mehr, angeblich sei auch der Impuls, das zu tun, meist dabei gewesen. Sie gebrauchte eine Anzahl von Kuren deshalb und befragte immer wieder verschiedene \u00c4rzte. Darnach war jetzt nach eineinhalb Jahren die Idee noch da oder kehrte doch nach Besserungen zwischendurch immer wieder zur\u00fcck. Auch w\u00e4hrend meiner Behandlung, zwei bis drei Monate lang, ist kein Erfolg erzielt worden. Ich wu\u00dfte damals noch nicht, was ich heute wei\u00df, da\u00df jede Behandlung hier von \u00dcbel ist. Was allein Erfolg verspricht, ist der Entschlu\u00df, sich gar nicht mehr um die Ideen zu k\u00fcmmern\u201d2) s\nMethodologisch ist zu sagen, da\u00df, wenn hier die Eigenbeziehung, die Ichbeziehung, eine die Intensit\u00e4t der Gef\u00fchls-zust\u00e4nde verst\u00e4rkende Rolle spielt, eine \u00dcbertragung auf das normale Seelenleben hier nicht m\u00f6glich ist : hier ist Eigenbeziehung zwangsm\u00e4\u00dfig gedacht, aber sie ist im allgemeinen nicht als real\nx) Friedmann: 1. c. S. 386.\n2) Friedmann: 1. c. S. 386, 387.","page":1188},{"file":"p1189.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1189\ngesetzt, im allgemeinen bleiben die Pa tient \u00ebn kritisch gegen\u00fcber den Zwangsgedanken. Die Behauptung der Gleichheit der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten auf beiden Ge-bieten besteht trotz dieser \u00dcSTicht\u00fcbertrag-barkeit zn Recht: hier ist ein ungew\u00f6hnliches Material geschaffen; dies bedingt die Nicht\u00fcbertragbarkeit.\nWir k\u00f6nnen aber diese psycho pathologische Feststellung uns als Anla\u00df dienen lassen, an die normale Psychologie die Frage zu stellen, ob auf diesem Gebiet nicht die Ichbeziehung auch eine Steigerung der Gef\u00fchlsreaktionen zustande bringen kann, wenn auch in anderer Weise.\nAuf diese an die normale Psychologie gestellte Frage kann man eine Antwort auf Grund einer gel\u00e4uterten Selbstbeobachtung geben. Ich verstehe unter einer gel\u00e4uterten Selbstbeobachtung eine so lche1 die vollzogen wird, nachdem der betreffende psychologische Forscher eine Schulung seiner Selbstbeobachtung unter experimentellen Bedingungen und in psychopathologisehen Arbeiten, d. h. unter A n r e g u n g durch psycho-pathologische F\u00e4lle erfahren hat.\nWir k\u00f6nnen diese Frage nun dahin beantworten, da\u00df eine Steigerung der Gef\u00fchlsreaktion durch eine Ichbeziehung dann entstehen kann, wenn der in Betracht kommende Tatbestand, auf dessen Betrachtung - sich die Gef \u00fchlsrea.ktion gr\u00fcndet, sich urteilsm\u00e4\u00dfig als zu den Interess en des Ich, d. h. der eigenen Pers\u00f6nlichkeit, in Beziehung stehend charakterisieren l\u00e4\u00dft.\t' ' .\nDie u r t eils m\u00e4\u00dfige Feststellung wirkt eben st\u00e4rker auf die Entwicklung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden als der blo\u00dfe entsprechende Gedanke, also der Gedanke, der nicht unter Einstellung zum Denken entsteht, und zwar deshalb, weil bei urteilsm\u00e4\u00dfiger Feststellung die betreffenden intellektuellen Tatbest\u00e4nde sich in gr\u00f6\u00dferer Vollst\u00e4ndigkeit und in gr\u00f6\u00dferer Intensit\u00e4t auspr\u00e4gen als ohne solche' von der Einstellung zum Denken abh\u00e4ngige Feststellung.\t:\nZu der urteilsm\u00e4\u00dfigen Feststellung kommt hier noch hinzu, da\u00df eine Beziehung zu den Interessen der..eigenen Pers\u00f6nlichkeit gesetzt wird.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n78","page":1189},{"file":"p1190.txt","language":"de","ocr_de":"1190\nGr. St\u00f6rring\nBesonders stark ist die Steigerung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchls-reaktion dann, wenn eine Beziehung des betreffenden Tatbestandes zu den aktuellen Interessen der eigenen Pers\u00f6nlichkeit Urteils -m\u00e4\u00dfig festgestellt wird.\nEine Best\u00e4tigung dieser Entwicklung wird sich uns sp\u00e4ter bei experimenteller Untersuchung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ergeben.\nSteigernd auf die Intensit\u00e4t der pathologischen Gef\u00fchl s-zust\u00e4nde wirkt sodann bei Zwangsgedanken unter Umst\u00e4nden eine Eigent\u00fcmlichkeit dieser Gedanken, die Friedmann mit dem Kamen \u201eu nabgeschlossene Vorstellungen\u201d bezeichnet hat.\nIn anderem Zusammenhang haben wir diese Wirkung bereits besprochen1).\nWir haben noch eine negativeBedingungzu nennen, welche in den F\u00e4llen der Zwangsgedanken den ganzen Bestand der Zwangsgedanken mit ihren pathologischen Affekten mitbedingt und aufrecht erh\u00e4lt, das ist die E n t s c h 1 u \u00df u n f \u00e4 h i g k e 11 dieser Kranken. Friedmann, der diesen Tatbestand f\u00fcr die Genesis stark betont, gibt eine intellektualistisch gestaltete Analyse desselben. Er sagt, das aufregende Erlebnis sei f\u00fcr den Patienten neu und \u201esozusagen unver s t\u00e4ndlic h\u201d. Es stellt gerade ein solch aufregendes Erlebnis, um mit Li'p'ps zu reden, \u201eeine drin-g e n d e Frage an das Subjekt, was es dazu sage, wie es sich dazu verhalten soll. Kur gelingt es eben nicht, auf dem Wege der logischen Reflexion dar\u00fcber klar zu werden. Im Gegenteil, das denkende2) reflektierende Ich wird in der herrschenden \u00e4ngstlichen Erregung halbwegs beiseite geschoben werden\u201d. \u201eWenn die logische Einsicht und ein Affektgef\u00fchl miteinander streiten, bedarf es eines kr\u00e4ftigen Denkentschlusses, um sich von der Affektwirkung frei zu machen. Einen solchen bringt wohl der gesunde, nicht aber der nerv\u00f6s erregte Mensch auf\u201d 3).\nFriedmann spricht also bei den Kranken von einer Entschlu\u00df-Unf\u00e4higkeit im Sinne des Mangels eines kr\u00e4ftigen D e nk entschlusses, des Mangels an \u201elogischer Reflexion\u201d, an Geltendmachung des denkenden reflektierenden Ichs, w\u00e4hrend doch der Gesunde, der sich mit schweren Erlebnissen \u201eabfindet\u201d, wirklich nicht viel an \u201elogischer Reflexion\u201d, an \u201eDenkentschlu\u00df\u201d aufzuwenden hat! Was dem Kranken fehlt, ist nicht sosehr eine \u201elogische Reflexion\u201d, als eine auf eine einfach zu vollziehende urteilsm\u00e4\u00dfige Verarbeitung des\nx) Diese Schrift, 5. Kapitel.\n2)\tVom Autor gesperrt gedruckt.\n3)\t1. c. S. 389.","page":1190},{"file":"p1191.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1191\nTatbestandes sich gr\u00fcndende willensm\u00e4\u00dfige Selbstbehanptnng der Pers\u00f6nlichkeit gegen\u00fcber den irrationell qu\u00e4lenden Gedanken !\nDiese willens m\u00e4\u00dfige Selbstbehauptung der Pers\u00f6nlichkeit werden wir sp\u00e4ter n\u00e4her zu besprechen Gelegenheit haben.\n2. Wir fassen jetzt die Herabsetzung der Intensit\u00e4t der pathologischen Gef\u00fchlszust\u00e4nde in ihren Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen ins Auge.\nMan scheidet hier am besten zwischen einer ganz vor\u00fcbergehenden und dauernden Aufhebung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Ein Assistent Gaupps sah im Kriege nach elft\u00e4gigem Feuer mehrere Leute gleichzeitig in apathischem Stupor verfallen; sie wurden bald wieder gesund, nachdem sie in Ruhestellung zur\u00fcckgenommen waren. Sie sagten \u00fcber ihren Zustand, ,,sie h\u00e4tten eben nimmer gekonnt\u201d 1). \u00c4hnliches berichtet \u00fcber Kriegserfahrungen J. Lange2). Ich gebe hier einen gut beschriebenen Einzelfall.\nBei schwerem Erdbeben in Tokio machte der Psychiater Baetz eine interessante Beobachtung an sich selbst3). \u201eDie Situation war folgende: Das ganze Erdreich fing an zu schwanken, so da\u00df man sich wie betrunken f\u00fchlte, die Ziegel und Steine fielen von den D\u00e4chern der H\u00e4user, Fenster klirrten, die erschreckten Menschen st\u00fcrzten auf die Stra\u00dfe, Pferde wurden scheu und drohten mit dem Wagen in den ansto\u00dfenden tiefen Schlo\u00dfgraben zu rennen. Die schwere Gefahr f\u00fcr die ganze Stadt war klar, und mein erster Trieb war, nach Hause zu eilen, um zu sehen, ob nicht dort ein Ungl\u00fcck passiert war. F\u00fcr den Augenblick aber war das eine Unm\u00f6glichkeit, und w\u00e4hrend ich wartete, bis das Schwanken des Bodens nachlie\u00dfe und man den Wagen besteigen k\u00f6nnte, ging pl\u00f6tzlich, aber ganz absolut pl\u00f6tzlich, eine v\u00f6llige Ver\u00e4nderung in meinem Innern vor. Alles h\u00f6here Gef\u00fchlsleben war erloschen, alles Mitgef\u00fchl mit anderen, alle Anteilnahme an m\u00f6glichem Ungl\u00fcck, ja selbst das Interesse f\u00fcr die bedrohten Angeh\u00f6rigen und f\u00fcr das eigene Leben waren verschwunden bei v\u00f6llig klarem Verst\u00e4nde, ja mir war, als ob ich leichterund freierund rascher d\u00e4chte als j e. Es war, als sei eine bisher vorhandene Hemmung pl\u00f6tzlich weggenommen, ich f\u00fchlte mich als Nietzschscher Herrenmensch niemandem verantwortlich, frei, alles zu tun und zu lassen, wie es mir beliebte, jenseits von Gut und B\u00f6se, ich stand da und betrachtete alle die schrecklichen Vorg\u00e4nge um mich mit derselben kalten Aufmerksamkeit, mit der man ein spannendes physikalisches Experiment verfolgt. Ich sagte mir, ,,ei, das kann ja h\u00f6chst interessant werden, noch ein oder zwei solche St\u00f6\u00dfe und alle H\u00e4user um mich st\u00fcrzen ein; die ganze Stadt wird ein Tr\u00fcmmerhaufen; die Tr\u00fcmmer fallen auf die brennenden Herdfeuer und Kohlenbecken. Es entstehen wie bei den fr\u00fcheren gro\u00dfen Erdbeben im Jahre 1854 ungeheure Br\u00e4nde; Tausende von Menschen werden erschlagen, vielleicht kommt auch noch eine Springflut hinzu und verschlingt den Stadtteil am Meere usw. \u2014 alles das, ohne da\u00df ich mich irgend dabei beteiligt f\u00fchlte.\nDann, ebenso pl\u00f6tzlich wie er gekommen, verschwand dieser abnorme Zustand, und machte meinem fr\u00fcheren Ich Platz. Als ich ,,zu mir kam fand ich, da\u00df mein Kutscher an mir zerrte und mich anflehte, doch aus der gef\u00e4hrlichen Nachbarschaft der H\u00e4user weg zu gehen. Das Wogen des Bodens hatte sich all-\nx) Bumke: Lehrbuch der Geisteskrankheiten. 2. Aufl. S. 186.\n2)\tJohannes Lange: Allg. Psych. S. 474.\n3)\tZeitschr. f. Psych. 58. 757 (1901).\n78*","page":1191},{"file":"p1192.txt","language":"de","ocr_de":"1192\nG. St\u00f6rring\nm\u00e4hlich zu einem leichten Zittern ahged\u00e4mpft, und ich eilte nach Hanse, mich v\u00f6llig normal f\u00fchlend;, als ob ich, nicht ein so seltsames Ereignis dnrchgemacht h\u00e4tte.\u201d '\nBaetz berichtet dann noch von einem \u00e4hnlichen Erlebnis des bekannten Afrikaforschers Livingstone. Livingstone berichtet, da\u00df er einst am Lagerfeuer mit heftigem Schmerz im Arm erwachte. Ein L\u00f6we hatte ihn am Arm gefa\u00dft. Er beschreibt dann, wie sein anf\u00e4nglicher wilder Schreck auf unerkl\u00e4rliche Weise pl\u00f6tzlich verschwand und einem Gef\u00fchl indifferenter Neugier Platz machte. Er habe sich gesagt: Nun hat dich die Bestie am Arm, dann zermalmt sie dir die Schulter, dann schl\u00e4gt sie dir mit der Tatze die Brust oder den Sch\u00e4del ein, und dann \u2014 nun ja, dann ist es eben aus. Er sah sich sozusagen ganz objektiv, der f\u00fchlende Teil seines Ich war eliminiert.\u201d\nEs handelt sich in solchen F\u00e4llen, wie es scheint, um.Ersch\u00f6pfungszust\u00e4nde, speziell f\u00fcr emotionelle Reaktionen. Wichtig ist hierbei, da\u00df hier die intellektuellen Bet\u00e4tigungen nicht in \u00e4hnlicher Weise gest\u00f6rt sind.\nWas die dauernde pathologische Herabsetzung der emotionellen Erregbarkeit betrifft, so will ich hier zun\u00e4chst die Schizophrenie ins Auge fassen.\nDie Herabsetzung der emotionellen Erregbarkeit tritt hier im Beginn der Erkrankung h\u00e4ufig deutlicher in die Erscheinung als die Herabsetzung der intellektuellen Leistungsf\u00e4higkeit.\nIn einer gewissen Phase des weiteren Fortschrittes der Erkrankung kann man die psychologisch sehr interessante Feststellung machen, da\u00df, w\u00e4hrend \u2019der Vollzug aktueller Wertsch\u00e4tzungen so gut wie aufgehoben ist, das Wissen von den Wertsch\u00e4tzungen noch intakt ist!\nBleuler sagt - \u00fcber eine mittlere Phase der Entwicklung dieser Erkrankung in seiner Monographie \u00fcber Dementia praecox folgendes1) :\n,,Eine Mutter kann schon im Anfang ihrer Krankheit f\u00fcr das Wohl und Wehe ihrer Kinder indifferent sein und doch nicht nur die Worte einer normal empfindenden Mutter brauchen, sondern auch wirklich alles verstehen, was f\u00fcr ein Kind gut oder sch\u00e4dlich ist, und bei Gelegenheit, z. B., wenn sie ihren Austritt aus der Anstalt motivieren m\u00f6chte, dar\u00fcber' ganz richtig diskutieren.\nOb ihre Familie oder sie selbst zugrunde gehe, das ist solchen Kranken gleichg\u00fcltig, der Trieb der Selbsterhaltung ist auf Null reduziert; die Kranken k\u00fcmmern sich nicht darum, ob sie verhungern oder nicht, ob sie auf Eis liegen oder auf einem erhitzten Ofen. Bei einem Anstaltsbrande mu\u00dften eine Anzahl Patienten aus den bedrohten Abteilungen gef\u00fchrt werden; sie h\u00e4tten sich nicht vom Platze bewegt; sie h\u00e4tten sich ohne Affekt ersticken oder verbrennen lassen1).\u201d\nx) Bleuler: Dem. praecox. S. 32.","page":1192},{"file":"p1193.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1193\nII. Pathologische \u00c4n.'de r u ng der Dauer der ;\nGef\u00fchlszust\u00e4nde.\nAuch ans der pathologischen \u00c4nderung der Dauer der Gef\u00fchls -zustande lassen sich wichtige Folgerungen f\u00fcr das normale Seelenleben ziehen. Es kommt hier besonders die Verk\u00fcrzung der Dauer der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Betracht.\nEine Verk\u00fcrzung der Dauer der Gef\u00fchlszust\u00e4nde findet man bei der Erscheinung, die man als L a b i 1 i t \u00e4 t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde bezeichnet : abnorm beschleunigtes Abklingen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden bei Tendenz zum Umschlag der Stimmung in eine andere Qualit\u00e4t;\nLabilit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde findet man bei Hysterie, bei organischen Psychosen (Paralyse und Altersdemenz), Alkoholismus und Manie.\nMir scheint, da\u00df in all diesen F\u00e4llen die Labilit\u00e4t verschieden bedingt ist. Wo in der Literatur von Labilit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde gesprochen wird, bekommt man im allgemeinen den Eindruck, da\u00df es sich um ein und denselben Tatbestand in den verschiedenen F\u00e4llen handeln soll.\t\u25a0 - -\t-\nAber es ist etwas anderes, wenn man bei dem Hysterischen von Labilit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde spricht, als wenn bei Senilen und Paralytikern davon gesprochen wird. Bei dem Paralytiker und bei der senilen Demenz l\u00e4\u00dft sich auf entsprechendes Einreden hin \u00ebin Umschlag der Stimmungslage erzeugen. Beim Paralytiker, ist das, wenn nicht ganz, so doch in der Hauptsache i n t e II e.k-tuell bedingt: das unmittelbare Behalte n Ls t bei ihm abnorm herabgesetzt. \u00c4hnlich bei der s\u00e8nilen Demenz.\tb .\u2022\nVon dieser Art der Labilit\u00e4t des Gef\u00fchlszustandes unterscheidet sich am meisten die Labilit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei Hysterischen, wo sie eine nicht weiter ableitbare Eigent\u00fc ml ichkeit des Gef\u00fchlslebens dar-s t e bl t. - \u2022\nVon der emotionellen Abnormit\u00e4t der AT k o-h olik er gibt Bleuler eine anschauliche Schilderung1).\n,,Es ist im gro\u00dfen und ganzen unrichtig, da\u00df der chronische Alkoholiker in seinen Gef\u00fchlen ,abgestumpft\u2019 sei. Er wird im Gegenteil von seiner Affektivit\u00e4t \u00fcbermannt ; wenn er seine Familie schlecht behandelt, sein Gesch\u00e4ft vernachl\u00e4ssigt, so liegt in erster Linie eine positive Ursache vor. Er hat a n d e r e Interessen, die ihn besch\u00e4ftigen und deren Begleitaffekte ihn so beherrschen, da\u00df er jene R\u00fccksichten vergi\u00dft. Im moralischen Katzenjammer, in einer Aufwallung von Liebe, zeigt jeder einfache Alkoholiker\nP Bleuler: Affektivit\u00e4t, Suggestibility\u00e4t, Paranoia. 2. Aufl. S. 59.\t\u00a3","page":1193},{"file":"p1194.txt","language":"de","ocr_de":"1194\nG. St\u00f6rring\nHunderte von Malen, da\u00df er die Gef\u00fchle f\u00fcr seine Familie noch hat. Ist er in die Anstalt eingesperrt, so kann er seiner mi\u00dfhandelten Frau aus seinem Herzen heraus die sch\u00f6nsten Briefe schreiben, die liebevollsten Worte geben. Darin liegt ja das Gef\u00e4hrliche, Sirenenhafte des alkoholischen Charakters, da\u00df er mit wirklicher \u00dcberzeugung und mit wirklichem Affekt die sch\u00f6nsten Versprechungen machen, die gr\u00f6\u00dfte Liebe zeigen kann, so da\u00df in der Begel die hundertmal get\u00e4uschte Frau sich zum hundertundeinsten Male wieder t\u00e4uschen l\u00e4\u00dft. Der Alkoholiker kann coram publico in Str\u00f6me von Tr\u00e4nen ausbrechen, wenn irgendeinem Bekannten ein Frost die Ernte gef\u00e4hrdet, und daneben sein eigenes Verm\u00f6gen verlumpen und Frau und Kind mi\u00dfhandeln. Er kann auch in Gesellschaft, wo man nur Worte und Gef\u00fchle und keine Taten von ihm verlangt, mit Hecht als der beste, begeisterungsf\u00e4higste Mensch gelten, wie gemein er auch zu Hause mit seiner Familie umgeht. Es ist also nicht eine Abstumpfung der Gef\u00fchle bei ihm vorhanden, sondern ein zu starkes und rasches Anschl\u00e4gen und Abklingen derselben. So fehlt ihm die Nachhaltigkeit und die M\u00f6glichkeit, den Versuchungen zu widerstreben, weil der Beiz der Versuchung ihn so gut \u00fcberw\u00e4ltigt, wie ihn irgendein anderes Gef\u00fchl beherrscht hatte, das einen Moment vorher in ihm angeregt worden war. Da\u00df bei diesem Gef\u00fchlsdusel kaum je etwas Gutes, aber so unendlich viel Schlechtes herauskommt, findet seine Erkl\u00e4rung unter anderem sehr leicht darin, da\u00df es eben zu einem guten Handeln, zum Schaffen und Leisten in der Welt der Ausdauer und Nachhaltigkeit bedarf, w\u00e4hrend eine Dummheit, eine Gemeinheit allzu schnell begangen ist. Man findet nichts auffallend Gutes daran, wenn der Trinker beim Nachhausekommen in mehr oder weniger heiterer Stimmung mit seiner Frau z\u00e4rtlich ist; man hat aber sehr guten Grund, sein Betragen in h\u00f6chstem Grade tadelnswert zu finden, wenn er einen Augenblick darauf, gereizt durch zu geringes Entgegenkommen oder eine wenig enthusiastische Bemerkung der Gattin, mit ihr grob wird. Von Fernerstehenden allerdings wird es ihm leider als Tugend angerechnet, wenn er an einem patriotischen Fest eine tief empfundene Bede h\u00e4lt, der nachzuleben er vollst\u00e4ndig unf\u00e4hig ist. Die Affektivit\u00e4t des Alkoholikers ist nicht eine herabgesetzte, sondern eine erh\u00f6hte; alle Gef\u00fchle k\u00f6nnen bei ihm anschlagen und sie schlagen leichter an als beim Gesunden, aber es fehlt ihnen die Dauer; der Alkoholiker leidet wie der Organische an ,,emotioneller Inkontinenz\u201d.\nBeim Alkoholiker verbindet sich die Labilit\u00e4t der Gef\u00fchls-zust\u00e4nde mit einer abnorm leichtenAnspruchsf\u00e4hig-k e i t derselben.","page":1194},{"file":"p1195.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1195\nWie beim Hysterischen, so ist auch bei dem Alkoholiker die Labilit\u00e4t der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde sicherlich nicht in derHaupt-sache intellektuell durch abnorme Herabsetzung der F\u00e4higkeit zum unmittelbaren Behalten bedingt!'Zu einer n\u00e4heren Bestimmung \u00fcber die Labilit\u00e4t beim Alkoholiker bedarf es noch n\u00e4herer, speziell hierauf gerichteter Untersuchungen.\nMehr k\u00f6nnen wir jedenfalls \u00fcber die Labilit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde beim Maniakalischen sagen.\nEine sch\u00f6ne Schilderung des maniakalischen Typus finden wir bei Kraepelin.\n,,Die Auffassung \u00e4u\u00dferer Eindr\u00fccke und der Verlauf der Vorstellungen geht mit einer gewissen Leichtigkeit vor sich; das Interesse des Kranken w\u00e4chst nach den verschiedensten Bichtungen hin; er erscheint vielfach aufgeweckter, scharfsinniger, leistungsf\u00e4higer als fr\u00fcher. Namentlich ist es die Gewandtheit in der Erfassung entfernter \u00c4hnlichkeiten, die nicht selten dem H\u00f6rer imponiert, weil sie den Kranken zu witzigen Wendungen und Pointen, Wortspielen, \u00fcberraschenden, wenn auch bei genauerer Betrachtung meist wenig stichhaltigen Vergleichen und \u00e4hnlichen, auf gesteigerter Beobachtung^- und Kombinationsgabe beruhenden Leistungen der Phantasie bef\u00e4higt. Alles, was er angreift, wird ihm leicht; er kennt keine Erm\u00fcdung und zeigt eine ihn selbst \u00fcberraschende k\u00f6rperliche und geistige Begsamkeit. Stets ist jedoch schon bei den leichtesten Graden der St\u00f6rung der Mangel an innerer Einheit des Vors tellungs verlauf es, die Unf\u00e4higkeit zur konsequenten Verfolgung einer bestimmten Gedankenreihe, zur ruhigen, logischen Durcharbeitung und Ordnung gegebener Ideen, die Unbest\u00e4ndigkeit des Interesses, das j\u00e4he, unvermittelte Abspringen von einem Gegenst\u00e4nde zum anderen au\u00dferordentlich charakteristisch. Allerdings wissen die Kranken nicht selten mit einiger Anstrengung diese Erscheinungen vor\u00fcbergehend zu verwischen und die Herrschaft \u00fcber den z\u00fcgellos gewordenen Vorstellungsverlauf noch f\u00fcr einige Zeit wiederzugewinnen; in Schriftst\u00fccken und namentlich in den oft eifrig betriebenen Beimereien pflegt dann doch eine leichte Ideenflucht regelm\u00e4\u00dfig deutlich hervorzutreten. Die Stimmung der Kranken ist vorwiegend eine gehobene, heitere, durch das Gef\u00fchl der erh\u00f6hten Leistungsf\u00e4higkeit beeinflu\u00dfte. Er f\u00fchlt sich gl\u00fccklich und froh, nicht selten in etwas \u00fcberschwenglicher Weise.\u201d\nIn diesen Erkrankungsf\u00e4llen haben wir es also zu tun mit einer gehobenen Stimmung und mit einer gesteigerten Intensit\u00e4t der sich mit Vorstellungen und Gedanken verkn\u00fcpfenden Gef\u00fchls-zust\u00e4nde. Auf der intellektuellen Seite finden wir hier eine herabgesetzte Konzentration der Aufmerksamkeit f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit,","page":1195},{"file":"p1196.txt","language":"de","ocr_de":"2196\tG. St\u00f6rring\nw\u00e4hrend die Fixierung einer Vorstellung nnd eines Gedankens f\u00fcr k\u00fcrzere Zeit mit gro\u00dfer Energie erfolgt. Die beziehende T\u00e4tigkeit funktioniert gut, der Gedankenablauf ist beschleunigt. \u00c4hn-lichkeitsreproduktionen spielen eine gro\u00dfe Rolle. Die Kranken haben deshalb Gedankenblitze, aber bei dem raschen Wechsel der Objekte der Aufmerksamkeit kommt es zu nur unvollst\u00e4ndigen, abrupten intellektuellen Leistungen.\nDie gesteigerte Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde geht hier einher mit einer Steigerung des Grades der Fixierung, aber zugleich einer Herabset zungderDauer der Fixierung. Letztere ist jedenfalls zum Teil emotionell bedingt:\nEs liegt hier vor g e s t e i ge rteslnteresse der Kranken nach den verschiedensten Richtungen hin. Damit ist gegeben, 'da\u00df eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Vorstellungen und Gedanken so gef\u00fchlsstark ist, da\u00df sie f\u00fcr die Konkurrenz der Vorstellungen um den Eintritt in dem Blickpunkt des Bewu\u00dftseins in Betracht kommt. Nimmt also die Gef\u00fchls st\u00e4rke der im Blickpunkt stehenden Vorstellungen und Gedanken etwas ab, so ist eine gr\u00f6\u00dfere Wahrscheinlichkeit als in der Norm vorhanden, da\u00df ein Wechsel der Vorstellungen und Gedanken im Blickpunkt des Bewu\u00dftseins eintritt.\nDas gesteigerte Interesse ist aber bedingt durch die abnorm gehobene Stimmung. Eie mit Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken sich verkn\u00fcpfenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde h\u00e4ngen eben in ihrer Intensit\u00e4t nicht nur von diesen intellektuellen Unterlagen ab, sondern zugleich von der jeweilig vorhandenen Stimmung.\nVon der gehobenen Stimmung h\u00e4ngt also in letzter Linie durch die angegebenen kausalen Mittelglieder der rasche Wechsel in der Fixierung der Vorstellungen und Gedanken ab.\nEs wird aber nicht behauptet, da\u00df die gehobene Stimmung hier allein in diesem Sinne wirkt.\nBeim Maniakalischen wirkt f\u00fcr das Zustandekommen dieser Erscheinung sicherlich auch ein sekund\u00e4rer Faktor mit, und zwar ein intellektueller, aber ein intellektueller Faktor ganz anderer Art wie bei Paralytikern und senil Dementen. Der intellektuelle Faktor ist gegeben durch die gesteigerte Erregbarkeit der Hirnrind\u00eb, welche eine Beschleunigung des Vorstellungsund Gedankenverlaufes mit sich bringt. Durch die Beschleunigung","page":1196},{"file":"p1197.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1197\ndes Vors tellungs verlauf es wird aucli der Wechsel der Gef\u00fchls-zust\u00e4nde beg\u00fcnstigt.\nMan siebt, auf diesem Gebiete bedarf es noch n\u00e4herer psycho-pathologischer Untersuchungen. Sie werden der normalen Psychologie dann zeigen, welche verschiedenen Faktoren die Erscheinung der Labilit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde herbeizuf\u00fchren verm\u00f6gen.\nEine Verl\u00e4ngerung der Dauer der Gef\u00fchlszust\u00e4nde findet man bei Epileptikern.\nIII. Pathologische Herabsetzung der Bepro-duktionsf\u00e4higkeit der Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nBei der Moral insanity handelt es sich um einen Defekt im ethischen Gef\u00fchlslebens : Damit verbinden sich in vielen F\u00e4llen auch intellektuelle St\u00f6rungen. Aber die intellektuellen St\u00f6rungen k\u00f6nnen den ethischen gegen\u00fcber sehr stark zur\u00fccktreten. Ja, in manchen F\u00e4llen ist der ethische Defekt nicht auf das Konto geringer intellektueller Entwicklung zu setzen, so da\u00df die Auffassung sich nicht halten l\u00e4\u00dft, die Moral insanity sei durch intellektuellen Schwachsinn bedingt. F\u00e4lle von Moral insanity ohne intellektuellen Defekt sind in der Literatur beschrieben; ich habe auch selbst Kranke mit Moral insanity gesehen, die keinen intellektuellen Defekt aufwiesen.\nMit dem ethischen Defekt verbindet sich auch ein Defekt in den h\u00f6heren \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen.\nMan mu\u00df deshalb annehmen, da\u00df hier eine pathologische Herabsetzung de r Intensit\u00e4t der gesamten reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nde vorliegt1).\nLiegt eine solche St\u00f6rung vor, dann wird das Individuum auch in mancher Beziehung eigene Interessen^ deren Verfolgung reproduzierte Gef\u00fchlszust\u00e4nde voraussetzen, vermissen lassen, und so kann der Schein intellektuellen Beschr\u00e4nktseins entstehen.\n7. Kapitel.\nPatliopsyehologisehe Bestimmungen \u00fcber den Einflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf Erinnerungsprozesse.\n1. Gef\u00fchlszust\u00e4nde wirken nicht nur bestimmend auf die B e-Produktion von Vorstellungen und Gedanken, sondern auch auf Erinnerungsprozesse.\nl) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 427.","page":1197},{"file":"p1198.txt","language":"de","ocr_de":"1198\nG-. St\u00f6rring\nYon Erinnerung spreche ich da, wo sich reproduzierte Vorstellungen oder reproduzierte Gedanken mit der \u00dcberzeugung verbinden, da\u00df der Inhalt der Eeproduktion von mir erlebt wurde, ohne da\u00df diese \u00dcberzeugung durch ein Schlu\u00dfverfahren bedingt ist.\nAuf Grund von psychopathologischen Tatbest\u00e4nden habe ich a. a. O.1) erschlossen, wodurch diese \u00dcberzeugung, durch welche sich die Erinnerung von einfachen, r\u00e4umlich zeitlich zusammenh\u00e4ngenden Eeproduktionskomplexen unterscheidet, beruht.\nEs hat sich mir ergeben, da\u00df der Eeproduktionskomplex, welcher einer Erinnerung zugrunde liegt, sich anderen r\u00e4umlich zeitlichen Eeproduktionskomplexen gegen\u00fcber durch eine eigenartige, innige assoziative Beziehung der Teilvorstellungen und Teilgedanken auszeichnet. Die Innigkeit dieser Assoziation besteht nicht so sehr darin, da\u00df einzelne Verkn\u00fcpfungen eine besonders starke Intensit\u00e4t haben \u2014 sie sind ja h\u00e4ufig auf ein nur kurze Zeit dauerndes Zusammensein im Bewu\u00dftsein gegr\u00fcndet \u2014, sondern besonders in der Zahl derVerkn\u00fcp-fungen, welche einen fr\u00fcheren Ichzustand mit den \u00fcbrigen Teilvorstellungen und Teilgedanken und letztere untereinander verbindet.\nDiese Verkn\u00fcpfung eines fr\u00fcheren Ichzustandes mit den \u00fcbrigen Teilvorstellungen und Teilgedanken des Eeproduktions-komplexes und dieser \u00fcbrigen Teilvorstellungen und Teilgedanken untereinander zieht nun als Wirkung nach sich, da\u00df von jeder einzelnen dieser Teilvorstellungen oder Teilgedanken der ganze Komplex mit Einschlu\u00df des Gedankens des fr\u00fcheren Ichzustandes in solcher Weise reproduziert wird, da\u00df man den Eindruck des Sichaufdr\u00e4ngens des ganzen Komplexes gewinnt.\nUnd mit diesem Erleben des Sichaufdr\u00e4ngens des ganzen Komplexes mit Einschlu\u00df des fr\u00fcheren Ichzustandes ist die Er-innerungs \u00dcberzeugung innig verkn\u00fcpft. Das ist besonders dadurch bedingt, da\u00df wir in Denkprozessen mit dem Bewu\u00dftsein des Sichaufdr\u00e4ngens den Gedanken der G\u00fcltigkeit derselben verbunden finden. So bildet sich eine innige Assoziation aus zwischen dem Erleben des Sichaufdr\u00e4ngens und dem Gedanken der G\u00fcltigkeit. Auf Grund dieser Assoziation wird dann hier bei dem Erleben des Sichaufdr\u00e4ngens der Gedanke der G\u00fcltigkeit, innig mit diesem Erleben verkn\u00fcpft, reproduziert. Der hier auf tretende Gedanke der G\u00fcltigkeit unterscheidet sich also von dem in Denkprozessen auftretenden dadurch, da\u00df der Gedanke der G\u00fcltigkeit ein nur reproduzierter ist. Die von mir aus psychopathologischen\nb St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie und Psychologie. S. 307 ff.","page":1198},{"file":"p1199.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1199\nTatbest\u00e4nden gezogenen Folgerungen \u00fcber Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung der in der Erinnerung steckenden \u00dcberzeugung haben in sp\u00e4teren experimentellen Untersuchungen ihre Best\u00e4tigung gefunden1).\n2. Nachdem wir uns so in gro\u00dfen Z\u00fcgen \u00fcber das die Erinnerungsprozesse gegen\u00fcber einfachen Reproduktionsprozessen Charakterisierende Aufkl\u00e4rung verschafft haben, werden wir den Einflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf die Erinnerungsprozesse besser verst\u00e4ndlich machen k\u00f6nnen.\nWir geben zun\u00e4chst einen diesen Einflu\u00df illustrierenden Fall von Kraepelin.\nPatient, 55j\u00e4hriger H\u00e4usler, wird der psychiatrischen Klinik nach 30j\u00e4hrigem Aufenthalt im Zuchthause wegen Geistesst\u00f6rung zugef\u00fchrt. ,,Der Kranke, ein flei\u00dfiger, dem Tr\u00fcnke nicht ergebener Mann, heiratete mit 23 Jahren eine leichtfertige, wenig arbeitsame Frau, mit der er schon voreheliche Kinder gehabt hatte. Drei Jahre sp\u00e4ter, als er Grund zur Eifersucht zu haben glaubte, bedrohte er sie ernstlich mit dem Messer, worauf sie zu ihren nahen Eltern floh. Am gleichen Abend wurde ein Schu\u00df in das Zimmer abgegeben, der den Bruder des vermeintlichen Nebenbuhlers t\u00f6tete. Unser Kranker leugnete die Tat und suchte seine Abwesenheit nachzuweisen. Seine T\u00e4terschaft konnte jedoch mit unbedingter Gewi\u00dfheit dargetan werden. Er wurde darauf zum Tode verurteilt und zu lebensl\u00e4nglicher Zuchthausstrafe begnadigt. Im Strafvollzug erwies er sich als unbotm\u00e4\u00dfig und wurde wegen Widersetzlichkeit, Schimpfen, gottesl\u00e4sterlicher Beden, Einmischung in fremde Angelegenheiten, Beschreibens und Ver-steckens von Papier ziemlich oft bestraft, besonders h\u00e4ufig vom 16. Jahr seines Aufenthaltes im Zuchthause an, anschlie\u00dfend an die Ablehnung eines Gnadengesuches. Ein Jahr vorher hatte er die Nachricht vom Tode der Frau erhalten, die er sehr ungl\u00e4ubig aufnahm. ,,Eine solche junge, kr\u00e4ftige Frau stirbt doch nicht; das gibts nicht\u201d, meinte er. Zugleich beschuldigte er den Hausgeistlichen, mit seiner Frau in geschlechtlichen Beziehungen zu stehen, und behauptete, dieser habe das Ger\u00fccht von ihrem Tode verbreitet, um sein Verh\u00e4ltnis zu vertuschen, und sei ihm \u00fcberhaupt feindlich gesinnt. Er gestand jetzt auch zu, den verh\u00e4ngnisvollen Schu\u00df abgegeben zu haben, versicherte aber, er habe den Betreffenden nur in die Beine schie\u00dfen wollen und sei beim Abdr\u00fccken aus Versehen zu hoch gekommen. Nach 23 Jahren in ein anderes Zuchthaus \u00fcberf\u00fchrt, behauptet er hartn\u00e4ckig, zu Unrecht verurteilt zu sein und verlangte leidenschaftlich die Wiederaufnahme des Verfahrens, da er Zeugen habe, die seine Unschuld beweisen k\u00f6nnten. .. Er sei ein Freiheitsmensch\n1) St\u00f6rring\\ Psychologie. S. 311 ff.","page":1199},{"file":"p1200.txt","language":"de","ocr_de":"1200\nG. Stoning\nund brauche eigentlich um nichts zu bitten; er sei ein Ehrenmann und kein Verbrecher wie die anderen.\nIn der Klinik ist er klar und geordnet, beklagt sich, unschuldig verurteilt zu sein, ,,es mu\u00df Gerechtigkeit geschehen, wenn es \u00fcberhaupt noch eine gibt\u201d. ... Er gibt zu, geschossen zu haben; es sei aber ,,ein eifers\u00fcchtiger Schreckschu\u00df ohne die Absicht des Bresthaften\u201d gewesen; er hat niemand t\u00f6ten, sondern nur die zwei, die Unkeuschheit trieben, auseinander bringen wollen. Er f\u00fchrt auch eine Eeihe von \u00c4u\u00dferungen an, die ihm g\u00fcnstig seien. (Erinnerungst\u00e4uschungen.) So habe der F\u00fcnfrichtersenat in Passau ihn freigesprochen; der Ministerialdirektor habe ihm erkl\u00e4rt, da\u00df seine Akten nicht richtig seien; der Herr Sekret\u00e4r im Zuchthause habe alles aufgenommen und ihm versprochen, da\u00df seine BerufungsVerhandlungen demn\u00e4chst stattfinden werde; er k\u00f6nne jetzt schon Formfehler nach-weisen.\nKraepelin sagt dazu: ,,Das starke Gem\u00fctsbed\u00fcrfnis, sich innerlich frei zu machen, f\u00fchrt zu Erinnerungst\u00e4uschungen, wie sie hier in reichem Ma\u00dfe vorliegen.\u201d\nIn diesem Fall liegt also eine Beeinflussung von Erinnerungsprozessen durch emotionelle Faktoren vor. Wir haben uns nun zu fragen, wie diese Beziehung des N\u00e4heren -kausal bedingt ist. Wir wissen, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde die Reproduktion von Vorstellungen und Gedanken beeinflussen k\u00f6nnen. Wir wissen aber auch, da\u00df Erinnerungsprozesse nicht einfache Reproduktionsprozesse sind. Wir m\u00fcssen uns fragen, wie kommt es, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde die Erinnerungsprozesse beeinflussen k\u00f6nnen, obgleich das doch Prozesse sind, in denen \u00dcberzeugungs bewu\u00dftsein \u00e4uftritt, das wir oben n\u00e4her charakterisiert haben.\nZu einer Beantwortung dieser kausalen Frage werden wir gef\u00fchrt, wenn wir ber\u00fccksichtigen, was wir auf Grund anderer psychopathologischer Tatbest\u00e4nde \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen dieser \u00dcberzeugung ausgemacht haben.\nEs zeigte sich uns, da\u00df das \u00dcberzeugungs bewu\u00dftsein sich auf das Erleben des Sichaufdr\u00e4ngens gr\u00fcndet, welches wieder durch eine innige Verkn\u00fcpfung der Teil Vorstellungen und Gedanken des Reproduktionskomplexes bedingt ist. Nun ka nn aber ein starker Gef\u00fchlszustand eine so starke Anregung der Reproduktion eines ein bestimmtes fr\u00fcheres Geschehen betreffenden Gedankens a n r e g e n, da\u00df damit, das Erlebnis des Sichaufdr\u00e4ngens dieses Gedankens gegeben ist; dadurch gewinnt der Gedanke aber, wie wir sahen, Erinnerungsdignit\u00e4t. Mit der positiven Anregung der Reproduktion kann","page":1200},{"file":"p1201.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie .des Gef\u00fchlslebens\n1201\nzugleich eine negative, d. h. eine Hemmung eines Gedankens gegeben sein, der einem entgegengesetzten Urteil entspricht.\nSo kann ein fr\u00fcher von uns erlebtes Geschehen, welches eine geliebte oder geha\u00dfte Person betrifft, durch starke Hiebe oder starken Ha\u00df v erf \u00e4lscht werde n, wenn der konkreten Erinnerung der von Ha\u00df, oder Liebe begleitete Gedanke' an diese Person vorangeht und so der entsprechende Affekt in die Lage kommt, die Be productions- und Hemmungsprozesse f\u00fcr die einzelnen Teilgedanken, welche das Geschehen betrifft, in starker Weise zu beeinflussen. \u2014\nMethodologisch ist zu dieser Entwicklung zu sagen, da\u00df hier die Verwertung der fest gestellten komplexen psychopath o-logischen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung f\u00fcr die normale Psychologie sich auf eine anderweitige Verwertung psychopat-hologischer Tatbest\u00e4nde f\u00fcr die normale Psychologie gr\u00fcndet.\nFreud rechnet zu den emotionell bedingten Erinnerungst\u00e4uschungen eine \u201eA bwehrvon Erinnerungsunlus t\u201d. Wir werden diese Auffassung sp\u00e4ter bei Besprechung der \u201eFehlleistungen\u201d einer Kritik unterziehen.\n8. Kapitel.\nVerfolgungswahn bei intakter Intelligenz und daraus sieh ergebende Folgerungen f\u00fcr die normale Psychologie des Gef\u00fchlslebens.\nA. Unter Wahnideen versteht man Urteilst\u00e4uschungen, die den Charakter der Unkorrigierbarkeit tragen und die auf pathologischem Wege entstanden sind.\nWir teilen die Wahnideen f\u00fcr unseren Zweck in zwei Klassen ein. Wir unterscheiden Wahnideen, die sich bei intakter Intelligenz entwickeln, von solchen, die bei St\u00f6rung der intellektuellen Punktionen zur Entwicklung kommen.\nAm deutlichsten tritt uns der Gegensatz zwischen wahnhaften Ideen und intakter Intelligenz bei unkompliziertem Verfolgungswahn entgegen.\t.\nVerfolgungswahn bei intakter Intelligenz findet man bei Paranoia.\nKraepelin definiert die Paranoia folgenderma\u00dfen: Sie ist charakterisiert : durch \u201edie aus inneren Ursachen erfolgende schleichende Entwicklung eines dauernden unersch\u00fctterlichen","page":1201},{"file":"p1202.txt","language":"de","ocr_de":"1202\nGr. St\u00f6rring\nWahnzustandes, der mit vollkommener Erhaltung der Klarheit und Ordnung im Denken, Wollen und Handeln einhergeht.\u201d\nUns interessiert hier vom Standpunkt der allgemeinen Psychopathologie nicht, oh ein Verfolgungswahn chronisch ist oder nicht, es interessiert uns in erster Linie, ob er unkompliziert durch Schwachsinn sowie durch Halluzinationen und Illusionen auf tritt.\nManche \u00e4ltere Psychiater von Ruf haben, weil sie die Widersinnigkeit der Verfolgungsideen sich nicht ohne Annahme von Schwachsinn verst\u00e4ndlich machen konnten, behauptet, da\u00df Verfolgungsideen nur bei Schwachsinn auf treten. Das widerspricht aber den Tatsachen. Es mu\u00df betont werden, da\u00df Schwachsinn keine conditio sine qua non der Verfolgungsideen ist. Man kann bei einer gro\u00dfen Anzahl von Patienten mit Verfolgungswahn eine weit \u00fcber das Mittelma\u00df hinausgehende Urteilsf\u00e4higkeit in bezug auf Dinge, die zu ihren Wahnideen keine Beziehung haben, feststellen \u2014 und daneben obskure Wahnideen, die von einer unter dem Durchschnittsma\u00df stehenden Intelligenz leicht als obskur zu erkennen sind.\nSo sieht man denn auch h\u00e4ufig, da\u00df Kranke von mittelm\u00e4\u00dfiger Intelligenz sich \u00fcber die Verfolgungsideen von Kranken mit ausgesprochen h\u00f6herer Intelligenz lustig machen.\nEs entsteht also f\u00fcr uns hier das interessante Problem, wie es zu obskuren Wahnideen bei intakter Urteilsf\u00e4higkeit kommen kann. Die Verfolgung dieses Problems ist von eminenter Bedeutung f\u00fcr die Psychopathologie und ebenfalls f\u00fcr die normale Psychologie.\nW\u00e4hrend man fr\u00fcher die Verfolgungsideen bei sonst intakter Intelligenz als eine prim\u00e4re Denkst\u00f6rung angesehen hat, stimmen die Psychiater jetzt fast allgemein darin \u00fcberein, da\u00df hier eine St\u00f6rung im Gef\u00fchlsleben die Ursache der Wahnideen ist.\nIch habe in meinen Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie 1900 zuerst den streng psychologischen Beweis daf\u00fcr erbracht. Im Jahre darauf ist der Psychiater Specht ebenfalls f\u00fcr die Entstehung dieser Wahnideen aus einer St\u00f6rung im Gef\u00fchlsleben eingetreten.\nMein Beweis der Entstehung der Verfolgungsideen bei intakter Intelligenz vollzog sich in zwei Etappen: Ich zeigte zun\u00e4chst, da\u00df f\u00fcr Entstehung dieser Verfolgungsideen eine krankhaft intensive mi\u00dftrauische Verstimmung verantwortlich zu machen ist und wie dieselbe entsteht, und sodann, wie auf Grund der mi\u00dftrauischen Verstimmung","page":1202},{"file":"p1203.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1203\ndie Urteilst\u00e4uschungen der Wahnideen entspringen.\nI. la) Ich wies zun\u00e4chst eine Gruppe von F\u00e4llen dieses Verfolgungswahnes auf, in der sich aus begr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen eine mi\u00dftrauische Verstimmung und damit unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen entwickelte.\nDahin geh\u00f6rt z. B. zun\u00e4chst der Fall eines Patienten mit Verfolgungsideen jungen Datums. Der Kranke, ein Beisender f\u00fcr ein gro\u00dfes kaufm\u00e4nnisches Unternehmen, hatte seit Jahren begr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen gegen einen Prokuristen seines Gesch\u00e4ftes. Der betreffende Prokurist suchte notorischer weise dem Chef gegen\u00fcber diejenigen Angestellten in geh\u00e4ssiger Ameise zu verkleinern, von denen er Konkurrenz f\u00fcrchten zu m\u00fcssen glaubte. Da sich unser Kranker nun durch seine Leistungen besonders auszeichnete, indem er zeitweilig den gr\u00f6\u00dften Umsatz erzielte, so waren seine Handlungsweisen h\u00e4ufig Objekte mi\u00dfg\u00fcnstiger Beurteilung. Patient hatte deshalb seit Jahren begr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen diesem Manne gegen\u00fcber gehabt. Kun kam Patient infolge unregelm\u00e4\u00dfigen Lebens und angestrengtester T\u00e4tigkeit k\u00f6rperlich sehr herunter. Er nahm an K\u00f6rpergewicht ab, wurde sehr an\u00e4misch.\nDie \u00fcblichen Schikanen von seiten des betreffenden Prokuristen griffen ihn jetzt mehr an als fr\u00fcher. Es bildete sich nun bei ihm zun\u00e4chst die wahnhafte Idee aus, sein Chef, von dem er fr\u00fcher mit Becht \u00fcberzeugt gewesen war, da\u00df er sich durch mi\u00dfg\u00fcnstige Beurteilung seiner Handlungsweisen nicht beeinflussen lie\u00df, habe sich von jenem Prokuristen gegen ihn einnehmen lassen. Mit einem Wort, es entwickelte sich unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen seinem Chef gegen\u00fcber. Es dauerte nicht lange, da ,,merkte\u201d er, da\u00df die Kunden ihn anders behandelten als fr\u00fcher, sie m\u00fc\u00dften wohl von seiten des Chefs gegen ihn eingenommen worden sein. Er reiste deshalb nach Hause, bat seinen Chef, ihm doch zu sagen, was er eigentlich gegen ihn habe, er m\u00f6ge ihn doch entlassen usw. Die Versicherungen des Chefs, da\u00df gegen ihn nichts vorliege, da\u00df er ihm nach wie vor volles Vertrauen schenke und mit ihm sehr zufrieden sei, vermochten ihn jetzt noch zu bestimmen, wieder auf Beise zu gehen. Er ,,bemerkte\u20195 aber dasselbe ver\u00e4nderte Benehmen der Kunden, dabei fiel ihm jetzt au\u00dferdem auf, da\u00df man ihn auf der Stra\u00dfe eigenartig ansah, er witterte dahinter nichts Gutes. Er wurde nun einer Klinik zugef\u00fchrt. Hier bezogen sich die wahnhaften Ideen mi\u00dftrauischer Art bald auf seine Umgebung.\nIn bezug auf diesen Fall wird wohl niemand behaupten wollen, da\u00df das unbegr\u00fcndete Mi\u00dftrauen die Folge eines Beziehungswahnes sei. Der Wahn, angesehen zu werden, ist nat\u00fcrlich nicht ohne weiteres als Beziehungswahn anzusehen, es fragt sich,","page":1203},{"file":"p1204.txt","language":"de","ocr_de":"120.4\nG-. St\u00f6rring\nob der Beziehungswahn mit Mi\u00dftrauen einhergeht oder nicht. Der Wahn, angesehen zn werden, ist hier jedenfalls ausgesprochen mi\u00dftrauisch gef\u00e4rbt. Er tritt \u00fcbrigens erst nach den Yerfolgnngsideen anf. Ihnen voraus geht keine Spur von blo\u00dfem Beziehungswahn. Das unbegr\u00fcndete Mi\u00dftrauen schlie\u00dft sich vielmehr an das begr\u00fcndete Mi\u00dftrauen an. Unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen tritt hier auf, sobald das begr\u00fcndete Mi\u00dftrauen, welches lange Zeit hindurch bestand, immer neue Nahrung fand und die vitalsten Interessen des Patienten betraf, sich mit reizbarer Schw\u00e4che kompliziert. \u2014\nMethodologisch ist zu betonen, da\u00df das die im Tatsachenbestand gegebenen Faktoren sind, welche hiernach die Ursachen des unbegr\u00fcndeten Mi\u00dftrauens zu sein scheinen. Die Wahrscheinlichkeit f\u00fcr die hier angenommene Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung steigt dadurch, da\u00df wir das unbegr\u00fcndete Mi\u00dftrauen h\u00e4ufig nach dem Zusammenvorkommen dieser beiden Faktoren auftreten sehen und wir sie nicht zusammen vorkommend finden, ohne da\u00df sich daraus unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen entwickle. Wenn wir sp\u00e4ter auseinandersetzen k\u00f6nnen, da\u00df sich die Entwicklung des abnormen Mi\u00dftrauens aus diesen Faktoren leicht verst\u00e4ndlich machen l\u00e4\u00dft, so werden wir darin eine weitere Best\u00e4tigung unserer Annahme sehen d\u00fcrfen.\nIn einem \u00e4hnlichen Fall hatte eine Patientin, die von jeher sehr empfindsam war, in der Laktationsperiode vielfache Erregungen, indem sie Veranlassung zu begr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen gegen eine bestimmte Person hatte. Ihr Dienstm\u00e4dchen lie\u00df sich h\u00e4ufig L\u00fcgen zuschulden kommen, naschte viel und betrog sie beim Einkauf von Waren. Sie hegte deshalb begr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen gegen dasselbe. Den mi\u00dftrauischen Gedanken gegen das M\u00e4dchen ging sie um so mehr nach, als ihr Mann in dieser Zeit wochenlang nicht zu Hause war. Es kam zuletzt zur Entlassung des M\u00e4dchens und dabei zu Streitigkeiten des Lohnes wegen, die ebenfalls starke Erregungen herbeif\u00fchrten. In diese Zeit f\u00e4llt bei der Patientin das erste unbegr\u00fcndete Mi\u00dftrauen. Ein Bureaugehilfe ihres Manne hat sie angeblich absichtlich nicht gegr\u00fc\u00dft. Die Gehilfen lassen h\u00e4ufig ,,aus Schikane\u201d die Korridort\u00fcr offen stehen. Einige Tage darauf ist ihr Geburtstag, dessen Ereignisse neuem Mi\u00dftrauen Nahrung geben. Einige Freundinnen hatten ihr nicht gratuliert. Der Brief der Mutter war nicht wie sonst von den Geschwistern mitunterschrieben. (15. Februar.) In den n\u00e4chsten Tagen besch\u00e4ftigt sich Patientin noch weiter mit den Ereignissen des Geburtstages und \u00e4u\u00dfert sich wiederholt ihrem Manne gegen\u00fcber: ,,Ich glaube, es wird ein Spiel mit uns getrieben, alles das macht man aus Schikane.\u201d Am Morgen des 22. Februar ist ihr \u201ealles' kl\u00e4r geworden\u201d. Es wird sicher ein Spiel mit ihr getrieben,","page":1204},{"file":"p1205.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1205\nein Freund eines Geistlichen, auf den sie sich als M\u00e4dchen mehrere Jahre hindurch Hoffnungen gemacht hat, stecke dahinter. Der-' seihe will sie dem\u00fctigen, da\u00df sie wieder zur Kirche komme.. Alle Beteiligten m\u00fcssen ihm'berichten. ,, Jetzt ist das Bild fertig; jetzt ist mir alles klar! Das ist alles nur Mache.\u20195\t-, .\nHier sehen wir reichlich Gelegenheit gegeben zur Entstehung von begr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen in der Zeit der Laktation. Zu der Laktation kommen die durch das Mi\u00dftrauen gesetzten Erregungen hinzu, und sodann Aufregungen wegen der Lohnstreitigkeiten mit dem Dienstm\u00e4dchen. Das alles mu\u00df bei der Patientin eine reizbare Schw\u00e4che erzeugen.\nIn diese Zeit f\u00e4llt das erste ,,Schikaniertwerden\u201d. Da kommt es zu unbegr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen gegen die Freundinnen und die Angeh\u00f6rigen. Systematisiert werden die Yerfolgungsideen, indem sie die erkl\u00e4rende Annahme macht, da\u00df ein Freund jenes Geistlichen, der in ihrem Geistesleben eine gro\u00dfe Bolle gespielt hat, die Schikanierungen inszeniere.\nHier finden wir wieder Mi\u00dftrauen und reizbare Schw\u00e4che die Yerfolgungsideen einleiten. Von Mitwirkung des Beziehungswahnes zum Zustandekommen des abnormen Mi\u00dftrauens kann gar keine Bede sein, es ist keine Spur von ihm zu entdecken.\nUnbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen fanden wir hier also abh\u00e4ngig von h\u00e4ufigem Auftreten begr\u00fcndeten Mi\u00dftrauens, das sich mit reizbarer Schw\u00e4che kompliziert. In solchen Zust\u00e4 n d e m reizbarer Schw\u00e4che greifen Gem\u00fctserregungen das Individuum st\u00e4rker an, sie gewinnen eine gr\u00f6\u00dfere Intensit\u00e4t und eine l\u00e4ngere Dauer, sie zittern l\u00e4nger nach. Aus dem mi\u00dftrauischen Affekt entwickelt sich infolgedessen eine mi\u00dftrauis che S t i m m uh g, die tiefer greift als in der Morm. Durch h\u00e4ufiges Wiederholen des mi\u00dftrauischen Affektes setzt sich bei dem Individuum allm\u00e4hlich eine mi\u00dftrauische Stimmung fest. Wie diese mi\u00dftrauische Stimmung unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen, Yerfolgungsideen zustande bringen kann, setzen, wir sp\u00e4ter auseinander.\nBez\u00fcglich der mi\u00dftrauischen Verstimmung will ich hier methodologisch noch erw\u00e4hnen, da\u00df sie nicht etwa blo\u00df auf Grund der h\u00e4ufigen Wiederholung des mi\u00dftrauischen Affektes bei reizbarer Schw\u00e4che angenommen wird, sondern auch selbst als tats\u00e4chlich vorhanden unschwer nachweisbar ist.\nIch will hier die Behauptung der Entstehung Won unbegr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen aus begr\u00fcndetem auch durch einige F\u00e4lle der neuesten Literatur belegen. ; .\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n79","page":1205},{"file":"p1206.txt","language":"de","ocr_de":"1206\nG-. St\u00f6rring\nDem ersten der von mir gegebenen F\u00e4lle entspricht v\u00f6llig in der gedachten Beziehung ein Fall von Friedmann nach Kretschmer1).\nFriedrich L., Holzdrechsler (in einer Maschinenfabrik), 491/2 Jahre alt. ,Es besteht eine m\u00e4\u00dfig starke Belastung. Flei\u00dfig, von gew\u00f6hnlicher Begabung, aber ungew\u00f6hnlich weichherzig und empfindlich. Es war ein gr\u00f6\u00dferer, allerdings rasch beigelegter Streik in dem gro\u00dfen Fabrikanwesen ausgebrochen; er selbst beteiligte sich nicht daran, und in einer damaligen Arbeiterversammlung wurde er \u00f6ffentlich von einem Kollegen mit Unrecht als Verr\u00e4ter genannt, der dem Meister seine Kenntnis der Dinge nach Denunziantenart zutrage. Er war nicht in der Versammlung, als ehrliebender und sehr anst\u00e4ndiger Charakter regte er sich aber furchtbar dar\u00fcber auf, so da\u00df er die folgenden drei K\u00e4chte kein Auge zutun konnte und da\u00df der Gedanke daran ihn von da ab auf Schritt und Tritt verfolgte. Mit dem Kollegen hatte er alsbald eine erregte Auseinandersetzung, die ihn, der sehr friedliebend von Haus aus ist, wiederum nachhaltig ersch\u00fctterte. Etwa vier Wochen darnach war er mit seiner Familie Sonntags in einer Wirtschaft, immer noch im Schlafe gest\u00f6rt und aufgeregt. Da wurde es ihm auf einmal bange, das Lokal war \u00fcbervoll und das Stimmenget\u00f6se berauschte ihn f\u00f6rmlich. Es kamen auf einmal nur junge Leute herein und ihm schien es, als ob das alles Geheimpolizisten seien, die ihn beobachten sollten. Deshalb dr\u00e4ngte er pl\u00f6tzlich zum Aufbruch. So kamen jetzt auch ab und zu sonst ihm auff\u00e4llige Wahrnehmungen vor: z. B. begegnete er, wenn er durch den Schlo\u00dfgarten ging, ziemlich oft einem \u00e4lteren Herrn, den er f\u00fcr den Gerichtspr\u00e4sidenten hielt. Mit diesem \u201eunterredete\u201d er sich dann nachts manchmal, ,,als ob er zugegen sei,\u201d indem er ihm seine Streikangelegenheit und die erfahrene Beleidigung auseinandersetzte. Wenn er \u00fcber die Rheinbr\u00fccke zur Arbeit ging, so kam es ihm ,, touren weise\u201d so vor, als ob die Leute vor ihm r\u00e4usperten und ausspuckten. Dar\u00fcber \u00e4rgerte er sich jedesmal und schaute die Leute scharf an: \u201eWarum spuckt der Grobian vor dir aus, du hast ihm doch nichts zu leide getan?\u201d (Selbstgespr\u00e4ch.) Auch w\u00e4hrend der Arbeit, welche er ununterbrochen und mit unvermindertem Eifer fortsetzte, kamen ihm seither an manchen Tagen sonderbare Gedanken.\nSo fiel es ihm ein, als ob ihm seine Ideen ,,eingef\u00fchrt\u201d w\u00fcrden; mitunter \u00e4rgerte er sich jetzt, wenn es zu kalt in der Werkstatt war, und er nahm in seiner Gereiztheit an, da\u00df es ihm zum Possen geschehe. Dann wurde auf einmal der Dampf zum W\u00e4rmen des Lokals hereingelassen (vom Maschinisten), und dann dachte er\nx) Kretschmer: Der sensitive Beziehungswahn.","page":1206},{"file":"p1207.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1207\nsich, da\u00df die Kollegen seine inneren Gedanken mitgef\u00fchlt und darum die Erw\u00e4rmung bestellt h\u00e4tten. Sprachen die Leute in der Werkstatt leise nnter sich, so war ihm das jetzt immer sehr unangenehm; er \u00e4rgerte sich und dachte bei sich: ,,Aha, jetzt reden die \u00fcber dich, jetzt wird deine Sache ansgemacht.\u201d Dabei war er um so mehr und \u00f6fter bel\u00e4stigt, weil sein Geh\u00f6r in letzter Zeit merklich schlechter geworden war. Gelegentlich kam an Arm und K\u00f6rper ein Muskelwogen vor, und er dachte wiederum, das w\u00e4re ihm durch elektrische Str\u00f6me gemacht; \u00e4hnlich deutete er es, wenn ihm beim Husten Feuer aus den Augen sprang. Sahen ihn die Leute scharf an, so glaubte er, er solle hypnotisiert werden, nachdem er durch einen Sohn von diesen Dingen geh\u00f6rt hatte. Einmal sogar weigerte er sich, seinem Sohne nach W. zu telephonieren, denn ihm war es in dem Augenblick so, als w\u00fc\u00dfte jener ohnehin, was er denke, und zwar dadurch, da\u00df er durch Spione unterrichtet sei. In den Zeitungen bildete er sich manchmal ein, da\u00df manche Kotizen, z. B. \u00fcber ein Verbrechen, auf ihn Bezug h\u00e4tte, indem nur zur Vorsicht ein falscher Karne statt des seinigen gebraucht sei.\u2019\nAls in der Fabrik, in welcher Patient arbeitete, ein Streik ausgebrochen war und er nicht daran teilnahm, wurde er in einer Arbeiterversammlung zu Unrecht beschuldigt, als Verr\u00e4ter der Mitarbeiter zu funktionieren, dem Meister seine Kenntnis der Dinge als Denunziant zuzutragen. Als er von dieser Beschuldigung h\u00f6rte, regte er sich gewaltig dar\u00fcber auf, schlief die Fachte hintereinander nicht. In dieser Situation hatte er begr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen, da\u00df man weiter gegen ihn arbeite.\nDie Gedanken an diese ungerechte Beschuldigung verfolgen ihn auf Schritt und Tritt. Mit dem Kollegen, der ihn vor der Versammlung verleumdet hatte, hatte er eine erregte Auseinandersetzung, die ihn \u201enachhaltig ersch\u00fcttert e\u201d.\nDurch die Schlaflosigkeit und das fortgesetzte Ventilieren des Gedankens der erfolgten Verleumdung und die erregte Auseinandersetzung geriet er in einen k\u00f6rperlich-geistigen Zustand reizbarer Schw\u00e4che hinein, \u00e4hnlich wie unser Reisender, in welchem Affektzust\u00e4nde l\u00e4nger nachzittern als in der Form. Fach vier Wochen tritt ausgesprochenes unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen auf, indem er in einer Wirtschaft neu eintretende junge Leute f\u00fcr Geheimpolizisten ansah. Es kam ihm, wenn er zur Arbeit ging, so vor, als ob die Leute vor ihm r\u00e4usperten und ausspuckten. In der Werkstatt nahm er in seiner Gereiztheit an, da\u00df ihm alles m\u00f6gliche zum Possen gemacht werde. Er hatte den Eindruck, da\u00df seine Ideen ihm sozusagen aufgedrungen w\u00fcrden, als m\u00fc\u00dfte er in dem Momente so denken u. dgl.\n79*","page":1207},{"file":"p1208.txt","language":"de","ocr_de":"1208\nG. St\u00f6rriiig\nJedenfalls sehen wir hier \u00e4hnlich \u2018wie in unseren F\u00e4llen ans begr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen sich unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen entwickeln.\nGanz \u00e4hnlich gelagert ist in dieser Beziehung ein Fall von Querulantwahn von Bumke:\n,\u00abJoli. J., geboren 1871, Lehrer.\nKommt zur Begutachtung in die Klinik. Er ist \u00e4u\u00dferlich geordnet, von sicheren, h\u00f6flichen Formen. Sehr gewandt in der Unterhaltung, sehr beherrscht und ruhig, genau informiert \u00fcber die Rechtslage und da, wo es ihm richtig erscheint, auch durchaus in der Lage, zu dissimulieren. Bei n\u00e4herem Verkehr stellt sich aber doch eine gro\u00dfe \u00dcberlegenheit in der Beurteilung anderer Personen heraus, deren kleine Schw\u00e4chen er aus gro\u00dfer H\u00f6he bel\u00e4chelt. Bei der Er\u00f6rterung seiner Vorgeschichte ist er sehr vorsichtig; selbst wenn man ihn durch Widerspruch reizt, bleibt er sehr gelassen, wenn er auch gelegentlich in seinen Behauptungen weiter geht, als er urspr\u00fcnglich offenbar vorhatte.\nDie Vorgeschichte seiner Krankheit geht bei dem jetzt 51j\u00e4hrigen Manne bis in die zwanziger Jahre zur\u00fcck. Er stammt aus einem kleinen wendischen Ort, in dem offenbar tats\u00e4chlich pin Gemeindevorsteher mit seinen Verwandten und Anh\u00e4ngern eine vorherrschende Rolle gespielt hat. Dieser Gemeindevorsteher hat auch dem Vater des Patienten h\u00e4ufig mit Rat und Tat zur Seite gestanden und ist ihm unter anderem bei seinen Steuererkl\u00e4rungen behilflich gewesen. Patient gibt zu, da\u00df es bei diesen Steuererkl\u00e4rungen nicht immer ganz richtig zugegangen sei. Eines Tages ist nun der Vater des Patienten bei dem Gemeindevorsteher in den Verdacht geraten, in irgendeiner belanglosen Angelegenheit gegen ihn gearbeitet zu haben. Der Vater hat vergeblich versucht, den Gemeindevorstand vom Gegenteil zu \u00fcberzeugen, und daraufhin hat der Patient als junger Lehrer eingegriffen und an F. (das ist der Gemeindevorsteher) geschrieben. Als Antwort erhielt er eine glatte Absage, und von da an habe er, der Patient, ,,ruhig\u201d abgewartet, was F. nun unternehmen w\u00fcrde. Koch in demselben Jahre sei sein v\u00e4terliches Gut w\u00e4hrend des Kaiserman\u00f6vers ungeb\u00fchrlich hoch mit Einquartierung bedacht worden, w\u00e4hrend das Gut des F. beinahe leer ausging. Zur Rede gestellt, habe sich F. auf den Quartiermeister berufen und dessen Behauptung, die Verteilung sei von F. ausgegangen, f\u00fcr eine L\u00fcge erkl\u00e4rt. Im folgenden Jahre sei der Vater bei der Verteilung einer Hochwasserentsch\u00e4digung ungerecht behandelt worden. Bald darauf h\u00e4tte der Vorsteher bei einem Brande sich nur um die H\u00e4user des F. und seiner Freunde gek\u00fcmmert, sein v\u00e4terliches Gut aber ungesch\u00fctzt gelassen. Weitere drei Jahre sp\u00e4ter sei das Kapitalverm\u00f6gen des Vaters von der Steuerbeh\u00f6rde zu Unrecht","page":1208},{"file":"p1209.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\t1209\nherauf gesetzt worden. Koch sp\u00e4ter, nach dem Tode d\u00e9s Vaters, habe F. seine Unterschrift als Gemeindevorsteher unter ein milit\u00e4risches Beklamationsgesuch des Bruders des Patienten verweigert. Dieses Beklamationsgesuch sei sp\u00e4ter gegen alles Beckt 'abgelehnt worden. Kunmehr, zehn Jahre nach dem ersten Konflikt', hat sich der Patient an die Kreishauptmannsphaft gewendet, um diese Beh\u00f6rde davon zu \u00fcberzeugen, da\u00df F. sein Amt parteiisch verwalte* Als die erste Eingabe ohne Erfolg blieb, habe er, um die Beh\u00f6rde zum Eingreifen zu zwingen, entsprechend seiner \u00dcberzeugung, aber ohne Beweise, den Vorwurf der .Beamtenbestechung und Unterschlagung ; gegen F. erhoben. Gegen F. sei nichts unternommen worden, wohl aber h\u00e4tte ein Beamter der Kreishauptmannschaft zur Mutter gesagt, wenn ihr Sohn, der Lehrer, die Sache nicht ruhen lie\u00dfe, so w\u00fcrde man ihn um seine Stellung bringen. Der Kreishauptm\u00e4nn selbst habe I. ihn, den Patienten, bei m\u00fcndlicher B\u00fccksprache zu beruhigen versucht und ihm schriftlichen Bescheid versprochen. Diesen Bescheid habe er jedoch niemals erhalten. Im Herbst desselben Jahres soll F. noch einmal zur Mutter gekommen sein und sie zu einer eidesstattlichen Erkl\u00e4rung in Steuerangelegenheiten veranla\u00dft haben. Die Mutter sei eine schwache Frau gewesen und er, der Patient, habe von diesem Vorfall erst nachtr\u00e4glich erfahren. 1909 hat Patient durch eine Eingabe an das Finanzministerium erreicht, da\u00df Strafantrag gegen F. gestellt wurde. Der Vorsitzende habe die Sache aber nicht sehr ernst genommen und au\u00dferdem habe er die Aussage der Zeugen mit der Begr\u00fcndung, er m\u00fcsse Meineide verh\u00fcten, immer abzuschw\u00e4chen versucht: ,,m\u00f6glich ist es, aber . . .\u201d Verschiedene Aussagen seien auch nicht protokolliert worden. Patient sei dann zu 40 Mark Geldstrafe verurteilt worden und habe auf Zureden des Vorsitzenden auf die Berufung verzichtet. Als sein Schuldirektor das Urteil erhielt, habe er ge\u00e4u\u00dfert: \u201eDas wird Sie sch\u00e4digen.\u201d Sehr bald darauf sei auch der Oberschulrat erschienen und habe ihm in Gegenwart des Direktors eine B\u00fcge erteilt. Er habe sich an die Staatsanwaltschaft gewandt und F. des Meineides bezichtigt. Der Staatsanwalt habe zuerst erkl\u00e4rt: ,,Der Mann mu\u00df ins Zuchthaus\u201d, sp\u00e4ter aber: \u201edas geht doch nicht, die Beh\u00f6rde m\u00fcsse doch ihre Beamten sch\u00fctzen. . . J\nEs handelt sich in diesem Falle zun\u00e4chst um berech-t i g t e s M i \u00df t r a u e n des Patienten gegen\u00fcber einem Gemeindevorsteher, mit dem sein Vater eine Streitigkeit hatte. Er, der Patient, trat als Lehrer bei dem Gemeindevorsteher f\u00fcr den Vater ein, als er zu Unrecht beschuldigt w\u00fcrde, gegen denselben gearbeitet zu haben. Es ist wahrscheinlich, da\u00df auch das Mi\u00dftrauen gegen den Gemeindevorsteher wegen Behandlung seines Vaters bei der Einquartierung, beim Kaiserman\u00f6ver, bei der Hochw\u00e4sser-","page":1209},{"file":"p1210.txt","language":"de","ocr_de":"1210\nG. St\u00f6rring\nentsc\u00fc\u00e4digung und bei einem Brande begr\u00fcndet war. Aber pathologischen Charakter hat das Mi\u00dftrauen jedenfalls da angenommen, als Patient gegen F. bei der Beh\u00f6rde den Vorwurf der Beamtenbestechung und Unterschlagung machte, ohne Beweise zu bringen, nur auf Grund seiner \u00dcberzeugung. Der pathologische Charakter peines Mi\u00dftrauens ist dann in der Folge immer st\u00e4rker ausgepr\u00e4gt: gegen den Vorsitzenden bei der gerichtlichen Verhandlung, sodann gegen seinen Vorgesetzten und gegen die Medizinalbeh\u00f6rde: \u201eDie Korruption war allgemein.\u201d\nIn anderen F\u00e4llen geht der Krankheitsverlauf nicht aus von einem auf Grund kategorischer Satzung entstandenem Mi\u00dftrauen, sondern von auf Grund hypothetischer Setzung entstandenem Mi\u00dftrauen. Diese verwandelt sich dann bald zu kategorischer Setzung und daran schlie\u00dft sich unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen an.\nEs handelt sich um einen zweiten Fall Friedmanns1). Fall 2. ,,Emilie B., 40 Jahre alt, Musiklehrerin, stammt aus belasteter Familie. In den letzten Jahren \u00fcberm\u00e4\u00dfige \u00dcberarbeitung in ihrem Berufe.\nW\u00e4hrend ihres Sommeraufenthaltes war sie angeregt und beliebt gewesen, sie musizierte, wie erw\u00e4hnt viel, gelegentlich auch in die Nacht hinein. So erbat sie sich eines Abends zu ihrem Schutze die Begleitung eines Pensionsgenossen, eines Herrn im mittleren Jahren, als sie in die abseits gelegene Dependance auf ihr Zimmer gehen wollte. Als der Herr sich vor dem Hause verabschieden wollte, hielt sie ihn an der Hand fest; sie f\u00fcrchte sich, und er m\u00fcsse in dem dunklen Hausflur sie noch ein St\u00fcck weiter begleiten. Dieses Benehmen war an sich vielleicht etwas unfein, aber daf\u00fcr \u00e4u\u00dferlich unbedeutend; da sie nie irgend-wie der Koketterie verd\u00e4chtig war, so hielt sich auch weiter niemand dar\u00fcber auf, und der Herr scheint gar nicht \u00fcber das Ereignis gesprochen zu haben. Sie selbst aber sch\u00e4mte sich doch hinterher ihrer kindlichen Angst, und dann f\u00fcrchtete sie, man k\u00f6nne ihr Benehmen als zu \u201efrei\u201d oder kokett auslegen. In den n\u00e4chsten Tagen sprach sie mit einem \u00e4lteren, ihr freundlichen Ehepaar, welches sie beruhigte, obgleich es ihr Verhalten ein wenig un\u00fcberlegt fand. Bald darauf reiste sie nach Hause.\nNun kamen ihr allm\u00e4hlich st\u00e4rkere und stets zunehmende Skrupel \u00fcber ihr Benehmen, und jetzt \u201eerkannte 1 sie auch nachtr\u00e4glich, da\u00df man sich in den n\u00e4chsten Tagen in der Pension fast allseitig von ihr zur\u00fcckgezogen hatte. Den Ausschlag f\u00fcr sie aber gab es, als im folgenden Herbste jener Herr, ein Pf\u00e4lzer Landwirt und Weinbauer, ihr ein K\u00f6rbchen Trauben zum Geschenk sandte. Sie war jetzt \u00fcberzeugt, da\u00df jener sie f\u00fcr unmoralisch hielt, und schickte ihm sofort sein Geschenk zur\u00fcck. Der Zufall wollte es, da\u00df sie au\u00dferdem den gleichen Herrn, der \u00fcbrigens gesch\u00e4ftlich sehr viel in M. verkehrte, in der n\u00e4chsten Zeit einmal auf den \u00dcb erfahrt schiff nach L. traf; er war mit mehreren anderen Herren zusammen, deren einer sie angeblich beim Aussteigen fixierte und dabei zu den anderen sagte: \u201eAlso die Hefe liefere ich nicht.\u201d Das sei doch ein Unsinn und sie war \u00fcberzeugt, da\u00df damit eine Anspielung oder eine Ulkerei gegen sie gemacht sei. Die Wahrnehmungen solcher Art h\u00e4uften sich allm\u00e4hlich.\nZun\u00e4chst fiel ihr auf, da\u00df in dem genannten Trajekt schiffe \u2014 sie benutzte es oft \u2014 bestimmte, ihr bekannte Herren viel h\u00e4ufiger als fr\u00fcher, ihr begegneten; das waren ganz zweifellos Aufpasser. Wieder einige Zeit darnach bemerkte sie, da\u00df auch hier in der Stadt die jungen Leute sie frech anschauten, ferner, da\u00df sie gerade vor ihr abbogen. . . ab und zu, was sie am schwersten erregte, konnte sie einzelne, direkt auf sie bez\u00fcgliche Spottreden auffangen bei Passanten, z. B. \u00bbschlechte Person\u201d, \u201edie bigotte Person\u201d.... Wohlbekannte Personen ver-\nx) Zitiert nach Kretschmer: 1. c. S. 53.","page":1210},{"file":"p1211.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1211\nmieden es, sie zn gr\u00fc\u00dfen, in der Trambahn kam es vor, da\u00df man mit Fingern auf sie hindeutete. ...\n\u00dcber die Sachlage war sie sich innerlich klar: jener Herr hatte, ein unfeiner \u201eKerl\u201d oder \u201eBauer\u201d wie er war, sich seiner Erfolge bei ihr ger\u00fchmt ; da er viele Bekannte hier besa\u00df, wu\u00dften viele Personen davon und es war zum Stadtgespr\u00e4ch geworden. Jede einzelne ihrer Wahrnehmungen dieser Art war ihr ein neuer Beweis und f\u00fcr sie unumst\u00f6\u00dflich.\u201d\nIn diesem Fall liegt zun\u00e4chst ein auf Grund hypothetischer Setzung entstandenes Mi\u00dftrauen vor: sie f\u00fcrchtete zun\u00e4chst, ihr Benehmen k\u00f6nne man als zu \u201efrei\u201d oder zu \u201ekokett\u201d auslegen und der betreffende Herr k\u00f6nne deshalb ung\u00fcnstig \u00fcber sie denken. Da sie in ihrem Ersch\u00f6pfungszustand den Gedanken an den Vorfall nicht los werden konnte, so entstanden \u201est\u00e4rkere und stets zunehmende Skrupel\u201d \u00fcber ihr Benehmen. Jetzt wurde sie immer mehr davon \u00fcberzeugt, da\u00df sie sich unpassend benommen hatte und da\u00df der betreffende Herr ung\u00fcnstig \u00fcber sie denke. Und als. der betreffende Herr der Patientin im n\u00e4chsten Herbst ein K\u00f6rbchen Trauben schickte, war sie davon \u00fcberzeugt, da\u00df jener sie f\u00fcr unmoralisch hielt. Sie schickte ihm sein Geschenk sofort zur\u00fcck. Hier tritt also deutlich unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen hervor. Es dauerte nicht lange, wie sie zu sehen glaubte, da\u00df die Leute sie frech ansahen, da\u00df Aufpasser vorhanden waren: der betreffende Herr war f\u00fcr sie aber ein \u201eunfeiner Kerl\u201d, der sich seiner Erfolge r\u00fchmte; da er viele Bekannte besa\u00df, wu\u00dften viele davon.\n1)\tDieser Gruppe von F\u00e4llen von Verfolgungswahn bei intakter Intelligenz, bei der sich aus begr\u00fcndetem Mi\u00dftrauen u n-begr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen durch das Mittelglied der mi\u00dftrauischen Verstimmung entwickelt, setzte ich sodann eine Gruppe von F\u00e4llen gegen\u00fcber1), in denen sich mi\u00dftrauische Verstimmung und unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen im Anschlu\u00df an \u00fcble Erfahrungen, an Mi\u00dferfolge entwickelt, die den Patienten immer mehr verbittert gegen die Menschen macht, so da\u00df er die Menschen f\u00fcr schlecht h\u00e4lt, sie f\u00fcr sein Ungl\u00fcck verantwortlich macht, sich von ihnen beeintr\u00e4chtigt, verfolgt glaubt.\nIn der neueren Literatur findet man viele F\u00e4lle, in denen \u00fcble Erfahrungen zu Verfolgungswahn f\u00fchren, von Bleuler beigebracht2).\nDie n\u00e4here Diskussion dieser F\u00e4lle geben wir sp\u00e4ter. Wir werden uns dabei eingehend mit der von Bleuler dar\u00fcber entwickelten Anschauung auseinandersetzen.\nIn diesen beiden Gruppen von F\u00e4llen ist der Verfolgungswahn unmittelbar aus mi\u00dftrauischen Affekten entsprungen. Wir k\u00f6nnen hier also mit E. W. Maier von einem \u201ekatatchym\u201d entsprungenen Verfolgungswahn sprechen.\n2. Dieser zweigliedrigen ersten Gruppe von F\u00e4llen f\u00fcge ich nun eine Gruppe von F\u00e4llen bei, in welchen sich Verfolgungswahn aus einem Beachtungswahn entwickelt.\nIch f\u00fchre hierf\u00fcr F\u00e4lle von Kretschmer an, einen Fall von erotischem Beziehungswahn alter M\u00e4dchen und einen Fall von Masturbantenwahn. Doch vorher einen kurzen historischen B\u00fcck-\nx) St\u00f6rring: 1. c. S. 339 ff.\n2)\tBleuler : Affektivit\u00e4t, Suggestibilit\u00e4t, Paranoia. 2. Anfl. S. 204 ff.","page":1211},{"file":"p1212.txt","language":"de","ocr_de":"1212\nG.' St\u00f6rring I\nblick, einen R\u00fcckblick anf die Anscbannng von Karl Westphal \u00fcber die Beziehung des B eachtungs wahnes znm Verfolgungswahn.\nNach K. Westphal empfindet der Verr\u00fcckte ,,die seine Krankheit bedingende Hirnaffektion als eine unbestimmte Ver\u00e4nderung seiner eigenen Pers\u00f6nlichkeit. Wie nun schon ein... Gesunder, der z. B. eine neue Uniform tr\u00e4gt oder einen Titel erhalten hat, das Gef\u00fchl empfindet, als ob dieses Ereignis auch allen, z. B. ihm auf der Stra\u00dfe Begegnenden, selbst solchen, die ihn gar nicht kennen, bekannt sein m\u00fcsse, und da\u00df diese auch von der Ver\u00e4nderung Notiz nehmen, ihn neugierig, bewundernd oder neidisch betrachten, so glaubt auch der Verr\u00fcckte, da\u00df allen die Ver\u00e4nderung, die er mit sich Vorgehen f\u00fchlt, anffallen mu\u00df. Bald erscheint ihm auch wirklich das Benehmen der Leute zu ihm ver\u00e4ndert, dieselben sehen ihn sonderbar an, beobachten ihn \u00fcberall nsw. : er ,projiziert\u2019 also die \u00c4nderung seines Ichs auf die Au\u00dfenwelt. Die Wahnideen der Verr\u00fcckten werden also das Charakteristische haben, da\u00df sich der Erkrankte in; mehr als gew\u00f6hnlicher Weise von der Au\u00dfenwelt beachtet glaubt.\nIn der Regel ist schon dem Gesunden eine allzu gro\u00dfe Neugierde seiner jeweiligen Umgebung in bezug auf seine Person nicht angenehm, es wird also noch viel mehr ein krankhaft ver\u00e4nderter Mensch das zu gro\u00dfe Beachtetwerden von seiten seiner Mitmenschen unangenehm empfindend er wird zu der Annahme gelangen, da\u00df diese allzu gro\u00dfe Aufmerksamkeit einen feindseligen Hintergrund hat, und so erhalten seine Beachtungswahnideen den Charakter der Beeintr\u00e4chtigungsideen, der Verfolgungswahnideen\u201d1).\nIn dieser*' Betrachtungsweise von K. Westphal ist sicher die Auffassung falsch, da\u00df Beachtungswahn conditio sine qua non des Verfolgungswahnes bei intakter Intelligenz sei.\nAndrerseits darf man aber auch nicht so weit gehen, da\u00df man' den Beachtungswahn allein als Wirkung des Verfolgungswahnes auffa\u00dft. Viele F\u00e4lle von Beachtungswahn sind zwar in der Tat Wirkungen eines Verfolgungswahnes2). Man kann sich ihr Auftreten nach den Verfolgungsideen am leichtesten verst\u00e4ndlich machen, wenn man ber\u00fccksichtigt, da\u00df die Verfolgungsideen B\u00e9ziehungsWahnideen sind, die inhaltlich so bestimmt sind, da\u00df wir nicht von einfachen Beziehungsideen, sondern von Verfolgungsideen sprechen, indem sie Beziehungsideen mit feindseligem Charakter gegen den Patienten sind. Durch das h\u00e4ufige Auftreten von Verfolgungsideen\n1)\tK. Westphal: Allg. Zeitschr. f. Psych. 34.\t:\n2)\tSt\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 338^","page":1212},{"file":"p1213.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1213\ngew\u00f6hnt sich das Individuum daran, alles, was ihm begegnet, zu sieh in .Beziehung zu setzen. Diese dnrch die Yerf olgungsideen entstandene Gew\u00f6hnung ko m m t d a n n . zeitweilig f\u00fcr sich, zum Ausdruck.. Es tritt da also eine Seite des psychischen Verhaltens bei mi\u00dftrauischem B e-ziehungsetzen isoliert auf.\t. '.\t. -\nIch gebe zun\u00e4chst einen sch\u00f6nen Fall erotischen Beziehungswahnes alter M\u00e4dchen.\t..\tr\n,Helene B., geboren 1877. Der Vater ist Trinker. Die verstorbene Mutter sanft, freundlich und still und besorgte Hausfrau, die manchmal Ohnmachtsanf\u00e4lle bekam. Die Kranke selbst war von fr\u00fcher Kindheit an ein k\u00f6rperlich zartes, geistig \u00fcberaus sensibles und ebenso intelligentes und strebsa mle s M\u00e4dchen. Sie litt unter Kopfweh und war so schmerzempfindlich, da\u00df sie schon beim K\u00e4mmen ohnm\u00e4chtig wurde. In der Schule war sie die erste, \u00fcberaus ehrgeizig.\nMit dem Heranwachsen machte sie sich rasch selbst\u00e4ndig, suchte sich vielseitig auszubilden und war seit dem 17. Lebensjahr vorwiegend als Kontoristin und Schreibfr\u00e4ulein in gut bezahlten Stellungen t\u00e4tig.\tyy\"\nDie erste St\u00f6rung ihr\u00e9s psychischen Gleichgewichtes erfolgte in ihrem 20. Lebensjahre beim Tode ihrer z\u00e4rtlich geliebten Mutter, Schon w\u00e4hrend des langen Krankenlagers weinte sie viel und w\u00fcnschte sich den Tod; nach dem Tode war sie beinahe ein Jahr lang untr\u00f6stlich, tief deprimiert und ungl\u00fccklich, doch nicht eigentlich psychotisch.\nSie arbeitete seit dem Jahre 1906 mit einem jungen Manne zusammen, der ihr anfangs gleichg\u00fcltig war, zu. dem sie aber langsam im Laufe der Zeit eine Neigung fa\u00dfte. Sofort begann sie diese Gedanken zu unterdr\u00fccken, weil er acht Jahre j\u00fcnger war als sie und weil sie deshalb nicht glaubte, ihn durch eine Heirat gl\u00fccklich machen zu k\u00f6nnen. Jede andere Ann\u00e4herung wies sie bei ihren strengen sittlichen Anschauungen weit von sich und k\u00e4mpfte' mit innerem Abscheu gegen ihre'starken sexuellen Regungen, ohne v\u00f6llig dar\u00fcber Herr zu werden. Trotzdem sie peinliche Zur\u00fcckhaltung wahrte und ihm nie die geringste Ann\u00e4herung gestattete, glaubte sie doch bald, da\u00df er ihre Keigung erwidere; sie \u00fcberwacht\u00e9 eifers\u00fcchtig seine Schritte und war gekr\u00e4nkt, wenn er eine l\u00e4ngere Zeit mit einem anderen Kontorfr\u00e4ulein sprach. Sie konnte ihn f\u00f6rmlich hassen, wenn er dem Bilde, das sie sich von ihm gemacht hatte, nicht entsprach; durch jedes nicht ganz gew\u00e4hlte Wort von ihm konnte sie sich tief verletzt f\u00fchlen. Und trotzdem liebte sie ihn immer wieder. Sie merkte, da\u00df sie seinen Blick nicht mehr er-","page":1213},{"file":"p1214.txt","language":"de","ocr_de":"1214\nGr. St\u00f6rring\ntragen konnte; er sa\u00df ihr t\u00e4glich bei der Arbeit gegen\u00fcber. So k\u00e4mpfte sie, zwischen Widerwillen nnd 'Neigung hin nnd her geworfen, monatelang nnd jahrelang mit Aufbietung aller sittlichen Kraft gegen ihre Gef\u00fchle. Gleichzeitig wurde ein ganz vergessenes J ugenderlebnis mit erneuter St\u00e4rke wach, wo der Onkel, in dessen Hause sie jetzt lebte, sich einmal wider ihren Willen in etwas zweideutiger Weise zu ihr ins Bett gelegt hatte, doch ohne da\u00df es zu unsittlichen Handlungen gekommen w\u00e4re. Sie war ein zw\u00f6lfj\u00e4hriges M\u00e4dchen und hatte sich schon damals viele Selbst vor w\u00fcrfe und die unklare Sorge gemacht, schwanger zu werden. Diese Erinnerung besiegelte ihr nun die Gewi\u00dfheit, die ihr schon ihr vergeblicher Kampf mit ihrer erotischen Neigung aufdr\u00e4ngte, da\u00df sie ein schlechtes Gesch\u00f6pf sei. Sie glaubte, einen sinnlichen Blick zu haben, der jedermann auffallen m\u00fcsse. Und nun begann sich ihr wieder, wie damals, der Gedanke aufzudr\u00e4ngen, sie m\u00f6chte schwanger sein.\n,,Ich vertraute mich zun\u00e4chst meiner Tante an,\u201d schreibt sie selbst, ,,lie\u00df mich jedoch nicht beruhigen. Als ich immer und immer wieder mit meiner Sorge an sie herantrat, wurde sie ungeduldig und schrie eines Abends, als alles ruhig war, bei offenen Eenstern von dieser Sache. Was sie eigentlich sagte, ist mir nicht erinnerlich, aber ich wei\u00df, da\u00df es einen furchtbaren Eindruck auf mich machte und ich nur sagte: \u201eNun ist alles verloren, nun bin ich zugrunde gerichtet !\u201d Ich bemerkte nun, wie die Leute auf der Stra\u00dfe mich forschend anschauten, h\u00f6rte auch gelegentlich Bemerkungen, als ob ich schwanger sei. Sobald man mir aber mit solchen Anspielungen kam, wu\u00dfte ich ganz genau, da\u00df das, was ich bef\u00fcrchtete, nicht der Fall sein konnte; da konnte ich mir sagen, da\u00df ja dann das ganze Naturgesetz umgesto\u00dfen werden m\u00fcsse. War ich jedoch allein, so war auch gleich wieder die Angst da, man k\u00f6nnte mir ja mit einer Spritze etwas beigebracht haben.\u201d\nBald machte sie auch im Gesch\u00e4fte die Wahrnehmung, da\u00df im Gespr\u00e4ch Bemerkungen \u00fcber sie fielen, \u201eMan sieht\u2019s an den Augen\u201d, hie\u00df es \u201eDie ist schlecht\u201d, \u201eSie hat was zu hoffen\u201d, \u201eIst das ein Schwein\u201d. Man machte es ihr sch\u00e4ndlich, sie fa\u00dfte es als Schikane auf ; man wollte sie aus Eifersucht auf den jungen Mann aus dem Gesch\u00e4ft dr\u00e4ngen. Unterdessen bekam sie immer wieder aus dem Gespr\u00e4ch der Bureauangestellten Anspielungen zu h\u00f6ren. Anfangs machte sie in der Aufregung verschiedentlich Szenen; sp\u00e4ter lie\u00df sie alles \u00fcber sich ergehen und wollte es als Bu\u00dfe hinnehmen, wenn es ihr auch manchmal zu hart d\u00fcnkte. \u201eIch trug selbst furchtbar","page":1214},{"file":"p1215.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1215\nschwer an der Tatsache, da\u00df ich so etwas zu verzeichnen hatte (das Jugenderlebnis mit dem Onkel nnd die jetzige Verliebtheit) nnd f\u00fchlte mich namenlos ungl\u00fccklich, machte mir auch Vorw\u00fcrfe, da\u00df ich mich nicht mehr zusammengenoinmen.\nIhr Kervenzustand verschlimmerte sich rasch. Die IST\u00e4chte lag sie wach, gepeinigt von ihren Gedanken. In ihrer Gewissensangst machte sie dem Onkel bittere Vorw\u00fcrfe, sie verlangte von ihm, da\u00df er die nach ihrer Meinung strafbare Unsittlichkeit nachtr\u00e4glich anzeige; ja, sie hielt es selbst f\u00fcr ihre Pflicht, die Sache amtlich zu melden, konnte es jedoch nicht \u00fcbers Herz bringen, um nicht die ganze Familie in Ungl\u00fcck und Schande zu st\u00fcrzen. Lieber wollte sie sich selbst opfern und schwieg, obwohl ihr das Schweigen eine unertr\u00e4gliche Qual war.\nVon nun ab lebte sie in st\u00e4ndiger Angst, die Polizei m\u00fc\u00dfte ins Haus kommen und sie und ihn zur Verantwortung ziehen. Auch in der Zeitung tauchten Anspielungen auf: Die Polizei wollte ihr auf diese Weise zusetzen, bis sie gest\u00fcnde. ,,M it der Zeit trug alles den Charakter des auf mich Bez\u00fcglichen,\u201d sagt sie ; ,,es kam so weit, da\u00df ich im Gespr\u00e4ch nichts mehr h\u00f6rte und in der Zeitung nichts mehr las, als Vorw\u00fcrfe gegen mich\u201d.\u2019\nPatientin entwickelt zun\u00e4chst also einen ausgepr\u00e4gten B e-achtungswahn. Patientin suchte die Gedanken an den jungen Mann, den sie liebte, zu unterdr\u00fccken, weil er acht Jahre j\u00fcnger war und sie ihn durch eine Heirat nicht glaubte gl\u00fccklich machen zu k\u00f6nnen. Sie k\u00e4mpfte ,,mit innerem Abscheu gegen ihre starken sexuellen Begungen, ohne v\u00f6llig dar\u00fcber Herr zu werden\u201d. Dieser Kampf brachte ihr ein ganz vergessenes Jugenderlebnis in Erinnerung. Sie glaubte, ein schlechtes Gesch\u00f6pf zu sein, \u201eeinen sinnlichen Blick zu haben, der jedermann auffallen m\u00fcss e\u201d. Hier entsteht der Gedanke, da\u00df die Menschen sie ansehen wegen ihres sinnlichen Blickes, ohne da\u00df zun\u00e4chst dies Verhalten der Mitmenschen als ein ungeh\u00f6riges aufgefa\u00dft wird, ohne da\u00df Mi\u00dftrauen als Quelle dieser Idee in Betracht kommt ! Es handelt sich also hier um eine Beachtungsidee, unabh\u00e4ngig vom Mi\u00dftrauen.\nEs bleibt aber nicht bei Beachtungsideen. Sie glaubt, bald schikaniert zu werden, man wolle sie aus Eifersucht auf den jungen Mann aus dem Gesch\u00e4ft dr\u00e4ngen. Sie h\u00f6rt Anspielungen auf sich und reagierte mit Szenen.\nIn dieser Zeit qu\u00e4lte sie sich mit Selbstvorw\u00fcrfen, da\u00df sie sich nicht mehr zusammengenommen habe (bez\u00fcglich des Jugend-","page":1215},{"file":"p1216.txt","language":"de","ocr_de":"1216\nG. Stoning\nerlebnisses und der jetzigen Verliebtheit). Es verschlimmert sich der Eervenzustand immer mehr, dabei Schlaflosigkeit.\nDas Jngendvorkommnis mit dem Onkel h\u00e4tte eigentlich amtlich gemeldet werden sollen. Sie selbst m\u00f6chte es noch melden, aber sie will ihre Familie nicht kompromittieren, bald will sie sich selbst opfern; unertr\u00e4gliche Qnal des Schweigens. So entsteht die Angst, die Polizei m\u00fcsse ins Haus kommen und sie zur Verantwortung ziehen. \u00dcberall h\u00f6rt sie Vorw\u00fcrfe gegen sich.\nAn die Beaehtungsideen schlie\u00dfen sich also immer ausgepr\u00e4gtere Beeintr\u00e4chtigungsideen an, es entwickelt sich also ein immer ausgepr\u00e4gteres krankhaftes Mi\u00dftrauen.\nSehen wir uns die Beziehung der Beachtungsideen zu den Verfolgungsideen etwas n \u00e4 h e r a n.\nPatientin glaubt, man sehe ihr ihren sinnlichen Blick an. Bei dem vermeintlichen Bet r\u00e4chtet werden liegt also vor ein Beachten eines als verwerflich aufgefa\u00dften Verhaltens der Patientin. Die Mitmenschen werden also gedacht als wissend um das schlechte Verhalten der Patientin.\nDabei bleibt aber Patientin nicht stehen. Kretschmer bemerkt sehr richtig, .da\u00df der neben dem asthenischen, stark ,,sensiblen\u201d Zug vorhandene sthenische Zug in dem Charakter der Patientin1), das gesteigerte Selbstgef\u00fchl derselben, welches trotz aller Selbstvorw\u00fcrfe bei ihr vorhanden ist, sie weitertreibt zur Annahme, da\u00df die Mitmenschen gegen sie feindselig Vorgehen,, wogegen sie dann mit Erregung reagiert.\nEs fragt sich nun, weshalb es nicht bei der blo\u00dfen ,,A n n a h m e\u201d (K. Westphal) bleibt, da\u00df die Mitmenschen feindselig gegen sie handeln, weshalb dieser Gedanke der feind-\n/\nseligen\u201c Stellungnahme der Menschen gegen sie Wahncharakter an ni mm t ! Das kann durch den vorangegangenen Beachtungswahn nicht geleistet werden, das kann nur geleistet werden durch mi\u00dftrauische Versti m-mung gegen die Mitmenschen !\nMan erkennt, wie die Beachtungsidee, der Wahn, da\u00df man Patientin ihre Schlechtigkeit ansieht, den mi\u00dftrauischen Gedank en nah e 1 e g t, da\u00df man gegen s i e f e i n d-seligvorgehe. Dieser Gedanke geht einher mit einem starken Mi\u00dftrauensaffekt und bei dem k\u00f6rperlich-geistigen Ersch\u00f6pfungs-\nP Kretschmer: 1. c. S. 40 und 44.","page":1216},{"file":"p1217.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie. des Gef\u00fchlslebens\n1217\nzustand der Patientin entwickelt rsich ans den Mi\u00dftrauensalfekten eine m i \u00df t r a u i s c h e V \u00e9 r s t i m m u n g.\t;\nWir wollen nun weiter einen Fally onMasturbanten-wahn ins Ange fassen und dabei wieder achten anf die Beziehung zwischen Beachtnngswahn nnd Verfolgungswahn.\nPatient weist den Charakter anf, den Kretschmer als bezeichnend ansieht f\u00fcr Patienten mit ,,sensitivem Beziehungswahn\u201d. (Also im gro\u00dfen \u00e4hnliche Charakterz\u00fcge wie bei der soeben besprochenen Patientin.)\n\u201eErst nach l\u00e4ngerer Unterhaltung gestand der Kranke dem anfnehmenden Arzt m\u00fchsam nnd in schmerzhaftester Erregung, was ihm den eigentlichen Grund seines seelischen Leidens bilde. Er masturbierte seit dem zehnten Lebensjahr, und zwar anfangs ohne andere Bedenken als Furcht vor Strafe. Erst mit etwa 19 Jahren habe er begonnen, die Masturbation als schweres Laster zu empfinden. Er sp\u00fcrte innerlich, da\u00df sie \u201egegen alle Gesetze\u201d gehe. Eie Kollegen spotteten \u00fcber solche Leute und er lebte in Angst, von ihnen entdeckt zu werden. Da er seine Angewohnheit als Verbrechen gegen nat\u00fcrliche und g\u00f6ttliche Gesetze empfand, so litt er aufs schwerste darunter. Er ging als ein sehr religi\u00f6ser Mensch oft zur Kirche und betete dort inbr\u00fcnstig, Gott m\u00f6ge ihn von seinem Laster befreien. Er k\u00e4mpfte dagegen mit immer neuen Mitteln; er tat schwere K\u00f6rperarbeit, um sich zu erm\u00fcden, er zwang sich in seinem Dienst, an unangenehme Dinge zu denken,\nKoch schlimmer wurde sein Zustand, als er mit 23 Jahren ein popul\u00e4res Buch zu lesen bekam, aus dem er sich als Folgen seines Lasters Irrsinn, Ge d \u00e4 c htnisschwund, B\u00fcckenmarksauszehrung, den Buin der Kerven und des ganzen K\u00f6rpers einpr\u00e4gte; eine Menge hypochondrischer Beschwerden qu\u00e4lten ihn nun. In den letzten drei Jahren vor seiner Aufnahme ist es dem Patienten, wie er behauptet, gelungen, seiner Onanie Herr zu werden, doch litt er viel an Pollutionen, die schwer deprimierend auf ihn wirkten. Verschlimmert wurde sein Geisteszustand, wie erw\u00e4hnt, seit dem Tod seiner Mutter und der Aufl\u00f6sung des Elternhauses.\t-\nEs best\u00e4rkte sich in ihm immer mehr der Glaube an seine eigene Minderwertigkeit; er habe geglaubt, da\u00df die anderen Leute ihm weit \u00fcberlegen seien, da\u00df sie ihm sein Laster, seine k\u00f6rperliche und moralische Zer-\u2018 r\u00fcttung ansehen k\u00f6nnten, und zwar besonders an den Tagen, nachdem er masturbiert hatte. ' Shin bisher harmloses Verh\u00e4ltnis zu seinen Kollegen schien ihm allm\u00e4hlich gespannt zu werden; offenbar kannte man seine V e r i r r u ifg","page":1217},{"file":"p1218.txt","language":"de","ocr_de":"1218\nG. St\u00f6rring\nnachgerade allgemein; wohin er kam, begegneten ihm neugierige Blicke. Sein Mi\u00dftrauen richtete sich Yor allem gegen einzelne seiner n\u00e4chsten Kollegen, die sich schon fr\u00fcher der Familie B. gegen\u00fcber unfreundlich gestellt hatten. Es fiel ihm auf, da\u00df sie ihn nicht gr\u00fc\u00dften, wenn sie an seiner Lokomotive vor\u00fcbergingen, da\u00df sie h\u00f6hnisch l\u00e4chelten; er dachte sich, da\u00df ihn diese vielleicht k\u00f6nnten in der Leute Mund gebracht haben. Yor der Abfahrt pr\u00fcfte er peinlich seine Maschine, ob ihm nicht jemand einen Schabernack daran gespielt habe. Besonders sein Heizer, mit dem er st\u00e4ndig zusammen war, schien es auf ihn abgesehen zu haben und allm\u00e4hlich so sehr, da\u00df er ihm, w\u00e4hrend sie in der Vorhalle zusammen arbeiteten, unauff\u00e4llig halblaut das Wort ,,Wichser\u201d nachrief. Endlich ri\u00df B. die Geduld, er packte den Heizer am Arbeitskittel, sch\u00fcttelte ihn heftig, da\u00df sie beide hinfielen, und schrie: ,,Ich werde dir zeigen, was ich bin !\u201d\nSeither h\u00f6rte er keine Beleidigungen mehr; dagegen hatte er abends in seinem Zimmer das Gef\u00fchl des Belauschtwerdens. Er bemerkte auch Ver\u00e4nderungen an seinem Kofferschlo\u00df, der Schl\u00fcsseldorn schien ihm frisch vernietet, auch zeigte die Innenseite des Schlosses frische Vertiefungen, wie von starken Hammerschl\u00e4gen; dagegen bemerkte er innen im Koffer nur eine geringe Unordnung in den B\u00fcchern; er glaubte, da\u00df die Kollegen nach verbotenen B\u00fcchern \u00fcber Onanie bei ihm gest\u00f6bert h\u00e4tten.\u201d\nBei diesem Patienten sehen wir den Beachtungswahn auf-treten, da\u00df andere Leute es ihm ansehen, da\u00df er masturbiert. Hier handelt es sich \u00e4hnlich wie im vorigen Falle um das Beachten eines als verwerflich von dem Patienten auf gef a\u00df ten Verhaltens. Die Mitmenschen werden aufgefa\u00dft als das Verhalten mi\u00dfbilligend.\nDar\u00fcber geht Patient aber hinaus, indem er annimmt, da\u00df seine Kollegen ihn schikanieren: Vor der Abfahrt der Lokomotive pr\u00fcft er peinlich seine Maschine, ob ihm nicht jemand einen Schabernack gespielt habe. Von dem Heizer, mit dem er st\u00e4ndig zusammen war, glaubt er wiederholt Schimpfworte zu h\u00f6ren. Bei einer solchen Gelegenheit wird er aggressiv gegen denselben. Sein krankhaftes Mi\u00dftrauen steigert sich, als er wegen eigenen ungeh\u00f6rigen Verhaltens seiner Schw\u00e4gerin gegen\u00fcber gezwungen wird, das Zusammenleben mit der Familie seines Bruders aufzugeben und f\u00fcr sich allein zu leben. Seine mi\u00dftrauischen Gedanken f\u00fchren ihn zu einem Suizidversuch.\nPrinzipiell liegt hier also dasselbe vor wie im vorigen Fall, indem an den Beachtungswahn sich Beeintr\u00e4chtigungswahn anschlie\u00dft.\nWenn K. Westphal bez\u00fcglich der Entstehung des Beeintr\u00e4chtigungswahnes aus Beachtungswahn gesagt hatte, er entwickle sich im Anschlu\u00df an den Beachtungswahn, ,,die Annahme,","page":1218},{"file":"p1219.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1219\nda\u00df die allzu gro\u00dfe Aufmerksamkeit einen feindseligen Hintergrund hat und so seine Beachtungswahnideen den Charakter der Beeintr\u00e4chtigungswahnideen, der Verfolgungsideen\u201d erhalten, so fragt man, wie es kommt, da\u00df aus dieser \u201eA n n a h m e\u201d eine wahnhafte Idee wird ! Das wird nur verst\u00e4ndlich, wenn man mi\u00dftrauische Verstimmung wirksam denkt.\nSo steht es auch hier mit der M\u00f6glichkeit der Erkl\u00e4rung der mannigfachen Beeintr\u00e4chtigungsideen des Patienten. \u2014\nII. Ich habe fr\u00fcher in meinen Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie die Vermutung ausgesprochen, da\u00df es F\u00e4lle gibt, in denen die mi\u00dftrauische Verstimmung nicht erst aus mi\u00dftrauischem Affekt entsteht, sondern prim\u00e4r gegeben ist.\nNeuere Untersuchungen von L\u00f6wy \u00fcber den Ruf Charakter von Wahnstimmungen\u201d scheinen diese Annahme zu best\u00e4tigen1).\nL\u00f6wy hat ,,Unruhezust\u00e4nde\u201d verschiedener Art und verschiedener Entstehung untersucht. Er spricht dabei von einem Rufcharakter der Stimmung: Es ist den Patienten dabei zumute, wie jemand bei einem pl\u00f6tzlichen Anruf. Dabei \u201eGef\u00fchl drohenden Unheils\u201d; alles kommt auf Grund seiner Stimmung dem Kranken unheimlich, r\u00e4tselhaft vor. Bei starkem Rauchabusus findet er eine Stimmung, aus der Wahnideen wie bei chronischer Paranoia produziert werden.\nDie Verstimmung, aus der hier Wahnideen geboren werden, halte ich nicht f\u00fcr eine reine mi\u00dftrauische Verstimmung, dieselbe ist kompliziert mit einer Verstimmung, aus der Beachtungsideen sich entwickeln. Es treten in den Krankengeschichten zu viele Beachtungsideen auf, als da\u00df man nur von mi\u00dftrauischer Verstimmung sprechen k\u00f6nnte. \u2014\nBevor wir nun zum zweiten Teil unserer Entwicklung \u00fcber Entstehung des Verfolgungswahnes bei intakter Intelligenz \u00fcbergehen und zeigen, wie aus mi\u00dftrauischer Verstimmung die Urteilst\u00e4uschungen der Verfolgungsideen nach allgemeinen psychologischen Gesetzen abzuleiten sind, mu\u00df ich mich mit der eigenartigen Auffassung Bleulers auseinandersetzen, da\u00df Mi\u00dftrauen kein Affekt sei. Da diese Entwicklungen von Einflu\u00df geworden sind, zitiere ich sie:\n\u201eIn einer Gegend, die nicht r\u00e4ubersicher ist, begegneich einem jungen Mann. Er sieht aus wie ein Primaner, tr\u00e4gt eine Botanisierb\u00fcchse. Ich habe dabei keinen Gedanken, weder an Mi\u00dftrauen noch an Zutrauen. Treffe ich einen Bauern mit seinem Arbeits-\n1) L\u00f6wy: Jahrb. f. Psychol. 33. (1911).","page":1219},{"file":"p1220.txt","language":"de","ocr_de":"1220\tGr. St\u00f6rring\nWerkzeug, der ordentlich aussieht, schwielige H\u00e4nde hat, so habe ich Zutrauen zu ihm; ich f\u00fchle mich sicherer, mit ihm zu gehen als allein. Treffe ich\u2019 einen Mann, dessen Anzug, Haltung, Gesicht den Typus eines Herabgekommenen tr\u00e4gt, so mi\u00dftraue ich ihm. Ich wei\u00df nicht, da\u00df er mir etwas tun will. Aber er k\u00f6nnte doch an mein Geld wollen. Wird ein solcher Mann irgendwie deutlicher, la\u00dft er in nicht zu verkennender Absicht einen Revolver sehen,-so mache ich mich auf einen Angriff gefa\u00dft.\nDas Wesentliche an all diesen Vorg\u00e4ngen sind Wahrnehmungen und Auslegungen, also Erkenntnisvorg\u00e4nge, intellektuelle Prozesse. Beim Primaner denke ich weder an Gefahr, noch an Schutz. Vom Bauern wei\u00df ich, da\u00df der ungef\u00e4hrlich ist ; vom Drohenden wei\u00df ich, da\u00df er gef\u00e4hrlich ist, beim verd\u00e4chtig Aussehenden reichen Beobachtung und Schlu\u00dfverm\u00f6gen nicht aus, um mich zu entscheiden : gegen diesen hege ich Mi\u00dftrauen. Ich kann die Vorg\u00e4nge beschreiben, ohne von einem Affekt zu reden, wie in intellektuellen Ausdr\u00fccken.\nKun ist es selbstverst\u00e4ndlich, da\u00df zu diesen Erlebnissen Affekt hinzukommen kann, wie zu allen anderen psychischen Vorg\u00e4ngen. Der Affekt ist aber qualitativ und quantitativ wechselnd, w\u00e4hrend das, was mit dem Worte Mi\u00dftrauen bezeichnet wird, gleich bleibt.\nLeide ich z. B. an Dementia praecox, die meine Affekte absperrt, so kann mir auch die Bedrohung des Lebens ganz gleichg\u00fcltig sein; der entsprechende Affekt kann fehlen, w\u00e4hrend das Mi\u00dftrauen als solches vorhanden sein kann. Bei einem Gesunden werden die Affekte nie ganz fehlen, daf\u00fcr sind sie bei keinem Menschen ganz gleich. Der Mutige, der Feige, der Lebenslustige, der Lebens\u00fcberdr\u00fcssige und wie die verschiedenen Dispositionen alle hei\u00dfen, sie werden ganz verschiedene Gef\u00fchle bei dem gleichen intellektuellen Vorgang haben. Der Lebens\u00fcberdr\u00fcssige kann sogar eine gewisse Freude an der Situation empfinden, ebenso in einem anderen Sinne der Kampflustige, und zwar auch dann, wenn er die Gefahr f\u00fcr sehr gro\u00df h\u00e4lt. Ferner wechseln die Affekte je nach dem intellektuellen Inhalt des Mi\u00dftrauens, d. h. mit dem zu bef\u00fcrchtenden \u00dcbel, auch wenn das Mi\u00dftrauen als solches das gleiche bleibt (ob ich vermute, man nehme mir die B\u00f6rse oder das Leben, das Vermuten ist dasselbe). Wenn ich jemandem mi\u00dftraue, er werde mich um meine B\u00f6rse bringen, so .habe ich einen anderen Affekt, als wenn es mir oder gar einem der Meinigen ans Leben gehen k\u00f6nnte; wenn er mir die Ehre abzuschneiden droht, stehe ich ihm und dieser Tatsache affektiv ganz anders gegen\u00fcber, als wenn er im Konkurrenzkampf gegen mich sonst ein zweifelhaftes Mittel in seinem Arsenal hat.","page":1220},{"file":"p1221.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1221\nSo erscheinen nns die Affekte beim Mi\u00df tr\u00e4nen ganz unwesentlich. Sie k\u00f6nnen qualitativ nnd quantitativ ungemein verschieden sein, ja ganz wegfallen, ohne da\u00df das Mi\u00dftrauen verschw\u00e4nde oder nur alteriert w\u00fcrde. Nehme ich aber die Erkenntnis, den intellektuellen Vorgang weg, so bleibt kein eigentlicher Affekt, den man als Mi\u00dftrauen bezeichnen k\u00f6nnte.\nMi\u00dftrauen selber mu\u00df also nicht ein affektiver, sondern ein intellektueller Vorgang sein. Das Wort Mi\u00dftrauen bedeutet denn auch gar nichts anderes, als da\u00df man das Eintreten eines Ereignisses, das man gew\u00f6hnlich in irgendeiner Dichtung f\u00fcr unangenehm h\u00e4lt, nicht sicher Voraussagen, aber weniger noch ausschlie\u00dfen kann. Vermuten, wissen, kennen, erwarten, zweifeln, klar sein, gewi\u00df sein, ahnen, einem zumuten, sind Vorg\u00e4nge, die auf gleicher Stufe stehen.\nIn den Beispielen habe ich mich auf Vorkommnisse beschr\u00e4nkt, die das Unangenehme f\u00fcr den Mi\u00dftrauenden selbst erwarten lassen. Nach dem Sprachgebrauch h\u00e4tte ich den Begriff bedeutend weiter fassen sollen. Auch wenn durch seinen Sturz niemand gesch\u00e4digt wird, kann man der Festigkeit eines Felsens mi\u00dftrauen, weil es zu den gew\u00f6hnlichen Eigenschaften der Felsen geh\u00f6rt, fest zu sein. Ein Born\u00e9 kann der Tugend eines Frauenzimmers mi\u00dftrauen, obgleich ihm das Vergn\u00fcgen macht. Man kann einem Feinde mi\u00dftrauen, auch dann, wenn er uns durch den erwarteten Angriff die gew\u00fcnschte Gelegenheit geben wird, ihn unsch\u00e4dlich zu machen. Man kann jemand mi\u00dftrauen, da\u00df er unseren Feind sch\u00e4dige, auch wenn man so schlecht ist, da\u00df man sich dar\u00fcber freut. In allen diesen F\u00e4llen ist der Affekt noch viel nebens\u00e4chlicher, weil das vermutete Unangenehme gar nicht uns selbst angeht, und er wird ein ganz anderer, wenn Sachen das Objekt des Mi\u00dftrauens sind. Um aber der Auffassung von Sandberg und Specht eine Konzession zu machen, wollen wir bei der engeren Fassung bleiben; wir reden also nur von Mi\u00dftrauen in bezug auf Gef\u00e4hrdung der eigenen Person durch eine andere Person. Was wir anf\u00fchren, gilt dann um so mehr bei der gew\u00f6hnlichen Fassung des Begriffes.\nWie schon gesagt, ist nat\u00fcrlich auch das Mi\u00dftrauen von einem affektiven Vorgang begleitet; ferner haben wir dasselbe definiert als die ungewisse Erwartung von etwas Unangenehmem. Wenn also ein begleitender Affekt vorhanden ist, so wird er naturgem\u00e4\u00df in den meisten F\u00e4llen ein negativer, nicht aber derselbe immer der gleiche sein. Sehen wir indessen ganz genau zu, so finden wir meist neben dem negativen Affekt noch einen positiven, denjenigen, der sich einfindet, wenn etwas Unangenehmes weniger droht als man dachte, oder wenn es abgewendet wird; es ist wohl ziemlich der gleiche, der das Hoffen vorwiegend begleitet.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t80","page":1221},{"file":"p1222.txt","language":"de","ocr_de":"1222\nG. St\u00f6rring\nDieses ist der beste Pendant znm Mi\u00dftrauen, sowohl intellektuell wie affektiv. Bei vielen Vorg\u00e4ngen sind Indizien vorhanden f\u00fcr das Eintreffen oder Mchteintreffen eines bestimmten Ereignisses, die aber nicht ansreichen zur bestimmten Erwartung. Je nachdem man gerade an die Gr\u00fcnde f\u00fcr das eine oder andere denkt, schwankt der Affekt. Denke ich beim Mi\u00dftrauen nur an die Tatsachen, die dasselbe als berechtigt darstellen, so dominiert der negative Affekt viel st\u00e4rker, als wenn ich im n\u00e4chsten Augenblick bei gleichem objektiven Wissen aus einem inneren oder \u00e4u\u00dferen Grunde gerade die Motive, die f\u00fcr Sicherheit sprechen, in den Vordergrund stelle. Analog ist es beim Hoffen. Der Affekt schwankt hin und her, aber im wesentlichen nicht spontan, sondern entsprechend den intellektuellen Vorg\u00e4ngen. Nun werden die letzteren, wie wohl niemand mehr betonen kann wie wir, auch wieder durch Affekte beeinflu\u00dft \u2014 aber das Prim\u00e4re, das Wesentliche, das, mit dem der ganze Vorgang des Mi\u00dftrauens wegfiele, ist der intellektuelle Proze\u00df. Das Mi\u00dftrauen ist also fast immer von einem Affekt aus einer bestimmten negativen Gruppe, nicht einem bestimmten Affekt betont ; ferner spielt noch ein zweiter, positiver Affekt hinein, den wir beim Hoffen als den vorherrschenden finden. Das scheint uns das Wahre von der Vorstellung, da\u00df das Mi\u00dftrauen ein Mischaffekt sei551).\nIch nehme zu diesen Entwicklungen von Bleuler folgende Stellung ein:\nBleuler sagt, wenn ich sage, ich habe gegen den verd\u00e4chtig Aussehenden Mi\u00dftrauen, so hei\u00dft das nichts anderes, als : Bei dem verd\u00e4chtig Aussehenden reichen Beobachtungen und Schlu\u00dffolgerungen nicht aus, um mich zu entscheiden, ob er (mir) gef\u00e4hrlich oder ungef\u00e4hrlich ist. Ich kann die Vorg\u00e4nge des Mi\u00dftrauens beschreiben ,,rein in intellektuellen Ausdr\u00fccken\u201d. \u201eMi\u00dftrauen selber mu\u00df also ein intellektueller Vorgang sein\u201d.\nWenn ich von dem verd\u00e4chtig Aussehenden sage, da\u00df ich Mi\u00dftrauen gegen ihn habe, da soll ich nur sagen wollen, da\u00df sich in bezug auf ihn bei mir ein bestimmter \u201eintellektueller Vorgang\u201d entwickelt, da soll ich nichts aussagen \u00fcber meine emotionelle Stellungnahme zu dem verd\u00e4chtig Aussehenden ? Das wird man doch schwerlich behaupten k\u00f6nnen.\nNat\u00fcrlich entspricht jedem normalen Affekt eine intellektuelle Unterlage, eine intellektuelle Unterlage, die f\u00fcr ihn charakteristisch ist, durch die er ausgel\u00f6st wird.\nWenn man nun angeben will, welchen Affekt man unter bestimmten Umst\u00e4nden\nb Bleuler: Affektivit\u00e4t usw. 1. Anfl. S. 72 ff.","page":1222},{"file":"p1223.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1223\nhat, so gibt man die intellektuelle Unterlage an, welche diesem Affekt entspricht, weil die Beschreibung des Affektes rein von der emotionellen Seite ans bei komplexen Affekten anf eminente Schwierigkeiten st\u00f6\u00dft! Das sehen wir schon bei Spinoza deutlich hervortreten, wenn er die Affekte definiert. So sagt er z. B. bez\u00fcglich des Affektes der Hoffnung: ,,Spes namque nihil aliud est quam inconstans laetitia orta ex imagine reifuturae vel praeteritae, de cuius eventu dubitamus.\u201d Die Art der inconstans laetitia, die bei der Hoffnung gegeben ist, vermag er nicht anders und sicherlich nicht genauer zu charakterisieren, als indem er die intellektuellen Unterlagen dieser Freude angibt. Er sagt, diese unbest\u00e4ndige Freude ist entstanden aus der Vorstellung von etwas Zuk\u00fcnftigem oder Vergangenem, \u00fcber dessen Ausgang wir im Zweifel sind.\nBevor wir die Diskussion fortf\u00fchren, wollen wir angeben, wie Bleuler das Mi\u00dftrauen definiert, also mit welchem intellektuellen Tatbestand wir es nach Bleuler zu tun haben. Er sagt: \u201eDas Wort Mi\u00dftrauen bedeutet denn auch gar nichts anderes, als da\u00df man das Eintreten eines Ereignisses, das man gew\u00f6hnlich in irgendeiner Bichtung f\u00fcr unangenehm h\u00e4lt, nicht sicher Voraussagen, aber noch weniger ausschlie\u00dfen kann.\u201d Und sp\u00e4ter sagt er, wir haben Mi\u00dftrauen \u201edefiniert als die ungewisse Erwartung von etwas Unangenehmem\u201d.\nNun bringt Bleuler f\u00fcr seine Auffassung einzelne Argumente, die plausibel erscheinen k\u00f6nnen. Er sagt: \u201eWenn jemand an Dementia praecox leidet und deshalb die Affekte bei ihm abgesperrt sind, da kann ihm die Bedrohung des Lebens ganz gleichg\u00fcltig sein; der entsprechende Affekt kann fehlen, w\u00e4hrend das Mi\u00dftrauen als solches vorhanden ist.\u201d Darauf ist zu antworten: ,In diesem Falle ist nur die intellektuelle Unterlage des Mi\u00dftrauens vorhanden, also nicht das, was wir als Mi\u00dftrauen bezeichnen.\u2019\nVon dem Lebens\u00fcberdr\u00fcssigen meint er, da\u00df er eine gro\u00dfe Freude an der gefahrvollen Situation f\u00fchlen k\u00f6nne, und ebenso der Kampflustige, wenn er die Gefahr f\u00fcr sehr gro\u00df h\u00e4lt. Daraus ergebe sich, \u201eda\u00df die verschiedenen Menschen ganz verschiedene Gef\u00fchle bei demselben intellektuellen Vorgang haben.\u201d Also sei der mit dem Mi\u00dftrauen sich verbindende Affekt \u201equalitativ wechselnd\u201d, w\u00e4hrend das, was mit dem Worte Mi\u00dftrauen bezeichnet wird, gleich bleibt.\nDagegen ist zu sagen, da\u00df Bleuler das Mi\u00dftrauen als die ungewisse Erwartung von etwas \u201eUnangenehmem\u201d definiert hat, und da\u00df der Lebens\u00fcberdr\u00fcssige, wenn er nach Bleuler an\n80*","page":1223},{"file":"p1224.txt","language":"de","ocr_de":"1224\nG. St\u00f6rring\neiner gefahrvollen Situation eine gewisse Freude f\u00fchlt, nicht einmal das erlebt, was Bleuler selbst als Mi\u00dftrauen bezeichnet, er erwartet ja dann doch eben nichts \u201eUnangenehmes\u201d. Dasselbe gilt f\u00fcr den gedachten Kampflustigen.\nEs wird weiter geltend gemacht, da\u00df die Affekte wechseln je nach dem intellektuellen Inhalt des Mi\u00dftrauens, d. h. mit dem zu bef\u00fcrchtenden \u00dcbel, auch wenn das Mi\u00dftrauen als solches das gleiche bleibt (ob ich vermute, man nehme mir die B\u00f6rse oder das Leben, das Vermuten ist dasselbe). Wenn ich jemand mi\u00dftraue, er werde mich um meine B\u00f6rse bringen, so habe ich einen anderen Affekt, als wenn es mir oder gar einem der Meinigen ans Leben gehen k\u00f6nnte.\nIch stimme mit Bleuler vollst\u00e4ndig darin \u00fcberein, da\u00df in den angegebenen verschiedenen F\u00e4llen die entstehenden Affekte qualitativ verschieden sind. Aber ich mu\u00df behaupten, da\u00df diese qualitativ verschiedenen Affekte alle etwas Gemeinsames haben und da\u00df das Gemeinsame gerade das ist, was als mi\u00dftrauischer Affekt zu bezeichnen ist.\nSehr anregend ist, was Bleuler \u00fcber die Ungewi\u00dfheiten beim Mi\u00dftrauen entwickelt. Er sagt \u201eDa das Mi\u00dftrauen die ungewisse Erwartung von etwas Unangenehmem ist, so verbindet sich mit demselben, wenn \u00fcberhaupt dabei ein Affekt auftritt, ein negativer. Aber neben dem negativen Affekt, der auftritt, wenn man an die Gr\u00fcnde f\u00fcr das Eintreten des Unangenehmen denkt, findet sich ein positiver, der sich mit dem Gedanken an das m\u00f6gliche Mchteintreten des Unangenehmen verbindet. Je nachdem man gerade an die Gr\u00fcnde f\u00fcr das eine oder andere denkt, schwankt der Affekt.\u201d\nBez\u00fcglich schwacher Affekte des Mi\u00dftrauens k\u00f6nnen wir Bleuler darin beipflichten, da\u00df das bezeichnete Schwanken eintritt. Aber bei starkem Mi\u00dftrauen verh\u00e4lt sich das anders. Man denke an das Mi\u00dftrauen des Verfolgungswahnes. Wenn es sich um das Vorstadium der eigentlichen Wahnidee, um eine \u00fcberwertige mi\u00dftrauische Idee handelt, da kann man von einem solchen Schwanken sprechen. Aber ist die Wahnidee voll ausgebildet, so wird nicht mehr an die M\u00f6glichkeit des Nichteintretens des betreffenden Unangenehmen gedacht.\nDoch auch in diesen F\u00e4llen liegt in der intellektuellen Unterlage des Mi\u00dftrauens noch ein Schwanken. Aber das steckt jetzt an einer anderen Stelle ! Es besteht Sicherheit dar\u00fcber, da\u00df eine Leidzuf\u00fcgung vollzogen wird, aber es besteht Ungewi\u00dfheit dar\u00fcber, wie und wann die Leidzuf\u00fcgung sich vollzieht.","page":1224},{"file":"p1225.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1225\nIm Mi\u00dftrauen scheinen mir zun\u00e4chst zwei emotionelle Faktoren zn liegen. Der eine ist ein \u00e4ngstliches Moment, und zwar handelt es sich nm Angst vor feindlichen Ma\u00dfnahmen. Man kann dies Moment heim Yerfolgnngswahn leicht nachweisen.\nNeben diesem asthenischen Faktor liegt im Mi\u00dftrauen noch ein sthenischer Faktor (der nns ebenfalls beim Yerfolgnngswahn dentlich entgegentritt) : Ein anf den Gegenstand der Angst bez\u00fcgliches, gegen die gedachten feindlichen Ma\u00dfnahmen gerichtetes Moment, das entweder nnr defensiven oder aggressiven Charakter h a t. Sodann findet sich hier noch ein Moment der Spannung, welches bedingt ist dnrch das Gerichtetsein anf gedachte feindliche Ma\u00dfnahmen n nd anf die Eeaktion gegen dieselben. (Auch diese Spannnng tritt bei dem YerfolgnngsWahnsinn dentlich in die Erscheinnng.)\nZuletzt liegt in dem mi\u00dftranischen Affekt noch ein von dem schwankenden Charakter der intellektuellen Unterlage herr\u00fchrendes Moment der Unruhe.\nIch finde es sehr geschickt, da\u00df Bumke1) bei Charakterisierung des Yerfolgnngswahnes bei intakter Intelligenz die beiden Bilder des ,,sensitiven Beziehungswahnes\u201d und des ,,Querulantenwahnes\u201d nebeneinander stellt und dann von \u00dcberg\u00e4ngen spricht. Im einen Fall hat das sthenische Moment defensiven, im anderen aggressiven Charakter. Wenn Bum'ke beim Yergleich der Charaktere der Patienten mit ,,sensitivem Beziehungs wahn\u201d und mit ,,Querulantenwahn\u201d findet, da\u00df sie darin \u00fcbereinstimmen, da\u00df sie die Eigenschaften der ,,Yerwundbarkeit\u201d und ,,hohen Selbstachtung\u201d aufweisen, so pa\u00dft das durchaus zu den soeben von uns gemachten Bestimmungen2).\nWenn meine Charakterisierung des Mi\u00dftrauens zutreffend ist, so handelt es sich also bei demselben um eine ganz bestimmte Art des Yerflochtenseins von quantitativ differenten emotionellen und intellektuellen Faktoren. Ein solches Yerkn\u00fcpftsein von verschiedenen emotionellen Faktoren mit intellektuellen findet man auch in anderen F\u00e4llen von Affekten, so z. B. bei dem Affekt der Wehmut3).\n*) Bum'ke: Lehrbuch der Psychiatrie. 2. Aufl.\n2)\tBumke: 1. c. S. 556.\n3)\tSt\u00f6rring: Psychologie. S. 403 ff.\t.\t.","page":1225},{"file":"p1226.txt","language":"de","ocr_de":"1226\nG-. St\u00f6rring\nHun bleibt noch die Frage zu beantworten, was wir unter ,,m i\u00dftrauischerVerstimmung\u201d verstehen. Wir k\u00f6nnen sie v\u00f6llig eindeutig bestimmen, indem wir sagen: Unter mi\u00dftrauischer Verstimmung verstehen wir eine pathologische Stimmung von solcher Qualit\u00e4t, wie sie da entsteht, wo aus Affekten des Mi\u00dftrauens sich Stimmungen entwickeln. Damit k\u00f6nnen wir uns begn\u00fcgen, geradeso wie man wissenschaftlich die Elektrizit\u00e4t behandeln kann, indem man ihre Ursachen und ihre Wirkungen angibt, ohne zu sagen, was sie ist1).\nWir brauchen dabei aber nicht stehen zu bleiben, sondern wir k\u00f6nnen auch angeben, was die mi\u00dftrauische Verstimmung selbst ist, indem wir ber\u00fccksichtigen, da\u00df beim \u00dcbergang von Affekten in Stimmungen die intellektuellen Faktoren des Affektes in den Hintergrund treten.\nDann ergibt sich bez\u00fcglich der mi\u00dftrauischen Verstimmung, da\u00df es sich bei ihr um eine pathologisch \u00e4ngstliche Stimmung handelt mit Andeutung einer Dichtung einem Etwas gegen\u00fcber, mit Spannungen und einer Einstellung auf defensive bis aggressive Eeaktionen.\nWir bemerken dabei, da\u00df bei pathologisch \u00e4ngstlicher Stimmung mit Andeutung einer Dichtung einem Etwas gegen\u00fcber die \u00e4ngstliche Stimmung auf unbestimmte Objekte bezogen ist, so da\u00df dann bei st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t dieser Stimmungslage der Eindruck des \u201eUnheimlichen\u201d entsteht.\nB. Wir haben jetzt weiter die Frage zu beantworten, wie durch die mi\u00dftrauische Verstimmung die Urteilst\u00e4uschungen der Verfolgungsideen bedingt sind. Ich kann mich hier eng an meine Darstellung in meinem angezogenen Werk halten, zumal es vergriffen ist. Ich werde dieser fr\u00fcheren Entwicklung noch eine Diskussion hinzuf\u00fcgen mit einer in letzter Zeit aufgetretenen bedeutsamen Theorie \u00fcber Verfolgungsideen bei intakter Intelligenz.\nWir haben also festgestellt, da\u00df die Verfolgungsideen bei intakter Intelligenz durch eine mi\u00dftrauische Verstimmung bedingt sind. Es fragt sich nun, wie diese Wahnideen durch die emotionelle Anomalie entstehen.\nMit ein paar Worten gehe ich darauf ein, wie man sich sonst die Wirkung solcher und \u00e4hnlicher emotioneller Faktoren auf das Urteil gedacht hat. Meynert spricht seine Ansicht dar\u00fcber gelegentlich der Behandlung des Gr\u00f6\u00dfenwahnes bei heiterer Verstimmung aus. Er \u00e4u\u00dfert sich dar\u00fcber folgenderma\u00dfen:\nx) St\u00f6rring: Logik. S. 406 ff.","page":1226},{"file":"p1227.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1227\n\u201eDer Gr\u00f6\u00dfenwahn bzw. seine Ansdr\u00fccke gehen erst ans dem Bez\u00fcge des manischen Gl\u00fccksgef\u00fchles zn irrt\u00fcmlichen Parallelschl\u00fcssen hervor, deren Grundlage der physiologische Wahn der volkst\u00fcmlichen Vorurteile ist. Diese allgemeinen Anschauungen machen einen Schlu\u00df aus bemerkenswerten Lebenslagen auf ein Gl\u00fccksgef\u00fchl des mit ihnen Begabten, der tats\u00e4chlich, wenigstens was die fortdauernde Stimmung betrifft, ein Fehlschlu\u00df ist. Dem Reichen, dem Herrschenden, dem Ber\u00fchmten wird die Gem\u00fctslage eines Gl\u00fccksgef\u00fchles, einer Euphorie, zugeschrieben. Diese wahnhaften Assoziationen von \u00e4u\u00dferen Tatsachen und Stimmungen sind so gefestigt, da\u00df sie auch die Schl\u00fcsse des an heiterer Verstimmung Leidenden leiten. Hur verkehrt er die Schlu\u00dfweise und schlie\u00dft von der Stimmung auf die Tatsachen. Weil er ein hohes Gl\u00fccksgef\u00fchl empfand, so assoznert er dazu den Ausdruck dieses Gl\u00fccksgef\u00fchles, erschlie\u00dft, da\u00df dem Gl\u00fccksgef\u00fchl Reichtum, Macht, Ber\u00fchmtheit oder alles zusammen zugrunde liege, oder, kurz gesagt, es handelt sich um einen Parallelschlu\u00df aus der Euphorie nach dem Schema des popul\u00e4ren Irrtums, ein Reicher, ein Vornehmer, ein Ber\u00fchmter schwimme in einem Lustgef\u00fchl. Der Fehlschlu\u00df wird in der Krankheit vom Lustgef\u00fchl auf eine Pers\u00f6nlichkeit gemacht, deren Attribut das Lustgef\u00fchl w\u00e4re\u201d1).\nEine \u00e4hnliche Auffassung bez\u00fcglich der Beziehung zwischen Mi\u00dftrauen und Verfolgungswahn finden wir bei Sandberg.\n\u201eWas Meynert nur allgemein bemerkt, da\u00df n\u00e4mlich eine gro\u00dfe Reihe von Wahnideen dadurch entstehen, da\u00df der Kranke nicht wie der Gesunde aus \u00e4u\u00dferen Einfl\u00fcssen Stimmungen herleitet, sondern umgekehrt, das trifft auch in unserem Falle zu. W\u00e4hrend der Gesunde durch Beobachtet-, Verfolgt wer den mi\u00dftrauisch wird, schlie\u00dft der Verr\u00fcckte umgekehrt aus seinem Mi\u00dftrauen, da\u00df er beobachtet, verfolgt wird.\u201d\nGegen diese Auffassung, da\u00df von dem Mi\u00dftrauen ein Schlu\u00df auf das Verfolgt werden gemacht wird, habe ich einzuwenden, da\u00df man bei einem Verr\u00fcckten einen solchen Schlu\u00df nie konstatieren kann. Wenn er gemacht wird, m\u00fc\u00dfte er sich doch auch auf Exploration hin bei einem intelligenten Patienten nachweisen lassen. Sodann kommen wir auf diesem Wege nicht dazu zu erkl\u00e4ren, wie Verfolgungsideen entstehen.\nJedenfalls m\u00fcssen wir also f\u00fcr die Genesis des Verfolgungswahnes bei intakter Intelligenz die Mitwirkung eines solchen Schlu\u00df Verfahrens in Abrede stellen. Wenn jemand auf unsere Einwendung, ein solches Schlu\u00df verfahr en m\u00fcsse sich doch durch die Exploration konstatieren lassen, sei aber tats\u00e4chlich nicht zu\nx) Meynert: Psychiatrie. S. 222.","page":1227},{"file":"p1228.txt","language":"de","ocr_de":"1228\nG. St\u00f6rring\nkonstatieren, antworten wollte, es handle sich nm einen n n-bewn\u00dften Schlu\u00df, so m\u00fcssen wir dazn sagen, da\u00df wir die Annahme solcher Ph\u00e4nomene ans allgemeinen psychologischen Gr\u00fcnden von der Hand weisen.\nDas Material, welches nns znr Feststellung der Genesis der Yerfolgnngsideen bei intakter Intelligenz znr Verf\u00fcgung steht, ist ein sehr reiches. Wir m\u00fcssen wissen, wo wir zu suchen haben. Die Urteilsfunktion selbst ist intakt, wir m\u00fc\u00dften dann also Zusehen, ob wir bei diesen Kranken St\u00f6rungen in denjenigen psychischen Prozessen finden, welche die Voraussetzung des Urteilens bilden; diese St\u00f6rungen m\u00fc\u00dften zugleich derart sein, da\u00df sie als von der emotionellen Anomalie abh\u00e4ngig zu erweisen sind. Ich nehme zun\u00e4chst mit ein paar Worten das Resultat vorweg. St\u00f6rungen bezeichneter Art finden wir in den Wahrnehmungsund Vorstellungsprozessen dieser Kranken. Wir finden bei den Wahrnehmungsprozessen Einseitigkeit und Verf\u00e4lschung der Wahrnehmung und bei den Vorstellungsprozessen Einseitigkeit der Reproduktion der Vorstellungen und Verf\u00e4lschung derselben und sodann Einseitigkeit der Fixierung der Vorstellungen. Diese Anomalien lassen sich als abh\u00e4ngig von der emotionellen Anomalie erweisen. Andrerseits wird durch diese St\u00f6rungen das Urteil beeinflu\u00dft, indem das Material f\u00fcr das Urteilen modifiziert wird.\nEs wird sich aber allerdings zeigen, da\u00df diese Faktoren nicht den ganzen hier gegebenen Tatbestand zu erkl\u00e4ren verm\u00f6gen. Die Unkorrigierbarkeit der Wahnideen erkl\u00e4rt sich durch sie nicht. Die Feststellung der Genesis dieses Ph\u00e4nomens wird uns einen wichtigen Beitrag zur Erkenntnis des Wesens der Urteilsfunktion selbst geben.\nIch will zuerst von den St\u00f6rungen in der Reproduktion und Fixierung der Vorstellungen sprechen, weil diese St\u00f6rungen pr\u00e4valierende Bedeutung haben und zugleich einem Teil der St\u00f6rungen in den Wahrnehmungsprozessen vorangehen.\nWir finden bei solchen Kranken also, da\u00df die Reproduktion der Vorstellungen sich in einseitiger Weise vollzieht, da\u00df ebenso einseitig die Fixierung derselben im Bewu\u00dftsein bestimmt wird und eine Verf\u00e4lschung der reproduzierten Vorstellungen eintritt.\nDie fr\u00fcher erw\u00e4hnte Patientin, welche in der Laktation erkrankte, glaubte, da\u00df ihre Freundinnen, indem sie ihr nicht zum Geburtstag gratulierten, ein Spiel mit ihr trieben. An andere M\u00f6glichkeiten der Deutung hatte Patientin so gut wie gar nicht gedacht. Wir m\u00fcssen deshalb von einer einseitigen Reproduktion","page":1228},{"file":"p1229.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1229\nder Vorstellung der verschiedenen in Betracht kommenden M\u00f6glichkeiten der Deutung des Tatbestandes sprechen.\nJener Beisende, bei dem normales Mi\u00dftrauen gegen einen Prokuristen seines Gesch\u00e4ftes eine wesentliche Bolle in der Genesis seines Verfolgungswahnes spielte, glaubt aus einzelnen Handlungen seines Chefs schlie\u00dfen zu k\u00f6nnen, da\u00df derselbe gegen ihn eingenommen sei, w\u00e4hrend er von ihm tats\u00e4chlich sehr hoch gesch\u00e4tzt wurde. Au\u00dfer anderem sollte ein Bundschreiben an die s\u00e4mtlichen Beisenden, eine m\u00f6glichste Beschr\u00e4nkung der Spesen betreffend, gegen ihn speziell gem\u00fcnzt sein. Die Erkl\u00e4rung dieser und anderer Handlungsweisen von seiten des Chefs vermochten den intelligenten Mann nicht zu \u00fcberzeugen, obgleich sie sehr plausibel waren und Patient dem Chef fr\u00fcher Vertrauen und Hochachtung entgegengebracht hatte. (Auf diesen letzteren Punkt kommen wir noch sp\u00e4ter zur\u00fcck.) Patient gab an, da\u00df die \u00fcbrigen (nat\u00fcrlichen) M\u00f6glichkeiten der Deutung der einzelnen Tatbest\u00e4nde ihm nur ganz fl\u00fcchtig zum Bewu\u00dftsein gekommen seien. Die von ihm gew\u00e4hlten Deutungen aber besch\u00e4ftigten ihn den ganzen Tag hindurch. In diesem Falle tritt neben einer einseitigen Beproduktion der Vorstellungen eine einseitige Fixierung derselben klar zutage.\nEs l\u00e4\u00dft sich nun zeigen, da\u00df diese einseitige Beproduktion und einseitige Fixierung und Verf\u00e4lschung der Vorstellungen durch die emotionelle Anomalie bedingt ist.\nEine einseitige Beproduktion der Vorstellungen kommt durch diese emotionelle Anomalie zustande, weil Gef\u00fchlszust\u00e4nde den Vorstellungs verlauf nicht blo\u00df quantitativ, d. h. so bestimmen, da\u00df derselbe durch die Gef\u00fchle beschleunigt oder verlangsamt wird, sondern auch qualitativ, d. h. so, da\u00df durch die Gef\u00fchle der Inhalt der reproduzierten Vorstellungen bestimmt oder mitbestimmt wird, und zwar unter anderem durch einen direkten Einflu\u00df auf den Vorstellungs verlauf ohne Vermittlung der Vorstellungen, an die sie gekn\u00fcpft sind.\nDiese Wirkungsweise der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ist eine verschiedene je nach dem spezifisch verschiedenen Charakter derselben. Dieser spezifische Charakter wirkt auf den Vorstellungsverlauf so, da\u00df er dazu tendiert, Vorstellungen und Vorstellungs -komplexe zu reproduzieren, mit denen sich ein gleicher oder \u00e4hnlicher Gef\u00fchlszustand verband. So wird also eine mi\u00dftrauische Verstimmung dahin tendieren m\u00fcssen, Vorstellungen zu reproduzieren, die selbst wieder von einem mi\u00dftrauischen oder unangenehmen Gef\u00fchlszustand begleitet sind.\nWas die einseitige Fixierung der Vorstellungen betrifft, so vollzieht sich dieselbe in Abh\u00e4ngigkeit von emotionellen Faktoren","page":1229},{"file":"p1230.txt","language":"de","ocr_de":"1230\nG. St\u00f6rring\nderart, da\u00df am leichtesten Vorstellungen fixiert werden, welche sich mit derselben Gef\u00fchlsqnalit\u00e4t verbinden.\nEs hat sich uns fr\u00fcher gezeigt, da\u00df Gef\u00fchlsznst\u00e4nde auf Vorstellungen fixierend wirken k\u00f6nnen. Da\u00df eine bestimmte Gef\u00fchlslage zu einer einseitigen Fixierung von Vorstellungen tendiert, welche mit gleichen oder \u00e4hnlichen Gef\u00fchls-znst\u00e4nden einher gehen, mu\u00df man sich so verst\u00e4ndlich machen, da\u00df die betreffenden Vorstellungen an der ihrem Gef\u00fchlscharakter entsprechenden Stimmung durch den Gef\u00fchlscharakter st\u00e4rkeren assoziativen Anschlu\u00df finden als Vorstellungen, die vom anderen Gef\u00fchlscharakter begleitet sind.\nEine Verf\u00e4lschung der reproduzierten Vorstellungen scheint mir fast nur dann anfzntreten, wenn bereits Verfolgnngsideen bestehen. Die Verf\u00e4lschung der Vorstellungen vollzieht sich analog den Verf\u00e4lschungen der Wahrnehmungen. Ich kann mich deshalb auf eine Besprechung der letzteren beschr\u00e4nken.\nWenn nun die emotionelle Anomalie, die mi\u00dftrauische Verstimmung in dieser bestimmten einseitigen Weise die Reproduktion und Fixierung der Vorstellungen und Vorstellungskomplexe bestimmt, wodurch eine \u00c4nderung des Tatbestandes im Sinne der mi\u00dftrauischen Verstimmung bewirkt wird, dann ist es selbstverst\u00e4ndlich, da\u00df das Urteil nicht blo\u00df falsch ist, sondern nach der Seite hin falsch, da\u00df die Vorstellung des in demselben anerkannten Tatbestandes mit einem mi\u00dftrauischen Affektzustand begleitet ist, ohne da\u00df der wirkliche Tatbestand dazu Veranlassung b\u00f6te.\nAu\u00dfer einer abnormen Beeinflussung der Vorstellungen haben wir bei diesen Kranken noch eine Modifikation der Wahrnehmung zu konstatieren, die ebenfalls von der emotionellen Anomalie abh\u00e4ngig ist und im gleichen Sinne das Urteil beeinflu\u00dft. In diesem Faktor liegt aber nicht etwa, wie sich aus dem Vorigen ergibt, eine conditio sine qua non der Verfolgungsideen. Es handelt sich nur um eine neue Quelle derselben, und zwar um eine solche, die von geringerer Bedeutung und zum Teil sekund\u00e4r gegen\u00fcber der soeben genauer untersuchten ist.\nDie Wahrnehmungen finden wir also einseitig und verf\u00e4lscht.\nEinseitig wird die Wahrnehmung dadurch, da\u00df nur die von bestimmtem Gef\u00fchlscharakter begleiteten Z\u00fcge in den Blickpunkt des Bewu\u00dftseins treten, verf\u00e4lscht wird die Wahrnehmung dadurch, da\u00df in dem Assimilationsproze\u00df mit den gegebenen Empfindungen eine durch die emotionelle Anomalie dem","page":1230},{"file":"p1231.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1231\nBewu\u00dftsein aufgedr\u00e4ngte Vorstellung verschmilzt.\nIch spreche zun\u00e4chst von der Verf\u00e4lschung der Wahrnehmung.\nEs ist ein bekanntes Ph\u00e4nomen, welches man h\u00e4ufig bei den hier in Betracht kommenden Kranken findet, da\u00df sie glauben, mit feindseligen Blicken beobachtet zu werden, sobald sie sich auf der Stra\u00dfe sehen lassen.\nDie mi\u00dftrauische Verstimmung hat auf Grund ihrer assoziativen Beziehungen die Tendenz zur Beproduktion der Vorstellung feindseliger Handlungen. Sie mu\u00df deshalb bei einem bestimmten Verhalten der Umgebung gegen den Patienten die Tendenz haben, die Vorstellungen eines feindseligen Verhaltens bestimmter Art (hier des feindseligen Blickes) wachzurufen.\nWenn schon allgemeine Verfolgungsideen zur Ausbildung gekommen sind, so werden diese bei einem bestimmten Verhalten der Umgebung ebenfalls die Tendenz haben, die Vorstellung eines feindseligen Verhaltens dieser Art zu erzeugen, wodurch dann die Tendenz der mi\u00dftrauischen Verstimmung verst\u00e4rkt wird.\nSo wird also die Wahrnehmung verf\u00e4lscht.\nDie Wahrnehmung ist aber auch bei diesen Kranken zuweilen eine einseitige, was wir darauf zur\u00fcckf\u00fchren, da\u00df die mi\u00dftrauische Verstimmung bewirkt, da\u00df die mit mi\u00dftrauischer Affektbetonung begleiteten Z\u00fcge gr\u00f6\u00dfere Chancen haben, in den Blickpunkt des Bewu\u00dftseins zu treten als die anderen. Jener Beisende mit Verfolgungsideen, von dem wir schon wiederholt sprachen, glaubte im Verlaufe seiner Erkrankung zu bemerken, da\u00df die Kunden, die er besuchte, anstatt ihres fr\u00fcheren auf alter Bekanntschaft beruhenden liebensw\u00fcrdigen Verhaltens ein feindseliges Verhalten ihm gegen\u00fcber zeigten.\nDie indifferenten Z\u00fcge des Verhaltens wurden durch falsche Assimilation in feindselige verkehrt, die liebensw\u00fcrdigen Z\u00fcge desselben (wie sie bei 15j\u00e4hrigen Bekannten nat\u00fcrlich sind), waren von ihm einfach nicht bemerkt worden.\nWoher es kommt, da\u00df die mi\u00dftrauische Verstimmung gerade Z\u00fcge mit mi\u00dftrauischer Affektbetonung in den Blickpunkt des Bewu\u00dftseins r\u00fcckt (und darin fixiert), brauchen wir wohl nach der \u00e4hnlichen Er\u00f6rterung bei Besprechung der einseitigen Fixierung der Vorstellung nicht n\u00e4her auseinanderzusetzen.\nWir haben so gezeigt, wie das in den Wahrnehmungen und Vorstellungen gegebene Material f\u00fcr das Urteilen durch die emotionelle Anomalie modifiziert wird. Durch diese Modifikation mu\u00df nat\u00fcrlich auch das Urteil beeinflu\u00dft werden. Man begreift aber jedenfalls hieraus nicht, da\u00df die von den emotionellen Anomalien ab-","page":1231},{"file":"p1232.txt","language":"de","ocr_de":"1232\nGr. St\u00f6rring\nh\u00e4ngigen Urteile den Charakter der Unkorrigierbarbeit tragen. Auch wenn man den Kranken das nicht ber\u00fccksichtigte Material znr Benrteilnng herbeibringt, tritt keine Korrektur des Urteils ein. Jener Reisende, der das Rundschreiben des Chefs der Spesen wegen auf sich bezog, lie\u00df sich davon nicht abbringen, obgleich ihm sein Chef das n\u00f6tige Material f\u00fcr andere Deutung dieses Tatbestandes darbot. Er blieb bei seiner mi\u00dftrauischen Deutung. Mit der mi\u00dftrauischen Deutung des Tatbestandes verbindet sich also ein abnorm gesteigertes Bewu\u00dftsein der realen G\u00fcltigkeit des so Gedachten.\nWovon ist dies Ph\u00e4nomen abh\u00e4ngig ? Es l\u00e4\u00dft sich bei seiner abnormen Intensit\u00e4t nur die abnorme Intensit\u00e4t des emotionellen Faktors daf\u00fcr verantwortlich machen.\nDie YorstellungsVerbindung, welche die von den Kranken gew\u00e4hlte Deutung darstellt, verbindet sich mit einem Gef\u00fchls -zustand gleichen Charakters, wie ihn die Verstimmung an sich tr\u00e4gt.\nInfolgedessen mu\u00df, sobald diese Vorstellungsverbindung einmal gegeben ist, durch die Vorstellung des zu deutenden Tatbestandes bei der vorhandenen Stimmungslage sich dem Bewu\u00dftsein des betreffenden Individuums diese Deutung im Gegensatz zu den anderen aufdr\u00e4ngen. Von diesem abnormen Sichaufdr\u00e4ngen der einen Deutung im Gegensatz zu anderen mu\u00df das abnorm starke Bewu\u00dftsein der realen G\u00fcltigkeit des in dieser Vorstellungsverbindung Gedachten abh\u00e4ng en.\nKach der Entwicklung meiner Theorie der Genesis paranoischer Wahnideen will ich vor der kritischen Behandlung einer k\u00fcrzlich aufgestellten Paranoiatheorie mit einigen Worten noch auf eine Auffassung der Genesis solcher Wahnideen eingehen, die von Wernicke ge\u00e4u\u00dfert ist. Diese Hypothese soll zugleich das tiefere Verst\u00e4ndnis f\u00fcr das Wesen aller Geisteskrankheiten geben. Er kn\u00fcpft seine Auseinandersetzung an die Besprechung eines Kranken an, der abstruse Wahnideen bei erhaltener Besonnenheit entwickelt.\nEr sagt, wie ist es m\u00f6glich, \u201eda\u00df in demselben Kopfe nebeneinander eine solche Unmasse falscher Vorstellungen und von Urteilen, die sowohl untereinander als mit der Wirklichkeit in so gro\u00dfem Widerspruch stehen, bestehen k\u00f6nnen, und zwar bei wohl erhaltener formaler Logik, anscheinender Besonnenheit und im ganzen richtiger Auffassung der Situation ? Kun, meine Herren, der Tatsache gegen\u00fcber, die doch nicht zu leugnen ist, und nach der Entstehungsgeschichte des augenblicklichen Zustandes kann","page":1232},{"file":"p1233.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1233\ndie Antwort nicht zweifelhaft sein: Es war die akute Geisteskrankheit, welche diese Lockerung in dem festen Gef\u00fcge der Assoziationen herbeigef\u00fchrt hat.\nWir wollen diesen Vorgang der Losl\u00f6sung mit einem entsprechenden Namen, als Sejunktion, bezeichnen und werden nicht umhin k\u00f6nnen, darin einen Defekt zu erblicken, eine Kontinuit\u00e4tstrennung, welcher dem Ausfall gewisser Assoziationsleistungen entsprechen mu\u00df. Denn da\u00df im Gehirn die verschiedenen Vorstellungen und Vorstellungskomplexe kein blo\u00dfes Nebeneinander bilden, sondern zu gr\u00f6\u00dferen Verb\u00e4nden und schlie\u00dflich der Einheit des Ich zusammengefa\u00dft werden, kann in letzter Linie nur auf Assoziationsleistungen beruhen. Gerade der Umstand, da\u00df sich der Kranke des Widerspruches zwischen seinen verschiedenen falschen Vorstellungen nicht bewu\u00dft ist, deutet darauf hin, da\u00df die Zusammenfassung aller h\u00f6heren Verb\u00e4nde zu einer Einheit, dem Ich, auf geh\u00f6rt hat. Der Mann besteht gewisserma\u00dfen gleichzeitig aus einer Anzahl verschiedener Pers\u00f6nlichkeiten, wir k\u00f6nnten seinen Zustand dreist als Zerfall der Individualit\u00e4t bezeichnen\u201d1).\nDie Kontinuit\u00e4tshemmung, \u201ewelche dem Ausfall gewisser Assoziationsleistungen entsprechen mu\u00df,\u201d soll aber zustande gebracht werden durch eine Wucherung des Nervenparenchyms.\nIch verstehe nicht, da\u00df Werniclce sich nicht den Grad der Unwahrscheinlichkeit der Annahme einer Wucherung des Nervenparenchyms f\u00fcr den Ausfall gerade der Assoziationen, deren Ausfall er in einem konkreten Fall annehmen mu\u00df, klar gemacht hat. Es liegt aber auch keine Veranlassung zur Annahme einer Kontinuit\u00e4tstrennung \u00fcberhaupt vor, wie aus meiner Entwicklung hervorgehen mu\u00df. Zuletzt kann ich beim besten Willen nicht \u00fcberall da von Zerfall der Individualit\u00e4t sprechen, wo Wahnideen charakterisierter Art zur Entwicklung kommen. \u2014\nWir wollen jetzt noch die sehr interessante Theorie von Bleuler \u00fcber den Verfolgungswahn bei Paranoia einer kritischen Betrachtung unterziehen.\nWir h\u00f6rten schon, da\u00df Bleuler leugnet, da\u00df es Mi\u00dftrauen als Affekt gibt. Trotzdem h\u00e4lt auch er f\u00fcr den treibenden Faktor in der Gestaltung des Verfolgungswahnes bei intakter Intelligenz Affektzust\u00e4nde. F\u00fcr ihn ist der treibende Affekt hier gegeben in einem Konflikt zwischen dem, was man sein m\u00f6chte, und dem, was man ist.\nBleuler sagt: \u201eGenauer untersuchen konnte ich bis jetzt nur Paranoiker in Verteidigungslage, Verfolgte, Eifers\u00fcchtige, Querulanten. Bei jedem derselben habe ich einen Konflikt zwischen Streben und Willensenergie gefunden.\nx) Wernicke: Grundri\u00df der Psychiatrie. 2. Teil.","page":1233},{"file":"p1234.txt","language":"de","ocr_de":"1234\nG. St\u00f6rring\nZur Ausbildung des Verfolgungswahnes helfen dabei noch eine Anzahl Nebenumst\u00e4nde mit. Das Scheitern der eigenen Pl\u00e4ne z. B. bedingt nat\u00fcrlicherweise Eifersucht gegen\u00fcber den beati possidentes, und diese ist schon beim Normalen eines der m\u00e4chtigsten Mittel, allerlei Vorstellungen von der B\u00f6sartigkeit der Beneideten die Wege zu ebnen. Die St\u00e4rke der Schaltkraft und die kontinuierliche Andauer des Konfliktes zwischen dem, was man sein m\u00f6chte, und dem, was man ist, verhindern die Geltendmachung von Gegengr\u00fcnden. Damit ist der Verfolgungswahn da\u201d 1).\nUm Bleuler gerecht zu werden, mu\u00df man weiter ber\u00fccksichtigen, da\u00df er in diesem ganzen Proze\u00df eine Verdr\u00e4ngung eine dominierende Bolle spielen l\u00e4\u00dft.\n,,Der Verfolgungswahn will beim Paranoiker wohl immer, beim Schizophrenen gew\u00f6hnlich, einen Konflikt vor dem Patienten selber verdecken. Dieser kann in Wirklichkeit seine W\u00fcnsche nicht erreichen, weil er dazu irgendwie nicht f\u00e4hig ist. Das ist aber f\u00fcr ihn ein unertr\u00e4glicher Gedanke, er sperrt ihn in statu nascendi ab und sucht die Hindernisse in der Au\u00dfenwelt, wie es \u2014 vor\u00fcbergehend \u2014 jedem Gesunden einmal begegnet. Auf diese Weise liegt es im Prinzip des Verfolgungswahnes, da\u00df seine Genese dem Patienten selbst unerkennbar ist, weil er sie nicht mehr kennen will und weil er sie nicht erkennen kann, ohne da\u00df sein Selbstgef\u00fchl mit seinem Wahngeb\u00e4ude, das er gerade zur Bettung seines Selbstgef\u00fchles konstruiert hat, zusammenbricht\u201d 2).\nIch anerkenne, da\u00df in manchen F\u00e4llen Mi\u00dferfolg zu Verfolgungswahn bei intakter Intelligenz f\u00fchrt. Das haben wir ja oben in \u00dcbereinstimmung mit der Entwicklung in meiner Psychopathologie geltend gemacht. Wir anerkennen es auch, wenn Bleuler sagt, da\u00df dann in der Entstehung des Verfolgungswahnes eine wesentliche Bolle die Neigung spielen kann, f\u00fcr den Mi\u00dferfolg die Schuld bei anderen zu suchen.\nAber wir m\u00fcssen gegen diese Auffassung geltend machen, da\u00df in vielen F\u00e4llen von Verfolgungswahn bei intakter Intelligenz gar kein Konflikt zwischen Streben und Willensenergie vorliegt! So war das nicht der Fall in meinen F\u00e4llen, in denen sich unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen und begr\u00fcndetes entwickelte, und das war z. B. auch nicht der Fall bei dem besprochenen Patienten Friedmanns, der durch eine Streikangelegenheit begr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen entwickelte, aus dem dann unbegr\u00fcndetes Mi\u00dftrauen entstand, und so in vielen anderen F\u00e4llen.\n1)\tBleuler: Affektivit\u00e4t usw. 2. Aufl. S. 142.\n2)\tBleuler: 1. c. S. 159.","page":1234},{"file":"p1235.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1235\nSodann halten wir es f\u00fcr sehr bedenklich, wenn Bleuler1) f\u00fcr alle F\u00e4lle von Paranoia im Sinne von Kraepelin Verdr\u00e4ngungsprozesse annimmt. Der Gedanke des Konfliktes zwischen Streben und Willensenergie soll verdr\u00e4ngt sein, weil Patient nicht erkennen will, da\u00df er nicht leisten kann, was er m\u00f6chte, weil er das nicht erkennen kann, ,,ohne da\u00df sein Selbstgef\u00fchl mit seinem Wahn-geb\u00e4nde, das er gerade znr Eettnng seines Selbstgef\u00fchles konstruiert hat, zusammenbricht\u201d 2).\nBleuler w\u00e4re sicherlich nicht zu dieser merkw\u00fcrdigen Auffassung gekommen, wenn er sich nicht durch seine Anschauung, da\u00df das Mi\u00dftrauen kein Affekt sei, den Weg verbaut h\u00e4tte, das Mi\u00dftrauen als den die wahnhaften Ideen hervortreibenden Affekt in Verfolgungsideen anzusprechen. Das liegt doch angesichts der klinischen Beobachtung am allern\u00e4chsten !\nIch finde in den Entwicklungen von Bleuler nichts, wodurch das Vorhandensein einer Verdr\u00e4ngung in diesen F\u00e4llen einigerma\u00dfen wahrscheinlich gemacht w\u00e4re.\nMethodologisch ist hier zu sagen: Wenn wir den Mi\u00dftrauensaffekt als treibende Ursache der Verfolgungsideen annahmen, so haben wir es mit einem Faktor zu tun, der im klinischen Tatbestand vorgefunden wird und welcher zugleich die \u00fcbrigen Tatbest\u00e4nde verst\u00e4ndlich macht. Selbst wenn man diese Tatbest\u00e4nde durch Annahme einer Verdr\u00e4ngung verst\u00e4ndlich machen k\u00f6nnte, ohne weitgehende Konstruktionen zu machen, w\u00fcrde nat\u00fcrlich doch die nicht in den klinischen F\u00e4llen auf gewiesene, sondern nur angenommene Verdr\u00e4ngung als Erkl\u00e4rungsursache nicht mit dem M i \u00df t r a u e n s a f f e k t konkurrieren k\u00f6nne n3). \u2014\n(7. Ich habe zuletzt noch F olgerungen aus meiner Behandlung des Verfolgungswahnes bei intakter Intelligenz f\u00fcr die normale Psychologie zu ziehen.\nGanz auf der Hand liegen zun\u00e4chst Folgerungen, die man kaum auszusprechen braucht, \u00fcber den Einflu\u00df von st\u00e4rkeren Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf die Gestaltung des Inhaltes der Urteile durch Beeinflussung des A orstellungs- und Gedankenverlaufes, durch Beeinflussung der Gestaltung der Wahrnehmungsprozesse und der Fixierung von Vorstellungen und Gedanken.\nEs ergeben sich daraus aber auch, wenn man noch einen weiteren psychopathologischen Tatbestand hinzunimmt, Folge-\nb Bleuler: Lehrbuch der Psychiatrie. 4. Aufl. S. 406.\n2)\tBleuler: Affektivit\u00e4t. 2. Aufl. S. 159.\n3)\tSt\u00f6rring: Logik. S. 280 ff.","page":1235},{"file":"p1236.txt","language":"de","ocr_de":"1236\nG-. St\u00f6rring\nrangen, welche f\u00fcr die Denkpsychologie von grundlegender Bedeutung sind.\nEs hatte sich uns ergeben, da\u00df von dem abnorm starken S i c h a u f d r \u00e4 n g e n der mi\u00dftrauischen Deutung eines gegebenen Tatbestandes gegen\u00fcber anderen Deutunngen das abnorm starke Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit des in der Deutung Gedachten abh\u00e4ngt.\nHierzu nehmen wir nun noch den weiteren psychopatho-logischen Tatbestand hinzu, da\u00df die Fehlerhaftigkeit der Urteile bei beginnender Paralyse von der Herabsetzung der Aufmerksamkeit abh\u00e4ngt.\nDiese beiden Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen habe ich in folgender Weise vereinigt1): Das Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit tritt dann auf, wenn unsere Aufmerksamkeit sich auf einen zu beurteilenden Tatbestand unter bestimmtem Gesichtspunkt richtet und wenn sich dabei ein gewisser Beziehungsgedanke aufdr\u00e4ngt, w\u00e4hrend die Aufmerksamkeit diese Einstellung hat. Ich nenne diese Einstellung die Einstellung zum Denken.\nDiese an Hand von F\u00e4llen der Gef\u00fchlspathologie von mir gemachte Feststellung \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit l\u00e4\u00dft sich in sch\u00f6ner Weise best\u00e4tigen. Es l\u00e4\u00dft sich n\u00e4mlich zeigen, da\u00df die hier aufgewiesenen Bedingungen f\u00fcr die Entwicklung des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit auch das Entstehen wirklich g\u00fcltiger Beziehungsgedanken verst\u00e4ndlich machen!\nBeachten wir den kolossalen Gegensatz zwischen dem Vorstellungsverlauf, der nicht von der beschr\u00e4nkenden Einstellung zum Denken abh\u00e4ngig ist, mit dem Vorstellungs- und Gedankenverlauf, der unter dieser Einstellung sich abspielt. W\u00e4hrend bei mir in einem bestimmten Zeitpunkt in Beproduktionsversuchen auf eine Vorstellung Va eine Vorstellung Vb folgt, so mag bei mir in einem anderen Zeitpunkte auf eine Vorstellung Va eine Vorstellung Vd folgen, bei einem anderen Individuum eine Vorstellung Vf. Diese sogenannte Unregelm\u00e4\u00dfigkeit h\u00e4ngt von der wechselnden Konstellation des Bewu\u00dftseins ab. Wie k\u00f6nnen da Vorstellungsverbin d\u00fcngen entstehen, die reale G\u00fcltigkeit haben, wo doch die Konstellation des Bewu\u00dftseins ewig wechselt ? Wie ist es da m\u00f6glich, da\u00df z. B. bei einer Bechenaufgabe von mir zu\n1) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. 1900. S. 377 ff; Das urteilende und schlie\u00dfende Denken in kausaler Behandlung. 1926. S. 9.","page":1236},{"file":"p1237.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1237\nverschiedenen Zeiten nnd von verschiedenen Individuen dasselbe Resultat erzielt wird ? Darauf antworten wir : Solche Gedanken kommen zustande, wenn die Aufmerksamkeit sieh in der oben beschriebenen Weise auf den zu beurteilenden Tatbestand richtet und dadurch Hemmungen f\u00fcr die Mitwirkung variabler Faktoren gesetzt werden. So wird eine Konstanz der Bedingungen geschaffen, unter denen Beziehungsgedanken auftrete n, eine Konstanz, welche die Entstehung g\u00fcltiger Gedanken verst\u00e4ndlich macht.\n9. Kapitel.\nEinflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf die Willensvorg\u00e4nge auf Grund\npsyehopathologiseher Tatbest\u00e4nde.\nI. Der f\u00f6rdernde und hemmende Einflu\u00df der Unlustgef\u00fchle auf die psychomotorische Seite der Willensprozesse. Einflu\u00df der Lustgef\u00fchle.\nIn der neueren Psychologie sind die Anschauungen \u00fcber den Einflu\u00df von Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf Willens Vorg\u00e4nge sehr geteilt. W\u00e4hrend nach Lotze und Wundt ein Gef\u00fchlszustand conditio sine qua non eines Willensvorganges ist, wird das von JE. Meumann1) und von O. K\u00fclpe2) geleugnet. Es wird sich zeigen, da\u00df die psycho-pathologischen Tatbest\u00e4nde in dieser Frage eine unzweideutige Sprache reden.\nIch will dabei besonders solche psychopathologische Tatbest\u00e4nde herausheben, in denen die Wirkung der Unlustgef\u00fchle im Willensleben hervortritt. Das tue ich nicht deshalb, weil die Unlustgef\u00fchle, wie sich sp\u00e4ter zeigen wird, viel st\u00e4rkere Wirkungen im Willensleben zustande bringen k\u00f6nnen als Lustgef\u00fchle, sondern, weil die Wirkungsweise von Lustgef\u00fchlen schon auf Grund der Selbstbeobachtungsmethode und der experimentellen Methode sehr durchsichtig wird, w\u00e4hrend bei der Wirkungsweise der Unlustgef\u00fchle kompliziertere Verh\u00e4ltnisse vorliegen, die am deutlichsten in den psychopathologischen F\u00e4llen heraustreten.\n1. Da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde und speziell Unlustgef\u00fchle auf Willensvorg\u00e4nge bestimmend wirken k\u00f6nnen, ersieht man sehr deutlich aus Gewaltakten bei gewissen Angstzust\u00e4nden. Solche Gewaltakte bei pathologischen Angst-\n1)\tE. Meumann: Intelligenz nnd Wille.\n2)\t0. K\u00fclpe : Einleitung in die Philosophie.\nAbd erhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n81","page":1237},{"file":"p1238.txt","language":"de","ocr_de":"G. St\u00f6r ring\n1238\nzust\u00e4nden k\u00f6nnen gegen die eigene Person gerichtet sein, wie das bei Melancholischen leider etwas Gew\u00f6hnliches ist, oder sie k\u00f6nnen sich auch gegen die Umgebung richten, und zwar dann meist in sinnloser Weise, wie das bei Epileptikern auftreten kann.\nF\u00fcr solche Gewaltakte bei pathologischen Angstzust\u00e4nden 1st nichts anderes verantwortlich zu machen, als eben die Angst. Sonst ist bei diesen Zust\u00e4nden keine psychische Gr\u00f6\u00dfe von solch abnormer Intensit\u00e4t gegeben, da\u00df auf sie der abnorm starke motorische Effekt bezogen werden k\u00f6nnte. Hier mu\u00df der Gef\u00fchlszustand als Mitursache des motorischen Effektes angesprochen werden.\nVorstellungsenergien sind da von vornherein als diese motorischen Wirkungen bedingend ausgeschlossen, wo die Handlungen selbst ganz ohne Zweck und Ziel sind. Aber auch da, wo die Handlungen nicht sinnlos sind, k\u00f6nnen Vorstellungen, denen im Vergleich mit Gef\u00fchlszust\u00e4nden eine geringe psychophysische Energie entspricht (in den Gef\u00fchlszust\u00e4nden stecken ja ganze Komplexe von Organ empfindungen) nicht als den abnorm starken Willenseffekt bedingend angesprochen werden.\nBez\u00fcglich der Suizidversuche von depressiven Kranken sagt Bostr\u00f6m: ,,Hier sind eben krankhafte Motive bestimmend f\u00fcr das Handeln des Patienten, insbesondere das eine \u00fcberwertige Motiv, das sich allen anderen gegen\u00fcber durchsetzt. Auch hieraus sehen wir, da\u00df das Wollen keineswegs nur vom Intellekt abh\u00e4ngig zu sein braucht, sondern da\u00df affektive Momente eine gr\u00f6\u00dfere, ja \u00fcberm\u00e4chtige Bedeutung f\u00fcr die Willensentscheidung haben55 x).\nIch konstatiere hier zun\u00e4chst nur das ,,D a \u00df\u201d, \u00fcber das ,,W i e\u201d der Wirkung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf Willenshandlungen wird sich uns sp\u00e4ter N\u00e4heres ergeben.\nWie bei gewissen pathologischen Angstzust\u00e4nden, so sehen wir auch bei pathologischen Zornaffekten Gewaltakte und anderweitige Beeinflussung der Handlungen auftreten. Auch hier stellen die motorischen Entladungen h\u00e4ufig Gewaltakte dar, die ganz sinnlos sind; daneben treten auch mit gro\u00dfer Energie sich vollziehende Handlungen auf, deren Zweck erst im Moment des Handelns zum Bewu\u00dftsein kommt.\nIch will eine anschauliche Schilderung eines maniakalischen Zornausbruches geben.\n,,Der Patient f\u00e4hrt pl\u00f6tzlich auf seine Umgebung los, schl\u00e4gt, st\u00f6\u00dft mit den F\u00fc\u00dfen und w\u00fcrgt, wen er ergreifen kann, wirft alles, was er zu fassen bekommt, um sich her, zerschl\u00e4gt, zerfetzt, was ihm nahe kommt, zerrei\u00dft seine Kleider, schreit, heult, br\u00fcllt\nb Bostr\u00f6m: St\u00f6rungen des Wollens, Handelns und Sprechens. Handbuch der Geisteskrankheiten. 2. II. Teil, S. 57.","page":1238},{"file":"p1239.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1239\nmit funkelnden rollenden Augen und zeigt dabei alle vasomotorischen Kongestionssymptome, die als Begleiter der Baserei auf treten. Das Gesicht ist ger\u00f6tet, geschwollen, die Wangen hei\u00df, die Augen hervorgequollen, ihre Bindehaut blut\u00fcberf\u00fcllt, der Herzschlag verst\u00e4rkt, der Puls hat 100 bis 120 Schl\u00e4ge in der Minute.\nDie Pulsadern strotzen und klopfen, die Yenen sind angeschwollen, der Speichel flie\u00dft.\u201d\nDie Wirkungsweise des normalen Zornes sieht man sehr sch\u00f6n bei gewissen Aphasischen auf treten ; indem in einzelnen F\u00e4llen motorischer Sprachst\u00f6rung nur solche Laute hervorgebracht werden k\u00f6nnen, die eine Affekt\u00e4u\u00dferung darstellen.\n2. Wir wollen neben diese F\u00e4llen der Wirkung von Angstzust\u00e4nden und Zornaffekten auf das Wollen und Handeln eine Gruppe von Fallen stellen, in denen Gef\u00fchlszust\u00e4nde in ganz anderer Weise Wollen und Handeln beeinflussen. Ich ziehe hier die F\u00e4lle heran, in denen sich ein Individuum an ein Narkotikum, wie Morphium, Opium, Kokain gew\u00f6hnt hat und nun eine Entziehung des Giftes erfolgt. Durch die Entziehung entstehen Unlustzust\u00e4nde von ungemeiner St\u00e4rke, vorwiegend Angstgef\u00fchle mit Beklemmungsempfindungen. Die betreffenden Individuen machen dann bekanntlich alle m\u00f6glichen Anstrengungen, um sich wieder in den Besitz des Narkotikums zu setzen, dessen Entziehung die gewaltigen Unlustzust\u00e4nde erzeugt hat. Auch die festesten Vors\u00e4tze sind auf die Dauer solchen Gef\u00fchlszust\u00e4nden gegen\u00fcber machtlos. Als treibenden Faktor haben wir hier ohne Zweifel die durch die Entziehung entstandenen Unlustzust\u00e4nde anzusehen. Aber hier kommen die Unlustzust\u00e4nde nicht allein als wirksame Faktoren in Betracht. Man mu\u00df eben beachten, da\u00df der Gedanke, sich in den Besitz des betreffenden Narkotikums zu setzen, sich mit Lust verbindet ! Hier wirkt auch die Lust mit, und zwar in nicht unbetr\u00e4chtlicher Weise, indem unter den hier vorliegenden Bedingungen diese Lust per Kontrast zu den Unlustzust\u00e4nden gesteigert wird. Gehen wir aus von einem Moment, in welchem der \u00e4ngstliche Unlustzustand eine relativ schwache Intensit\u00e4t hat und beachten wir hier die Intensit\u00e4t der Lust, welche sich anschlie\u00dft an den Gedanken, sich in den Besitz des Narkotikums zu setzen. Steigt nun in der Folge die Intensit\u00e4t des Angstzustandes an, so wird jetzt sich an den Gedanken, sich in den Besitz des Narkotikums zu setzen, eine Viel st\u00e4rkereLu. st anschlie\u00dfen. Das st\u00e4rkere Angstgef\u00fchl gibt st\u00e4rkeren Anla\u00df, sich an den Gedanken anzuklammern, sich in den Besitz des Narkotikums zu setzen. Wir kommen sp\u00e4ter auf diese Kontrastwirkung noch n\u00e4her zu sprechen.\nJedenfalls \u00fcben bei solchen Entziehungserscheinungen die U n 1 u s t z u s t \u00e4 n d e neben\n81*","page":1239},{"file":"p1240.txt","language":"de","ocr_de":"1240\nG-. St\u00f6rring\nihrer direkten Wirkung auf Wollen und Handeln, wie in den oben zuerst besprochenen F\u00e4llen, eine indirekte Wirkung aus, indem sie vorhandene Lustgef\u00fchle per Kontrast steigern und so sehr stark wirksam machen, st\u00e4rker, als das im allgemeinen bei Lustgef\u00fchlen der Fall ist.\nDiese Gruppe von F\u00e4llen zeichnet sich sodann den zuerst ins Auge gefa\u00dften pathologischen Angst- und Zornaffekten gegen\u00fcber in ihren motorischen Wirkungen dadurch aus, da\u00df sich hier noch eine neue Schlu\u00dfweise ergibt f\u00fcr die Behauptung der Wirksamkeit von Gef\u00fchlszust\u00e4nden in Willensvorg\u00e4ngen. Hier in dieser Gruppe von F\u00e4llen sehen wir sehr deutlich mit einer h\u00e4ufig auf tretenden \u00c4nderung der Intensit\u00e4t des U nlustzu Standes eine entsprechende \u00c4nderung der Beeinflussung der Willensvorg\u00e4nge auftreten. Wir k\u00f6nnen hier also einen Schlu\u00df nach der Methode der sich begleitenden Ver\u00e4nderungen hinzuf\u00fcgen.\n3. Wir wollen auch nicht unterlassen, auf die Tatsache hinzuweisen, da\u00df in F\u00e4llen pathologischer Herabsetzung derlntensit\u00e4tder Gef\u00fchlsvorg\u00e4ngedie [Realisierung von Willensvorg\u00e4ngen erschwert ist.\nWir haben fr\u00fcher bei Besprechung der Einfl\u00fcsse der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf den Vorstellungs- und Gedankenverlauf1) mit Hauptmann zwei F\u00e4lle von Akinese unterschieden; bei dem einen derselben lag eine Herabsetzung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde vor ; mit dieser war eine ErschwerungderEealisierung von Willensvorg\u00e4ngen verbunden. In solchen F\u00e4llen liegt eine St\u00f6rung im Hirnstamm vor.\nDa das Gef\u00fchlsleben von ausschlaggebender Bedeutung nicht nur f\u00fcr das Wollen, sondern auch f\u00fcr Gestaltung der Pers\u00f6nlichkeit ist, so ist das Funktionieren dieser Partien des Hirnstammes von eminenter Bedeutung f\u00fcr das normale Seelenleben. Reichardt sagt: \u201eDer Hirnstamm mit allen seinen lebenswichtigen Funktionen wird ohne Hirnrinde hilflos. Ein zweckm\u00e4\u00dfiger Verkehr des Organismus mit der Umwelt, d. h. also ein sehr wichtiger Teil der F\u00e4higkeit der Selbststeuerung des Organismus, ist ohne Hirnrinde nicht mehr m\u00f6glich. Der offenbar aus dem Hirnstamm heraus wachsende Trieb, im Verkehr (Kampf) mit der Umwelt die optimalen (f\u00fcr optimal gehaltenen) Lebensbedingungen zu erzielen, kann sich ohne Unversehrtheit der Hirnrinde nicht in zweckm\u00e4\u00dfige \u00dcberlegungen und in die Tat umsetzen. Andrer-\n1) Diese Schrift. S. 1156.","page":1240},{"file":"p1241.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1241\nseits wird die Hirnrinde ohne entsprechende Einwirkung des Hirnstammes trieb- nnd direktionslos\u201d1).\nWahrscheinlich handelt es sich hier nm Zentren der Organempfindungen, denen dann wohl auch Rindenzentren \u00fcbergeordnet sind.\n4.\tWir haben nun weiter heranzuziehen, da\u00df Unlustzust\u00e4nde nicht blo\u00df einen f\u00f6rdernden, sondern auch einen hemmenden Einflu\u00df auf den Vollzug von Willensvorg\u00e4ngen aus\u00fcben k\u00f6nnen. Wo dieser hemmende Einflu\u00df von Unlustzust\u00e4nden in pathologischen F\u00e4llen auftritt, liegt h\u00e4ufig eine Komplikation mit prim\u00e4rer Hemmung vor. Eine zweite emotionelle Hemmung liegt z. B. da deutlich vor, wo bei Hysterischen die Realisierung einer Bet\u00e4tigung durch gef\u00fchlsstarke Gegenvorstellungen verhindert wird.\n5.\tEs wird jetzt unsere Aufgabe sein, die Bedingungen n\u00e4her zu bestimmen, unter denen Unlustzust\u00e4nde f\u00f6rdernd, und sodann die Bedingungen, unter denen sie hemmend wirken.\nWir wollen uns die hier vorliegenden Verh\u00e4ltnisse zun\u00e4chst an dem bekannten Meynertschen Beispiel des in eine Flamme greifenden Kindes veranschaulichen. Wenn ein Kind in eine Flamme, die es sieht, hineingreift und sich verbrennt, so kann ihm diese Erfahrung dazu dienen, sich in Zukunft vor dem Feuer zu h\u00fcten. Das Sehen der Flamme hat das Greifen nach derselben veranla\u00dft. Diese hat eine Schmerzempfindung zur Folge; der dieser zugrunde liegende Reiz bringt reflektorisch die Bewegung des Zur\u00fcckziehens hervor. Meynert hebt nun hervor, da\u00df auf diese Weise eine assoziative Verkn\u00fcpfung zustande komme von der Gesichts-Vorstellung zur Greifbewegungsvorstellung, welche sich dem Bewu\u00dftsein besonders stark aufdr\u00e4nge, da die bez\u00fcgliche Empfindung mit Schmerz verbunden sei \u2014 und von der Greifbewegungsvorstellung zur Vorstellung der antagonistischen Bewegung, so da\u00df eine sp\u00e4ter auftretende Gesichtswahrnehmung einer Flamme neben den Greifbewegungen antagonistische Bewegungen zur Folge habe.\nDarauf, da\u00df bei sp\u00e4terem Wiederauftreten der Gesichtswahrnehmung, mit dem sich anschlie\u00dfenden Gedanken an die Greifbewegung reproduzierte Unlustgef\u00fchle auf-treten, nimmt Meynert nicht R\u00fccksicht. Diese spielen aber eine wichtige Rolle in dem ganzen Proze\u00df. Wenn die Greifbewegungs-empfindungen und ebenso die antagonistischen Bewegungsempfindungen reproduziert werden, da ist ja nicht einzusehen, weshalb\n1) Beichardt: Hirnstamm und Psychiatrie. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 68. (1928); Psychiatrie. S. 65 und 83 ff.","page":1241},{"file":"p1242.txt","language":"de","ocr_de":"1242\nGL St\u00f6rring -\nes immer zu einer Hemmung der Greif be wegungen kommen soll. Das machen die reproduzierten Unlustgef\u00fchle verst\u00e4ndlich.\nWir fragen nun, wie bringen die Unlustgef\u00fchle das fertig? In den Unlustgef\u00fchlen stecken Organempfindungskom-p 1 e x e. Wie k\u00f6nnen diese motorisch wirksam werden ? Das N\u00e4chstliegende scheint mir zu sein, die Wirkungsweise der Organempfindungen auf die motorischen Zentren der Hirnrinde, analog zu denken einem \u00e4hnlichen Vorgang im B\u00fcckenmark, den wir genau kennen. Die Beizung der sensiblen Zentren des E\u00fcckenmarkes finden eine Entladung in die motorischen Zentren der Yorderh\u00f6rner des E\u00fcckenmarkes. Ich nehme deshalb an, da\u00df die Gef\u00fchlszust\u00e4nde einen motorischen Effekt in der Weise zustande bringen, da\u00df die in ihnen steckenden Organempfindungen eine Entladung finden in die nach ihrer Entwicklung auftretende Eeizung der motorischen Zentren der Hirnrinde: das sind hier die Zentren der antagonistischen Bewegungen. Durch deren Innervation wird hier die Greif be wegung gehemmt.\nDie Unlustgef\u00fchle wirken also f\u00f6rdernd auf die Eealisierung der Vorstellung einer solchen Bewegung, welche sich an die Entwicklung der Unlustgef\u00fchle unmittelbar anschlie\u00dft, psychologisch ausgedr\u00fcckt auf die Eealisierung derjenigen Bewegung, deren Vorstellung sich von dem Unlustgef\u00fchle aus auf dr\u00e4ngt.\nDiese Theorie \u00fcber die Wirkungsweise von Unlustgef\u00fchlen in Willensvorg\u00e4ngen, welche ich hier in \u00dcbereinstimmung mit meinen fr\u00fcheren Entwicklungen in meinen Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie1) zur Darstellung bringe, mu\u00df gegen den Vorwurf einer sehr mechanischen Auffassung des Willensgeschehens gesch\u00fctzt werden : die Woliensvorg\u00e4nge liefen etwa nach dieser Theorie so mechanisch ab wie die Beizungsvorg\u00e4nge am E\u00fcckenmark. Man mu\u00df aber beachten, da\u00df das Auftreten von Gef\u00fchlszust\u00e4nden (in denen die hier wirksamen Organempfindungen stecken) im allgemeinen von sehr komplexen psychischen Funktionen abh\u00e4ngig ist; sie schlie\u00dfen sich ja nicht etwa einfach an Sinnesempfindungen an, ihre Entstehung setzt im allgemeinen Vorstellungsreproduktionen, Eeproduktion von Gedanken voraus, Urteilsprozesse, in manchen F\u00e4llen auch die Mitwirkung von Grunds\u00e4tzen der Pers\u00f6nlichkeit !\n1) St\u00f6rring : Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 449 ff.","page":1242},{"file":"p1243.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1243\n\u2022 Wir werden sp\u00e4ter Experimente \u00fcber Willens Vorg\u00e4nge kennenlernen, die ich im Verfolg der psychopathologisch gewonnenen Anschauung \u00fcber die f\u00f6rdernde Wirkung von Unlustgef\u00fchlen in Willenshandluhgen habe anstellen lassen, in denen man als Versuchsperson den Eindruck gewinnt, da\u00df man die Entladung von Unlustgef\u00fchlen in Willensbet\u00e4tigungen unmittelbar erlebt.\nFr\u00fcher h\u00f6rten wir, da\u00df Unlustgef\u00fchle dann f\u00f6rdernd wirken auf Idealisierung einer vorgestellten Bet\u00e4tigung, wenn sie per Kontrast die Intensit\u00e4t von Lustgef\u00fchlen steigern, die sich \u00e4n den Gedanken der Realisierung dieser Bet\u00e4tigung anschlie\u00dfen;\nHier betonen wir, da\u00df Unlustgef\u00fchle auch dann f\u00f6rdernd wirken auf Realisierung e in er vorgestellten Bet\u00e4tigung, wenn, physiologisch ausgedr\u00fcckt: die physiologischen Korrelate der in den Gef\u00fchlszust\u00e4nden steckenden Organempfindungen (sensorische Zentren) eine Entladung in die motorischen Gebiete der Hirnrinde finden oder \u2014 psychologisch ausgedr\u00fcckt \u2014 wenn sich von den U n 1 ust-gef\u00fchlen aus der Gedanke einer Bet\u00e4tigung u n s a u f d r \u00e4 n g t.\nWas die hemmende Wirkung der Unlustgef\u00fchle anlangt, so gestattet uns die Selbstbeobachtung, die obige Bestimmung verallgemeinernd, zu sagen, da\u00df Unlustgef\u00fchle auf die Realisierung einer gedachten Bet\u00e4tigung hemmend wirken, wenn sie sich an diesen Gedankenanschlie\u00dfen.\nIn unserem Fall vollzieht sich dieser Anschlu\u00df so, da\u00df durch den Gedanken der Bet\u00e4tigung urs p r \u00fc n g 1 i c h ein Unlustgef\u00fchl unmittelbar ausgel\u00f6st wird, von welchem aus dann sich der Gedanke einer antagonistischen Bet\u00e4tigung auf dr\u00e4ngt. Aber dieser Anschlu\u00df kann auch in der Weise erfolgen, da\u00df das Unlustgef\u00fchl auf den Gedanken der Bet\u00e4tigung nur \u00fcbertragen ist. Und zuletzt kann das Unlustgef\u00fchl, welches sich an den Gedanken einer Bet\u00e4tigung anschlie\u00dft, unmittelbar erst durch den Gedanken an eine Wirkung der ins Auge gesetzten Bet\u00e4tigung ausgel\u00f6st werden.\nIn dem zuerst gedachten Fall, wo das Unlustgef\u00fchl urspr\u00fcnglich durch den Gedanken einer Bet\u00e4tigung unmittelbar ausgel\u00f6st wird, braucht die hemmende Wirkung nicht darauf Zu beruhen, da\u00df das Unlustgef\u00fchl eine an t agonis tische Bet\u00e4tigung im eigentlichen Sinne veranla\u00dft, sie kann auch darin bestehen, da\u00df das Unlustgef\u00fchl ein der antagonistischen Bet\u00e4tigung","page":1243},{"file":"p1244.txt","language":"de","ocr_de":"1244\nG. St\u00f6rring\n\u00e4hnliches Sichabwenden von dem Unlnstgef\u00fchl nnd seiner intellektuellen Unterlage zustande bringt. Mit diesem Sichabwenden verbindet sich jedenfalls in vielen F\u00e4llen eine Zuwendung der Aufmerksamkeit auf andere Tatbest\u00e4nde. Mit beiden Faktoren ist nat\u00fcrlich eine Hemmungswirkung f\u00fcr Eealisiernng der gedachten Bet\u00e4tigung gesetzt.\nWo auf den Gedanken einer Bet\u00e4tigung ein Unlustgef\u00fchl \u00fcbertragen ist, wie z. B. da, wo eine ungeh\u00f6rige Handlungsweise eines Z\u00f6glings h\u00e4ufig eine Bestrafung nach sich gezogen hat, kann im allgemeinen nicht von der Anregung einer antagonistischen Bet\u00e4tigung durch das Unlustgef\u00fchl geredet werden, sondern hier kommen die soeben hervorgehobenen beiden anderen Faktoren f\u00fcr die HemmungsWirkung in Betracht.\nWo das Unlustgef\u00fchl, welches sich an den Gedanken der Bet\u00e4tigung anschlie\u00dft, unmittelbar erst durch den Gedanken an eine Wirkung der ins Auge gefa\u00dften Bet\u00e4tigung ausgel\u00f6st wird, liegt es nahe, die Beziehung des Unlustgef\u00fchles zu dem Gedanken an die Bet\u00e4tigung zun\u00e4chst zum Gegenstand einer urteilsm\u00e4\u00dfigen Feststellung zu machen. Das w\u00fcrde dann zur Folge haben, da\u00df die intellektuelle Unterlage des Unlustgef\u00fchles im Bewu\u00dftsein eine sch\u00e4rfere und vollst\u00e4ndigere Auspr\u00e4gung findet als ohne urte\u00fcsm\u00e4\u00dfige Feststellung bei der blo\u00dfen Vorstellung, dem blo\u00dfen Gedanken an den betreffenden Tatbestand, und das bewirkt wieder, da\u00df das Unlustgef\u00fchl an Intensit\u00e4t zunimmt.\nKommt es also zu einer solchen urteilsm\u00e4\u00dfigen Feststellung der Beziehung der gedachten Bet\u00e4tigung zu einem Unlustgef\u00fchl, so tritt in F\u00e4llen, welche die Interessen des Individuums besonders tangieren, ein neuer Hemmungsfaktor auf in Gestalt eines besonderen gegen die Realisierung dieser Bet\u00e4tigung gerichteten Willensentschlusses. \u2014\nMethodologisch ist zu sagen, da\u00df wir hier mit Hilfe psychopathologisch gewonnener allgemeiner Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten eine Verarbeitung von Befunden der normalen Psychologie vollzogen haben. \u2014\n\u00df. Es bleibt noch eine n\u00e4here Bestimmung bez\u00fcglich der Wirkungsweise der Lustgef\u00fchle in der psychomotorischen Seite des Wollens zu machen.\nHauptmann hat in seiner Untersuchung \u00fcber Akinese bei Enzephalitiskranken bez\u00fcglich der Lustgef\u00fchle die Behauptung aufgestellt, da\u00df sie nicht direkt im Wollen wirken, sondern nur indirekt, indem die Erinnerung an fr\u00fcher erlebtes Lustgef\u00fchl einen Wunsch nach einem neuen Lustgef\u00fchl und ein Bed\u00fcrfnis","page":1244},{"file":"p1245.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1245\nnach demselben erzenge, so da\u00df dann das Bed\u00fcrfnis znr Antriebsquelle werde1).\nDiese Behauptung kann ich in ihrer Allgemeinheit nicht anerkennen, mu\u00df vielmehr betonen, da\u00df Lustgef\u00fchle, wie wir es oben dargestellt haben, auch direkt im Wollen wirken, wenn n\u00e4mlich sich in gegebener Situation an den Gedanken der Realisierung einer als durch mich jetzt realisierbar gedachten Bet\u00e4tigung ein Lustgef\u00fchl anschlie\u00dft und sich so ein Willensimpuls st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t entwickelt.\nAllerdings kann auch ein Lustgef\u00fchl in indirekter Weise das Wollen bestimmen, und zwar ist das der Fall bei demjenigen Wollen, welches wir eud\u00e4monisches Wollen nennen, demjenigen Wollen, bei dem die Lust in letzter Linie gewollt ist und nicht die Bet\u00e4tigung.\nHier vollzieht sich dann der Proze\u00df in folgender Weise. Gegeben ist zun\u00e4chst ein Wissen darum, da\u00df fr\u00fcher unter bestimmten Umst\u00e4nden ein Lustgef\u00fchl aufgetreten ist.\nDaran schlie\u00dft sich ein Bewu\u00dftseinszustand an, in welchem der betreffende Gef\u00fchlszustand gewollt wird, d. h. es verbindet sich der Gedanke an eine jetzt auf irgendeine nicht n\u00e4her bestimmte Weise zu vollziehende Realisierung der Bedingungen, unter denen das Lustgef\u00fchl auftrat, mit Lust und dadurch wird ein Willensimpuls, Willens g ef\u00fchl, ausgel\u00f6st.\nDann wird der Gedanke auf diese Bedingungen geleitet und zun\u00e4chst konstatiert, da\u00df sie gegenw\u00e4rtig nicht gegeben sind. Diese Konstatierung verbindet sich mit Unlust. Sie macht mit jenem Willensgef\u00fchl zusammen das aus, was man \u201eBed\u00fcrfnis\u201d nennt.\nZuletzt werden die Bedingungen, unter denen das Lustgef\u00fchl zu erlangen ist, n\u00e4her bestimmt, und dieser Gedanke dr\u00e4ngt sich uns nun von dem Unlustzustand aus auf, so da\u00df diese Unlust f\u00fcr Realisierung dieser gedachten Bet\u00e4tigung mobil gemacht wird. Au\u00dfer dieser Unlust wirkt hier in gleichem Sinne ein an den Gedanken dieser Bet\u00e4tigung sich anschlie\u00dfender Lustzustand Hier wirken also Lust und Unlust zusammen, im Willensakt, ohne da\u00df Kontrastbeziehung vorliegt!\nDiesem eud\u00e4monistischen Wollen steht das e n-er gistische Wollen gegen\u00fcber, das wir zu Anfang besprachen, wo einfach an den Gedanken einer Bet\u00e4tigung sich ein Lustgef\u00fchl anschlie\u00dft oder von einem Unlustgef\u00fchl aus der Gedanke\n1) Hauptmann: Arch. f. Psych. 66. S. 626.","page":1245},{"file":"p1246.txt","language":"de","ocr_de":"2246\tG. St\u00f6rring\n\u00abiner Bet\u00e4tigung auf gedr\u00e4ngt wi r d. Wir sagen: hier wird die Bet\u00e4tigung selbst gewollt, und zwar sagen wir das deshalb, weil hier das Willens gef \u00fchl sich mit dem Gedanken der Bet\u00e4tigung verbindet, auf diese Bet\u00e4tigung gerichtet ist.\nMethodologisch ist hier zu sagen, da\u00df wir hier eine durch psychopathologische und normalp sycholo g is che Tatbest\u00e4nde nahe gelegte Frage mit Hilfe der Selbstbeobachtungsmethode und unter gleichzeitiger Verwertung von durch psycho-pathologische Feststellungen gewonnenen allgemeinen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten \u00fcber den Einflu\u00df von Unlustzust\u00e4nden auf die psychomotorische Seite des W i 11 e n s g e s c h e h e n s beantwortet haben.\nDiese Differenz des eud\u00e4monistischen und energetischen Willens spielt in der philosophischen Ethik eine gro\u00dfe Bolle1).\nII. Der Wahlproze\u00df auf Grund psychopath o-\nlogischer Tatbest\u00e4nde.\n1. Aus pathologischen Tatbest\u00e4nden ergibt sich, da\u00df im Wahlproze\u00df bestimmend wirken gef\u00fchlsstarke Vorstellungen und Gedanken, eine Entscheidung f\u00f6rdernd oder hemmend.\nIn F\u00e4llen st\u00e4rkerer Hysterie sieht man, wie durch die Gef\u00fchlsanomalie die Beproduktion der Gedanken einseitig bestimmt wird und infolge dessen Handlungen zustande kommen, die abnorm sind, weil in dem Kampf der Motive gewisse Gedanken, die mit kr\u00e4ftigen Gef\u00fchlsmassen sich verbinden, gar nicht zur Mitwirkung kommen. Dahin geh\u00f6ren manche F\u00e4lle krimineller Handlungen, Unter den charakterisierten Umst\u00e4nden k\u00f6nnen die Handlungen in starkem Kontrast zu dem eigentlichen Charakter des Individuums stehen. Die Individuen sind dann in diesen Zust\u00e4nden ihrer freien Willensbestimmung beraubt.\nMethodologisch ist hier zu sagen, da\u00df die Feststellung der Mitwirkung eines psychischen Fa kt ors zum Zustandekomm en einer psychischen Wirkung hier dadurch erkannt wird, da\u00df dieser psychische Faktor\np St\u00f6rring : Die sittlichen Forderungen und die Frage nach ihrer G\u00fcltigkeit. Leipzig 1919. S. 15 ff. ; Philosophische Ethik in Schnass1 : Einf\u00fchrung in die Philosophie. Harz 1928, Osterwieck. S. 248 ff, .","page":1246},{"file":"p1247.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1247\nin den pathologi sc h e n F\u00e4llen eliminiert ist nnd bei dieser Eliminierung die betreffende psychische Wirkung ausf\u00e4llt. Es handelt sich also um die Anwendung der Differenz methode bei Eliminierung eines Faktors.\n2. Die Wirkung gef\u00fchlsstarker Gedanken auf das, Zustandekommen einer Entscheidung tritt da am unmittelbarsten hervor, wo diese Gedanken Gedanken von Bet\u00e4tigungen sind.\nWir wollen hier Gedanken von Bet\u00e4tigungen ins Auge fassen, die im Zwangs denken eine abnorm starke und abnorm lange Fixierung im Bewu\u00dftsein erfahren und dadurch eine Tendenz zur Bealisierung von Zwangshandlungen setzen. Nehmen wir den fr\u00fcher erw\u00e4hnten Fall des Metzgermeisters m. B., der an den Zwangsgedanken litt, er k\u00f6nne einmal mit einem Messer, mit dem er hantierte, seine Frau oder seine Kinder t\u00f6ten. Wir h\u00f6rten, da\u00df dieser Zwangsgedanke so starke Zwangsimpulse setzte, da\u00df er sich dadurch veranla\u00dft sah, sich in einer psychiatrischen Klinik vor sich selbst zu sch\u00fctzen.\nHier verbinden sich die Zwangsgedanken mit Angstgef\u00fchlen. Diese bewirken die Fixierung der betreffenden Gedanken im Bewu\u00dftsein. Nun haben wir aber fr\u00fcher pathopsychologisch festgestellt, da\u00df Unlustgef\u00fchle, welche sich an den Gedanken einer auszuf\u00fchrenden Bet\u00e4tigung anschlie\u00dfen, hemmend auf die Bealisierung der betreffenden Handlung wirken. Hier schlie\u00dfen sich aber Unlustgef\u00fchle in Gestalt von Angstgef\u00fchlen an die erw\u00e4hnten Zwangsgedanken an ! Wie kommt es da, da\u00df wir hier eine Tendenz zur Bealisierung dieser Zwangsgedanken konstatieren m\u00fcssen'?\nHier liegt eine Interferenzerscheinung vor. Die Angstgef\u00fchle wirken tats\u00e4chlich innerhalb bestimmter Grenzen hemmend auf die Bealisierung der gedachten Bet\u00e4tigung. Aber zugleich wirken sie fixierend auf den bestimmten Gedanken des Handelns und bewirken dadurch die Entstehung einer Tendenz zur Bealisierung dieses Handelns. Denn mit jedem Gedanken einer Handlung verbindet sich die Tendenz zur. Bealisierung dieses Gedankens. Diese Tendenz ist unter gew\u00f6hnlichen Bedingungen schwach ausgepr\u00e4gt. Hier hat sie aber st\u00e4rkere Intensit\u00e4t, weil der Gedanke der Handlung im Bewu\u00dftsein fixiert ist. Es kommt dann noch hinzu, da\u00df bei sehr gro\u00dfer Steigerung des Angstaffektes eine derivative Hemmung derart eintritt, da\u00df der Anschlu\u00df derjenigen Funktionen an den Unlustzustand der Angst, won denen wir fr\u00fcher1) sahen, da\u00df sie auf verschiedene Weise eine Hemmung der Bealisierung\n1) Siebe oben S. 1243 ff.","page":1247},{"file":"p1248.txt","language":"de","ocr_de":"1248\nGr. St\u00f6rring\ndes Gedankens der Bet\u00e4tigung nach sich ziehen, selbstwieder gehemmt wird.\nMethodologisch ist hier zn sagen, da\u00df hier von zwei interferierend wirkenden Faktoren einer dadurch isoliert wird und damit deutlich in Erscheinung tritt, da\u00df die Entwicklung des anderen Faktors unter ganz besonderen Verh\u00e4ltnissen eine Hemmung erf\u00e4hrt. Diese besonderen Verh\u00e4ltnisse sind hier nicht experimentell gesetzt, sondern in der Wirklichkeit vorgefunden. Wir haben es also hier mit einem eigenartigen Experiment der Natur zu tun.\nVon F\u00e4llen, welche diesem Experiment der Natur in der experimentierenden Wissenschaft entsprechen1), wollen wir den heranziehen, wo man den elektrischen Leitungswiderstand einer Fl\u00fcssigkeit untersuchen will und dabei durch Polarisation gest\u00f6rt wird. Da eliminiert man etwa diese St\u00f6rung so, da\u00df man alternierende Str\u00f6me verwendet. Mit Aufhebung der Polariations-wirkung tritt die zu untersuchende Beziehung allein in die Erscheinung. \u2014\n3. Auf den Mechanismus des normalen Wahlprozesses k\u00f6nnen wir sodann auf Grund psychopathologischer Tatbest\u00e4nde Folgerungen ziehen, indem wir sehen, wie die \u00c4nderung des Ichbewu\u00dftseins die Wahlprozesse beeinflu\u00dft.\nIn die Augen springend ist die Beeinflussung der Wahlprozesse durch Gr\u00f6\u00dfenideen und durch Kleinheitswahn.\nHier sieht man, wie das Ichbewu\u00dftseinais machtvolles Summationszentrum von Gef\u00fchlen die Entscheidung bestimmt.\n10. Kapitel.\nAllgemeine Charakteristik der Methoden der psychoanalytischen\nUntersuchungen.\nI. Die psychoanalytische Methode von\nFreud und Breuer.\nDie psychoanalytischen Tatbest\u00e4nde lassen sich f\u00fcr die normale Psychologie sehr fruchtbar machen auch dann, wenn man vieles von den Vorstellungsweisen der Psychoanalytiker nicht anerkennt.\nx) St\u00f6rring: Logik. S. 258 ff.","page":1248},{"file":"p1249.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1249\nIch will zun\u00e4chst eine allgemeine Charakterisierung der Methoden der psychoanalytischen Untersuchung geben.\nDie Psychoanalyse trat zuerst hervor mit einer Methode von Breuer und Freud.\nDieselbe bestand darin, da\u00df Patienten, bei denen man ein psychisches Trauma vermutete, welches sich in der Erinnerung des Patienten nicht darstellte, hypnotisiert wurden und nun in Hypnose eine genaue Exploration veranstaltet wurde, welche, von den vorliegenden krankhaften Symptomen ausgehend, das zugrunde liegende psychische Trauma aufzudecken suchte.\nDie Methode zeigte gute Erfolge. Sie f\u00fchrte zur Aufdeckung von verdr\u00e4ngten Gedankenkomplexen, welche infolge ihrer Affektbegleitung das psychische Trauma der Erkrankung darstellten.\nIch gebe einen typischen Fall.\nDer Fall betrifft eine hysterische Patientin, die vor allem \u00fcber heftige Schmerzen in den Beinen, besonders an einer bestimmten Stelle an der Yorderfl\u00e4che des rechten Oberschenkels, klagte. Es bestand hier starke Hyperalgesie der Haut und der Muskulatur. Dabei ,,pa\u00dfte die Miene nicht zum Schmerz, den das Kneifen der Muskeln und der Haut angeblich erregte\u201d, so da\u00df die Vermutung entstehen mu\u00dfte, da\u00df sie wahrscheinlich besser zum Inhalt der Gedanken stimmte, die hinter diesem Schmerz steckten, und die man in der Kranken durch Eeizung der ihnen assoziierten K\u00f6rperstellen weckte. Die in Hypnose vorgenommene Exploration ergab, da\u00df Patientin Hysterie, wie das h\u00e4ufig der Fall ist, in einer lange Zeit (eineinhalb Jahre) hindurch dauernden Krankenpflege eines Familienmitgliedes (ihres Vaters) akquiriert hatte. Die wesentlichsten Einzelheiten sind folgende: Patientin hatte sich eines Tages von den Ihrigen bewegen lassen, vom Krankenbett weg in Gesellschaft zu. gehen, in welcher sie einen jungen Mann traf, dem sie sehr zugeneigt war. \u201eSie wollte dann fr\u00fch nach Hause eilen, aber man n\u00f6tigte sie, zu bleiben, und sie gab nach, als er ihr versprach, sie zu begleiten. Sie hatte nie so warm f\u00fcr ihn gef\u00fchlt als w\u00e4hrend dieser Begleitung.\u201d Als sie nun aber nach Hause kam, fand sie den Zustand ihres Vaters verschlimmert und machte sich die bittersten T orw\u00fcrfe, da\u00df sie so viel Zeit ihrem eigenen Vergn\u00fcgen geopfert hatte. Die Folge dieses Konfliktes war, da\u00df das Erlebnis aus ihrem Bewu\u00dftsein verdr\u00e4ngt wurde. Dasselbe machte sich aber im Bewu\u00dftsein noch geltend durch eine Beziehung, die es mit einem Empfindungskomplex einging, welcher sich der Patientin h\u00e4ufig zu jener Zeit darbot und dadurch gegeben war, da\u00df sie jeden Morgen das stark geschwollene Bein ihres Vaters zum Zweck des Wechselns der Binden auf ihren Oberschenkel legte. Das war aber, wie sich zur eigenen Verwunderung der Patientin bei der","page":1249},{"file":"p1250.txt","language":"de","ocr_de":"1250\nG. St\u00f6rring\nExploration heraus stellte, dieselbe Stelle des Oberschenkels, an der sie Schmerzen empfand.\nHier zeigt sich nns ein Komplex von Gedanken, der sich mit einem starken Unlnstaffekt verbindet, ans dem Bewu\u00dftsein verdr\u00e4ngt1). An die Stelle der verdr\u00e4ngten Gedanken sind k\u00f6rperliche Dauersymptome getreten. Freud spricht hier von einer ,,Konversion der E r r e g u n g s s u m m e\u201d.\nII. Die \u00e4ltere kathartisch-analytische\nMethode von Frank.\nDer urspr\u00fcnglichen Freud^chen Methode steht am n\u00e4chsten die sogenannte kathartisch-analytische Methode. Sie wird vertreten besonders durch Ludwig Frank2 3) und in aller-neuester Zeit von Nicolaus Kretschnikoff).\nFrank nimmt die psychoanalytische Untersuchung in einem Zustand leichter Hypnose vor. In diesem Zustand verfolgt er aber die in bequeme Lagerung gebrachten Patienten durch folgende Ma\u00dfnahmen: Er sagt: ,,Zur Einleitung des Schlafes lasse ich eines meiner Augen fixieren, rede den Patienten Euhe zu, wie das auch seither bei der Methode der Kancyer Schule allgemein ge\u00fcbt wurde. Dabei suggeriere ich in leisem monotonem Fl\u00fcsterton, da\u00df die Augen erm\u00fcden und der Schlaf sich einstellt. In vielen F\u00e4llen wird das Einschlafen dadurch gef\u00f6rdert, da\u00df ich die linke Hand auf die Stirn des auf dem Sofa ruhenden Patienten lege, die Oberlider mit Daumen und Zeigefinger st\u00fctze, indem ich sie bis zur Mitte der Cornea vorschiebe, dabei mein rechtes Auge, das ich fixieren lasse, so halte, da\u00df der Patient m\u00f6glichst weit nach unten schauen mu\u00df. Bisweilen ist es dem Patienten angenehmer, vom Anfang an ein Auge durch den Finger des Arztes schlie\u00dfen zu lassen. In dieser Stellung erm\u00fcden die Augen sehr rasch. Meist f\u00e4llt der Patient innerhalb einer halben Minute, nicht selten in wenigen Sekunden, in Schlummer. Dann fordere ich die Patienten auf, da\u00df sie sich, sobald die Augen zugefallen sind, nicht weiter um den Schlaf k\u00fcmmern, sondern ruhig, m\u00f6glichst indifferent, ohne Erwartungsaffekt und ohne Anspannung der Aufmerksamkeit bei geschlossenen Augen vor sich hinschauen sollen\u201d 4).\nYor Vollzug dieser Ma\u00dfnahmen wird dem Patienten mitgeteilt, da\u00df nur eine ganz leichte Hypnose hergestellt werde,\n1)\tVgl. diese Schrift. S. 1161 ff.\n2)\tLudwig Frank : Aff ektst\u00f6rungen. Studien \u00fcber ihre \u00c4tiologie und Therapie. Berlin 1913.\n3)\tKretschnikoff : Die heilende Wirkung k\u00fcnstlich hervorgerufener Urproduktionen von pathogenen-affektiven Erlebnissen. Arch. f. Psych. 1929.\n4)\t1. c. S. 27.","page":1250},{"file":"p1251.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\nso da\u00df er sich dabei in einem Zustande befinde, bei welchem \u00ebr in jedem Moment wisse, was geschieht, in welchem er auch in jedem Augenblick den Schlafzustand unterbrechen k\u00f6nne.\nPatient hat diu Anweisung, \u00fcber Erlebnisse, die ihm in dem Schlummerzustande auftreten, zu berichten.\t' ~\nMit zunehmendem Schlummerzustand nimmt das Denken und ebenso der Assoziationsverlauf ab.\nBei einer gewissen Schlaftiefe wird das Gesichtsfeld hell, manchmal ganz pl\u00f6tzlich. Unter Hell wer den des Gesichtsfeldes treten Affekte auf und einige Zeit nach ihrem Auftreten \u201eSzenen\u201d, welche den Affekten entsprechen.\nBeobachtet man die Entwicklung eines Affektes an der Atmung, der Herzt\u00e4tigkeit oder am Gesichts aus druck des Patienten, so beruhigt man ihn und fordert ihn auf, weiter ruhig hinzuschauen, die Aufmerksamkeit nicht direkt zu spannen, sondern sich passiv zu verhalten, ohne Affekt, besonders ohne Erwartungsaffekt. Je besser dies gelingt, um so leichter entwickeln sich die Szenen.\nDie Patienten sehen nun sehr oft Hebelschleier, Wolken, einzelne Figuren, irgendwelche Gegenst\u00e4nde, die im Zimmer sind, Teile des K\u00f6rpers, Teile eines Gel\u00e4nders usw. Sodann treten Szenen auf, welche zu wiederauflebenden Affekten geh\u00f6ren.\n,,Manche Patienten lernen es, direkt w\u00e4hrend des Wie der -durchlebens der Szene unter Affekt\u00e4u\u00dferung im Schlafe zu erz\u00e4hlen, was sie eben erleben. Sie durchleben dann die Szenen wieder wie die prim\u00e4ren, bisweilen sogar erheben sie sich vom Sofa und bleiben bei ge\u00f6ffneten Augen im Hypnoidzustand. Es kann so auch f\u00fcr den Arzt zu aufregenden Szenen kommen. Andere erwachen nach jeder Szene und erz\u00e4hlen dann, bisweilen unter starker, ja auch unter sich steigender Affekt Wirkung das Erlebte. Wieder andere durchleben eine Szene von drei bis sechs und mehr Szenen und erz\u00e4hlen diese dann nacheinander, h\u00e4ufig retrograd\u201d1). \u00bb\nDie Patienten wurden angehalten, das Wiedererlebte genau zu erz\u00e4hlen und mit dem Arzt durchzusprechen. Affektvolle Szenen, die nicht mit dem Arzt durchgesprochen sind, treten immer wieder auf, besonders solche, von denen Patient dem Arzt nicht genau Mitteilung machen m\u00f6chte.\nBei wiederholter Aussprache \u00fcber Erlebnisse, die sich mit starken Affekten verbinden, sieht man im allgemeinen die Affekte immer mehr abnehmen. Ich werde sp\u00e4ter von den ausf\u00fchrlich beschriebenen Analysen Franks eine darbieten.\nFrank verwendet verschiedene Hilfen zur Ausl\u00f6sung der Eeproduktion der Affekte. Eine\n*) L. Frank: 1. c. S. 29.","page":1251},{"file":"p1252.txt","language":"de","ocr_de":"1252\nG-. St\u00f6rring\ndieser Hilfen ist gegeben in der Ber\u00fchrung von Schmer z-pnnkten in dem Halbschlafzustand. Mit Recht hebt Frank hervor, da\u00df hiermit eine auf Assoziation gegr\u00fcndete Anregung der Entwicklung der Affektzust\u00e4nde gegeben ist. \u2014 Kommt das Wiederauftreten von Szenen der fr\u00fchesten Jugendzeit in Betracht, so ergibt es sich als zweckm\u00e4\u00dfige Hilfe f\u00fcr die Reproduktion, einen \u00e4hnlichen Gef\u00fchlszustand zu erzeugen, wie er zur Zeit jener Szenen vorhanden war. \u2014 Sehr erleichtert wird die Reproduktion, wenn etwa Geruchsempfindungen und der sie begleitende Gef\u00fchlszustand das betreffende Erlebnis begleitet haben. Szenen, in denen solche Geruchsempfindungen eine Rolle gespielt haben, sind von ganz besonderer Lebhaftigkeit.\nUnter Umst\u00e4nden sucht der Analytiker die dem verdr\u00e4ngten Komplex verwandte Gef\u00fchlslage suggestiv zu \u201erekonstruieren\u201d und so die Reproduktion zu erleichtern.\nEs braucht nicht besonders betont zu werden, da\u00df als intellektuelle Unterlage der Affekte des Komplexes nicht nur visuelle Eindr\u00fccke (\u201eSzenen\u201d) eine Rolle spielen, sondern auch andere Empfindungen, besonders Geh\u00f6rsempfindungen, und sodann auch Gedanken.\nAls weitere Hilfen f\u00fcr die Reproduktion des Affektes des verdr\u00e4ngten Komplexes und sekund\u00e4r f\u00fcr die Reproduktion der entsprechenden intellektuellen Unterlagen wurden einzelne Worte verwendet, auf welche der Affektzustand \u00fcbertragen war. \u201eSo z. B. bei einer Angstneurose, bei der sich die Angstzust\u00e4nde an gewisse Worte anschlossen, z. B. an alle Worte, die sich auf Geisteskrankheiten und Irrenanstalten bezogen, dann wieder an verschiedene Schimpfworte, Tiernamen usw. . . . Stets gelang es so, eine Reihe von Komplexen, die die betreffenden Worte bzw. Vorstellungen determiniert hatten, teils rein als Vorstellung, teils als Szenen mit dem zugeh\u00f6rigen Affekt wieder bewu\u00dft zu machen (im Halbschlafzustand). Es konnten so Erlebnisse bis aus den ersten Kinderjahren assoziativ wieder bewu\u00dft gemacht werden\u201d1).\n\u00dcber die Beziehung der Reproduktion der Affekte des verdr\u00e4ngten Komplexes zur Reproduktion der intellektuellen Unterlagen dieser Affekte sagt Frank : \u201eH\u00e4ufig ist die Affektspannung eine so gro\u00dfe, da\u00df die Patienten zun\u00e4chst nur den betreffenden Affekt, meist Angst, oder auch Wut, \u00c4rger, abreagieren, bevor eine Szene auftreten kann. Es kommt dabei bisweilen zu den heftigsten Affektentladungen, die eine Reihe von Sitzungen erfordern. Ich konnte schon \u00f6fters beobachten, wie dem Auftreten von Szenen stundenlanges Abreagieren heftigster Angst, \u00c4rger oder Wut\nx) L. Frank: 1. c. S. 31.","page":1252},{"file":"p1253.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1253\nvorausging. Nach solchem Abreagieren f\u00fchlen sich die Patienten nicht selten schon erleichtert, trotzdem noch keine Szene auf-getreten war\u201d 1).\nHier m\u00f6chte ich mir die Zwischenbemerkung gestatten, da\u00df ich das, was Frank hier ein ,,Abreagieren\u201d eines Affektznstandes ohne Heranshebnng der intellektuellen Unterlagen nennt, auf das Konto der Entwicklung eines Erm\u00fcdungszustandes setzen m\u00f6chte, von dem Frank auch in anderem Zusammenhang spricht.\nBei Verfolgung der von Frank beschriebenen Einzelf\u00e4lle ergibt sich, da\u00df das Abreagieren unter wiederholter Aussprache \u00fcber die intellektuelle Unterlage der Affekte sich komplexer als man zun\u00e4chst denken k\u00f6nnte, vollzieht, indem die Affekte eines Komplexes durch Akkumulierung \u00e4hnlicher Affekte entstanden sind und deshalb das Abreagieren nur schichtenweise vollzogen werden kann, indem die intellektuellen Unterlagen der \u00e4hnlichen Affekte in den verschiedenen Zeitpunkten sich verschieden gestalten. Es wird also zun\u00e4chst ein bestimmtes affektvolles Erlebnis, das zu diesem Komplex geh\u00f6rt, abreagiert, etwa ein zeitlich am n\u00e4chsten liegendes, dann ein anderes affektvolles Erlebnis mit \u00e4hnlichem Affekt, zum selben Komplex geh\u00f6rig usf.\nDie kathartisch - analytische Methode braucht sich nicht auf die Analyse der Komplexe und das AbTeagierenlassen der affektvollen Erlebnisse zu beschr\u00e4nken, sie kann nat\u00fcrlich auch auf eine sich an dieses Abreagieren anschlie\u00dfende \u201eEegene-ration des Willens\u201d B\u00fccksicht nehmen. Das geschieht von Frank.\nEr hebt mit Becht hervor, da\u00df dieser ganze Degenerations -proze\u00df psychologisch von allergr\u00f6\u00dftem Interesse ist und f\u00fcgt hinzu: \u201eWer Gelegenheit hat, ihn im Detail zu verfolgen, lernt mehr Psychologie als durch das Studium der dickleibigsten Werke\u201d2).\nNur finde ich, da\u00df der Autor leider nur relativ wenig von dieser Psychologie zur begrifflichen Festlegung gebracht hat ! Es ist aber sicher, da\u00df sich aus der Beobachtung dieser Prozesse der Degeneration des Willens au\u00dferordentlich viel Nutzen ziehen l\u00e4\u00dft f\u00fcr psychogenetische Untersuchungen auf dem Gebiet des Gef\u00fchls- und Willenslebens, besonders wenn sich die Beobachtung mit einer Beeinflussung dieser Degeneration des Willens von seiten des Arztes verbindet, die hier den Charakter eines Experimentes annehmen kann! Wir kommen darauf sp\u00e4ter noch zu sprechen.\nx) 1. c. S. 29.\n2) 1. c. S. 33.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n82","page":1253},{"file":"p1254.txt","language":"de","ocr_de":"1254\tG. St\u00f6rring\nFrank sucht die psychische Situation zu beschreiben, in welcher sich der auf die beschriebene Weise behandelte Patient im allgemeinen befindet.\nDer Patient ist w\u00e4hrend seiner Erkrankung von seiner Umgebung meist ungerecht beurteilt worden.\nWenn er etwa an einem Komplex litt, in welchem Angst eine dominierende Rolle spielte, so hat er sich zu vielen seiner Verhaltungsweisen bestimmen lassen ,,aus Angst vor der Angst\u201d, und das hat die Umgebung meist nicht ganz durchschaut. Aus Angst vor der Angst nehmen die Patienten schon von vornherein Stellung zu irgendwelchen Entscheiden, ob ein Besuch gemacht werde oder nicht, ob man ins Theater oder Konzert geht, ob man in diesem oder jenem Gesch\u00e4ft einkaufen, diesen oder jenen Besuch empfangen, durch diese oder jene Stra\u00dfe gehen will usw. Diesen sich so geltend machenden Willen ist die Umgebung, die sich eben nicht in den qualvollen Zustand bis in alle Details zu versetzen vermag, nur allzu leicht geneigt, als Eigensinn auszulegen1).\nDer Patient hat auch aus R\u00fccksicht auf seine pathologischen Gef\u00fchlszust\u00e4nde von der Umgebung vieles hingenommen, geschluckt.\nJetzt w\u00e4hrend der Genesung f\u00fchlt der Patient wieder neuen Lebensmut, er hat die \u00dcberzeugung, da\u00df er von der Gewalt der pathologischen Affekte befreit, seinen Willen, vor allem \u00fcber sich selbst, wieder zur Geltung bringen kann; das macht ihn gl\u00fccklich. Der Arzt mu\u00df daf\u00fcr sorgen, da\u00df die Umgebung auf diese psychische Situation in taktvoller, liebevoller Weise R\u00fccksicht nimmt2).\nAuf den hier, wie man sieht, nur angedeuteten Regenerationsproze\u00df des Willens werden wir sp\u00e4ter n\u00e4her zur\u00fcckkommen.\nJetzt wollen wir einen konkreten Eall Franks zur Illustrierung seiner Methode geben.\nFrau S.S.,26 Jahre alt, 25.X. 1907.,, Patientin klagt \u00fcber Kopf sch merzen, bald an beiden Seiten, dann am Hinterkopf und auf der Scheitelh\u00f6he. Es ist ein dumpfer Druck, oft aber auch Stechen und Kribbeln. . . .\nDie Kopfschmerzen traten vor dreiviertel Jahren ein, und zwar nach dem Tode der Mutter. Die Mutter war vorher krank, so da\u00df Patientin auf den Tod vorbereitet war. Sie war zu Besuch bei Patientin, w\u00e4hrend diese im Wochenbett lag. Sieben Tage nach einer Geburt hatte Patientin einen Schrecken. Sie lag zu Bett und h\u00f6rte einen Schrei in einem Nebenzimmer, sie rief um Hilfe, es kam aber niemand und so verlief einige Zeit. Sie selbst konnte nicht aufstehen, dann kam ein Verwandter. Die Mutter, die an Anf\u00e4llen litt, war umgefallen. Patientin war aufs heftigste erschrocken. Patientin ist sehr gr\u00fcblerisch veranlagt und hat sich viel in Gedanken mit dem Leiden der Mutter besch\u00e4ftigt. Die Mutter reiste dann ab und einen Monat sp\u00e4ter starb sie. In der Zwischenzeit war Patientin ohne Nachricht, wie es um die Mutter steht, und das regte sie sehr auf. Ebenso die Nachricht vom Tode. ...\nx) 1. c. S. 35.\n2) 1. c. S. 32 bis 34.","page":1254},{"file":"p1255.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1255\nPatientin ist sehr leicht zu hypnotisieren. Bei der Ber\u00fchrung der schmerzhaften Stellen am Kopf produziert sie sofort die Szene, wie sie im Wochenbettliegt und die Mutter nebenan einen Anfall bekommt. Patientin liegt mit gro\u00dfer Angst zu Bett, ist stark aufgeregt, weil sie das Bett nicht verlassen kann, um der Mutter Hilfe zu bringen.\t-\n30. X. 1907. Hypnose gelingt sofort. Durch Ber\u00fchren der schmerzhaften Stellen an den Schl\u00e4fen steigern.sich zun\u00e4chst die Schmerzen, darauf tritt Angstgef\u00fchl auf und dann sieht sie eine Abschiedsszene vom Vater. Der Vater hatte sich entschlossen, seine kaufm\u00e4nnische Stelle zu verlassen und sich eine neue Existenz zu suchen, weil er sich durch eine Inkorrektheit unm\u00f6glich gemacht hatte. . . . Dann durchlebt sie im Fluge die n\u00e4chstfolgende Zeit ; es traten Szenen auf, bei denen sie angsterf\u00fcllt ist, diu aber so schnell an ihr vor\u00fcberziehen, da\u00df sie das Gesehene nicht besprechen kann. Das alles ereignete sich vor f\u00fcnf Jahren. Patientin bricht in heftigstes Weinen aus, sie lebt ganz in der Vergangenheit und kann sich jetzt gehen lassen. Nachdem sie ruhiger geworden ist, durchlebt sie eine Szene, wie ihr Mann nach Hause kommt, ganz bleich. . . . Patientin lag im Bett und erschrak heftig, als sie den Mann sah. Dann sieht sie eine Szene vom darauffolgenden Sonntag. Der Mann bekam Herzschw\u00e4che, wor\u00fcber Patientin aufs heftigste erschrak. Patientin durchlebt das alles sehr deutlich und' mit - starken Affekten wieder. Sie beruhigt sieh nach und nach, die Kopfschmerzen haben nachgelassen und es bleibt nur ein dumpfes Gef\u00fchl.\n1. XI. 1907. Nach der letzten Sitzung sei ihr leichter gewesen, sie f\u00fchlte sich wohler, schlief nachts gut und am folgenden Tag ging es am Vormittag ordentlich. Am Abend.. . sei Erbrechen eingetreten und heftiges Kopfweh bis in die Nacht hinein.\nAn diesem Erbrechen habe sie vor, w\u00e4hrend und nach der Blinddarmoperation gelitten.. .. Jede geistige Anstrengung \u2014 auch wenn sie sich freut \u2014 macht Kopfschmerzen.... Hypnose: Druck auf die Schmerzstelle am Kopf. Patientin sieht sich im Schwesternhaus im Krankenzimmer vor der Operation, sieht, wie alle Vorbereitungen getroffen werden, sieht den Operateur und alles im Saal. Jetzt riecht sie den \u00c4ther, es wird ihr schlecht und sie schl\u00e4ft ein. Dann sieht sie die aufregende Abschiedsszene, dann die Szene des Wiedersehens mit den Eltern und regt sich dabei furchtbar auf. Nach und nach wird sie ruhiger. Die Kopfschmerzen nehmen ab, doch w\u00fchlt es noch nach.\n12. XI. 1907. Nach der Periode waren die Kopfschmerzen besser, aber noch, vorhanden. Hypnose: Sie durchlebt eine Famili.enszene, die sich vor 14 Jahren ereignete: es kommt die Nachricht vom Tode des Gro\u00dfvaters. . . . Nach einiger Zeit schrickt Patientin zusammen, sieht sich 16 bis 17 Jahre alt, sieht den Vater \u2014 er hatte sich ins Bein gehackt. Dar\u00fcber ist sie sehr aufgeregt. ... Nach und nach beruhigt sich Patientin wieder; die Kopfschmerzen sind besser geworden.\n15. XI. 1907. Gestern und vorgestern zeitweise Kopfschmerzen.y . . Im Gem\u00fct f\u00fchle sie sich 1 ei c h t e r.' Wenn sie jetzt an die Zeit des Todes der Mutter denkt, so komme ihr alles nicht mehr so schwer vor.....\u201c,\nIII. Die Associations- und Deutungsme t h ode\nder Psychoanalyse. ,\nFreud hat seine urspr\u00fcngliche Methode der psychoanalytischen Untersnchnng sehr wesentlich modifiziert, indem er von der Verwendung der Hypnose Abstand genommen hat und eine Assoziation^- nnd Deutungsmethode zur Anwendung bringt.\nDie Assoziationsmethode ist zuerst von Jung auf diesem Gebiet angewandt worden. Jung fand die Reaktion s-\n82*","page":1255},{"file":"p1256.txt","language":"de","ocr_de":"1256\nG. St\u00f6rring\nzeit betr\u00e4chtlich verl\u00e4ngert, wo ein Affekt im Spiele ist, besonders stark da, wo ein verdr\u00e4ngter Komplex eine E olle spielt. Die Kennzeichen der Mitwirkung des Komplexes werden von Pfister in folgender Weise geordnet:\n\u00c4u\u00dfere Kennzeichen eines Komplexes sind au\u00dfer der verl\u00e4ngerten Reaktionszeit \u201ek\u00f6rperliche Manifestationen\u201d, wie Ansto\u00dfen, Stottern, Zucken, Tr\u00e4nensekretion usw,, sodann das Sichversprechen.\nAls innere Kennzeichen der Mitwirkung eines Komplexes gelten:\na)\tvor der Reaktion: Falsches Verstehen des Reizwortes im Sinne des Komplexes ;\nb)\tin der Reaktion: Ablenkungen auf Umgebungs-bestandteile, wie Tintenfa\u00df, Fenster, \u00dcbersetzung in eine Fremdsprache, sodann \u201eflache Reaktionen\u201d, wie Wiederholung des Reizwortes, Klangassoziationen usw.;\nc)\tnach der Reaktion: Unbeachtetbleiben des n\u00e4chsten Reaktionswortes, Anschlu\u00df des Reizwortes an das vorletzte Reizwort.\nSodann werden von der Psychoanalyse freie Assoziationsketten verwandt. Ich gebe ein Beispiel der Verwendung derselben von Pfister1), wobei zugleich eine sp\u00e4ter noch n\u00e4her zu charakterisierende eigenartige Deutungsmethode zur Anwendung kommt.\n\u201e(Wasser) Leiche. Vier Sekunden. Schiff, ein Ertrunkener. Ich sah, wie ein Ertrunkener in ein Schiff gezogen wurde. (Kenne alle Worte, die Dir jetzt in den Sinn kommen !) Baden, schwimmen, Badeanstalt, Badew\u00e4rter, Grund, Seegras, Haifich, Erde, Steine, Sprungbrett, Luft, Kette, Balken, Unterseeboot, Mannschaft, keine Luft, ertrunken, Taucher, Taucherglocke, Gold, Strickleiter.\n(Was kommt Dir jetzt in den Sinn?) Im Kinomatographentheater sah ich zwei Taucher, die Gold fanden. Einer durchhieb den Luftschlauch des anderen, nahm das Gold und stieg empor.\n(Baden) Weil mein Bruder viel badet. Ich auch sehr gern.\n(Schwimmen.) Mein Bruder behauptet, er sei vom Sprungbrett aus fast bis auf den Grund getaucht. Dies macht mir einen tiefen Eindruck. Es schauert einen ganz. Ich tauchte einmal an einer weniger tiefen Stelle auf Grund. Das Ertrinken kommt mir in den Sinn. Ich sah im Kinematographentheater, wie einer ertrinkt.\nx) Pfister: Analytische Untersuchungen \u00fcber die Physiologie des Hasses und der Vers\u00f6hnung. S. 7 ff.","page":1256},{"file":"p1257.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1257\n(Seegras.) Man kann darin h\u00e4ngen bleiben. Dies passierte mir einmal.\n(Erde.) Der Grund des Wassers. Dunkels eh warz. Das Grab im Bnsento. (Vier Tage sp\u00e4ter !) Darin ist einer auf einem Pferd, gro\u00df, stramm, bleich. Das ist mein Bruder.\n(Kette.) Au\u00dfen an der Badeanstalt beim E\u00e4\u00dfchen. Arno ging einmal dort in die Tiefe und blieb etwa 10 m unter dem Wasserspiegel mit einem Finger h\u00e4ngen. Er sagte dann, er halte nicht viel vom Leben, er mache gerne lebensgef\u00e4hrliche Sachen, wie Schleifenbahn mit dem Velo,\n(Unterseeboot.) Ich sah auf einem Bilde, wie die Mannschaft eines solchen erstickte. (Vier Tage sp\u00e4ter!) (Kennst Du jemand gro\u00df, stramm, bleich?) Es ist mein Bruder Arno.\n(Taucher.) Der ertrinkende Taucher im Kinematographen-theater. Man sieht das bleiche Gesicht durch das Glas. Der Mann war gro\u00df und schwarz. Wir bekamen aus einem Panoptikum eine lebensgro\u00dfe Wachsmaske, die einen sterbenden K\u00f6nig darstellt. Die Augen waren nach oben gerichtet. Arno setzte diesen Kopf einmal auf seine Schulter und schlug ein Leintuch um sich. Da sah er wie ein Geist aus. Ich erschrak sehr. Der sterbende Taucher erinnerte mich an jenes Wachsbild. (Man sieht deutlich die Verdr\u00e4ngungsarbeit : der Analysand meint den, der in der Wachsmaske steckt, Arno, l\u00e4\u00dft aber diese Vorstellung nicht auf kommen.)\n(Der M\u00f6rder.) Er war ein kleinerer Mann. Sein Gesicht sah man nicht. Er hatte gro\u00dfe Furcht vor der Einsamkeit ( !) und weil er den andern t\u00f6tete.\n(Bitte eine Beihe !) Mitleid, Strafe, Kapit\u00e4n, sucht nach dem M\u00f6rder, elektrischer Stuhl, Vergangenheit, Himmel, H\u00f6lle, Weltgericht, Gott, Abraham, Lazarus, der reiche Mann, Kluft, Wasser, Br\u00fcder, Lazarus auf dem Schemel bei Gott, die Bitte des Beichen, der Mann,' der sich im Himmel einen Palast w\u00fcnschte, mit dem Petrus Mitleid hatte, der Mann auf den Zehenspitzen, der durch das Astloch schaut, das Gottesreich. (Vier Tage sp\u00e4ter :) Der M\u00f6rder ist klein, flink, kurzarmig, habs\u00fcchtig, goldgierig, roh.\n(Wer ist\u2019s) Ja, ich. Das bemerkte ich schon vor vier Tagen, dachte aber, es habe keinen Wert. Ich bin doch im gew\u00f6hnlichen Leben nicht roh ? (Kein. Aber du bist das, was die Sprache so trefflich \u201ezwiesp\u00e4ltig\u201d nennt. Du sagtest schon b\u00f6se W\u00fcnsche und wolltest sie vertreiben. Das ist dir nicht v\u00f6llig gelungen. Daher dein Groll, dein dunkler Trieb zum B\u00f6sen.)\n(Die ausf\u00fchrliche Analyse w\u00fcrde uns zu weit f\u00fchren. Hier das Ergebnis: Der M\u00f6rder Max wird auf dem elektrischen Stuhl hin-","page":1257},{"file":"p1258.txt","language":"de","ocr_de":"1258\tCr. St\u00f6rring\ngerichtet, tr\u00f6stet sich indessen durch die Hoffnnng, er m\u00fcsse nicht wie der reiche Mann im Gleichnis Jesu ewige H\u00f6llenpein dulden, sondern werde wie der Eeiche in der sch\u00f6nen Erz\u00e4hlung Ton Volkmann Leanders in der H\u00f6lle ein pr\u00e4chtiges Schlo\u00df Toll Gold empfangen, auf den Zehenspitzen stehend durch ein Astloch den Himmel sehen und endlich selig werden. Im Mann auf den Zehenspitzen erkennt Analysand sich selbst.)u Pfister f\u00fcgt dann noch hinzu:\n\u201eBemerkenswerterweise hat der Knabe, w\u00e4hrend er seine Stichworte gibt, keine Ahnung, da\u00df hinter ihnen Mordphantasien gegen den Bruder stecken. Und doch l\u00e4\u00dft sich aus den folgenden hier nicht reproduzierten Kettengliedern mit Sicherheit nach weisen, da\u00df sie vorhanden waren. Hinter den in wenig Minuten ausgesagten zwei Beihen steckten Phantasien, die auf 16 Arten dem Bruder Tod anw\u00fcnschten, auf 3 Arten sich selbst, auf 6 Arten anderen Personen, dazu eine Menge anderer Ungl\u00fccksf\u00e4lle und aktive Verbrechen.\nDer Wert solcher Ketten liegt darin, da\u00df das Unbewu\u00dfte \u00fcberlistet wird. In der Verkleidung kann der peinliche Gedanke sich auswirken. Die Analyse packt den Verbrecher und entlarvt ihn.\nDiese Ketten werden auch w\u00e4hrend der Traumanalyse immer wieder angewandt, wie die freie phantastische Fortspinnung des Traumes und andere Manifestationen1).\u201d\nPrend verwendet seit l\u00e4ngerer Zeit die Assoziations- und Deutungsmethode entweder unter Zugrundelegung von Tr\u00e4umen oder so, da\u00df er die Kranken kritiklos alles sagen l\u00e4\u00dft, was ihnen in den Sinn kommt. Wo sich starke Spr\u00fcnge zeigen, l\u00e4\u00dft er an Hand der betreffenden Worte freie \u201eEinf\u00e4lle\u201d entwickeln und schlie\u00dft an das so gewonnene Material ein \u201eDeutungsverfahren\u201d an.\nPrend sagt: \u201eWenn wir bei einem Kranken von dem letzten, an was er sich noch erinnerte, ausgehen, um einen verdr\u00e4ngten Komplex zu suchen, so haben wir alle Aussicht, diesen zu erraten, wenn uns der Kranke eine gen\u00fcgende Anzahl seiner freien Einf\u00e4lle zur Verf\u00fcgung stellt. Wir lassen also den Kranken reden, was er will und halten an der Voraussetzung fest, da\u00df ihm nichts einfallen wird, als was in direkter Weise von dem gesuchten Komplex abh\u00e4ngt\u201d ( !) 2).\nDie Psychoanalyse Prends unter Zugrundelegung von Tr\u00e4umen werde ich sp\u00e4ter ausf\u00fchrlich darstellen und kritisieren. Hier bemerke ich nur, da\u00df die Traumdeutung Prends sich methodologisch dadurch belastet, da\u00df sie die G\u00fcltigkeit einer F\u00fclle von symbolischen Auffassungen besonders auf sexuellem Gebiete zur Voraussetzung hat!\n1)\tPfister'. Die psychoanalytische Methode. S. 295 ff.\n2)\tFreud: \u00dcber Psychoanalyse. S. 30.","page":1258},{"file":"p1259.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1259\nIY. Die n eu este k a t h a r t i s c h - a n a 1 y t i s c h e\nMethode von Kretschnikoff.\t_\nDie j\u00fcngste nnd \u2014 wie mir scheint \u2014 zugleich die beste Form der kathartischen Methode hat Kretschnikoff gegeben1).\nSie verzichtet anf Verwendung der Hypnose und auch des Halbschlafes. Sie zeichnet sich vor allen psychoanalytischen Methoden dadurch aus, da\u00df die Intervention des Arztes bei ihr auf ein Minimum reduziert ist \u2014 und damit auch die Einwirkung der Suggestion!\nKretschnikoff ist nur darauf bedacht, eine Losl\u00f6sung des Patienten von allen \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken zustande zu bringen.\nDas geschieht so, da\u00df der Arzt den Patienten in liegender Lage die Augen geschlossen halten l\u00e4\u00dft bzw. ihm mit der Hand die Augen geschlossen h\u00e4lt und, wie wir sehen werden, sehr sp\u00e4rliche Fragen an den Patienten richtet. Kretschni'koff unterscheidet dabei drei verschiedene Phasen des Erlebens hierbei.\nEr findet, da\u00df der Patient nach 2 bis 15 Minuten, bei Wahrung v\u00f6lliger Buhe und Stille, die einen oder anderen k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen sichtbar aufweist : er f\u00e4ngt etwa an zu zittern, die Atmung \u00e4ndert sich, der Puls wird beschleunigt, die Gesichtsfarbe \u00e4ndert sich, es treten etwa verschiedene Geb\u00e4rden auf: Weinen, Schreien usw. Sobald solche k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen auf treten, fragt der Arzt den Patienten nachdr\u00fccklich, was er in seinem K\u00f6rper empfinde bzw. was mit ihm vorgehe\u201d. Der Patient gibt etwa die Empfindung der vom Arzte beobachteten Ver\u00e4nderungen an, au\u00dferdem aber etwa noch die Empfindung vom Arzt nicht beobachteter Ver\u00e4nderungen, etwa die Empfindung von Schmerzen in der Herzgegend, im Magen, die Empfindung von Ameisenlaufen, Erstarrung des K\u00f6rpers usw. Sodann wird in diesem Stadium vom Arzt noch gefragt, ob die Empfindungen \u2014 wenn sie nicht Schmerzen sind \u2014 angenehm oder unangenehm seien. Dieser Zustand der erw\u00e4hnten k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen dauert gew\u00f6hnlich einige Minuten, selten eine halbe Stunde und l\u00e4nger.\nBach diesem Zustand treten Affektzust\u00e4nde auf: Angst, Kummer, \u00c4rger usw., und zwar ,,gerade zur Zeit der st\u00e4rksten \u00c4u\u00dferung k\u00f6rperlicher Manifestationen\u201d. Die Affekte erscheinen zugleich als gegenstandslos und weisen im allgemeinen betr\u00e4chtliche Schwankungen in der Intensit\u00e4t auf.\n*) N. Kretschni'koff : Di\u00a9 heilende Wirkung k\u00fcnstlich hervorgerufener Koproduktionen von pathogen affektiven Erlebnissen. Arch. f. Psych. 1929.","page":1259},{"file":"p1260.txt","language":"de","ocr_de":"1260\nG. St\u00f6rring\nNach 15 Minuten bis einer halben Stnnde tritt im allgemeinen pl\u00f6tzlich spontan eine dnnkle Erinnerung an den Gegenstand der Affekte auf, nnd zwar im ,,Augenblick der st\u00e4rksten \u00c4u\u00dferung\u201d der betreffenden Emotion. Nur in wenigen F\u00e4llen bedarf es der Frage des Arztes : \u201eA n welche Lebensumst\u00e4nde oder Ereignisse erinnert Sie diese Angst, Qual u s w. ?\nDie Eeproduktion des Gegenstandes des betreffenden Affektes gestaltet sich nun so, da\u00df \u201eaus dem pathogenen affektiven Erlebnis im Bewu\u00dftsein des Patienten zuerst als Halluzinationen diejenigen Wahrnehmungen auftauchen, die bei dem betreffenden Erlebnis den st\u00e4rksten Eindruck auf ihn gemacht haben\u201d 1).\nEs folgt dann ein Wiederdurchleben des fr\u00fcheren Erlebnisses bis ins einzelne hinein.\nAuftretenden Halluzinationen entsprechen stets fr\u00fchere Wahrnehmungen. Wo eine Nachpr\u00fcfung durch \u201eZeugenverh\u00f6r\u201d m\u00f6glich war, ergab sich v\u00f6llige \u00dcbereinstimmung der Halluzinationen mit den fr\u00fcheren Wahrnehmungen.\nNach der Eeproduktion des fr\u00fcheren affektiven Erlebnisses tritt gew\u00f6hnlich eine Beruhigung ein. Dabei schwinden zuerst die Halluzinationen, dann die Affekterregung und zuletzt die k\u00f6rperlichen Manifestationen.\nNach eingetretener Beruhigung verflie\u00dfen gew\u00f6hnlich 2 bis 15 Minuten, dann treten wieder die Empfindungen verschiedener k\u00f6rperlicher Symptome auf, darnach, wie oben beschrieben, Affektzust\u00e4nde und zuletzt wieder das Wiedererleben der betreffenden Erlebnisse. Nach dem Durchleben der affektiven Ereignisse tritt dann wieder Beruhigung ein.\nEs folgen in einer Sitzung h\u00e4ufig mehrere Eeproduktionen fr\u00fcherer affektiver Erlebnisse, gew\u00f6hnlich von derselben Affektqualit\u00e4t.\nWir geben nun zun\u00e4chst einen konkreten Fall von Kretschnilcoff :\njB. J., ein M\u00e4dchen von 28 Jahren, klagt \u00fcber H\u00e4ndezittern und Z\u00e4hneklappern. Die Symptome verst\u00e4rken sich bei Anwesenheit von fremden Leuten und verhindern in solchen F\u00e4llen sogar die Einnahme von Mahlzeiten. Aus diesem Grunde vermeidet sie es bzw. h\u00fctet sie sich davor, in Gegenwart von fremden Personen zu essen; deshalb k\u00f6nne sie auch nicht in Eestaurants oder Gesellschaften etwas zu sich nehmen. Sie sei in solchen F\u00e4llen sehr unruhig, aufgeregt und geniert sich au\u00dferordentlich. Die Symptome ihrer Krankheit stellten sich bereits vor vier Jahren ein. . . . F\u00e4lle von Nervenkrankheit sind in ihrer Familie vorgekommen.\nx) 1. c. S. 374.","page":1260},{"file":"p1261.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1261\nBei Reproduktion stellten sich sofort Erscheinungen ein: In die gew\u00f6hnliche liegende Stellung gebracht, verblieb sie etwa vier bis f\u00fcnf Minuten ruhig. Darauf beginnt bei ihr das Empfinden von Nadelstichen in den Knien: \u201ees sei so, als ob jemand mich in die Knie mit Nadeln steche\u201d. Im weiteren ergreift sie Schauer (\u201eleichtes inneres Zittern von den Beinen ab nach unten\u201d); nach weiteren zwei bis drei Minuten verbreitete sich das Zittern auf den ganzen K\u00f6rper; gleichzeitig stellte sich K\u00e4lteempfinden in den Fingern der beiden H\u00e4nde und F\u00fc\u00dfe ein ; die betreffenden Empfindungen wurden bald st\u00e4rker, dann wieder schw\u00e4cher. W\u00e4hrenddem blieb ihre Stimmung vollkommen ruhig; sie vermochte aber nicht anzugeben, ob die Empfindungen angenehm oder unangenehm seien oder nicht. Nach weiteren drei bis vier Minuten gesellten sich zu diesen Erscheinungen, die allm\u00e4hlich sich verst\u00e4rkten, ein krampfhaftes Zusammenfahren (Zusammenzucken) des ganzen Leibes, ferner sichtbares Zittern der Beine, Hebung des Bauches und Z\u00e4hneklappern. Auch dabei blieb ihre Stimmung immer noch ruhig; sie \u00e4u\u00dferte, sie wisse nicht, weshalb sie zittere, \u201eihre Knie heben sich ganz willk\u00fcrlich ...\u201d\nBald darauf kam ein Umschwung in der Stimmung, sie wurde unruhig und erkl\u00e4rte das selbst in dem Sinne: \u201edie Nerven beherrschen sie, sie wollte auf springen und weglaufen, es werde ihr \u00fcbel ...\u201d Diese unruhige, gespannte Stimmung legte sich bald und trat dann von neuem auf, indessen dauerten die k\u00f6rperlichen Manifestationen immer noch weiter.\nNach weiteren vier bis f\u00fcnf Minuten wurde ihre Stimmung \u00e4u\u00dferst qualvoll. Sie konnte sich erinnern, da\u00df sie Derartiges schon einmal in Dresden erlebt habe, und sie reproduzierte die Ereignisse daselbst. Es erwies sich, da\u00df sie bereits 1924 einen \u00e4hnlichen starken Anfall mit H\u00e4nde- und Beinzittern, Z\u00e4hneklappern, wobei noch ein Zittern der Lippen hinzukam, erlebt hatte. Sie war damals ganz allein im Hotelzimmer und wei\u00df keinen Grund f\u00fcr die Krise, die sie damals befiel, anzugeben.\nNachdem die Patientin noch weitere, d. h. fr\u00fchere Krisen vom Jahre 1915 und eine noch weiter abliegende im Alter von zehn Jahren auf getretene, reproduziert hatte, verlor sie das Bewu\u00dftsein und reproduzierte halluzinatorisch unter starkem Angst-und Qualgef\u00fchl folgendes Erlebnis, das sich ereignete, als sie vier Jahre alt war.\nSie wurde damals von irgendeinem Schustergesellen \u00fcberfallen, der sie in einen Keller schleppte, um sie zu vergewaltigen. Das Kind sah mit Entsetzen das ihm zugesteckte erigierte Geschlechtsorgan, begann krampfhaft zu weinen, zu schreien, zu zittern und mit den Z\u00e4hnen zu klappern. Von dieser Zeit an hat sie einen Abscheu vor den M\u00e4nnern \u00fcberhaupt.","page":1261},{"file":"p1262.txt","language":"de","ocr_de":"1262\nG-. St\u00f6rring\nSchon nach drei Reproduktionen h\u00f6rte das Zittern bei der Patientin anf nnd es verschwanden nach nnd nach alle anderen krankhaften Symptome. Memals, \u00e4n\u00dferte sich sp\u00e4ter die Patientin selbst, habe sie sich so gut, lustig nnd lebensfroh gef\u00fchlt, wie gegenw\u00e4rtig nach der Behandlung. Wir . hatten die Gelegenheit, die Patientin noch einmal nach einigen Monaten zu sehen. Sie f\u00fchlte sich immerfort sehr wohl nnd klagte \u00fcber keine weiteren Leiden oder Beschwerden.\u2019\nKretschniTcoff hat ein reichhaltiges Material, er hat seine Methode in einigen Hunderten von F\u00e4llen angewandt.\nIn einzelnen F\u00e4llen waren kleineMo dif ikationen erforderlich, was die Fragen des Arztes betrifft.\nWenn nach Schlie\u00dfung der Augen etwa zehn Minuten vergangen waren, ohne da\u00df sichtbare k\u00f6rperliche Symptome auftraten, so wurde der Patient ersucht, ,,er m\u00f6ge sich \u00e4u\u00dfern, wenn er etwaige Ver\u00e4nderungen in seinem K\u00f6rper bemerken sollte\u201d oder es wurde die Frage an ihn gerichtet, ,,was er in seinem K\u00f6rper empfinde\u201d.\nSodann wurde in der emotionellen Gruppe der Erscheinungen unter Umst\u00e4nden der Patient veranla\u00dft, nachzudenken, bei welchen Umst\u00e4nden er fr\u00fcher dasselbe Gef\u00fchl erlebt habe\u201d.\nAls \u201eAutorepro duktion\u201d bezeichnet KretschniTcoff den sprachlichen Ausdruck einer vollzogenen Reproduktion des affektiven Erlebnisses.\n\u00dcber diese Autoreproduktion gibt er an, da\u00df dabei von neuem die k\u00f6rperlichen Modifikationen und Affektzust\u00e4nde erlebt werden, aber mit weit geringerer Intensit\u00e4t.\nSodann wird hervorgehoben, da\u00df ein affektives Erlebnis nicht durch eine Reproduktion aufgel\u00f6st werden kann, da\u00df mehrere Reproduktionen n\u00f6tig sind und da\u00df in den nachfolgenden Reproduktionen die Intensit\u00e4t des Affektes immer mehr abnimmt.\nEs ist uns nichts Keues, wenn betont wird, da\u00df im allgemeinen nicht ein affektives Erlebnis vorliegt, sondern mehrere mit \u00e4hnlichem Affektzustand1).\nKretschniTcoff findet im Gegensatz zu Freud, da\u00df die Affekte durchaus nicht immer sexuelle Komponenten haben!\nVon besonderem Interesse ist noch das Verhalten der Patienten bei Anwendung dieser Methode\nx) 1. c. S. 382.","page":1262},{"file":"p1263.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1263\ngegen\u00fcber Suggestionen nnd sodann der verschiedene Grad der Versenkung des Patienten in die Vergangenheit.\nVon vielen Psychiatern ist gegen die therapeutische Wirksamkeit der Ps y c h o-analyse (die nns auch psychologisch interessieren mu\u00df, da es sich um eine Beeinflussung von Affekten handelt) eingewandt, das Wirksame liege allein in der mit der Behandlung eo ipso gegebenen Suggestion.\nDa sind nun folgende Feststellungen Kretschnilcoffs von gro\u00dfer Wichtigkeit: ,,Unsere Versuche, w\u00e4hrend der Reproduktion den Patienten zu suggerieren, hatten gar keinen Erfolg. Wenn z. B. bei dem Patienten eine Reihe von k\u00f6rperlichen Manifestationen zum Vorschein kamen, suggerierten wir ihm etwa, sie verschw\u00e4nden wieder, da\u00df er also keinen Schauder, keine K\u00e4lte, W\u00e4rme usw. in seinem K\u00f6rper mehr empfinde, alles umsonst. Er blieb dabei, da\u00df er sie weiter empfinde, manchmal sogar noch st\u00e4rker als vordem\u201c1).\nSpeziell bez\u00fcglich der M\u00f6glichkeit, vorhandene An\u00e4sthesien in diesem Zustand wegzusuggerieren, stellt KretschniTcofj folgendes fest :\n,,Wenn der Patient im normalen Bewu\u00dftseinszustand An\u00e4sthesien aufwies, suggerierten wir ihm w\u00e4hrend der Reproduktion dahin, da\u00df er nach Wiederkehr des normalen Zustandes das Empfinden in den an\u00e4sthetischen K\u00f6rperteilen wie der ge winnen werde; die An\u00e4sthesien blieben zur\u00fcck, solange die affektiven Erlebnisse, die sie hervorgerufen hatten, in der Seele des Patienten nicht ausgel\u00f6st wurden\u201d 2).\nVon allen mit dem Affekt verbundenen k\u00f6rperlichen Anomalien lie\u00df sich feststellen, da\u00df sie nicht durch Suggestionen, die in diesem Zustande gegeben wurden, beseitigt werden konnten.\nF\u00fcr Kretschni~koff ergibt sich daraus folgendes: ,,Aus diesen Beobachtungen bei unseren Versuchen zogen wir den Schlu\u00df, da\u00df die meisten Symptome bei Psychoneurotikern nicht durch denpsychologischen Mechanismus der Suggestion, sondern durch affektive Fixierung sich bilde n\u201d.\nUns interessiert hier der au\u00dferdem aus diesen Tatbest\u00e4nden zu ziehende Schlu\u00df, da\u00df die Beeinflussung der psychopathischen Symptome durch diese Methode, wie doch nicht geleugnet werden kann, nicht auf das Konto der Suggestion von seiten des Arztes zu setzen ist.\nx) 1. c. S. 380.\n2) 1. c. S. 381.","page":1263},{"file":"p1264.txt","language":"de","ocr_de":"1264\nGr. St\u00f6rring\nEs l\u00e4\u00dft sich ja nicht leugnen, da\u00df in einzelnen der angegebenen Fragen des Arztes ein suggestiver Faktor lag, besonders in Fragen, wie: was Patient in seinem K\u00f6rper empfinde. Aber es ist zn beachten, da\u00df das Minimum von Suggestion, das hier vorliegt, keinen therapeutischen Charakter hat !\nPsychologisch von sehr gro\u00dfem Interesse sind die Feststellungen von Kretschnilcoff bez\u00fcglich des verschiedenen Grades der Versenkung des Patienten in die Vergangenheit.\nMeist ist die Versenkung in die Vergangenheit eine normale, indem die Patienten sich der Vergangenheit als Vergangenheit bewu\u00dft sind. In einzelnen F\u00e4llen ist die Versenkung der Patienten in die Vergangenheit so tief, da\u00df er die Vergangenheit nicht mehr als Vergangenheit auf fa\u00dft, sondern auf die Frage: \u201eWo befinden sie sich'?\u201d, die Antwort gibt, er sei dort und dort (wo er in der Wirklichkeit einst sein Trauma erlebte).\nIn noch anderen F\u00e4llen sprechen intelligente Patienten von einer Art von Doppelbewu\u00dftsein, sie f\u00fchlen sich ,,entzweit\u201d : sie f\u00fchlen sich gleichzeitig in der Gegenwart und in der Vergangenheit, und zwar pr\u00e4valiert das eine Mal das Bewu\u00dftsein der Gegenwart, das andere Mal das der Vergangenheit1).\nSt\u00e4rkere Grade der Versenkung in die Vergangenheit sind auch mit Aufhebung des Bapports zum Arzt oder mit Aufhebung der F\u00e4higkeit zur Beproduktion des Wie der erleb ten verbunden. Ich gebe dazu einen sehr interessanten Fall:\n,,A. L., ein M\u00e4dchen von zw\u00f6lf Jahren. Ihr Vater steht im 55. und ihre Mutter im 44. Lebensjahre, beide sind gesund ... In der Familie sind keine F\u00e4lle von Geisteskrankheit vorgekommen. Als Sch\u00fclerin war Patientin ausgezeichnet. Die Erkrankung begann im Fr\u00fchling 1926, an einem Tage, als Patientin Wasser trug und vom Dorfbrunnen nach Hause zur\u00fcckkehrte:\nPl\u00f6tzlich wurde sie von zwei gro\u00dfen Sch\u00e4ferhunden r\u00fccklings \u00fcberfallen, die sie auf den Boden schleuderten. Die Hunde wurden gleich darauf von ihrem Vater verscheucht und das Ereignis hatte unmittelbar keine weiteren Folgen; bis zum Abend blieb das Kind ganz ruhig und schlief die erste Kacht normal. Die folgende Kacht wurde aber sehr unruhig verbracht: sie fuhr mehrere Male im Schlafe heftig zusammen, schrie laut auf, die Hunde \u00fcberfallen sie, und schwenkte in gro\u00dfer Erregung die H\u00e4nde, ungef\u00e4hr eine halbe Stunde lang. Die darauffolgenden beiden K\u00e4chte verliefen ebenso unruhig mit den bezeichnenden \u00c4u\u00dferungen eines starken Angstgef\u00fchles. Am Tage f\u00fchlte sie sich dagegen ganz wohl, blieb ruhig und frisch, begann aber bald \u00fcber heftige Kopfschmerzen\nx) 1. c. S. 378.","page":1264},{"file":"p1265.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1265\nzu klagen. Sie klagte dar\u00fcber, der Kopf sei ihr in der Stirngegend wie starr geworden. Die Patientin blieb zwar wie fr\u00fcher sehr gescheit, konnte anch ihre Schnlanfgaben gnt l\u00f6sen, wnrde aber schweigsam, still nnd in sich geschlossen. Dazu kamen fortw\u00e4hrende Klagen \u00fcber Kopfschmerzen nnd Appetitlosigkeit; ihre Stimmung wnrde gedr\u00fcckt nnd meistens schl\u00e4frig. Bei einem derartigen schl\u00e4frigen instand bekam sie eines Tages einen heftigen Angstanfall. Dieser Anfall blieb zwar zun\u00e4chst vereinzelt, doch im folgenden Winter wiederholte er sich. Als sie dann von ihren Verwandten zwecks \u00c4rztekonsnltation nach Sofia gebracht wnrde, wiederholte sich der Anfall im Zuge. Patientin schrie laut nnd jammerte: ,,Schwester, der Hund, o der Hund!\u201d Fieber trat dabei nicht auf. Mach dem Anfall konnte sich Patientin an nichts mehr erinnern nnd wunderte sich, warum sie geweint hatte.\nStatus praesens : .... In den inneren Organen sind keine Abweichungen vom Normalen vorhanden ....\nWir brachten die Patientin in die \u00fcbliche Lage und schlossen ihr die Augen durch leichten H\u00e4ndedruck auf die Lider. Nach vier Minuten begann Patientin schwer zu atmen, das Gesicht wird bla\u00df, Tr\u00e4nen treten in die Augen, sie f\u00e4ngt an laut zu schreien, zu rufen, zu bellen. Diese Erscheinungen dauern ungef\u00e4hr eine halbe Stunde; w\u00e4hrenddem f\u00fchlt sie keine Stiche, die ihr beigebracht werden, beantwortet nicht die an sie gestellten Fragen, scheint nicht einmal die Stimme des Arztes zu h\u00f6ren. Offenbar ist Patientin von der \u00e4u\u00dferen Welt v\u00f6llig abgetrennt und im Zustande einer vollen Introjektion. Wir machen den Versuch, ihr die Augen zu \u00f6ffnen, jedoch fallen die Lider sofort wieder zu. Die Aug\u00e4pfel sind nach oben gerollt. Trotz energischer Zurufe, sie solle erwachen, zu sich kommen, reagiert sie darauf gar nicht, sondern f\u00e4hrt fort, die erlebte heftige Angst von dem Hundeanfall weiter zu reproduzieren, mit allen Geb\u00e4rden, Schreien und Eufen, die sie damals zur Abwehr ausgesto\u00dfen hat. Das Ende der Eeproduktion schlie\u00dft mit starkem Schluchzen, das dem Laute eines Hundegebelles \u00e4hnlich ist.\nDarauf \u00f6ffnete sie selbst die Augen, kam zu sich, bekam den Kontakt mit dem Arzte und der Umgebung wieder zur\u00fcck, blieb aber noch weiter unruhig, gest\u00f6rt, ge\u00e4ngstigt und mit Tr\u00e4nen in den Augen. Auf die Frage, was mit ihr geschehen sei und woran sie sich von alledem, was eben vorgekommen, erinnere, antwortete Patientin, sie k\u00f6nne sich an nichts erinnern.\nBei den n\u00e4chsten drei oder vier Sitzungen fing die Patientin bereits an, sich an das Eeproduzierte zu erinnern, es scheine ihr, als ob sie es getr\u00e4umt habe, da\u00df die Hunde sie \u00fcberfallen und sie sich stark erschrocken h\u00e4tte. Nach einigen weiteren Eeproduk-tionen konnten wir mit der Patientin bereits w\u00e4hrend der Eepro-","page":1265},{"file":"p1266.txt","language":"de","ocr_de":"1266\nG-. St\u00f6rring\nduktion in Kontakt treten, nnd zwar zuerst bez\u00fcglich \u00c4u\u00dferungen der ersten, d. i. der Organgruppe des reproduzierten Erlebnisses. Sie antwortete richtig auf unsere Frage, was sie empfinde, sie empfinde Schauer, zuerst in den Beinen, dann im ganzen K\u00f6rper, da\u00df sie schwer atme; jedoch ging dieser bereits gewonnene Kontakt mit der Patientin bei der Reproduktion der zweiten Gruppe wieder verloren: die Patientin gab wieder keine Antwort auf die an sie gestellten Fragen. Kach weiteren zwei bis drei Sitzungen begann die Patientin Fragen auch bei der Reproduktion der zweiten Gruppe zu beantworten und sp\u00e4ter auch im Verlauf der dritten Gruppe.\nBereits nach der ersten Beproduktion verschwanden die spontanen Angstanf\u00e4lle, die ihre Angeh\u00f6rigen besonders entsetzten und die gew\u00f6hnlich etwa eine halbe Stunde dauerten. W\u00e4hrend ihres weiteren Aufenthaltes in der Kinderklinik, in die sie gebracht wurde (vom 16. April 1927 bis 17. M\u00e4rz 1928), d. h. binnen elf Monaten, sind diese Anf\u00e4lle kein einziges Mal mehr aufgetreten. Die Patientin wurde bei einer Vorlesung demonstriert und es wurde eine Beproduktion im Auditorium durchgef\u00fchrt. Bei s\u00e4mtlichen Reproduktionen haben sich dieselben Erscheinungen eingestellt, n\u00e4mlich zuerst die k\u00f6rperlichen Manifestationen, dann der Angstanfall und dann das Erlebnis des Hunde\u00fcberfalles \u2014 stets in derselben Reihenfolge, blo\u00df mit der \u00c4nderung, da\u00df die nachfolgenden Reproduktionen immer schw\u00e4cher wurden.\nZum Schl\u00fcsse der Behandlung verschwanden die Angstanf\u00e4lle g\u00e4nzlich, die Kopfschmerzen ver\u00e4nderten sich bedeutend, die Stimmung der Patientin besserte sich, sie wurde nach und nach gespr\u00e4chiger, freundlicher und lustiger und konnte somit nach bedeutender Besserung ihres allgemeinen Zustandes aus der Klinik entlassen werden.\u201d\nWas die kritische W\u00fcrdigung dieser Methode betrifft, so haben wir schon manches in dieser Beziehung hervorgehoben. Wir m\u00f6chten nun zun\u00e4chst noch darauf aufmerksam machen, da\u00df nach KretscJinihoff der emotionalen Gruppe eine organische Gruppe vorausgeht. Das kann merkw\u00fcrdig erscheinen, wo wir bei' FranJc, dessen Methode doch einigerma\u00dfen dieser Methode verwandt ist, diese Feststellung nicht finden.\nMan k\u00f6nnte geneigt sein, dieses st\u00e4rkere Hervorheben der k\u00f6rperlichen Symptome auf das Konto der Fragen von Kretschniicoff zu stellen, die, so sp\u00e4rlich und objektiv gehalten sie auch im allgemeinen sind, doch in diesem Punkt etwas subjektiven, der Suggestion nicht ganz entbehrenden Charakter haben. Wir wollen noch nicht besonders in Rechnung setzen, da\u00df nach dem Auftreten sichtbarer k\u00f6rperlicher Ver\u00e4nderungen gefragt wird, was der Patient in seinem K\u00f6rper empfinde. Hier wird die Aufmerksam-","page":1266},{"file":"p1267.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\nkeit auf die K\u00f6rperempfindungen besonders hingelenkt lind dadurch ist nat\u00fcrlich das Auftreten von Angaben \u00fcber Yer\u00e4nderung usw. : von K\u00f6rperempfindungen beg\u00fcnstigt, aber diese Frage wird doch erst an den Patienten gerichtet, nachdem schon sichtbare k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen sich geltend gemacht haben. Kun w\u00fcrden aber sp\u00e4ter kleine Modifikationen der Methode angegeben, darunter befindet sich auch die, da\u00df \u201ezur Beschleunigung des Reproduktionsprozesses\u201d; dann, wenn der Patient, in eine gewisse Lage gebracht, nach Schlie\u00dfung der Augen nach zehn Minuten keine sichtbaren k\u00f6rperlichen Symptome aufwies, er aufgefordert wurde, anzugeben, \u201ewenn er etwaige Ver\u00e4nderungen in seinem K\u00f6rper empfinde\u201d, oder er gefragt wurde, \u201ewas er in seinem K\u00f6rper empfinde\u201d. Darin liegt ohne Zweifel ein suggestiver Einflu\u00df f\u00fcr Angaben in diesem Gebiet. Doch vielleicht w\u00fcrde Kretschnikoff antworten, diese Fragen seien nur der Beschleunigung des Prozesses wegen gestellt; in den F\u00e4llen, wo sie nicht gestellt seien, sei immer eine Gruppe von organischen Erscheinungen der emotionalen Gruppe \u2014 wenn auch erst nach l\u00e4ngerem Zuwarten :\u2014 vorausgegangen.\nSodann k\u00f6nnte man daran denken, da\u00df bei der Methode von Frank der Halbschlafzustand das Auftreten dieser K\u00f6rperempfindungen gehemmt habe.\nAndrerseits ist zu sagen, da\u00df bei diesen Patienten h\u00e4ufig k\u00f6rperliche Symptome auftreten und da\u00df es, wenn die James-Lange sehe Theorie oder eine Modifikation derselben zu Recht besteht, es nicht verwunderlich sein kann, wenn k\u00f6rperliche Begleiterscheinungen der Affekte den Affekten selbst vorangehen.\nDoch man wird erwidern: Hier gehen die k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der Affekte zum Teil minutenlang den Affekten voran, sie k\u00f6nnen also nicht zu ihnen in unmittelbare kausale Beziehung gesetzt werden. Hier ist aber wieder , zu beachten, da\u00df, solange der Komplex der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen eines Affektes nicht vollst\u00e4ndig geworden ist, der Affekt nat\u00fcrlich nicht auftreten kann.\nBei Anwendung dieser Methode ergab sich, da\u00df die emor tionale Phase einsetzte \u201egerade zur Zeit der st\u00e4rksten \u00c4u\u00dferung k\u00f6rperlicher Manifestationen\u201d1). In diesem Moment ist entweder der Ursachenkomplex f\u00fcr Entwicklung der Affektbewegung vollst\u00e4ndig geworden oder es ist in dies\u00ebm Moment der st\u00e4rkste Impuls zur reproduktiven Erg\u00e4nzung des Ursachenkomplexes gegeben.\nIm \u00fcbrigen ist zu sagen, da\u00df diese Methode sich von der Verwendung d es Traumes zur Psychoanalyse dadurch unterscheidet, da\u00df sie keine hypothetischen hetraci tungs-\n\u00fc 1. e, S. 373. '\t'\t-\t' \u25a0'\t\u2022\t'' '","page":1267},{"file":"p1268.txt","language":"de","ocr_de":"1268\nG. St\u00f6rring\nweisen f\u00fcr Deutung der anftretenden Erscheinungen einf\u00fchrt. Vielleicht ist aber dieser Vorzug kein endg\u00fcltiger; vielleicht finden diese hypothetischen Betrachtungsweisen eine ganz vorz\u00fcgliche Verifikation. Dar\u00fcber werden wir sp\u00e4ter zu entscheiden haben.\nEs bleibt dann aber in jedem Fall der Vorzug vor Verwendung des Traumes, da\u00df hier im Gegensatz zu dort die suggestiven Einfl\u00fcsse in therapeutischer Beziehung ( !), wenn nicht auf Null, so doch auf ein Minimum reduziert sind und somit der Einflu\u00df auf die \u00c4nderung der emotionellen Tatbest\u00e4nde am eindeutigsten hervortritt, so da\u00df also das Verfahren nach dieser Methode dem experimentellen Vorgehen am meisten nahekommt.\n11. Kapitel.\nDie Fehlleistungen.\nDie psychoanalytische Methode tritt uns in weiterer Entwicklung entgegen in der Behandlung der Fehlleistungen und der Tr\u00e4ume von seiten der Psychoanalytiker. Wir fassen zuerst die Behandlung der Fehlleistungen ins Auge.\nDas Versprechen, Verlesen, Verschreiben, Vergessen erscheinen dem diese Funktionen vollziehenden Individuum im allgemeinen als fehlerhafte Funktionen, die unwillk\u00fcrlich vollzogen sind, und vor den psychoanalytischen Untersuchungen wurden sie von den Psychologen allgemein als unwillk\u00fcrlich vollzogene fehlerhafte Leistungen angesehen, die sinnlos sind.\nMan machte sich diese Tatsachen durch das Wirken der allgemeinen Gesetze der Reproduktion verst\u00e4ndlich.\nFreud hat zu zeigen gesucht, da\u00df diese Fehlleistungen im allgemeinen sinnvoll sind, da\u00df sie \u201eErgebnisse der Interferenz von zwei verschiedenen Intentionen\u201d darstellen. Jeder gibt zu, da\u00df der ein Versprechen vollziehende Redner die Intention hat, einen bestimmten Gedanken zum Ausdruck zu bringen. Au\u00dfer dieser Intention soll aber nach Freud noch eine zweite Intention vorliegen, wenn der Redner sich verspricht.\nDiese zweite \u201eIntention\u201d, \u201eAbsicht\u201d kommt dem Redner beim Sprechen nicht zum Bewu\u00dftsein. Freud unterscheidet hier drei F\u00e4lle.\n1.\tDie st\u00f6rende \u201eIntention\u201d, \u201eAbsicht\u201d, \u201eTendenz\u201d ist dem Redner bekannt insofern, als sie fr\u00fcher bei ihm als bewu\u00dfte Absicht auf getreten ist; sie war aber im Moment des Versprechens verdr\u00e4ngt.\n2.\tDie st\u00f6rende \u201eTendenz\u201d, \u201eAbsicht\u201d trat auch vor der Fehlleistung im Seelenleben des Redners nicht als bewu\u00dfter Vor-","page":1268},{"file":"p1269.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1269\ngang auf, aber anf Frage nach dem Yorliegen einer solchen Absicht erkennt der Eedner dieselbe als die seinige.\n3. Im Unterschiede von der Klasse 2 gibt es eine Klasse von F\u00e4llen, in welchen anf Frage nach dem Yorliegen einer solchen Absicht von seiten des Bedners eine entschiedene Ablehnung erfolgt.\nHier \u00e4u\u00dfern sich \u201eIntentionen, von denen er selbst nichts wei\u00df\u201d.\nZur ersten Klasse geh\u00f6rt folgender Fall:\nEs erz\u00e4hlt jemand von irgendwelchen Vorg\u00e4ngen, die er beanstandet nnd f\u00e4hrt fort : \u201eDann aber sind Tatsachen znm Y orsehwein gekommen. . Anf Befragen gibt er an, da\u00df er diese Vorg\u00e4nge als Schweinereien habe bezeichnen wollen, diese Absicht dann aber vor dem Versprechen fallen gelassen zn haben. \u201eVorschein\u201d nnd \u201eSchweinereien\u201d haben das sonderbare \u201eVorschwein\u201d entstehen lassen. Die Absicht, die betreffenden Vorg\u00e4nge als \u201eSchweinereien\u201d zn charakterisieren, ist also verdr\u00e4ngt worden, beim Versprechen hat sich dann aber die verdr\u00e4ngte Absicht doch geltend gemacht.\nAnmerkung. Hierzu sagt nun Freud, indem er sich zun\u00e4chst seihst einen Einwand macht ! \u201eHaben Sie nicht Lust, mir einzuwenden, da\u00df die Auskunft der befragten Person, die das Versprechen geleistet, nicht v\u00f6llig beweiskr\u00e4ftig sei ? Er habe nat\u00fcrlich das Bestreben, meinen Sie, der Aufforderung zu folgen, das Versprechen zu erkl\u00e4ren, und da sagt er eben das erste beste, was ihm einfalle, wenn es ihm zu einer solchen Erkl\u00e4rung tauglich erscheine. Ein Beweis, da\u00df das Versprechen wirklich so zugegangen, sei damit nicht gegeben. Ja, es k\u00f6nne so sein, aber sowohl auch anders. Es h\u00e4tte ihm auch etwas anderes einfallen k\u00f6nnen, was ebensogut und vielleicht besser gepa\u00dft h\u00e4tte? Darauf erwidert Freud folgendes :\n\u201eEs ist merkw\u00fcrdig, wie wenig Respekt Sie im Grunde vor einer psychischen Tatsache haben. Denken Sie sich, jemand habe die chemische Analyse einer gewissen Substanz vorgenommen und von einem Bestandteil derselben ein gewisses Gewicht, soundso viel Gramme, gewonnen. Aus dieser Gewichtsmenge lassen sich bestimmte Schl\u00fcsse ziehen. Glauben Sie nun, da\u00df es einem Chemiker einfallen wird, diese Schl\u00fcsse mit der Motivierung zu bem\u00e4ngeln: die isolierte Substanz h\u00e4tte auch ein anderes Gewicht haben k\u00f6nnen? Jeder beugt sich vor der Tatsache, da\u00df es eben dies Gewicht und kein anderes war, und baut auf ihr zuversichtlich seine weiteren Schl\u00fcsse auf. Nur wenn die psychische Tatsache vorliegt, da\u00df dem Befragten ein bestimmter Einfall gekommen ist, dann lassen Sie das nicht gelten und sagen, es h\u00e4tte ihm auch etwas anderes einfallen k\u00f6nnen! Sie haben aber die Illusion einer psychischen Freiheiten sich und m\u00f6gen auf sie nicht verzichten. Es tut mir leid, da\u00df ich auch hierin in sch\u00e4rfstem Widerspruch zu Ihnen mich befinde.\u201d\nDer Einwand ist wenig bedeutungsvoll, aber die Widerlegung desselben ist unzutreffend. Es wird gesagt, da\u00df kein Wissenschaftler die Tatsache anzweifle, da\u00df ein chemischer Bestandteil einer gewissen Substanz ein gewisses Gewicht habe, w\u00e4hrend manche Wissenschaftler wenig Respekt vor psychischen Tatsachen haben; so hier vor der psychischen Tatsache, \u201eda\u00df dem Befragten ein bestimmter Einfall gekommen ist.\u201d Aber die Tatsache, da\u00df dem Befragten ein bestimmter Einfall gekommen ist, wird als psychische Tatsache ja gar nicht bezweifelt, sondern nur die Behauptung, da\u00df dieser Einfall die richtige Deutung darstelle. Diese Behauptung schlie\u00dft auch nicht die Illusion einer psychischen Freiheit in sich!\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t83","page":1269},{"file":"p1270.txt","language":"de","ocr_de":"1270\nG. St\u00f6rring\nBei der zweiten Gruppe von F\u00e4llen erkennt also der Bedner die betreffende zweite Absiebt als die seinige an; die Absiebt ist aber vor dem Versprechen nicht zum Bewu\u00dftsein gekommen.\nFreud nimmt an, da\u00df sie fr\u00fcher einmal im Bewu\u00dftsein aufgetreten und dann verdr\u00e4ngt worden ist.\nZur ersten und zweiten Klasse der Fehlleistungen rechnet Freud auch diejenigen F\u00e4lle des Vergessens von Kamen, wo der Karne sich auf eine Person bezieht, an die wir nur mit starken Unlustgef\u00fchlen denken. Hier soll stets eine ,,Gegenabsicht\u201d das Vergessen des Kamens bedingen.\nFreud sagt: ,,Es tritt uns hier ein Prinzip entgegen, welches uns sp\u00e4ter seine ganze gro\u00dfartige Bedeutung f\u00fcr die Verursachung neurotischer Symptome enth\u00fcllen wird. Die Abneigung des Ged\u00e4chtnisses, etwas zu erinnern, was mit Unlustempfindungen verkn\u00fcpft war und bei der Beproduktion diese Unlust erneuern w\u00fcrde. Diese Absicht (sic !) zur Vermeidung von Unlust aus der Erinnerung oder anderen psychischen Akten, die psychische Flucht vor der Unlust, d\u00fcrfen wir als wirksame Motive nicht nur f\u00fcr Kamenvergessen, sondern auch f\u00fcr viele andere Fehlleistungen, wie Unterlassungen, Irrt\u00fcmer u. \u00e4. anerkennen1).\u201d\nDie Behauptung Freuds, da\u00df in diesen F\u00e4llen eine ,, Gegenabsicht\u201d das Vergessen bedingt, ist v\u00f6llig verfehlt. In solchen F\u00e4llen, wo jemand sich nicht an den Kamen einer Person erinnern kann, die ihm auf Grund von Erfahrungen mit derselben sehr unsympathisch ist, hat f\u00fcr dieses Vergessen Unlustgef\u00fchle in Anspruch zu nehmen, welche sich mit dem Gedanken an diese Person verbinden, mit dem Gedanken an die Handlungen und den Charakter dieser Person. Diese Unlustgef\u00fchle wirken, wenn sie betr\u00e4chtlich sind und nicht stark aktiv gestaltet sind, hemmend auf die Beproduktion des Kamens dieser Person.\nF\u00fcr die dritte Klasse von F\u00e4llen gibt Freud folgendes Beispiel. Ein Festredner, Assistent eines gefeierten Chefs, fordert die Versammlung auf, ,,auf das Wohl des Chefs auf zusto\u00dfen\u201d. Der Bedner lehnt die Deutung dieses Versprechens, die dahin geht, da\u00df hier die verdr\u00e4ngte Absicht einer Schm\u00e4hung zum Ausdruck komme, mit aller Entschiedenheit ab. Freud sagt in seinen Vorlesungen ,,Meine Deutung schlie\u00dft die Annahme ein, da\u00df sich bei dem Sprecher Intentionen \u00e4u\u00dfern k\u00f6nnen, von denen er selbst nichts wei\u00df, die ich aber aus Indizien erschlie\u00dfen kann. Vor einer so neuartigen und folgenschweren Annahme machen Sie halt. Ich verstehe das und gebe Ihnen insoweit recht.\u201d\nIch selbst habe gegen die Annahme des Wirkens einer solchen Absicht nichts einzuwenden, wo etwa durch Hypnose nach Art\nb Freud: 1. c. S. 74 und 75.","page":1270},{"file":"p1271.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1271\nder F\u00e4lle von Breuer und Freud wahrscheinlich gemacht ist, da\u00df es sich nm einen verdr\u00e4ngten Komplex handelt. Aber von dieser Betrachtungsweise wird hier \u2014 offenbar ans p\u00e4dagogischen Gr\u00fcnden \u2014 abgesehen.\nBei der hier vorliegenden Entwicklung macht nnn Freud eine interessante Bestimmung von methodologischem Charakter, die nns nat\u00fcrlich ganz besonders interessieren mu\u00df.\nStellen wir das eine fest : \u201eW enn Sie dieansovielen Beispielen erh\u00e4rtete Auffassung der Fehlleistungen konsequent durchf\u00fchren wollen, m\u00fcssen Sie sich zu der genannten befremdenden Annahme entschlie\u00dfen. K\u00f6nnen Sie das nicht, so m\u00fcssen Sie auf das kaum erworbene Verst\u00e4ndnis der Fehlleistungen wiederum verzichten1).\u201d\nFreud will sagen: Durch Analyse von F\u00e4llen der ersten und zweiten Klasse ist die Erkenntnis erworben, da\u00df bei Fehlleistungen im allgemeinen \u201eIntention\u201d, \u201eAbsicht\u201d vorliegen, da\u00df es sich also nicht, wie man bisher gemeint hat, um sinnlose Funktionen handelt, sondern, da\u00df neben der deutlich hervortretenden Intention noch eine zweite \u201eIntention\u201d, ein sinnvoller \u201eAkt\u201d, wie er sagt, in der Fehlleistung mit wirkt. Wir geben Freud durchaus recht, wenn er anstatt \u201eim allgemeinen\u201d \u201ein manchen F\u00e4llen\u201d sagte. Mun sagt Freud aber weiter: Wenn man die Annahme der Mitwirkung einer \u201eIntention\u201d nicht auf die F\u00e4lle der dritten Klasse ausdehnt, dann m\u00fcsse man \u201eauf das kaum erworbene Verst\u00e4ndnis der Fehlleistungen wiederum verzichten\u201d, man m\u00fcsse die an vielen F\u00e4llen best\u00e4tigte Auffassung \u201ekonsequent durchf\u00fchren\u201d. In diesem Punkte k\u00f6nnen wir Freud gar nicht zustimmen. Mit einer solchen \u201ekonsequenten\u201d Durchf\u00fchrung tut Freud den Tatsachen Zwang an, geradeso wie in der Weltanschauungslehre das Argument, das man auch gegenw\u00e4rtig noch h\u00e4ufig findet, sogar bei Autoren wie Ernst Mach und Max Y er worn, eine bestimmte Auffassung sei monistisch, deshalb sei sie jeder anderen vorzuziehen, methodologisch v\u00f6llig verfehlt ist2). Es ist hier doch nicht einzusehen, weshalb nicht in der ersten und zweiten Klasse von F\u00e4llen die Mitwirkung einer zweiten Intention ganz oder teilweise zugegeben werden soll, in der dritten Klasse von F\u00e4llen aber nicht.\nAn einer anderen Stelle verteidigt Freud die Vertretung dieser Annahme in folgender Weise:\n\u201eEs w\u00e4re ein Irrtum zu glauben, da\u00df eine Wissenschaft aus lauter streng bewiesenen Lehrs\u00e4tzen besteht, und ein Unrecht,\nq 1. c. S. 61.\n2) St\u00f6rring: Logik. 294 ff.\n83*","page":1271},{"file":"p1272.txt","language":"de","ocr_de":"1272\nG. St\u00f6rring\nsolches zu fordern. Diese Forderung erhebt nur ein autorit\u00e4ts-s\u00fcchtiges Gem\u00fct, welches das Bed\u00fcrfnis hat, seinen religi\u00f6sen Katechismus durch einen anderen, wenn auch wissenschaftlichen, zu ersetzen. Die Wissenschaft hat in ihrem Katechismus nur wenige apodiktische S\u00e4tze, sonst Behauptungen, die sie bis zu gewissen Stufengraden von Wahrscheinlichkeit gef\u00f6rdert hat. Es ist geradezu ein Zeichen von wissenschaftlicher Denkungsart, wenn man an diesen Anregungen an die Gewi\u00dfheit sein Gen\u00fcge finden und die konstruktive Arbeit trotz der mangelnden letzten Bekr\u00e4ftigungen fortsetzen kann.\nWoher nehmen wir aber die Anhaltspunkte f\u00fcr unsere Deutungen, die Indizien f\u00fcr unseren Beweis im Falle, da\u00df die Aussage des Analysierten den Sinn der Fehlleistung nicht selbst aufkl\u00e4rt? Yon verschiedenen Seiten her. Zun\u00e4chst aus der Analogie mit Ph\u00e4nomen au\u00dferhalb der Fehlleistungen, z. B. wenn wir behaupten, da\u00df das Kamenentstellen als Versprechen denselben schm\u00e4henden Sinn hat wie das absichtliche Ra menver drehen. Sodann aber aus der psychischen Situation, in welcher sich die Fehlleistung ereignet, aus unserer Kenntnis des Charakters der Person, welche die Fehlhandlung begeht und der Eindr\u00fccke, welche diese Person vor der Fehlleistung betroffen haben, auf die sie m\u00f6glicherweise mit dieser Fehlleistung reagiert. In der Pegel geht es so vor sich, da\u00df wir nach allgemeinen Grunds\u00e4tzen die Deutung der Fehlleistung vollziehen, die also zun\u00e4chst nur eine Vermutung, ein Vorschlag zur Deutung ist und uns dann die Best\u00e4tigung aus der Untersuchung der psychischen Situation holen. Manchmal m\u00fcssen wir auch kommende Ereignisse abwarten, welche sich durch die Fehlleistung gleichsam angek\u00fcndigt haben, um unsere Vermutung bekr\u00e4ftigt zu finden.\u201d\nWas die hier vorliegenden methodologischen Bestimmungen Freuds \u00fcber S\u00e4tze der Wissenschaft betrifft, die nicht streng bewiesen sind \u2014 wir wollen diese S\u00e4tze Hypothesen nennen \u2014 so ist es zun\u00e4chst nicht ang\u00e4ngig, sich auf Analogien zu st\u00fctzen. Analogiebetrachtungen haben gro\u00dfe heuristische Bedeutung f\u00fcr das Aufstellen von Hypothesen, dienen aber nicht zu ihrer Rechtfertigung1). Berechtigt ist nat\u00fcrlich die Forderung f\u00fcr unsere F\u00e4lle, die Best\u00e4tigung von Hypothesen sich aus dem Charakter der betreffenden Personen und zugleich aus der Situation, in der sie sich in dem in Betracht kommenden Moment befinden, zu holen. Aber da ist dann zu betonen, da\u00df das kolossal komplexe Tatbest\u00e4nde sind, die wir meist zu wenig \u00fcbersehen, als da\u00df wir in der Lage w\u00e4ren, jeden\n1) St\u00f6rring: Logik. S. 271 ff.","page":1272},{"file":"p1273.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1273\neinzelnen Fall von Fehlleistung kausal mit einiger Wahrscheinlichkeit verst\u00e4ndlich zu machen. F\u00fcr kausale Feststellung kommt in Betracht der Weg von der Ursache zur Wirkung, der progressive Weg der Bestimmung, und der Weg von der Wirkung zur Ursache, der regressive Weg. Wundt hat die Behauptung aufgestellt, da\u00df der Komplexit\u00e4t des psychischen Geschehens einer Einzelpers\u00f6nlichkeit wegen der Weg von der Ursache zur Wirkung, der progressive Weg, nicht gangbar sei. Man mu\u00df beachten, da\u00df, auch wenn man alle psychischen Gesetze k\u00f6nnte, dieser Weg deshalb noch nicht gangbar w\u00e4re, weil man mit denselben doch noch nicht alle einzelnen psychischen Faktoren kennt, welche bei einem bestimmten Menschen in einem bestimmten Moment real sind !\nIch habe a. a. O. gezeigt, da\u00df der Weg von der Ursache zur Wirkung, allerdings unter gewissen Bedingungen, gangbar ist, aber auch nur in diesen exzeptionellen F\u00e4llen1).\nEs bleibt dann der Weg von der Wirkung zur Ursache. Aber auch dieser Weg f\u00fchrt uns nicht immer zum Ziel. Voraussetzung f\u00fcr den Erfolg auch bei Kenntnis der allgemeinen Gesetze ist, da\u00df die bei einem bestimmten Individuum in einem bestimmten Zeitpunkt ablaufenden psychischen Vorg\u00e4nge nur eine relativ geringe Zahl sich \u00fcbereinander lagernder Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten aufweisen. Ich spreche hier von der Voraussetzung f\u00fcr die kausale Aufl\u00f6sung eines komplexen psychischen Einzelgeschehens. Diese Voraussetzung ist nat\u00fcrlich eine ganz andere als die Voraussetzung f\u00fcr die Aufdeckung allgemein psychischer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten. Hierf\u00fcr ist die Voraussetzung, da\u00df wir es mit sogenannten \u201ereinen\u201c F\u00e4llen zu tun haben, mit F\u00e4llen, in denen eine Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit in die Erscheinung tritt, ohne von einer anderen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit \u00fcberdeckt zu sein.\nUng\u00fcnstiger stellt sich nat\u00fcrlich noch die M\u00f6glichkeit der kausalen Erfassung eines komplexen psychischen Geschehens in dem Fall, den Freud setzt, da\u00df unbewu\u00dfte Absichten (und andre unbewu\u00dfte Faktoren) eine bestimmende Bolle im psychischen Leben spielen !\nFreud spricht in diesen allgemeinen methodologischen Bestimmungen auch von V erifikation von Vermutungen aus der Untersuchung der psychischen Situation und gibt dann eine Beihe von \u201eBelegen\u201d.\nEiner der angef\u00fchrten Belege lautet:\n\u201eEine Dame erkundigt sich bei ihrem Arzt nach einer gemeinsamen Bekannten, nennt sie aber bei ihrem M\u00e4dchennamen. Den in der Heirat angenommenen Kamen hat sie vergessen. Sie gesteht\n1) St\u00f6rring: Logik. S. 326.","page":1273},{"file":"p1274.txt","language":"de","ocr_de":"1274\nG. St\u00f6rring\ndann zu, da\u00df sie mit der Heirat sehr nnznfrieden war nnd den Mann dieser Freundin nicht leiden konnte.\u201d\nHier macht es sich Freud mit der Verifikation offenbar zu leicht. In diesem Fall ergibt sich jedenfalls \u201eaus der psychischen Situation\u201d, da\u00df beim Gedanken an die betreffenden Personen TTnlustgefiihle st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t vorhanden sind. Diese sind hier causa vera, denn sie sind als Tatsache anznsehen nnd sie sind nach unseren fr\u00fcheren Entwicklungen in der Richtung der Hemmung der Kamenreproduktion wirksam. Aus der gegebenen \u201epsychischen Situation\u201c heraus ergibt sich aber keineswegs mit Sicherheit das Wirken einer verdr\u00e4ngten Absicht.\nDa\u00df Freud sich der hier vorliegenden Schwierigkeiten nicht klar bewu\u00dft gewesen ist, sieht man auch daraus, da\u00df er nach seinen Untersuchungen \u00fcber die Rolle der \u201eIntentionen\u201d bei Fehlleistungen der Klasse I und II und seiner sehr anfechtbaren Diskussion \u00fcber die F\u00e4lle von Klasse III sich zu folgender Stellungnahme aufzuschwingen imstande ist: \u201eSie k\u00f6nnen an diesem Beispiel (der Behandlung der Fehlleistungen) ersehen, welches die Absichten unserer Psychologie sind. Wir wollen die Erscheinungen nicht blo\u00df beschreiben und klassifizieren, sondern sie als Anzeichen eines Kr\u00e4ftespie1es in der Seele begreifen als \u00c4u\u00dferung von zielstrebigen Tendenzen, die zusammen oder gegeneinander arbeiten. Wir bem\u00fchen uns um eine dynamische Auffassung der seelischen Erscheinungen. Die wahrgenommenen Ph\u00e4nomene m\u00fcssen in unserer Auffassung gegen die nur angenommenen Strebungen zur\u00fccktreten.\u201c\nHier ist die Auffassung sehr nahe gelegt, da\u00df Freud in letzter Linie die Absicht hat, den Versuch zu machen, ob sich nicht das psychische Geschehen als ein sinnvolles Geschehen konstruktiv deuten lasse, und zwar nicht blo\u00df das psychische Geschehen in Urteilen und Willensakten, sondern alles psychische Geschehen, auch ein von ihm angenommenes unbewu\u00dftes! Diese unsere mi\u00dftrauische Vermutung wollen wir im folgenden nicht ganz aus den Augen verlieren.\n12. Kapitel.\nPsychoanalyse der Tr\u00e4ume.\nFreud macht bei Behandlung der Psychoanalyse des Traumes zwei Voraussetzungen. Einmal setzt er voraus, da\u00df die Tr\u00e4ume sinnvoll sind. \u201eW ir arbeiten also unter der Vor-","page":1274},{"file":"p1275.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1275\naussetzung, es sei wirklich, um zu sehen, was dabei herauskommt. Sodann macht Freud bei Behandlung der Psychoanalyse des Traumes die Voraussetzung, da\u00df der Tr\u00e4umer wei\u00df, was sein Traum bedeutet, obgleich er sagt, er wisse es nicht, nur wei\u00df er nicht, da\u00df er es wei\u00df und glaubt dann, da\u00df er es nicht wei\u00df.\u201d Wir sehen uns zun\u00e4chst die erste Voraussetzung vom Standpunkte der Methodologie kritisch an.\nWenn Freud die Voraussetzung macht, da\u00df die Tr\u00e4ume sinnvoll sind und dies Vorgehen damit rechtfertigt, da\u00df er sagt, wir arbeiten mit dieser Voraussetzung, um zu sehen, was dabei h e r a u s k o m m t, so ist zu sagen, da\u00df diese Methode des Vorgehens ungeh\u00f6rig ist.\nDas ist ein Verfahren, wie man es h\u00e4ufig bei wenig exakten Philosophen, besonders auf dem Gebiete der Metaphysik, findet. Dagegen ist zun\u00e4chst geltend zu machen, da\u00df dann immer noch die M\u00f6glichkeit bleibt, da\u00df die Erkl\u00e4rung der betreffenden Tatsachen unter Annahme einfacherer und wahrscheinlicherer Bedingungen gegeben werden kann.\nDas Benehmen des Jagdhundes auf der Jagd kann man sich verst\u00e4ndlich machen unter der Annahme, da\u00df er Denkprozesse und im speziellen Schlu\u00dfprozesse im eigentlichen Sinne vollzieht. Man kann das Verhalten desselben aber auch unter der Annahme verstehen, da\u00df hier keine Denkprozesse, sondern nur Reproduktionsprozesse vorliegen.\nSodann ist beim Arbeiten unter einer Voraussetzung zur kausalen Erkl\u00e4rung einer Tatsachengruppe und bei dem nachfolgenden Schlu\u00df: die Deutung der Tatsachen gelingt unter dieser Voraussetzung, also ist die Voraussetzung richtig, zu beachten, da\u00df bei diesem Vorgehen das Herausheben der anderen M\u00f6glichkeiten der Deutung und dann das Abw\u00e4gen der einzelnen M\u00f6glichkeiten g e g e n e i n a n d e r fehlt!\nWeiter kommt bei diesem Verfahren der Unterschied zwischen Verwendung von causae verae und causae fictae1) gar nicht zur Geltung. Die Erkl\u00e4rung von Tatbest\u00e4nden durch eine Annahme, welche sich als causa vera nachweisen l\u00e4\u00dft, hat nat\u00fcrlich viel mehr Wahrscheinlichkeit als eine Annahme, welche eine blo\u00dfe causa ficta ist, die sich nicht als real erweisen l\u00e4\u00dft.\nFreud macht die weitere Voraussetzung, da\u00df der Tr\u00e4umer wei\u00df, was der Traum bedeutet, obgleich er sagt, er wisse es nicht.\nx) Storfing: Logik. S. 280 ff.","page":1275},{"file":"p1276.txt","language":"de","ocr_de":"1276\nG. St\u00f6rring\nBez\u00fcglich dieser Voraussetzung behauptet Freud, sie sei bereits auf einem anderen Gebiete als berechtigt erwiesen und nun sagt Freud : \u201eIch nehme mir die Freiheit, sie von dorther auf unsere Probleme zu \u00fcbertragen1).\u201d\nDer Beweis soll auf dem Gebiet der hypnotischen Erscheinungen gemacht sein. Freud erz\u00e4hlt von den Vorlesungen Bernheims, ein Hypnotisierter, dem viele Suggestionen gegeben waren, habe nach dem Erwachen behauptet, nichts von den ganzen Suggestionen zu wissen. Auf die Versicherung des Hypnotiseurs hin, da\u00df er es doch wisse, sei dann eine Suggestion nach der anderen reproduziert worden und die Erinnerung daran entwickelt. Freud sagt nun: ,,Also ist der Schlu\u00df berechtigt, da\u00df er um diese Erinnerungen auch vorher gewu\u00dft hat.\u201d\n\u00dcbertr\u00e4gt man nun diese und \u00e4hnliche Erfahrungen bei Hypnose auf den Fall des Tr\u00e4umers, so kommt man nach Freud zu der Position, da\u00df der Tr\u00e4umer wei\u00df, was seine Tr\u00e4ume bedeuten, auch wenn er sagt und glaubt, da\u00df er es nicht wei\u00df.\nWir haben nun die methodologische Frage zu beantworten, was es mit dieser \u201e\u00dcbertragung\u201d oder, wie der Autor meist sagt, mit dieser ,,Analogie\u201d-Betrachtung auf sich hat. Wir haben schon in anderem Zusammenhang ausf\u00fchrlich entwickelt, da\u00df eine Analogiebetrachtung uneingeschr\u00e4nkte Berechtigung habe, wo ihr nur heuristischer Wert beigemessen wird, da\u00df eine Analogiebetrachtung aber wenig besagen wird, wenn man auf eine Analogie da rekurriert, wo man eine Behauptung \u00fcber Realit\u00e4ten aufstellt.\nDie Analogieschl\u00fcsse sind n\u00e4mlich von sehr verschiedenem Wahrscheinlichkeitswerte, von einer fast auf Null zur\u00fcckgehenden Wahrscheinlichkeit und von einer wissenschaftlich diskutablen. Wenn das Rekurrieren auf Analogie f\u00fcr eine Behauptung \u00fcber Realit\u00e4t Bedeutung haben soll, mu\u00df eine n\u00e4here Bestimmung \u00fcber den Grad der Wahrscheinlichkeit derselben gemacht werden. Es l\u00e4\u00dft sich zeigen, da\u00df dazu n\u00f6tig ist, den in der Analogiebetrachtung liegenden Induktionsschlu\u00df herauszuholen und sei n e Wahrscheinlichkeit zu bestimmen2).\nWir finden aber bei Freud sehr h\u00e4ufig das Rekurrieren auf Analogie in F\u00e4llen von Behauptungen \u00fcber Realit\u00e4ten, ohne da\u00df \u00fcber den Charakter dieser Analogie N\u00e4heres ausgemacht wird.\nIn unserem Falle werden Erfahrungen bei Hypnotisierten auf den Tr\u00e4umer \u201e\u00fcbertragen\u201d. Wer sagt mir, ob nicht der Hypnotisierte mehr wei\u00df als der Tr\u00e4umer? Findet sich beim Hypnotisierten eine Dissoziation des Bewu\u00dftseins, wie sie der Tr\u00e4umer aufweist ? \u2014\n1)\tFreud: 1. c. S. 104.\n2)\tSt\u00f6rring: Logik. S. 277 ff.","page":1276},{"file":"p1277.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\nMach Fixierung dieser Voraussetzungen macht sich nnn Freud an die psychoanalytische Untersuchung des Trahmes und verwendet f\u00fcr diese Untersnchnng zun\u00e4chst die sogenannte Assoziationsmethode.\nF\u00fcr die Untersuchung der Traumgebilde ist die Assoziationsmethode der experimentellen Psychologie zuerst von Bleuler und Freud verwendet.\nSie bieten die Worte f\u00fcr die einzelnen Vorstellungen und Teilgedanken des Traumes als Reizworte dar und lassen angeben, welche Vorstellungen und Gedanken sich an die Wahrnehmung dieser Eeizworte anschlie\u00dfen. Dabei lassen sie auch Reihen von \u201eAssoziationen\u201d oder besser \u201eReproduktionen\u201d bieten, indem sie nicht nur die Vorstellungen und Gedanken angeben lassen die sich unmittelbar an ein Reizwort anschlie\u00dfen, : sondern auch Vorstellungen und Gedanken, die wieder durch die zuerst aufgetretenen Vorstellungen und Gedanken reproduktiv ausgel\u00f6st werden usw.\t\u25a0\t._>\nEs wird so bez\u00fcglich eines konkreten Traumes ein gro\u00dfes Reproduktionsmaterial gewonnen. Und nun hat sich herausgestellt, da\u00df die Gestaltung dieses R e-p r o d u k t i o n s m a t e r i a 1 s in manchen F\u00e4llen nur so verst\u00e4ndlich gemacht werden kann, da\u00df man annimmt, es sei in diesen Reproduktionen ein gewisser Komplex wirksam.\nWir anerkennen diese Betrachtungsweise und werden sp\u00e4ter den Wahrscheinlichkeitsgrad derselben zu bestimmen suchen.\nIst die Behauptung gerechtfertigt, da\u00df in manchen Tr\u00e4umen Komplexe wirksam sind, so versteht man die von den Psychoanalytikern vollzogene Unterscheidung von manifestem Trauminhalt und latentem Trauminhalt. Freud sagt : \u201eWir wollen das, was der Traum erz\u00e4hlt, den manifesten Trauminhalt nennen, das Verborgene, zu dem wir durch die Ver-folgung der Einf\u00e4lle kommen sollen, die latenten Traumgedanken.\u201d\nWenn man von einem verdr\u00e4ngten \u201eKomplex\u201d in dem Sinne spricht, da\u00df es sich um miteinander verbundene verdr\u00e4ngte psychische Vorg\u00e4nge handelt, von denen die intellektuellen Unterlagen infolge von Verdr\u00e4ngung nicht zur Reproduktion gelangen k\u00f6nnen, so ist zu sagen, da\u00df die lateralen Traumgedanken nicht blo\u00df solche \u201eKomplexe\u201d betreffen, sondern auch \u201eKomplexe\u201d in einem weiteren Sinne : solche miteinander verbundene psychische Vorg\u00e4nge, deren Reproduktion auf Widerst\u00e4nde, Hemmungen emotioneller Art st\u00f6\u00dft, ohne da\u00df dadurch die Reproduktion ausgeschlossen ist.\t,\t, ,","page":1277},{"file":"p1278.txt","language":"de","ocr_de":"1278\nG-. St\u00f6rring\nBez\u00fcglich der Deutung des Traumes gibt Freud zun\u00e4chst folgende allgemeine Regeln:\n1.\t\u201eMan k\u00fcmmere sich nicht um das, was der Traum zu besagen scheint, sei er verst\u00e4ndig oder absurd, klar oder verworren, da es doch auf keinen Fall das von uns gesuchte Unbewu\u00dfte ist.\n2.\tMan beschr\u00e4nke die Arbeit darauf, zu jedem Element die Ersatzvorstellungen zu erwecken, denke nicht \u00fcber sie nach, pr\u00fcfe sie nicht, ob sie etwas Passendes enthalten, k\u00fcmmere sich nicht darum, wie weit sie vom Traumelement abf\u00fchren.\n3.\tMan warte ab, bis sich das verborgene, gesuchte Unbewu\u00dfte von selbst eins teilt1).\u201d\nIch gebe einen interessanten Fall Freud&cher Traumdeutung.\n\u201eEine junge, aber schon seit vielen Jahren verheiratete Frau tr\u00e4umt : Sie sitzt mit ihrem Manne im Theater, eine Seite des Parketts ist ganz unbesetzt. Ihr Mann erz\u00e4hlt ihr, Elise L. und ihr Br\u00e4utigam h\u00e4tten auch gehen wollen, h\u00e4tten aber nur schlechte Sitze bekommen, drei f\u00fcr 1 fl. 50 kr., und die konnten sie ja nicht nehmen. Sie meinte, es w\u00e4re auch kein Ungl\u00fcck gewesen.\u201d\nHierzu gibt Freud folgende Feststellungen und Deutungen: ,Ihr Mann hatte ihr wirklich erz\u00e4hlt, da\u00df Elise L., eine ungef\u00e4hr gleichaltrige Bekannte, sich jetzt verlobt hat. Der Traum ist die Reaktion auf diese Mitteilung. Wir wissen bereits, da\u00df es f\u00fcr viele Tr\u00e4ume leicht wird, einen solchen Anla\u00df am Vortage f\u00fcr sie nachzuweisen, und da\u00df diese Herleitungen von Tr\u00e4umen oft ohne Schwierigkeiten angegeben werden. Ausk\u00fcnfte derselben Art stellt uns die Tr\u00e4umerei auch f\u00fcr andere Elemente des manifesten Traumes zur Verf\u00fcgung. Woher das Detail, da\u00df eine Seite des Parketts unbesetzt ist ? Es ist eine Anspielung auf eine nahe Begebenheit der vorigen Woche. Sie hatte sich vorgenommen, in eine gewisse Theatervorstellung zu gehen, und darum fr\u00fchzeitig Karten genommen, so fr\u00fch, da\u00df sie Vorverkaufs geb\u00fchr zahlen mu\u00dfte. Als sie ins Theater kamen, zeigte es sich, wie \u00fcberfl\u00fcssig ihre Sorge gewesen war, denn eine Seite des Parketts war fast leer. Es w\u00e4re Zeit gewesen, wenn sie die Karten am Tage der Vorstellung selbst gekauft h\u00e4tte. Ihr Mann unterlie\u00df es auch nicht, sie wegen dieser Voreiligkeit zu necken. Woher die 1 fl. 50 kr. ? Aus einem anderen Zusammenhang, der mit dem vorigen nichts zu tun hat, aber gleichfalls auf eine Kach-richt vom letzten Tage anspielt. Ihr Schw\u00e4gerin hatte von ihrem Manne die Summe von 150 fl. zum Geschenk bekommen und hatte nichts Eiligeres zu tun, die dumme Gans, als zum Juwelier zu laufen und das Geld gegen ein Schmuckst\u00fcck einzutauschen. Woher die Drei? Dazu wei\u00df sie nichts, wenn man nicht etwa den\nb 1. c. S. 116.","page":1278},{"file":"p1279.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1279\nEinfall gelten lassen will, da\u00df die Brant, Mise L., nm drei Monate j\u00fcnger ist als sie, die seit fast zehn Jahren verheiratete Fran. Und der Unsinn, da\u00df man drei Karten nimmt, wenn man nnr zu zweien ist ? Dazu sagt sie nichts, verweigert \u00fcberhaupt alle weiteren Einf\u00e4lle nnd Ausk\u00fcnfte.\nSie hat uns aber doch so viel Material in ihren wenigen Einf\u00e4llen zugetragen, da\u00df daraus das Erraten der latenten Traumgedanken m\u00f6glich wird. Es mu\u00df uns auffallen, da\u00df in ihren Mitteilungen zum Traum an mehreren Stellen Zeitbestimmungen hervortreten, die eine Gemeinsamkeit zwischen verschiedenen Partien dieses Materials begr\u00fcnden. Sie hat die Eintrittskarten ins Theater zu fr\u00fch besorgt, voreilig genommen, so da\u00df sie sie \u00fcberzahlen mu\u00dfte; die Schw\u00e4gerin hat sich in \u00e4hnlicher Weise beeilt, ihr Geld zum Juwelier zu tragen, um sich einen Schmuck daf\u00fcr zu kaufen, als ob sie es vers\u00e4umen w\u00fcrde. Mehmen wir zu dem so betonten \u201ez u f r \u00fc h\u201d, \u201ev o r e i 1 i g\u201d, die Veranlassung des Traumes hinzu, die Machricht, da\u00df die nur um drei Monate j\u00fcngere Freundin jetzt doch einen t\u00fcchtigen Mann bekommen hat, und die in dem Schimpf auf die Schw\u00e4gerin ausgedr\u00fcckte Kritik, es sei unsinnig, sich so zu \u00fcbereilen, so tritt uns wie spontan folgende Konstruktion der latenten Traumgedanken entgegen, f\u00fcr welche der manifeste Traum ein arg entstellter Ersatz ist5:\n\u201eEs war doch ein Unsinn von mir, mich mit der Heirat so zu beeilen ! An dem Beispiel der Mise sehe ich, da\u00df ich auch noch sp\u00e4ter einen Mann bekommen h\u00e4tte.\u201d (Die \u00dcbereilung dargestellt durch ihr Benehmen beim Kartenkauf und das der Schw\u00e4gerin beim Schmuckeinkauf. F\u00fcr das Heiraten tritt als Ersatz das Theatergehen ein.) Das w\u00e4re der Hauptgedanke; vielleicht k\u00f6nnen wir fortsetzen, obwohl mit geringerer Sicherheit, weil die Analyse an diesen Stellen auf \u00c4u\u00dferungen der Tr\u00e4umerin nicht h\u00e4tte verzichten sollen: \u201eUnd einen hundertmal besseren h\u00e4tte ich f\u00fcr das Geld bekommen !\u201d (150 fl. ist hundertmal mehr als 1 fl. 50 kr.) Wenn wir f\u00fcr das Geld die Mitgift einsetzen d\u00fcrften, so hie\u00dfe es, da\u00df man sich den Mann durch die Mitgift erkauft; sowohl der Schmuck wie auch die schlechten Karten st\u00e4nden au Stelle des Mannes. Koch erw\u00fcnschter w\u00e4re es, wenn gerade das Element ,drei Karten\u2019 etwas mit einem Manne zu tun h\u00e4tte. Aber so weit reicht unser Verst\u00e4ndnis noch nicht. Wir haben nur erraten, der Traum dr\u00fcckt die Geringsch\u00e4tzung ihres Mannes und das Bedauern, so fr\u00fch geheiratet zu haben, aus.\nMein Urteil ist, da\u00df wir von dem Ergebnis dieser ersten Traumdeutung mehr \u00fcberrascht und verwirrt als befriedigt sein werden. Beeilen wir uns, herauszugreifen, was wir als gesicherte neue Einsicht erkennen.","page":1279},{"file":"p1280.txt","language":"de","ocr_de":"1280\nG. St\u00f6rring\nErstens: Es ist merkw\u00fcrdig, in den latenten Gedanken f\u00e4llt der Hanptakzent auf das Element der Voreiligkeit; im manischen Traum ist gerade davon nichts zu finden. Ohne die Analyse h\u00e4tten wir keine Ahnung haben k\u00f6nnen, da\u00df dieses Moment irgendeine Bolle spielt. Es scheint also m\u00f6glich, da\u00df gerade die Hauptsache, das Zentrale des unbewu\u00dften Gedankens, im manifesten Traum ausbleibt. Dadurch mu\u00df der Eindruck des ganzen Traumes gr\u00fcndlich verwandelt werden.\nZweitens : Im Traum findet sich eine unsinnige Zusammenstellung, drei f\u00fcr 1 fl. 50 kr. ; in den Traumgedanken ersehen wir den Satz: Es war ein Unsinn (so fr\u00fch zu heiraten). Kann man es ab weisen, da\u00df dieser Gedanke, ,,es war ein Unsinn,\u201d gerade durch die Aufnahme eines absurden Elementes in dem manifesten Traum dargestellt wird ?\nDrittens: Ein vergleichender Blick lehrt, da\u00df die Beziehung zwischen manifesten und latenten Elementen keine einfache ist, keineswegs von der Art, da\u00df immer ein manifestes Element ein latentes ersetzt. Es mu\u00df vor allem eine Massenbeziehung zwischen beiden Lagern sein, innerhalb deren ein manifestes Element mehrere latente vertreten, aber ein latentes durch mehrere manifeste ersetzt sein kann.\nWas den Sinn des Traumes und das Verhalten der Tr\u00e4umerin zu ihm betrifft, w\u00e4re gleichfalls viel \u00dcberraschendes zu sagen. Sie hat nicht gewu\u00dft, da\u00df sie ihren Mann so gering sch\u00e4tzt; sie anerkennt wohl die Deutung, aber sie wundert sich \u00fcber sie; sie wei\u00df auch nicht, warum sie ihn so gering sch\u00e4tzen sollte1).\nEs liegt hier also, was den latenten Traumgedanken anlangt, ein ,, Komplex\u201d in dem von uns oben n\u00e4her bezeichneten weiteren Sinne des Wortes vor. Der Kern desselben sind die Gedanken: \u201eEs war doch ein Unsinn von mir, mich mit der Heirat so zu beeilen! An dem Beispiel der Mise sehe ich, da\u00df ich auch sp\u00e4ter einen Mann bekommen h\u00e4tte.\u201d\nWas die Beziehung des manifesten zum latenten Trauminhalt betrifft, so sagt Freud dar\u00fcber, da\u00df die Bilder des manifesten Trauminhaltes der ,,Absicht des Verbergen s\u201d dienen2).\nWenn man unter einem reflexionspsychologischen Irrtum eine psychologische Auffassung versteht, bei welcher in einen psychologisch zu charakterisierenden psychischen Tatbestand [Reflexionen hineingetragen werden, die in demselben nicht vorhanden sind \u2014 wie das z. B. im Falle der psychologischen Auffassung der Verfahrungsweisen des Jagdhundes von seiten\nx) 1. c. S. 127 ff.\n2) Freud: 1. c. S. 127.","page":1280},{"file":"p1281.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t128J\ndes J\u00e4gers geschieht \u2014 so liegt hier ein reflexionspsychologischer Irrtum vor: Wenn auch die soeben besprochene Tr\u00e4umerin vielleicht an den latenten Kerngedanken die Absicht angeschlossen hat, diesen Gedanken aus dem Bewu\u00dftsein zu verdr\u00e4ngen, so hat sich doch der manifeste Trauminhalt ohne die Absicht gestaltet, den Gedanken des latenten Trauminhaltes zu verbergen; der manifeste Trauminhalt ist vielmehr, wie sich uns zeigen wird, durch mechanische Reproduktionsprozesse auf Grund des latenten Trauminhaltes zur Entwicklung gekommen.\nHier macht sich die fr\u00fcher kritisch-methodologisch von uns besprochene Voraussetzung des Verfassers geltend, da\u00df das Traumgeschehen sinnvoll gestaltet ist, und zugleich seine allgemeine \u201edynamische\u201d Auffassung der seelischen Erscheinungen, wonach wir es, wie wir bei Behandlung der Fehlleistungen h\u00f6rten, beim psychischen Geschehen mit Faktoren zu tun haben, die \u00c4u\u00dferungen von \u201ezielstrebigen\u201d Tendenzen sind.\nEs wird sich uns zeigen, da\u00df nicht alles Traumgeschehen von verdr\u00e4ngten Komplexen abh\u00e4ngt, da\u00df das nicht von verdr\u00e4ngten Komplexen abh\u00e4ngige Traumgeschehen im allgemeinen sinnlos ist, auf mechanischen Reproduktionsprozessen beruhend. Wo aber \u201eKomplexe\u201d vorliegen, in denen (verdr\u00e4ngte) Gedanken stecken, die eine Bedeutung haben und deshalb sinnvoll genannt werden k\u00f6nnen, da gestaltet sich doch die Bildung des manifesten Trauminhaltes auf Grund des sinnvollen latenten Trauminhaltes auf sinnlose Weise, eben durch einfache Reproduktionsprozesse. \u2014-\nFreud1) l\u00e4\u00dft bei Gestaltung des manifesten Trauminhaltes aus dem latenten die \u201eTraumzensur\u201d eine dominierende Rolle spielen. Zur n\u00e4heren Bestimmung dieses Begriffes sagt Freud: \u201eDie Tendenzen, welche die Zensur aus\u00fcben, sind solche, welche vom wachen Urteil des Tr\u00e4umenden anerkannt werden, mit denen er sich einig f\u00fchlt.\u201d Unter Zensur werden in der Gestaltung des manifesten Traumes wirksame Hemmungen verstanden.\nDie zensurierten und im Traum zu einem \u201eentstellten\u201d Ausdruck gelangten W\u00fcnsche sind vor allem \u00c4u\u00dferungen eines schranken- und r\u00fccksichtslosen \u201eEgoismus\u201d. Freud gibt daf\u00fcr folgende Charakterisierung : \u201eDas aller ethischen Fesseln entledigte Ich wei\u00df sich einig mit allen Anspr\u00fcchen des Sexuallebens, solchen, die l\u00e4ngst von unserer \u00e4sthetischen Erziehung verurteilt worden sind, und solchen, die allen sittlichen Beschr\u00e4nkungsformen widersprechen. Das Luststreben \u2014 die Libido, wie wir sagen \u2014 w\u00e4hlt ihre Objekte hemmungslos, und zwar die ver-\n1) Freud: 1. c. S. 152.","page":1281},{"file":"p1282.txt","language":"de","ocr_de":"1282\nG. St\u00f6rring\nbotenen am liebsten. Nicht nnr das Weib des anderen, sondern vor allem inzestu\u00f6se, dnrch menschliche \u00dcbereinkunft geheiligte Objekte, die Mntter nnd Schwester beim Manne, den Yater nnd den Bruder beim Weibe . . ., Gef\u00fchle, die wir ferne von der menschlichen Natur glauben, zeigen sich stark genug, Tr\u00e4ume zu erregen. Auch der Ha\u00df tobt sich schrankenlos aus. Bache und Todesw\u00fcnsche gegen die n\u00e4chststehenden, im Leben geliebtesten Personen, die Eltern, Geschwister, den Ehepartner, die eigenen Kinder sind nichts Ungew\u00f6hnliches. Diese zensurierten W\u00fcnsche scheinen aus einer wahren H\u00f6lle aufzusteigen; keine Zensur scheint uns nach der Deutung im Wachen hart genug gegen sie zu sein 1).\u201d\nBevor wir im einzelnen auf die Beziehung zwischen dem manifesten und latenten Trauminhalt eingehen, wollen wir noch eine allgemeine Bestimmung \u00fcber den Traum machen. In jedem Traume haben wir es nach Freud mit einem unerf\u00fcllten Wunsche zu tun.\nDas tritt am deutlichsten hervor in den Kindertr\u00e4umen. Ich gebe einen Kindertraum:\n,,Ein 51/4j\u00e4hriger Knabe wird auf einen Ausflug ins Escherntal bei Hallstatt mitgenommen. Er hatte geh\u00f6rt, Hallstatt liege am Fu\u00dfe des Dachsteins. F\u00fcr diesen Berg hatte er viel Interesse bezeugt. Yon der Wohnung in Aussee war der Dachstein sch\u00f6n zu sehen und mit dem Fernrohr konnte man die Simonyh\u00fctte auf demselben sehen. Das Kind hatte sich wiederholt bem\u00fcht, sie durchs Fernrohr zu erblicken; es war unbekannt geblieben, mit welchem Erfolge. Der Ausflug begann in erwartungsvoll heiterer Stimmung. So oft ein neuer Berg in Sicht kam, fragte der Knabe: ,Ist das der DachsteinV Er wurde immer mehr verstimmt, je \u00f6fter man ihm diese Frage verneint hatte, verstummte sp\u00e4ter ganz und wollte einen kleinen Steig zum Wasserfall nicht mitmachen. Man hielt ihn f\u00fcr \u00fcberm\u00fcdet, aber am n\u00e4chsten Morgen erz\u00e4hlte er ganz selig: ,Heute Nacht habe ich getr\u00e4umt, ,da\u00df wir auf der Simonyh\u00fctte gewesen sind\u2019. In dieser Erwartung hatte er sich also an dem Ausflug beteiligt2).\u201d\nDie Beziehung zwischen Wunsch und Wunscherf\u00fcllung ist hier ganz deutlich hervortretend.\nSp\u00e4ter werden wir dar\u00fcber n\u00e4her diskutieren, ob Freud recht hat, wenn er jeden Traum einen unerf\u00fcllten Wunsch und seine Erf\u00fcllung die Hauptrolle spielen l\u00e4\u00dft.\nWir wenden uns jetzt zur Behandlung der n\u00e4heren Beziehung zwischen manifestem und latentem Trauminhalt.\nNach Freud k\u00f6nnen hier folgende Beziehungen vorliegen: Einmal das Yerh\u00e4ltnis vom Ganzen zum Teil; sodann\nb Freud: 1. c. S. 153.\n2) Freud: 1. c. S. 133.","page":1282},{"file":"p1283.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1283\nkann es sich im manifesten Tranminhalt nm \u201eAnspielungen\u201d anf den latenten Tranminhalt handeln; es handelt sich sodann im manifesten Tranminhalte nm eine \u201eV ersinnbildlich u n g\u201d nnd zuletzt k\u00f6nnen \u201eSymbole\u201d eine dominierende Eolle spielen.\nBez\u00fcglich der symbolischen Deutung des Traumes wird gesagt, da\u00df der Tr\u00e4umer \u201emeist nicht einmal Lust hat, den Vergleich anzuerkennen1).\u201d\nUnter den Symbolen spielen nach Freud die Hauptrolle die Sexualsymbole. In allen Tr\u00e4umen spielt nach Freud in irgendeiner Weise das Sexuelle eine Bolle. Dabei wird allerdings der Begriff des Sexuellen in ungew\u00f6hnlich weitem Sinne gefa\u00dft. Er versteht darunter au\u00dfer dem Trieb, der sich auf Fortpflanzung bezieht, das, was er \u201eOrganlust\u201d nennt, die Lust, die mit dem Lutschen des Kindes, mit der Ber\u00fchrung nackter menschlicher K\u00f6rper, mit der Analfunktion usw. gegeben ist. Kritisch werden wir uns die Betonung des Sexuellen bei Freud n\u00e4her da ansehen, wo wir die sogenannte Sublimierung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde behandeln.\nDen Sexualsymbolen widmet Freud sehr ausf\u00fchrliche Entwicklungen2).\nDie \u00fcbrigen bei \u00dcbersetzung des latenten Trauminhaltes in den manifesten zur Geltung kommenden Symbole charakterisiert er in folgender Weise: \u201eEs kommt im Traume vor, da\u00df man bald lustvoll, bald \u00e4ngstlich von H\u00e4userfassaden herabklettert. Die mit ganz glatten Mauern sind M\u00e4nner; die aber mit Vorspr\u00fcngen und Baikonen versehen sind, an. welchen man sich an-halten kann, sind Frauen. Die Eltern erscheinen im Traume als Kaiser und Kaiserin, K\u00f6nig und K\u00f6nigin oder als andere Bespektspersonen; der Traum ist also hier sehr piet\u00e4tvoll. Minder z\u00e4rtlich verf\u00e4hrt er gegen Kinder und Geschwister; diese werden als kleine Tiere, Ungeziefer symbolisiert. Die Geburt findet fast stets eine Darstellung durch eine Beziehung zum Wasser; entweder man st\u00fcrzt ins Wasser oder man steigt aus ihm heraus, man rettet eine Person aus dem Wasser oder wird von ihr gerettet, d. h. man hat eine m\u00fctterliche Beziehung zu ihr. Das Sterben wird im Traum durch Abreisen, mit der Eisenbahn fahren ersetzt, das Totsein durch verschiedene dunkle, wie zaghafte Andeutungen, die Nacktheit durch Kleider und Uniformen 3).\u201d\n1)\tFreud: 1. c. S. 164.\n2)\tFreud: 1. c. S. 166.\n3)\tFreud: 1. c. S. 165.","page":1283},{"file":"p1284.txt","language":"de","ocr_de":"1284\nG-. St\u00f6rring\nDiese Symbolik findet man in M\u00e4rchen, Mythen, in den Sitten und Gebr\u00e4uchen, den Spr\u00fcchen nnd Liedern der V\u00f6lker, in dem poetischen nnd gemeinen Sprachgebrauch. Dadurch tritt die Psychoanalyse zu den entsprechenden Wissenschaften von den Sitten, den Mythen, den M\u00e4rchen usw. in Beziehung.\nDie Symbolik ist ein zweites nnd unabh\u00e4ngiges Mittel der Traumentstellung neben der Traumzensur. Sie wird also neben der Traumzensur zum Zweck der Traumentstellung bei der \u00dcbersetzung des latenten und des manifesten Trauminhaltes zur Anwendung gebracht. Die Symbolik nach Freud dient zu dem Zweck, \u201ezur Fremd artig ke it und Unverst\u00e4ndlichkeit des Traumes zu f\u00fchren\u201dx) \u2014 als ob die Unverst\u00e4ndlichkeit des Traumes sich nicht schon erg\u00e4be aus den mechanischen Beproduktionen des manifesten Trauminhaltes \u00ce, als ob eine Absicht best\u00fcnde, den Trauminhalt unverst\u00e4ndlich zu machen und als ob der Tr\u00e4umer die komplexe Symbolik handhaben k\u00f6nnte, ohne sie zu kennen! Ja, Freud scheut nicht vor der Behauptung zur\u00fcck, da\u00df der Tr\u00e4umer diese Symbolik zur Anwendung gebracht hat auch da, wo er die von dem Traumdeuter unter r\u00fcckl\u00e4ufiger Anwendung der Symbolik vollzogene Traumdeutung scharf ablehnt.\nMethodologisch ist zu betonen, da\u00df Freud selbst hier an der von ihm zu Anfang der Behandlung der Traumdeutung gemachten Annahme, da\u00df das Traumgeschehen sinnvoll sei, nicht irre wird! Er wollte ja Zusehen, ob sich unter dieser Voraussetzung das Tr aumgeschehen kausal verst\u00e4ndlich machen l\u00e4\u00dft, und nimmt dann hier die Hilfsannahme in den Kauf, da\u00df der Tr\u00e4umer von der Symbolik im Unbewu\u00dften etwas wei\u00df, da\u00df es unbewu\u00dfte Kenntnisse, unbewu\u00dfte Denkbeziehungen gibt und da\u00df diese unbewu\u00dften Kenntnisse ein phylogenetisches Erbe darstellen!\nFreud selbst spricht seine Verwunderung aus \u00fcber dies ebenso gro\u00dfartige wie verwirrende Besultat. Er sagt:\n\u201eF\u00fcrs erste sind wir vor die Tatsache gestellt, da\u00df dem Tr\u00e4umer die symbolische Aus drucks weise zu Gebote steht, die er im Wachen nicht kennt und nicht wie der er kennt. Das ist so verwunderlich, wie wenn Sie die Entdeckung machen w\u00fcrden, da\u00df Ihr Stubenm\u00e4dchen Sanskrit versteht, obwohl Sie wissen, da\u00df sie in einem b\u00f6hmischen Dorf geboren ist und es nie gelernt hat. Es ist nicht leicht, diese Tatsache mit unseren psychologischen\n1) Freud: 1. c. S. 184.","page":1284},{"file":"p1285.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1285\nAnschauungen zu bew\u00e4ltigen. Wir k\u00f6nnen nnr sagen, die Kenntnis der Symbolik ist dem Tr\u00e4umer unbewu\u00dft, sie gek\u00f6rt seinem unbewu\u00dften Geistesleben an. Wir kommen aber auch mit dieser Annahme nicht nach. Bisher hatten wir nur n\u00f6tig, unbewu\u00dfte Strebungen anzunehmen, solche, von denen man zeitweilig oder dauernd nichts wei\u00df. Jetzt aber handelt es sich um mehr, gerade um unbewu\u00dfte Kenntnisse, um Denkbeziehungen, Yergleichungen zwischen verschiedenen Objekten, die dazu f\u00fchren, da\u00df das eine konstant an Stelle des anderen gesetzt werden kann. Diese Yergleichungen werden nicht jedesmal neu angestellt, sondern sie liegen bereit, sie sind ein f\u00fcr allemal fertig; das geht ja aus ihrer \u00dcbereinstimmung bei verschiedenen Personen, ja vielleicht \u00dcbereinstimmung trotz der Sprachver-schiedenheit, hervor1).\u201d\n,,So scheint mir, da\u00df z. B. die Symbolbezeichnung, die der einzelne niemals erlernt hat, zum Anspruch berechtigt, als phylogenetisches Erbe betrachtet zu werden2).\u201d\nEinen noch n\u00e4heren Einblick in die Beziehung zwischen manifestem und latenten Trauminhalt gewinnen wir bei Behandlung der \u201eTraumarbeit\u201d von seiten Freuds.\nEnter Traumarbeit versteht Freud die ,,Umsetzung des latenten Traumes in den manifesten\u201d.\nDie Deutungsarbeit verfolgt dann den umgekehrten Weg von dem manifesten Trauminhalt zum latenten.\nDie Traumarbeit besteht zun\u00e4chst in Prozessen der \u201eVerdichtung\u201d. So entsteht durch Verdichtung mehrerer Personen eine Mischperson. ,,Eine solche Mischperson sieht etwa so aus wie A, ist aber gekleidet wie B, tut eine Verrichtung, wie sie an G erinnert, und dabei ist noch ein Wissen, da\u00df es die Person D ist.\u201d Wie aus Personen k\u00f6nnen auch aus Gegenst\u00e4nden, \u00d6rtlichkeiten usw. Mischzust\u00e4nde hergestellt werden, wenn die Objekte des lebenden Trauminhaltes etwas miteinander gemein haben3).\nDas Material, das bei der Traumarbeit vorliegt, wird von Freud reflexionspsychologisch charakterisiert: Es sind n\u00e4mlich Gedanken, die korrekt gebildet und ausgedr\u00fcckt sind4).\nIn den ,,Verdichtungsprozessen\u201c haben wir es mit Verschmelzungen zu tun. Freud findet es verwunderlich, \u201eunverst\u00e4ndlich\u201d, da\u00df bei der \u00dcbersetzung der latenten Form in die manifeste Verschmelzungen zustande gebracht werden: \u201eEine \u00dcbersetzung ist doch sonst bestrebt, die im Text gegebenen Sonderungen zu beachten und gerade \u00c4hnlichkeiten auseinander zu\n1) Freud: 1. c. S. 180. \u2014- 2) Freud: 1. c. S. 220. \u20143) Freud: 1. c. S. 188. \u2014-\n4) Freud: 1. c. S. 189.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n84","page":1285},{"file":"p1286.txt","language":"de","ocr_de":"1286\nGr. St\u00f6rring\nhalten. Die Tranmarbeit bem\u00fcht ( !) sich ganz im Gegenteil, zwei verschiedene Gedanken dadurch zu verdichten, da\u00df sie, \u00e4hnlich wie der Witz, ein mehrdeutiges Wort heraussucht, in dem sich die beiden Gedanken treffen k\u00f6nnen1).\u201d\nDie vorliegende Tatsache der Verschmelzung w\u00fcrde Freud nicht unverst\u00e4ndlich sein, wenn er erk\u00e4nnte, da\u00df es sich hier nicht um Denkt\u00e4tigkeiten handelt, sondern um in der Hauptsache rein reproduktive Prozesse, die von Gef\u00fchlszust\u00e4nden stark beeinflu\u00dft sind!\nDie Verdichtung macht den Traum nat\u00fcrlich undurchsichtig.\n,,Ein manifestes Element entspricht gleichzeitig mehreren latenten und umgekehrt kann ein latentes Element an mehreren manifesten beteiligt sein2).\u201d\nZur Traumarbeit geh\u00f6ren sodann die Prozesse der Verschiebung. Sie ist das Werk der Traumzensur. Man findet Verschiebungen verschiedener Art: Einmal Ersetzungen von latenten Elementen durch eine Anspielung. Sodann findet man Verschiebungen in der Weise, da\u00df der ,,psychische Akzent von einem wichtigeren Element auf ein unwichtigeres verschoben\u201d wird. Sodann werden Gegens\u00e4tzlichkeiten des latenten Traumes in manifesten Tr\u00e4umen als \u00dcbereinstimmungen behandelt. Deshalb ist eine Darstellung des \u201eHein\u201d im manifesten Traum nicht zu erwarten. Sodann werden Umkehrungen der Beziehungen und der Reihenfolge vollzogen3). Im Traum schie\u00dft h\u00e4ufig der Hase auf den J\u00e4ger.\nWeiters finden \u201esekund\u00e4re Bearbeitungen\u201d, regressive Umsetzungen, also Umsetzungen auf eine niedere Entwicklungsstufe, statt. Zuletzt hat die Traumarbeit eine \u201eplastische Darstellung\u201d der Gedanken zu vollziehen; es handelt sich hier meist um eine anschauliche visuelle Darstellung.\nIst aber so die \u201eTraumarbeit\u201d gestaltet, so mu\u00df man sich doch sagen, da\u00df die Deutungsarbeit, die den umgeke hr ten Weg geht, au\u00dferordentliche Schwierigkeiten zu \u00fcberwinden hat und Gefahr l\u00e4uft, willk\u00fcrlich gestaltet zu werden.\nWenn der psychische Akzent von dem Wichtigen auf das Unwichtige verschoben ist, wie schwierig mu\u00df es da sein, r\u00fcckl\u00e4ufig das Wichtige herauszufinden ! Man bedenke weiter, da\u00df die Negationen im manifesten Trauminhalt verschwinden, da\u00df gewisse Beziehungen \u2014 es fragt sich, welche \u2014 r\u00fcckl\u00e4ufig umgekehrt werden m\u00fcssen usw.\n1) Freud: 1. c. S. 189. -\u2014 2) Freud: 1. c. S. 190.\n3) 1. c. S. 197.","page":1286},{"file":"p1287.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1287\nEs scheint so bei der L\u00f6sungsarbeit der Willk\u00fcr T\u00fcr und Tor ge\u00f6ffnet zu sein. Man mu\u00df aber beachten, da\u00df die anf Grund der Verarbeitung des Materials gewonnenen Vermutungen eventuell eine Best\u00e4tigung von seiten des Tr\u00e4umers finden. Sehr gewagt erscheint es mir aber, Deutungen anzuerkennen, gegen deren Anerkennung sich der Tr\u00e4umer str\u00e4ubt, bei denen also diese Verifikation fehlt.\nMan wird erwidern, die Verifikation liegt dann darin, da\u00df das ganze gro\u00dfe Material durch die Deutung sinnvoll wird, aber sinnvoll ist das Material dann gerade um den Preis von vielen willk\u00fcrlich gedachten Beziehungen, das sind dann zu viel Hilfshypothesen! Die vollzogenen Deutungen sind tats\u00e4chlich h\u00e4ufig so gestaltet, da\u00df sich das wissenschaftliche Gewissen gegen solche Entwicklungen str\u00e4ubt.\nInteressant ist die Behandlung eines Einwandes, den sich Freud selbst bez\u00fcglich der Willk\u00fcrlich-keit der Deutungen macht. Er antwortet auf den Einwand, manche Traumdeutungen seien an den Haaren herbeigezogen: ,,Die Deutungen m\u00fcssen ,aus guten Gr\u00fcnden\u2019 so erscheinen, in allen diesen F\u00e4llen handelt es sich um Dinge, die versteckt werden sollen, die zur Verheimlichung bestimmt sind; dies will ja die Traumzensur erreichen.\u201d Es wird dann auf F\u00e4lle verwiesen, wo der Patient selbst anscheinend k\u00fcnstliche Deutungen gibt. Nun, wo durch den ,,Willen\u201d der Traumzensur \u201eVerheimlichungen\u201d zustande gebracht werden \u2014 wir verweisen besonders auf die \u201eVerschiebungen\u201d der Gedanken des latenten Traumes \u2014 da sollte man doch davon Abstand nehmen, im Vertrauen auf den \u201esinnv ollen\u201d Charakter des Traumes Deutungen zu vollziehen, die gar nicht einmal von dem Tr\u00e4umer selbst anerkannt werden ! Durch solches Vorgehen komprimittieren sich die Psychoanalytiker bei Psychologen und Psychiatern, die an methodisches Denken gew\u00f6hnt sind. Das hat dann zur Folge, da\u00df unberechtigterweise die Psychoanalyse in Bausch und Bogen abgewiesen wird.\nDie Frage der Wunscherf\u00fcllung im Traume bedarf noch einer n\u00e4heren Behandlung. Wir haben darauf hingewiesen, da\u00df die Wunscherf\u00fcllung sich beim Kindestraum in einfacher Weise darstellt: An einem vorangehenden Tage tritt ein Wunsch auf, der keine Erf\u00fcllung findet. Dennoch erlebt das Kind nachts im Traum die Erf\u00fcllung dieses Wunsches. In vielen Tr\u00e4umen ist aber ein Wunsch und seine Erf\u00fcllung nicht so leicht zu konstatieren. Nehmen wir den Fall der Dame, bei welcher der Hauptgedanke\n84*","page":1287},{"file":"p1288.txt","language":"de","ocr_de":"1288\nG-. St\u00f6rring\ndes bekannten Traumes lautete: \u201eIch h\u00e4tte nicht so fr\u00fch heiraten sollen !\u201d Hier liegt doch kein erf\u00fcllbarer Wunsch vor, sondern nur ein Wunsch, der sich auf einen irrealen Fall bezieht. Wie steht es dann hier mit der Wunscherf\u00fcllung?\nFreud sucht Wunsch und Wunscherf\u00fcllung in folgender Weise aufzuzeigen: \u201eEine Dame, der ihr Mann am Tage mitgeteilt hat, da\u00df ihre nur um drei Monate j\u00fcngere Freundin Elise sich verlobt hat, tr\u00e4umt, da\u00df sie mit ihrem Manne im Theater sitzt. Eine Seite des Parketts ist fast leer. Ihr Mann sagt ihr, die Elise und ihr Br\u00e4utigam h\u00e4tten auch ins Theater gehen wollen, konnten aber nicht, da sie nur schlechte Karten bekamen, drei um 1 fl. 50 kr. Sie meinte, es w\u00e4re auch kein Ungl\u00fcck gewesen. Wir hatten erraten, da\u00df sich die Tranmgedanken auf den \u00c4rger, so fr\u00fch geheiratet zu haben, und auf die Unzufriedenheit mit ihrem Manne beziehen. Wir d\u00fcrfen neugierig sein, wie diese tr\u00fcben Gedanken zu einer Wunscherf\u00fcllung umgearbeitet worden sind und wo sich deren Spur im manifesten Inhalt findet. Eun wissen wir schon, da\u00df das Element ,zu fr\u00fch, voreilig\u2019 durch die Zensur aus dem Traum eliminiert wurde. Das leere Parkett ist eine Anspielung darauf. Das r\u00e4tselhafte ,drei um einen Gulden f\u00fcnfzig\u2019 wird uns jetzt mit Hilfe der Symbolik, die wir seither gelernt haben, besser verst\u00e4ndlich. (Eine andere naheliegende Deutung dieser Drei bei der kinderlosen Frau erw\u00e4hne ich nicht, weil diese Analyse kein Material hierf\u00fcr brachte.) Die Drei bedeutet wirklich einen Mann und das manifeste Element ist leicht zu \u00fcbersetzen: Sich einen Mann f\u00fcr die Mitgift kaufen (,einen zehnmal besseren h\u00e4tte ich mir f\u00fcr meine Mitgift kaufen k\u00f6nnen\u2019). Das Heiraten ist offenbar ersetzt durch das Ins-Theater-Gehen. Das ,Zu-fr\u00fche-Theaterkarten-Besorgen\u2019 steht ja direkt an Stelle des zu fr\u00fchen Heiratens. Diese Ersetzung ist aber das Werk der Wunscherf\u00fcllung. Unsere Tr\u00e4umerin war nicht immer so unzufrieden mit ihrer fr\u00fchen Heirat wie am Tage, da sie die Eachricht von der Verlobung ihrer Freundin erhielt. Sie war seinerzeit stolz darauf und fand sich vor der Freundin bevorzugt. Eaive M\u00e4dchen sollen h\u00e4ufig nach ihrer Verlobung ihre Freude dar\u00fcber verraten haben, da\u00df sie nun bald zu allen bisher verbotenen St\u00fccken ins Theater gehen, alles mitansehen d\u00fcrfen. Das St\u00fcck Schaulust oder Eeu-gierde, das hier zum Vorschein kommt, war gewi\u00df anf\u00e4nglich sexuelle Schaulust, dem Geschlechtsleben, besonders der Eltern, zugewandt, und wurde dann zu einem starken Motiv, das die M\u00e4dchen zum fr\u00fchen Heiraten dr\u00e4ngte. Auf solche Weise wird der Theaterbesuch zu einem naheliegenden Bedeutungsersatz f\u00fcr das Verheiratetsein. In dem gegenw\u00e4rtigen \u00c4rger \u00fcber diese fr\u00fche Heirat greift sie also auf jene Zeit zur\u00fcck, in welcher ihr die fr\u00fche Heirat Wunscherf\u00fcllung war, weil sie ihre Schaulust befriedigte,","page":1288},{"file":"p1289.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1289\nund ersetzt, von dieser alten Wunschregung geleitet, das Heiraten durch das Ins-Theater-Gehen1).\u201d\nMan sieht, zu welchen luftigen Konstruktionen jFreud sich versteigt, um seine Position zu verteidigen, da\u00df alle Tr\u00e4ume es mit einem Wunsch und seiner Erf\u00fcllung zu tun haben.\nAls Freud uns fr\u00fcher eine Charakterisierung der W\u00fcnsche des latenten Trauminhaltes gab und dabei von einer wahren H\u00f6lle sprach, da lautete alles so, als ob der zu erf\u00fcllende Wunsch schon im latenten Trauminhalt liegt. Hier lautet es anders. Und es wird hinzugef\u00fcgt, da\u00df der latente Trauminhalt au\u00dfer einem Wunsch einen \u201eVorsatz\u201d enthalten kann, eine \u201eWarnung\u201d, eine \u201e\u00dcberlegung\u201d, \u201eVorbereitung\u201d, einen \u201eL\u00f6sungsversuch einer Aufgabe\u201d usw. Dabei wird betont, da\u00df das latente Traumdeuten sich in solchen Funktionen bewegt, da\u00df man die wunderbare Tatsache konstatieren mu\u00df, da\u00df es nicht blo\u00df unbewu\u00dftes Wollen, sondern auch unbewu\u00dftes Denken gibt. In dem unbewu\u00dften Wollen ist unbewu\u00dftes F\u00fchlen eingeschlossen !\nIn unserem Falle steht also der Wunsch an einer anderen Stelle.\nFreud verteidigt sich weiter dem Einwand gegen\u00fcber, da\u00df auch in manchen Tr\u00e4umen deutlich zutage trat, da\u00df nicht Wunsch und Wunscherf\u00fcllung in Betracht kommen, sondern da\u00df das herrschende Affektmoment in einem Angst zustand gegeben sei. Man sagt: \u201eWas hat ein Angsttraum mit einem Wunsch und seiner Erf\u00fcllung zu tun?\u201d\nDarauf antwortet Freud: \u201eDie Angst ist ein Anzeichen daf\u00fcr, da\u00df ein verdr\u00e4ngter Wunsch sich st\u00e4rker gezeigt hat als die Zensur. Die Wunscherf\u00fcllung der einen Tendenz kann zur Unlust f\u00fcr die anderen werden.\u201d Die Angst wird dann auf gef a\u00dft als \u201eAngst vor der St\u00e4rke der sonst nie der gehaltenen W\u00fcnsche\u201d. (Diese zum Siege gekommenen W\u00fcnsche werden zugleich als \u201eunbewu\u00dfte\u201d W\u00fcnsche charakterisiert.)\nHier ist aber vorausgesetzt, da\u00df nicht nur der \u201ev erworfene\u201d Wunsch zum Siege gekommen ist \u00fcber die in der Traumzensur gegebene Willensrichtung, sondern da\u00df dieser Sieg urteilsm\u00e4\u00dfig festgestellt wird. An die Feststellung schlie\u00dft sich die Angst an. Solche urteilsm\u00e4\u00dfige Feststellung mu\u00df sich aber im Unbewu\u00dften vollziehen, da der W u n s c h\nb Freud: 1. c. S. 246, 247.","page":1289},{"file":"p1290.txt","language":"de","ocr_de":"1290\nG. St\u00f6rring\nunbewu\u00dft ist. Sie kann also in den betreffenden F\u00e4llen nicht als can sa vera der Angst auf gewiesen werden; sie kann nur als im Unterbewu\u00dften sich vollziehend angenommen werden. Das ist aber eine causa ficta schlimmster Sorte.\nWenn jemand gegen starken Kaffee sensibel ist und dann am sp\u00e4ten Abend gegen seine Gewohnheit eine gr\u00f6\u00dfere Quantit\u00e4t starken Kaffees zu sich nimmt, so mag er starkes Angsttr\u00e4umen haben. Er wird sich dann aber nicht so leicht einreden lassen, da\u00df hinter diesen Angsttr\u00e4umen W\u00fcnsche versteckt seien, geschweige denn sexuelle W\u00fcnsche; die Genesis dieser Angsttr\u00e4ume liegt doch klar zutage !\nSelbst Bleuler, der doch Freud in weitgehendster Weise in Schutz nimmt1), sagt, er wisse nicht, weshalb das Unbewu\u00dfte nur w\u00fcnschen, nicht auch abweisen oder f\u00fcrchten solle.\n13. Kapitel.\nDas pers\u00f6nliche Unbewu\u00dfte und Unterbewu\u00dfte.\nDas Doppelbewu\u00dftsein.\nYom Unbewu\u00dften und Unterbewu\u00dften wird in verschiedenem Sinne gesprochen. Man hat besonders bei Deutung der Doppelbewu\u00dftseinszust\u00e4nde geglaubt, ein Oberbewu\u00dftsein von einem Unterbewu\u00dftsein scheiden zu m\u00fcssen, wobei als Oberbewu\u00dftsein ein Bewu\u00dftsein bezeichnet wird, von welchem wir wissen, vom Unterbewu\u00dftsein gesprochen wird im Sinne von einem psychischen Geschehen in der Art des im Bewu\u00dftsein verlaufenden Geschehens (intellektueller, willens m\u00e4\u00dfiger Vorg\u00e4nge), die nicht vom Bewu\u00dftsein begleitet sind.\nEs ist zu beachten, da\u00df in psychologischen Entwicklungen der Terminus \u201eunterbewu\u00dft\u201d zuweilen in ganz anderem Sinne gebraucht wird, n\u00e4mlich im Sinne von dunkelbewu\u00dft. Es ist nat\u00fcrlich geboten, hier eine scharfe Scheidung zu machen: das sind ja eminent verschiedene Tatbest\u00e4nde.\nDer Terminus \u201eunbewu\u00dft\u201d wird in psychologischen Entwicklungen ebenfalls in verschiedenem Sinne genommen. Man spricht in psychologischen Entwicklungen einmal von unbewu\u00dften Gr\u00f6\u00dfen im Sinne von psychischem Geschehen nach Art des im Bewu\u00dftsein ablaufenden Geschehens, von dem wir nichts wissen (was ohne Bewu\u00dftsein verl\u00e4uft) \u2014 also im Sinne des dem Oberbewu\u00dftsein gegen\u00fcbergestellten \u201eUnterbewu\u00dftseins\u201d.\nx) Bleuler: Die Psychoanalyse Freuds in Zeitschr. f. Psychoanal. 2.","page":1290},{"file":"p1291.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1291\nSodann spricht man vom \u201eUnbewu\u00dften\u201d im Sinne von neben physiologischen Dispositionen angenommenen psychischen Dispositionen, die als Dispositionen nicht vom Bewu\u00dftsein begleitet sind.\nZuletzt wird in psychologischen Entwicklungen zuweilen von den Einwirkungen des Unbewu\u00dften auf die Bewu\u00dftseinsvorg\u00e4nge gesprochen im Sinne der Einwirkung physiologischer Vorg\u00e4nge der Hirnrinde auf das bewu\u00dfte Geschehen.\nDie Existenz eines Unbewu\u00dften im Sinne von physiologischen Vorg\u00e4ngen in der Hirnrinde, welche auf die Gestaltung der Bewu\u00dftseinsvorg\u00e4nge Einflu\u00df haben, l\u00e4\u00dft sich nat\u00fcrlich nicht bestreiten. Wenn man \u00fcber die Existenz eines \u201eUnbewu\u00dften\u201d streitet, so kann das also nur gemeint sein im Sinne eines psychischen Geschehens nach Art des im Bewu\u00dftsein ablaufenden Geschehens, das ohne Bewu\u00dftsein verl\u00e4uft (!) oder im Sinne von \u201epsychischen Dispositione n\u201d.\nDer Streit um die Existenz von \u201epsychischen Dispositionen\u201d interessiert uns hier nicht.\nWir wollen hier um die Existenz eines Unbewu\u00dften im Sinne eines psychischen Geschehens nach Art des im Bewu\u00dftsein ablaufenden Geschehens, das ohne Bewu\u00dftsein verl\u00e4uft, streiten.\nF\u00fcr die Behauptung der Existenz eines solchen Unbewu\u00dften werden Tatsachen aus verschiedenen Gebieten herangezogen. Zun\u00e4chst kommen hier die Tatsachen des Doppelbewu\u00dftseins in Betracht, also diejenigen Tatsachen, welche manche Autoren veranla\u00dft haben, von einem Oberbewu\u00dftsein und einem Unterbewu\u00dftsein zu sprechen. Sodann werden f\u00fcr die Behauptung der Existenz dieses Unbewu\u00dften die eigenartigen Erscheinungen angef\u00fchrt, die man als posthypnotische Suggestionen bezeichnet. Und zuletzt sind Tatsachen, die durch Psychoanalyse aufgedeckt sind, f\u00fcr die Behauptung der Existenz dieses Unbewu\u00dften verwertet worden.\nWir befassen uns zun\u00e4chst mit der Tatsache des Doppelbewu\u00dftseins.\nWenn man die Doppelbewu\u00dftseins- (Doppel-Ich-) Zust\u00e4nde im hysterischen D\u00e4mmerzustand kausal verstehen will, ist es zweckm\u00e4\u00dfig, auf die Amnesien in epileptischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden B\u00fccksicht zu nehmen. In den epileptischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden tritt als Mitursache der Amnesieerscheinungen sehr deutlich eine \u00c4nderung der Konstellation des Bewu\u00dftseins hervor.","page":1291},{"file":"p1292.txt","language":"de","ocr_de":"1292\nG. St\u00f6rring\nIn den epileptischen Zust\u00e4nden handelt es sich ja nm eine Steigerung der Reizbarkeit der motorischen Zentren der Hirnrinde. Diese bringt eine Steigerung der Reizbarkeit der entsprechenden sensiblen Zentren mit sich. Das sind aber diejenigen Zentren, welche funktionieren, wenn wir Empfindungen vom eigenen K\u00f6rper haben, die Zentren der Organempfindungen. In den epileptischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden ist deshalb zu erwarten, da\u00df die psychischen Anomalien dieser D\u00e4mmerzust\u00e4nde durch die vorhandenen \u00c4nderungen der Organempfindungen mitbedingt sind.\nkun findet man in einigen epileptischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden eine eigenartige amnestische St\u00f6rung, die sich nicht durch die einfache Annahme verst\u00e4ndlich machen l\u00e4\u00dft, da\u00df es sich hier um eine \u201eHerabsetzung der Intensit\u00e4t des Bewu\u00dftseins\u201d handelt. Man hat n\u00e4mlich hier in einzelnen F\u00e4llen konstatiert, da\u00df ein komplexes Erlebnis, welches am Anfang des epileptischen D\u00e4mmerzustandes auf trat, kurz vor dem Ende des D\u00e4mmerzustandes noch reproduziert wurde, w\u00e4hrend es kurze Zeit nach Aufhebung des D\u00e4mmerzustandes nicht mehr zu reproduzieren war. Diese Tatsache kann nicht durch Annahme einer Herabsetzung der Intensit\u00e4t der Bewu\u00dftseinsvorg\u00e4nge verst\u00e4ndlich gemacht werden. Denn, wenn das betreffende Erlebnis kurze Zeit vor Aufhebung des D\u00e4mmerzustandes reproduziert wurde, so w\u00e4re bei dieser Annahme zu erwarten, da\u00df es kurze Zeit nach Aufhebung des D\u00e4mmerzustandes, besonders wenn derselbe l\u00e4ngere Zeit dauerte, erst recht reproduziert werden konnte, da im normalen Zustand der Voraussetzung nach der reproduzierend wirkende Bewu\u00dftseinsvorgang (dargebotenes Teilst\u00fcck des komplexen Erlebnisses) bei seiner st\u00e4rkeren Intensit\u00e4t auch st\u00e4rker reproduzierend wirkt als im D\u00e4mmerzustand und au\u00dferdem die Wiederholung des betreffenden Erlebens vor dem Ende des D\u00e4mmerzustandes die sp\u00e4tere Reproduktion erleichtert.\nDagegen wird uns diese Art der Amnesie kausal verst\u00e4ndlich, wenn wir ber\u00fccksichtigen, da\u00df die Erlebnisse des D\u00e4mmerzustandes jedenfalls durch die vorhandene \u00c4nderung der Organempfindungen nach dem D\u00e4mmerzustand schwieriger zu reproduzieren sind, indem ja die betr\u00e4chtliche Differenz der Organempfindungen i n dem D\u00e4mmerzustand und nach demselben eine sehr differente Konstellation des Bewu\u00dftseins darstellen, wodurch nach experimentellen Befunden die Reproduktion sehr erschwert sein mu\u00df. In dem D\u00e4mmerzustand selbst stellte sich die Reproduktion des betreffenden Erlebnisses leichter ein, weil innerhalb desselben die Konstellation des Bewu\u00dftseins in der Hauptsache dieselbe war.\nBei den hysterischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden treten zuweilen Doppelbewu\u00dftseinserscheinungen auf: wenn die","page":1292},{"file":"p1293.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1293\nDoppelbewu\u00dftseinszust\u00e4nde kurze Zeit nacheinander von neuem auftreten, so findet man bekanntlich oft in den sp\u00e4teren D\u00e4mmerzust\u00e4nden Erinnerung f\u00fcr Erlebnisse fr\u00fcherer D\u00e4mmerzust\u00e4nde, w\u00e4hrend in den dazwischen liegenden normalen Zust\u00e4nden die Reproduzierbarkeit der Erlebnisse eines vorangegangenen D\u00e4mmerzustandes fast aufgehoben ist. So h\u00e4ngen dann reproduktiv die D\u00e4mmerzust\u00e4nde untereinander zusammen in \u00e4hnlicher Weise wie die Zust\u00e4nde des normalen Seelenlebens, w\u00e4hrend sie, was ihre Reproduzierbarkeit betrifft, von dem normalen Seelenleben abgetrennt sind.\nIch gebe einen Eall von Doppelbewu\u00dftsein:\n\u201eMary Reynold, the daughter of a prominent Baptist, is said to have been of good normal capacities ; ,though in no respect brilliant, she seems to have been naturally endowed with an un commonly well-balanced organisation, physical, mental and moral\u2019. She had, in short, displayed no peculiarities of a striking kind, but remained a somewhat commonplace, unadventurous girl, until, when eighteen years of age, ,she became subject to occasional attacks of fits\u2019. In the following year she one day took a book to read in a meadow and was found there insensible. On recovering consciousness she was found to be blind and deaf. Hearing returned suddenly and perfectly after some five weeks ; sight more gradually but completely. These facts suffice to show that she was an hysterical subject and liable to dissociated accidents.\nThree months after this episode, when she seemed to have nearly recovered her usual helthy, she continued one morning to lie abed in a profound sleep from which she could not be roused. She wakened spontaneously after some hours and then, ,a s far as all acquired knowledge was concerned, her condition was precisely that of a newborn infant\u2019, except that she prononced a few words. But ,she differed from an infant in this, that her faculty of acquiring knowledge was that of a person in the possession of mature intellect fully capable of dealing at once with the facts of existence. She therefore rapidly acquired aknowledge of the world\u2019. After five weeks in this condition, she woke again in her former state, knowing nothing of her life in the intervening five weeks. After a few weeks she again, after an unusually profound and prolonged sleep, woke in the second state and took up her second life and processes of learing from the point at which the second state has disappeard. She continued for many years to alternate between these two states; in each state she was amnestic for the events of the other state, but had normal good memory for the","page":1293},{"file":"p1294.txt","language":"de","ocr_de":"1294\nG-. St\u00f6rring\nevents of previous periods of the sance state; that is to say, there was reciprocal amnesia as between the alternating states.\nIf the two states had differed only in respect of their memories, it might seem inappropriate to describe the case as one of alternating personalities. Bnt there was another great difference between them! namely, a difference of character and tastes. In the primary state Mary was, as we have seen, a somewhat commonplace person. In the secondary state she was extremely adventnrons she wonld take long rides alone through the forests and was in many ways more lively and enterprising. The second state gradually increased in duration relatively to the first ; and, towards the later part of a moderately long life, the primary state remained latent or absent. In this late period she sometimes seemed to have dim dream-like memories of her life in the primary state. And once, when in this second state, she dreamed of a sister who had died before the second state appeared; the sister so dreamed of was identified by her relatives from her description1).\u201d\nEine vom methodologischen Standpunkt aus sehr unbefriedigende Erkl\u00e4rung dieser Doppelbewu\u00dftseinszust\u00e4nde gibt dieTheorie vom Ober- und Enterbewu\u00dftsein: Diese eigenartigen reproduktiven Beziehungen sollen deshalb bestehen, weil es neben den psychischen Vorg\u00e4ngen, von denen wir wissen (Oberbewu\u00dftsein), noch psychische Vorg\u00e4nge geben soll, von denen wir nichts wissen \u2014 psychische Vorg\u00e4nge, die ohne Bewu\u00dftsein verlaufen. In den D\u00e4mmerzust\u00e4nden soll nun das Unterbewu\u00dftsein zu seiner Geltung kommen. Was hier methodologisch so unbefriedigend wirkt, ist die Einf\u00fchrung einer v\u00f6lligen causa ficta in die kausale Betrachtungsweise2)!\nNun k\u00f6nnte ein Vertreter dieser Theorie vielleicht sagen: Wenn Newton die Verwendung von causae fictae im Gegensatz zu causae verae f\u00fcr kausale Erkl\u00e4rungen verworfen hat, so mu\u00df behauptet werden, da\u00df diese Verwerfung nicht zu Recht besteht, da wir ja doch bei der Erkl\u00e4rung von Tatsachen durch Annahme einer unabh\u00e4ngig von uns existierend gedachten Au\u00dfenwelt in einem fort mit einer causa ficta arbeiten. Aber man darf hier nicht unber\u00fccksichtigt lassen, da\u00df die Annahme der Au\u00dfenwelt sich dadurch anderen Annahmen gegen\u00fcber auszeichnet, da\u00df sie sich in der vorz\u00fcglichsten Weise verifiziert3).\nb W. McDougall: Abnormal Psychology. S. 483 n. 484.\n2)\tSt\u00f6rring: Logik. S. 280 ff.\n3)\tSt\u00f6rring: Erkenntnistheorien. S. 89 nnd 216 ff.","page":1294},{"file":"p1295.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1295\nMach den Feststellungen \u00fcber kausale Wirkung der \u00c4nderung der Konstellation des Bewu\u00dftseins bei den Amnesien in epileptischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden liegt die Vermutung nahe, da\u00df auch bei hysterischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden eine \u00c4nderung der Konstellation des Bewu\u00dftseins wirksam ist. Dann w\u00fcrde zu verstehen sein, wie bei ann\u00e4hernd gleicher \u00c4nderung der Konstellation in verschiedenen, kurze Zeit aufeinander folgenden D\u00e4mmerzust\u00e4nden die Erlebnisse in diesen D\u00e4mmerzust\u00e4nden reproduktiv Zusammenh\u00e4ngen, aber die Reproduzierbarkeit f\u00fcr Erlebnisse des normalen Seelenlebens stark herabgesetzt ist und ebenso die Reproduzierbarkeit f\u00fcr die Erlebnisse der D\u00e4mmerzust\u00e4nde vom normalen Seelenleben aus.\nMun finden wir aber tats\u00e4chlich in manchen Berichten angegeben, da\u00df bei reproduktiv zusammenh\u00e4ngenden hysterischen D\u00e4mmerzust\u00e4nden in der Hauptsache dieselben Anomalien in bezug auf An\u00e4sthesie, Analgesie usw. auftreten. \u2014\nF\u00fcr die Behauptung der Existenz eines Unbewu\u00dften im Sinne eines psychischen Geschehens nach Art des im Bewu\u00dftsein ablaufenden Geschehens, das ohne Bewu\u00dftsein verl\u00e4uft, hat man sodann die Tatsachen der posthypnotischen Suggestion geltend gemacht.\nEs ist eine bekannte Tatsache, da\u00df ein Hypnotiseur mit Erfolg in der Hypnose dem Hypnotisierten den Auftrag geben kann, nach Aufhebung der Hypnose zu einer bestimmten Zeit einen bestimmten Auftrag auszuf\u00fchren, ohne da\u00df der Hypnotisierte zu dieser Zeit sich daran erinnert, da\u00df der Auftrag in der Hypnose gegeben ist. Man sagt sich, da\u00df hier doch unbewu\u00dfte psychische Prozesse eine Rolle spielen m\u00fcssen, da diese Reaktionen unter dieser Annahme verst\u00e4ndlich w\u00fcrden, aber ohne diese Annahme unerkl\u00e4rt blieben.\nBeim Auftreten des in der Hypnose angegebenen Signals, das man auch als \u201eBezugsvorstellung\u201d bezeichnet, f\u00fcr die Ausf\u00fchrung einer bezeichneten Handlung tritt nun jedenfalls keine Erinnerung an die hypnotische Suggestion auf. Man mu\u00df sich h\u00fcten, aus der Tatsache, da\u00df die betreffende Handlung auf das sp\u00e4ter auftretende Signal hin auftritt, ohne da\u00df eine E r-innerung an den hypnotischen Auftrag eintritt, zuviel zu folgern. Man mu\u00df nat\u00fcrlich beim Ausschlu\u00df der Erinnerung die M\u00f6glichkeit im Auge behalten, da\u00df die Handlung durch eine blo\u00dfe Reproduktion der Vorstellung der Handlung ausgel\u00f6st ist.\nSehen wir uns die Vorg\u00e4nge bei der Mach Wirkung einer posthypnotischen Suggestion n\u00e4her an, so finden wir, da\u00df beim Auftreten des angegebenen Signals f\u00fcr Ausf\u00fchrung der betreffenden Handlung sich ein Zustand der Unruhe geltend macht","page":1295},{"file":"p1296.txt","language":"de","ocr_de":"1296\nG. St\u00f6rring\nund da\u00df an diesen Zustand sich die Ausf\u00fchrung der betreffenden Handlung anschlie\u00dft.\nDen hier auf tretenden Zustand der Unruhe m\u00f6chte ich auf-fassen als durch den reproduktiv an die Wahrnehmung des Signals sich anschlie\u00dfenden Gedanken bedingt, da\u00df jetzt etwas getan werden soll. Ich finde in Experimenten \u00fcber Willens -geschehen, bei denen der Yersuchsperson eine komplexe Anweisung gegeben ist, da\u00df dem speziellen Gedanken, was zu tun ist, h\u00e4ufig der allgemeine Gedanke1) vorausgeht, da\u00df etwas getan werden soll. Dieser allgemeine Gedanke ist leichter zu reproduzieren. Er beg\u00fcnstigt dann die Reproduktion des speziellen Gedankens an das, was zu tun ist. Wenn hier an den durch den allgemeinen Gedanken, da\u00df jetzt etwas getan werden soll, bedingten Zustand der U n-r u h e sich die Ausf\u00fchrung der betreffenden Handlung anschlie\u00dft, so f\u00fchrt uns die Ausf\u00fchrung der betreffenden Handlung auf die Annahme, da\u00df zwischen dem Zustand der Unruhe und der Ausf\u00fchrung der Handlung eine Y orstellung der Handlung, ein Gedanke an die Handlung \u2014 wenn auch nur ganz dunkel \u2014 aufgetreten ist und diese Annahme stimmt zugleich mit der Beziehung des allgemeinen Gedankens, da\u00df jetzt etwas getan werden mu\u00df, zu einem entsprechenden speziellen Gedanken \u00fcberein.\nMethodologisch ist zu betonen, da\u00df wir uns die vorliegenden Tatbest\u00e4nde verst\u00e4ndlich machen k\u00f6nnen, ohne irgendeine gewagte Annahme zu machen, indem wir mit causae verae operieren, w\u00e4hrend der Gegner, indem er f\u00fcr die Erkl\u00e4rung ein unbewu\u00dftes seelisches Geschehen annimmt, mit nur fingierten Urachen arbeitet. \u2014\nWir sahen fr\u00fcher, da\u00df die Yerteidiger der Behauptung der Existenz eines Unbewu\u00dften im Sinne eines psychischen Geschehens nach Art des im Bewu\u00dftsein ablaufenden Geschehens, das ohne Bewu\u00dftsein verl\u00e4uft, au\u00dfer auf Tatsachen des Doppelbewu\u00dftseins und der posthypnotischen Erscheinungen auf psychoanalytische Feststellungen verweisen. Diese letzte Position haben wir jetzt noch n\u00e4her kritisch zu betrachten.\nBei kritischer Besprechung der Traumerscheinungen und Fehlleistungen nach Freud hat sich uns gezeigt, da\u00df die Wirkung von sogenannten ,,Komplexen\u201d verst\u00e4ndlich gemacht werden kann, ohne da\u00df man, wie Freud es tut, in diesen Komplexen\nb Skawran : Exper. Unters, \u00fcber den Willen bei Wahlhandlungen. Archiv f. d. ges. Psychol. Bd. 58.","page":1296},{"file":"p1297.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1297\nunbewu\u00dfte Denkakte und unbewu\u00dfte Willensvorg\u00e4nge \u2014 und damit auch unbewu\u00dfte Gef\u00fchls Vorg\u00e4nge sieht.\nWir wollen uns jetzt noch aus anderen Gebieten der Psychoanalyse zur Verteidigung der Existenz dieses Unbewu\u00dften beigebrachtes Material n\u00e4her betrachten.\nWir geben zun\u00e4chst einen Fall von Pfister:\n\u201eEin 16j\u00e4hriger Knabe leidet an mehreren Druckpunkten auf dem Kopf, die auf Fall, Pr\u00fcgeleien usw. zur\u00fcckgehen. Der Vater, ein Lehrer, pflegte seinem Sohn beim Klavierunterricht Kopfn\u00fcsse auszuteilen, bis die schmerzhaften Stellen Einhalt geboten. Sofort nach Aufdeckung dieser Tatsachen (in psychoanalytischer Behandlung) ist der Schaden verschwunden, kehrt aber nach kurzer Zeit als hysterische Dornenkrone zur\u00fcck. Es f\u00fchrte die Apperzeption des Symptoms auf den Dornengekr\u00f6nten, dessen Passion der Patient in der Primarschule mitleidsvoll gesehen hatte. Diese Identifikation sollte ihn in unverdienten Verfolgungen tr\u00f6sten. In der n\u00e4chsten Sitzung \u00fcberraschte mich der Bursche mit einer Drucklinie, die, n\u00e4her ins Auge gefa\u00dft, die Erinnerung assoziierte: Schon oft sagten die Eltern zu mir: ,Du bist ein sonderbarer Heiliger\u2019. Der entlarvte Pseudomessias begn\u00fcgt sich also mit einer etwas bescheideneren Bolle.\u201d Pfister argumentiert bez\u00fcglich dieses Palles folgenderma\u00dfen: \u201eWer wollte nun annehmen, die Hirnzentren, welche die imagin\u00e4ren Dornen-stiche empfinden lie\u00dfen, haben ohne psychische Vermittlung ihre Funktion an total andere abgegeben, welche die Empfindung einer Aureole hervorbrachten1)?\u201d\nZu dieser Verwertung des Falles m\u00f6chte ich darauf hinweisen, da\u00df auch bei Leugnung der Bealit\u00e4t unbewu\u00dften psychischen Geschehens nicht angenommen zu werden braucht, da\u00df hier die \u00c4nderung der hysterischen Erscheinungen ohne psychische V ermittlung zustande gekommen sei. Die psychische Vermittlung sehe ich negativ darin, da\u00df die Empfindung der Dornenkrone Christi von dem Analysanden als deplaciert erkannt wurde und positiv in der Vorstellung, dem Gedanken, da\u00df man ihn oft als sonderbaren Heiligen bezeichnet habe. F\u00fcr den \u00dcbergang der Vorstellung des sonderbaren Heiligen in die Empfindung des Heiligenscheines ist der sich mit dieser Vorstellung verbindende Affekt des unschuldig Sichverfolgtf\u00fchlens verantwortlich zu machen. Es zeigte sich uns ja fr\u00fcher, da\u00df schon im normalen Seelenleben die Affekte im allgemeinen eine Steigerung der Intensit\u00e4t der Vorstellungen zustande bringen, an welche sie sich anschlie\u00dfen. Damit h\u00e4ngt auch zusammen, da\u00df sporadische\nx) Pfister: Die psychoanalytische Methode. S. 38.","page":1297},{"file":"p1298.txt","language":"de","ocr_de":"1298\nGr. St\u00f6rring\nErinnerungen aus fr\u00fcherer Jugendzeit meist solche sind, an die sich st\u00e4rkere Gef\u00fchlszust\u00e4nde angeschlossen haben.\nEin weiterer Fall, der als Beweis f\u00fcr die Existenz eines unbewu\u00dften psychischen Geschehens herangezogen wird, ist der folgende: \u201eEin 17j\u00e4hriger J\u00fcngling sp\u00fcrte seit einigen Tagen eine seltsame Empfindung im linken Oberarm. Anla\u00df und Sinn des Symptoms sind ihm vollst\u00e4ndig unerkl\u00e4rlich. Auf sie (in psychoanalytischer Behandlung) eingestellt, erinnert er sich, da\u00df er als Kind geimpft werden sollte, sich aber so heftig str\u00e4ubte, da\u00df von der widerw\u00e4rtigen Prozedur Umgang genommen werden mu\u00dfte. Auch jetzt steht etwas Unangenehmes in Aussicht: der Vater will seinen Sohn in ein anderes Institut versetzen, und dem Sohn ist dies schrecklich.\u201d\nPfister verwertet den Fall so, da\u00df er sagt: \u201eDie hysterische Innervation dr\u00fcckt also den Wunsch aus, da\u00df auch diesmal durch Widersetzlichkeit des Yaters Plan vereitelt werde. Diese logische Verbindung fehlt dem Bewu\u00dftsein g\u00e4nzlich. Mcht einmal die Szene vor dem Arzt wird ohne analytische Kunsthilfe bewu\u00dft.\nW\u00e4re der Plan eines renitenten Verfahrens klar erfa\u00dft, so k\u00f6nnte sich ganz gut jenes Bild aus der Jugend einstellen. Kun aber schafft sich ein im Augenblick der Symptomerscheinung unbewu\u00dfter Gedanke einen blo\u00df andeutenden Ausdruck, der aus einem Erlebnis ein besonders charakteristisches Moment ausw\u00e4hlt und zum automatischen Ausdruck bringt1).\u201d\nAuch diesen Fall k\u00f6nnen wir uns ohne die Annahme \u201eunbewu\u00dfter Geistesarbeit\u201d verst\u00e4ndlich machen, und zwar ohne irgendeine gewagte Annahme zu machen.\nHier liegt vor ein sehr heftiges, gegen den Willen des Yaters gerichtetes Str\u00e4uben des jungen Menschen, das Institut zu wechseln. Dieses Str\u00e4uben wirkt reproduzierend auf die Vorstellung einer fr\u00fcheren Situation eines sehr heftigen, ebenfalls gegen den Willen des Yaters gerichteten Str\u00e4ubens.\nAus diesem Vorstellungskomplex hebt sich mit besonderer Intensit\u00e4t (der physiologischen Korrelate) heraus die Vorstellung (bevorstehender) lebhafter Schmerzen im linken Oberarm, an dem er geimpft werden sollte; an diese Partie des Vorstellungskomplexes schlo\u00df sich eben der damalige, sehr starke Affektzustand an. Mit dieser Vorstellung lebhafter Schmerzen im linken Oberarm ist also hier gleichzeitig gegeben der starke Affektzustand des Sich-str\u00e4ubens gegen Wechsel des Institutes. Eine \u201e\u00dcbertragung\u201d des Affektzustandes auf diese Vorstellung macht aus\nx) Pfister: 1. c. S. 45.","page":1298},{"file":"p1299.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1299\nden blo\u00df lebhaft vorgestellten Schmerzen im linken Oberarm hysterische Schmerz empfindnngen im linken Oberarm.\nWir k\u00f6nnen also die hier vorliegenden Tatbest\u00e4nde mit den Mitteln der Bewu\u00dftseins-Psychologie erkl\u00e4ren, ohne die Mitwirkung einer unbewu\u00dften \u201elogischen Verbindung\u20195 anzunehmen, ohne Annahme des unbewu\u00dften \u201eWunsches\u201d, \u201edes Vaters Plan wieder durch Widersetzlichkeit zu vereiteln.\u201d\nEtwas komplexere Verh\u00e4ltnisse bietet folgender Fall von Pfister: ,,Ein 47j\u00e4hriger Arzt berichtet mir, da\u00df er vor 25 Jahren auf einem Spaziergang im Walde pl\u00f6tzlich in einiger Entfernung die Gipsb\u00fcste Schleier machers mit voller Deutlichkeit vor sich sah. Er ging auf sie zu. Erst als er sie greifen wollte, verschwand sie. ,Ich ging frohgestimmt von dannen\u2019, (!) ,Mein Vater, ein Pfarrer, besa\u00df eine solche B\u00fcste\u2019 (!). ,Einst zerbrach das Dienstm\u00e4dchen die \u00fcber sie gestellte Glasglocke. Ich war noch ein Kind. Der Vater veranstaltete einen \u00e4u\u00dferst l\u00e4rmenden Auftritt. Mich ging die Angelegenheit nichts an. Ich fand, der unbedeutende Schaden sei nicht so viel Aufregung seitens des Vaters wert. Die B\u00fcste betrachtete ich stets mit scheuer Ehrfurcht. Da\u00df die Figur dastand, nahm ich als Zeichen, da\u00df es dem Vater gut gehe.\u2019 (,In welcher Gem\u00fctslage befanden Sie sich vor der Vision?\u2019) ,Ich war sehr bek\u00fcmmert, da\u00df ein wichtiger Brief von Hause trotz dringender Bitten ausblieb. Mein Bruder war n\u00e4mlich von Gr\u00f6\u00dfenwahn befallen worden, kaufte Pferde und depeschierte immer um Geld. Um seine Laufbahn nicht zu vernichten, wollte ihn der Vater nicht in einer Irrenanstalt internieren. Da ich keine n\u00e4heren Mitteilungen erhielt, glaubte ich, der Vater sei wieder einmal ganz au\u00dfer sich vor Aufregung.\u201d\nDer Fall wird in folgender Weise in der bezeichneten Dichtung verwertet: \u201eHat die Erinnerung an Schleier m\u00e2cher im kritischen Augenblick einen guten Sinn? Ich denke ja. Die Identifizierung der beiden ehrw\u00fcrdigen Theologen, des Vaters und Schleier m\u00e2chera, erm\u00f6glicht, da\u00df die Wahrnehmung des letzteren auch \u00fcber die Unversehrtheit des ersteren Beruhigung gew\u00e4hrt. Die Erinnerung an den blinden L\u00e4rm wegen der k\u00fcnftigen Gef\u00e4hrdung der Statue legt den Trost nahe, da\u00df auch jetzt die Aufregung des Vaters stark \u00fcbertrieben sei. \u00dcbrigens ist der Halluzinant an der Sache unschuldig und nur indirekt beteiligt. So verstehen wir nun auch die frohe Laune, die sonst schwerlich begreiflich w\u00e4re.\nIch \u00fcberlasse es dem Leser, eine einfachere Deutung des Gesichtes zu suchen. Allein folgendes kann er doch wohl unm\u00f6glich bestreiten. Zwischen der Illusion und den psychoanalytisch gewonnenen Tatsachen mu\u00df ebensogut wie in den fr\u00fcheren F\u00e4llen ein Zusammenhang bestehen. Wer nicht auf Grund eines \u00e4hnlichen Vorurteils, wie dasjenige war, welches Descartes die Tiere als knarrende","page":1299},{"file":"p1300.txt","language":"de","ocr_de":"1300\nGr. St\u00f6rring\nMaschinen betrachten lie\u00df, jede sinnvolle Kausalerkl\u00e4rung ablehnt, mu\u00df eine sinnvolle, der bewu\u00dften \u00dcberlegung \u00e4hnliche Arbeit unter der Bewu\u00dftseinsschwelle annehme n\u201d. Es wird dann hervorgehoben, da\u00df die Apperzeption der Halluzination auf Tatsachen f\u00fchrt, \u201edie eine sehr nahe inhaltliche Beziehung zu einem gegenw\u00e4rtigen, leicht zu konstatierenden Wunsch haben.\u201d \u201eDie Halluzination dr\u00fcckt also einen recht sinnvollen Gedanken aus, der sich aus vorl\u00e4ufig unserem Verst\u00e4ndnis vorenth a 11enen Gr\u00fcnden unter der Bewu\u00dftseinsschwelle bildete und in verh\u00fcllter Gestalt manifestierte.\u201d\nWir geben zu, da\u00df zwischen der \u201eVision\u201d und den psychoanalytisch festgestellten Tatsachen ein \u201egeistiger Zusammenhang\u201d besteht, aber wir fassen die \u201eVision\u201d nicht als Ausdruck eines hinter ihr steckenden unbewu\u00dften sinnvollen Gedankens auf. Uns stellt sich der Zusammenhang in diesem Geschehen folgenderma\u00dfen dar: Die \u201eVision\u201d ist aufgetreten, als der Analysand sich, im Walde spazieren gehend, in einem Zustande gro\u00dfer Erregung befand, der durch den Gedanken an seinen an Gr\u00f6\u00dfenideen erkrankten Bruder und im Gedanken an die Stellungnahme des Vaters zu dem psychisch so schwer erkrankten, Pferde kaufenden und nach Geld telegraphierenden Sohn ausgel\u00f6st und durch die unruhige vergebliche Spannung auf .Nachricht von Hause in seiner Intensit\u00e4t verst\u00e4rkt war. Der Vater wurde dabei zun\u00e4chst selbst als sehr erregt hier\u00fcber gedacht. Da der Analysand nun fr\u00fcher eine au\u00dfergew\u00f6hnlich gro\u00dfe Erregung des Vaters erlebt hatte, als ein Dienstm\u00e4dchen die Glasglocke \u00fcber der B\u00fcste Schleier machers zerbrach, so ist es verst\u00e4ndlich, da\u00df der Gedanke an den sehr erregten (theologischen) Vater eine Beproduktion der bei einer fr\u00fcheren gro\u00dfen Erregung eine dominierende Bolle spielenden B\u00fcste Schleier machers wachrief und da\u00df nun diese Beproduktion bei dem Zustande gro\u00dfer Erregung, in welchem sich der Analysand damals befand, nicht die Gestalt einer einfachen V orstellung annahm, sondern die einer \u201eVision\u201d, einer Pseudohalluzination.\nVon der emotionellen Wirkung der \u201eVision\u201d der B\u00fcste Schleiermachers sagt der Analysand selbst: \u201eDa\u00df die Figur da-stand, nahm ich als Zeichen, da\u00df es dem Vater gut gehe.\u201d\nDas Auftreten einer mystischen Deutung war bei dem jungen Menschen dadurch nahegelegt, da\u00df es sich eben um eine ganz au\u00dfergew\u00f6hnliche Erscheinung, eine \u201eVision\u201d, handelte und dabei um eine Vision eines Objektes, das er stets mit einer Art religi\u00f6ser Ehrfurcht betrachtet hatte. Die Bichtung dieser mystischen Deutung war einmal dadurch bestimmt, da\u00df die","page":1300},{"file":"p1301.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1301\nB\u00fcste Schleiermachers sich ihm wie fr\u00fcher als unversehrt darstellte und nicht zuletzt durch seinen Wunsch, da\u00df es dem Yater wohl gehe. Dieser Wunsch war aber nicht etwa ein unbewu\u00dfter, sondern ein wirklicher, ein bewu\u00dfter Wunsch: er war ja doch um das Wohlergehen des Vaters besorgt!\nSo macht sich uns das Auftreten der Vision und die emotionelle Wirkung derselben durchaus verst\u00e4ndlich, ohne da\u00df wir auf unbewu\u00dft psychische Vorg\u00e4nge rekurrieren \u2014 im innigsten Anschlu\u00df an die gegebenen Tatbest\u00e4nde und bekannte . Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten. Das mu\u00df auch hier methodologisch besonders unterstrichen werden mit Betonung des Gegensatzes zur Verwendung einer fingierten Ursache von seiten der Gegenpartei.\nKoch kompliziertere Verh\u00e4ltnisse als in den bisher besprochenen F\u00e4llen liegen da vor, wo dieganzeLebenshaltungeine komplexbedingte ist.\nIch w\u00e4hle wieder einen Fall von Pfister aus, der eine pr\u00e4chtige Zusammenstellung von F\u00e4llen gibt, die f\u00fcr die Existenz unbewu\u00dfter psychischer Prozesse zu sprechen scheinen.\n\u201eEin sonst liebensw\u00fcrdiger j\u00fcngerer Mann \u00fcberwirft sich mit allen Vorgesetzten und anderen ma\u00dfgebenden Pers\u00f6nlichkeiten, wodurch er seine gl\u00e4nzend begonnene Laufbahn gef\u00e4hrdet. Die Analyse seiner Wachphantasien l\u00f6st das B\u00e4tsel: H\u00e4ufig l\u00e4uft er in seinem Zimmer mit geballten F\u00e4usten auf und nieder, mit dr\u00f6hnender Stimme k\u00e4mpft er gegen einen imagin\u00e4ren Feind, in der Begel seinen Vorgesetzten. Aus den Tr\u00e4umen folgt indessen mit Sicherheit, da\u00df eigentlich der Vater gemeint ist, indem dieser und der Vorgesetzte h\u00e4ufig als Mischfigur auftreten. Der kampflustige Herr will also die Lust des erfolgreichen Streites wider den Vater an anderen Objekten k\u00fchlen, und will die hei\u00dfen, aussichtslosen Kinderw\u00fcnsche jetzt realisieren, \u00fcber welchem nutzlosen Vorhaben er seine sch\u00f6nsten Chancen verdirbt. Die Analyse erl\u00f6ste auch ihn1).\u201c\nEs liegt nat\u00fcrlich sehr nahe, anzunehmen, da\u00df der junge Mann sich seine sch\u00f6nsten Chancen verdirbt, indem er von einer \u201eunbewu\u00dften Absicht\u201d getrieben wird.\nWir machen uns einen solchen Fall auf folgende Weise verst\u00e4ndlich. Der Gedanke an seinen Vorgesetzten verbindet sich bei dem jungen Mann mit dem Gedanken, da\u00df diese Pers\u00f6nlichkeit Unterordnung und Gehorsam von ihm verlangt. Kach den psychoanalytischen Feststellungen handelt es sich indiesem Fall um einen Menschen, bei dem ein \u201eV aterkomplex\u201d\n1) Pfister: 1. c. S. 97.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n85","page":1301},{"file":"p1302.txt","language":"de","ocr_de":"1302\nG. St\u00f6rring\nwirklich vorhanden ist. Sieht nnn der Analysand in seinem Vorgesetzten eine Pers\u00f6nlichkeit, die Unterordnung nnd Gehorsam von ihm verlangt, so wird durch diesen Gedanken der Vaterkomplex in starker Weise reproduktiv angeregt : Der intellektuelle Bestandteil dieses Vaterkomplexes tritt infolge von Hemmung in statu nascendi nicht ins klare Bewu\u00dftsein, aber an den intellektuellen Bestandteil schlie\u00dft sich der emotionelle, der aggressiv gef\u00e4rbte Affekt an. Im Bewu\u00dftsein tritt also hervor: im Anschlu\u00df an den Gedanken an seinen Vorgesetzten und den damit eng verkn\u00fcpften Gedanken (der im allgemeinen ein Gedanke ohne Worte ist), den Gedanken, da\u00df der Vorgesetzte Unterordnung und Gehorsam von ihm verlangt, ein aggressiv gef\u00e4rbter Affektzustand, der auf denim Blickpunkt des Bewu\u00dftseins stehenden Vorgesetzten bezogen wird.\nDer so bezogene aggressiv gef\u00e4rbte Affektzustand wird nun aber in einzelnen konkreten F\u00e4llen des Verhaltens dem Chef gegen\u00fcber sich h\u00e4ufig in Handlungen auswirken, deren Gedanke sich mit einem Affektzustand \u00e4hnlicher- F\u00e4rbung verbindet, also in widerspenstigen Handlungen, die den vitalsten Interessen des jungen Mannes zuwiderlaufen. Ich sage, dieser aggressiv gef\u00e4rbte Affektzustand wird sich h \u00e4 u f i g in widerspenstigen Handlungen auswirken, n\u00e4mlich immer dann, wenn die Intensit\u00e4t des Affektzustandes eine entsprechende ist.\nMan sieht also, da\u00df wir auch bei dieser Art von F\u00e4llen keine Veranlassung, kein Becht haben, das Wirken von ,,u n bewu\u00dft e n\u201d Absichten anzunehmen.\nHier m\u00f6chte ich eine allgemeinere methodologische Bemerkung machen. Diejenigen Psychoanalytiker, welche mit der Annahme unbewu\u00dfter psychischer Prozesse arbeiten, werden in F\u00e4llen, wo ein \u201eKomplex\u201d als vorhanden nachgewiesen wird und einVerhalten nicht anders wie als Komplexwirkung aufgefa\u00dft werden kann, unsere methodologische Behauptung beanstanden, da\u00df auf der einen Seite ein Operieren mit fingierten Gr\u00f6\u00dfen, auf der anderen ein Operieren mit causae verae vorliege. Sie werden sagen: Der Komplex funktioniert hier eben als causa vera, nachdem er als existierend nachgewiesen ist; der intellektuelle Bestandteil des Komplexes f\u00e4llt aber nicht ins Bewu\u00dftsein, er ist gegeben in unbewu\u00dften intellektuellen Prozessen.","page":1302},{"file":"p1303.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1303\nDarauf antworte ich: Ich gebe zu, da\u00df ein Komplex, der psychoanalytisch in eindeutig en, Weise aufzuweisen ist, als causa v e r a anzusehen ist, aber ich bestreite, da\u00df dieser Komplex in unbewu\u00dften psychischen Prozessen besteht! Hier liegt die causa ficta!\nEs ist methodologisch weiter zu beachten, da\u00df von Verteidigern der Existenz unbewu\u00dfter psychischer Prozesse behauptet worden ist, diese Position stehe auf demselben Brett wie die \u2018Behauptung der Existenz fremden Seelenlebens. Das fremde Seelenleben k\u00f6nne man ebensowenig erleben wie die unbewu\u00dften psychischen Prozesse!\nEs f\u00fchrt uns hier zu weit, genaue Bechenschaft von der erkenntnistheoretischen Dignit\u00e4t der Annahme fremden Seelenlebens zu geben. Ich habe a. a. O. dar\u00fcber n\u00e4here Bestimmungen gemacht1). F\u00fcr unsere Zwecke gen\u00fcgt es hier, hervorzuheben, da\u00df zwischen der erkenntnistheoretischen Dignit\u00e4t der Annahme fremden Seelenlebens und der Annahme unbewu\u00dfter psychischer Prozesse darin ein eminenter Unterschied liegt, da\u00df wir das S e elenleben aus eigener Erfahrung kennen, w\u00e4hrend unbewu\u00dfte psychische Prozesse von uns nat\u00fcrlich nie erlebt werden k\u00f6nnen! \u2014\nDie psychoanalytischen Verfechter der Existenz unbewu\u00dftpsychischer Prozesse betonen nicht zuletzt, da\u00df alle wissenschaftliche und praktische Produktion auf das Konto des Unbewu\u00dften zu setzen sei.\nUm diese Behauptung zu pr\u00fcfen, m\u00fcssen wir etwas ausholen. Was die wissenschaftliche Produktion anlangt, so ist dieselbe sehr stark von der Bet\u00e4tigung der wissenschaftlichen Phantasie abh\u00e4ngig.\nDie Phantasiebet\u00e4tigung unterscheidet sich von der einfachen Beproduktion einer Wahrnehmung nur graduell. Auch bei Bepro-duktionen von Wahrnehmungen handelt es sich im allgemeinen nicht um eigentliche Kopieen der Wahrnehmungen, sondern die Beproduktionen weisen leichte Abweichungen von dem Inhalt der Wahrnehmungen auf. Wie schon im allgemeinen die einfachen Beproduktionen, so nehmen erst recht die Phantasieprodukte ihre Elemente aus verschiedenen Wahrnehmungen und den bei Auffassung derselben entwickelten Beziehungsgedanken ; die Phantasieprodukte stellen also Kombinationen aus den Elementen\n1) St\u00f6rrinq: Erkenntnistheorie. S. 104 ff.\n85*","page":1303},{"file":"p1304.txt","language":"de","ocr_de":"1304\nG-. St\u00f6rring\nverschiedener Wahrnehmungen und entsprechender Beziehungs-gedanken dar.\nUm die Phantasieprodnkte von den Reproduktionen abzuheben, spricht man bei den Phantasiebildern am besten von \u201edurchaus neuen\u201d Verkn\u00fcpfungen von Vor-Stellung s- und Gedanken elementen\u201d. Reproduziert werden ja doch nicht blo\u00df Vorstellungen, sondern auch Beziehung^ -gedanken.\nDie Phantasiebet\u00e4tignng unterscheidet sich von der Denkt\u00e4tigkeit dadurch, da\u00df sie sich nicht mit dem Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit verbindet.\nDie Phantasiebet\u00e4tigung des Kindes kommt im Spiel zur objektiven Darstellung. Sie hat konkrete Objekte zu ihrem Gegenst\u00e4nde.\nDie Phantasiebet\u00e4tigung des Erwachsenen operiert mit konkreten, aber auch mit abstrakten Objekten. Im praktischen Leben hat die Phantasiebet\u00e4tigung die Bedeutung, da\u00df sie in einer gegebenen Situation, in der man zun\u00e4chst nicht aus noch ein wei\u00df, verschiedeneM\u00f6glichkeiten des Handelns vor Augenf\u00fchrt. Hier tritt dann deutlich die Beziehung zwischen Phantasie und Denken hervor. W\u00e4hrend die Phantasie die verschiedenen M\u00f6glichkeiten des Handelns darbietet, nimmt das Denken zu den vorliegenden Phantasieprodukten kritisch Stellung.\nBei der wissenschaftlichen Produktion vollzieht sich die Phantasiebet\u00e4tigung nicht an konkreten, sondern an abstrakten Gebilden. Die wissenschaftliche Phantasie bringt eine durchaus neue Verkn\u00fcpfung abstrakter Gedanken zustande. Dabei besteht die Intention zur Bildung sinnvoller Gestaltungen, die von dem Denken anerkannt werden.\nEine wissenschaftliche Produktion setzt also eine abstrakte Phantasiebet\u00e4tigung voraus. Diese abstrakte Phantasiebet\u00e4tigung aber gr\u00fcndet sich wieder auf eine Verarbeitung des betreffenden Gebietes in Urteils- und Schlu\u00dfprozessen. Diese Urteils- und Schlu\u00dfprozesse haben nicht zur L\u00f6sung des Problems gef\u00fchrt, aber meist zu einer spezielleren Gestaltung des Problems. Mit dieser zugleich ist gegeben der Wille zur L\u00f6sung des so und so gestalteten Problems. Tritt dieser Wille in den Hintergrund des Bewu\u00dftseins, so sprechen wir von einer D e n k e i n s t e 11 u n g zur L\u00f6sung des Problems.","page":1304},{"file":"p1305.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1305\nDiese Denkeinstellung zur L\u00f6sung des spezialisierten Problems wirkt nun auf den ganzen Umkreis der vorhandenen dunkel-bewu\u00dften Gedanken, die fr\u00fcher einzeln im Blickpunkt des Bewu\u00dftseins standen \u2014 aber nicht auf sie allein, sondern auch auf Dispositionen von Gedanken, vor allem auf eine F\u00fclle von physiologischen Dispositionen von Gedanken, die ebenfalls in Absicht der allgemeinen Probleml\u00f6sung im klaren Bewu\u00dftsein verarbeitet wurden und sich jetzt noch im Zustande erleichterter Reproduzierbarkeit befinden.\nBringt nun die Denkeinstellung, zur L\u00f6sung des spezialisierten Problems auf diese beiden Gruppen von Material wirkend, eine gl\u00fcckliche Kombination von Gedankenelementen zustande, so erscheint diese Kombi n a t i o n, zumal diese Gruppen von Tatsachen nicht mehr klar pr\u00e4sent sind, als unvermittelt, eventuell als eine Art von Eingebung.\nDas sich so ergebende Phantasieprodukt bedarf nun aber noch der Pr\u00fcfung auf seine G\u00fcltigkeit von seiten des kritischen Denkens \u2014 \u00e4hnlich wie im praktischenLeben bei schwieriger Situation f\u00fcr das Handeln die von der Phantasie dargebotenen M\u00f6glichkeiten des Handelns einer kritischen Beurteilung von seiten des Denkens unterworfen werden m\u00fcssen.\nIn diesen intellektuellen Prozessen sind Gef\u00fchlszust\u00e4nde da beteiligt, wo die Denkeinstellung zur L\u00f6sung des Problems vorliegt, und zwar als Willensgef\u00fchl, welches den Gedanken einer bestimmten Richtung der Bet\u00e4tigung fixiert.\nEine gr\u00f6\u00dfere Rolle als bei wissenschaftlicher Produktion spielen Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei k\u00fcnstlerischer Produktion. Doch bevor wir dazu \u00fcbergehen, fragen wir uns, was wir jetzt zur Position mancher Psychoanalytiker zu sagen haben, wenn sie behaupten, unbewu\u00dft psychische Prozesse spielten in der wissenschaftlichen Produktion eine dominierende Rolle. Sie legen auf die Leistung der Phantasie f\u00fcr das produktive Denken den Finger. Aber wir sahen ja, da\u00df diese Phantasiebet\u00e4tigung zur Y oraussetzung hat eine Verarbeitung des ganzen in Betracht kommenden Materials in Urteils- und Schlu\u00dfprozessen, also eine Verarbeitung","page":1305},{"file":"p1306.txt","language":"de","ocr_de":"1306\nG. St\u00f6rring\ndes ganzen Materials im klarbewu\u00dften Denken1). Darauf gr\u00fcndete sich, auch die spezielle Gestaltung des Problems.\nUnd wo nun die Phantasiebet\u00e4tigung einsetzte, da wirkte richtungbestimmend auf die Phantasiet\u00e4tigkeit die Denkeinstellung zur L\u00f6sung des spezialisierten Problems.\nUnd das Material, auf welches diese Denkeinstellung zur L\u00f6sung des Problems wirkt, ist zum Teil dnnkelbewn\u00dft, zum Teil physiologische Disposition von Gedanken, die vor kurzem im klaren Denken verarbeitet sind und sich so noch im Zustande erleichterter Beproduzierbarkeit befinden. Wenn man hier unbewu\u00dfte Faktoren hypothetisch eine Bolle spielen lassen will, so k\u00f6nnte das nur so geschehen, da\u00df man diese Dispositionen als nicht nur physiologische, sondern auch als psychische Dispositionen ansetzt.\nSonst ist, wie man sieht, keine Stelle vorhanden, an der man hypothetisch ein unbewu\u00dftes Seelisches eine Bolle spielen lassen kann. Nimmt man an dieser Stelle aber unbewu\u00dft Seelisches an, da hat man doch noch keine unbewu\u00dft seelischen Prozesse nach Art des klarbewu\u00dften psychischen Prozesse in dem produktiven wissenschaftlichen Denken entdeckt, sondern nur unbewu\u00dftseelische Dispositionen. Damit begn\u00fcgten sich aber nicht die Verfechter der unbewu\u00dft-seelischen Prozesse !\nAuf dem Gebiet der k\u00fcnstlerischen Produktion spielen die Gef\u00fchlsprozesse eine weit gr\u00f6\u00dfere Bolle als auf dem Gebiet der wissenschaftlichen Produktion. Da spielen Gef\u00fchlsznst\u00e4nde nicht nur eine Bolle in der auf die Phantasieprozesse richtunggebend wirkenden Einstellung, sondern hier wirken sie auch inhaltlichbestimmend auf die Phantasiebet\u00e4tigung. Der K\u00fcnstler mu\u00df ein konkretes Phantasieprodukt erzeugen, das starke \u00e4sthetische Gef\u00fchle ausl\u00f6st. Die Gestaltung dieses Phantasieproduktes setzt voraus, da\u00df er selbst diese Gef\u00fchlszust\u00e4nde in starker Weise erlebt. Er hat die Einstellung, diese selbsterlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nde bestimmend wirken zu lassen auf die Erzeugung konkreter Gebilde, die selbst wieder solche Gef\u00fchle ausl\u00f6sen.\nHier wirken richtunggebend auf die Phantasiebet\u00e4tigung wieder klarbewu\u00dfte psychische Prozesse und sie wirken au\u00dfer auf ein im dunkeln Bewu\u00dftsein gegebenes Material auch auf physiologische Dispositionen, die beim Ablauf \u00e4hnlicher Gef\u00fchls-\n1) Anmerkung: Der Hegelianer Joh. Ed. Erdmann pflegte in seiner Psycho -logievorlesung hei Behandlung des Genies zu sagen : Wenn man von einem verbummelten Genie spricht, so bezweifle ich nicht, da\u00df der Betreffende verbummelt ist; aber ich bezweifle, wenn er verbummelt ist, da\u00df er ein Genie ist.","page":1306},{"file":"p1307.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1307\nzustande sich entwickelt haben, nnr da\u00df hier nicht die Bedingung erf\u00fcllt zu werden braucht, da\u00df die Dispositionen sich auf emotionelle Erlebnisse beziehen, welche sich noch im Zustande erleichterter Reproduzierbarkeit befinden.\nDie Frage, an welcher Stelle man hier hypothetisch ein Unbewu\u00dft-Seelisches ansetzen k\u00f6nnte, beantwortet sich in ganz analoger Weise wie bei Betrachtung der wissenschaftlichen Produktion. Als Unbewu\u00dft-Seelisches lassen sich hier nur die bezeich-neten Dispositionen ansetzen.\n14. Kapitel.\nDas \u201e\u00fcberpers\u00f6nliehe\u201d Unbewu\u00dfte.\nJung unterscheidet zwei Schichten des Unbewu\u00dften: das pers\u00f6nliche Unbewu\u00dfte und das \u00fcberpers\u00f6nliche Unbewu\u00dfte. Das \u00fcberpers\u00f6nliche oder kollektive Unbewu\u00dfte wird so genannt, weil es in allen Menschen vorhanden ist.\nDies \u00fcberpers\u00f6nliche Unbewu\u00dfte besteht in einer ,,Hirnstruktur ererbter M\u00f6glichkeiten des Vorstellens\u201d 1). Es wird von Jung betont, da\u00df er dabei nicht eine Vererbung von Vorstellungen annimmt, sondern eine \u201eVererbung der M\u00f6glichkeit des Vor-stellens\u201d.\nKur bei Annahme eines solchen vererbten Tatbestandes soll man sich verst\u00e4ndlich machen k\u00f6nnen, da\u00df gewisse Sagenstoffe und Motive auf der ganzen Erde in identischen Formen auftretenund da\u00df von gewissen Geisteskranken dieselben Bilder und Gedankeng\u00e4nge reproduziert werden wie in jenen Sagenstoffen.\nDiese vererbten M\u00f6glichkeiten menschlichen Vorstellens nennt Jung allgemeinmenschliche \u201eurt\u00fcmliche Bilder\u201d oder \u201eArchetypen\u201d oder auch \u201eDominanten des kollektiven Unbewu\u00dfte n\u201d.\nEs werden sodann noch n\u00e4here Bestimmungen \u00fcber diese vererbten Tatbest\u00e4nde gemacht:\nSie sind \u201eebensowohl Gef\u00fchl als Gedank e\u201d. Sie haben sogar \u201eetwas wie ein eigenes, selbst\u00e4ndiges Leben, etwa wie das von Partialseele n\u201d 2).\nEs wird sodann von ihnen gesagt, da\u00df sie die \u00e4ltesten \u201ea 11-gemeinsten und tiefsten Gedanken der Menschheit\u201d sind, \u201eohne welche der Mensch aufh\u00f6rt, Mensch zu sein\u201d.\nZu diesen Gedanken der Menschheit geh\u00f6rt auch die Idee eines g\u00f6ttlichenWesens. \u201eDie Idee eines \u00fcberm\u00e4chtigen,\nx) Jung: Der Unbewu\u00dfte im normalen und kranken Seelenleben. S. 75.\n2) Jung: 1. c. S. 97.","page":1307},{"file":"p1308.txt","language":"de","ocr_de":"1308\nG. St\u00f6rring\ng\u00f6ttlichen Wesens ist \u00fcberall vorhanden, wenn nicht bewn\u00dft, so doch nnbewn\u00dft, denn sie ist ein Archetypus\u201d 1). Hierzu geh\u00f6rt auch die Idee von der Erhaltung der Energie.\n\u00dcber die Entstehung solcher ,,urt\u00fcmlicher Bilder\u201d, ^Archetypen\u201d, sagt Jung, da\u00df sie Niederschl\u00e4ge stets sich wiederholender Erfahrungen der Menschheit sind2).\nInteressant sind Jungs n\u00e4here Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Charakterisierung der Idee der Erhaltung der Energie als urt\u00fcmliches Bild. Er sagt:\n\u201eNehmen wir z. B. einen der gr\u00f6\u00dften Gedanken, den das 19. Jahrhundert geboren hat, die Idee der Erhaltung der Energie. Robert Mayer ist der eigentliche Sch\u00f6pfer dieser Idee. Er war ein Arzt und kein Physiker oder Naturphilosoph, denen doch die Schaffung einer solchen Idee n\u00e4her gelegen h\u00e4tte. Es ist aber belangreich zu wissen, da\u00df die Idee von Robert Mayer im eigentlichen Sinn nicht geschaffen worden ist : Auch ist sie nicht durch das Zusammenflie\u00dfen von damals bestehenden Vorstellungen oder wissenschaftlichen Hypothesen zustande gekommen, sondern sie wurde im Sch\u00f6pfer und hat ihn bedingt. Robert Mayer schrieb folgendes dar\u00fcber an Griesinger (1844): ,Die Theorie habe ich keineswegs am Schreibtisch ausgeheckt\u2019 (darauf berichtet er \u00fcber gewisse physiologische Beobachtungen, die er 1840 bis 1841 als Schiffsarzt anstellte). ,Will man nun\u2019, so f\u00e4hrt er in seinem Brief fort, ,\u00fcber physiologische Punkte klar werden, so ist Kenntnis physikalischer Vorg\u00e4nge unerl\u00e4\u00dflich, wenn man es nicht vorzieht, von metaphysischer Seite her die Sache zu bearbeiten, was mich unendlich disgutiert; ich hielt mich also an die Physik und hing dem Gegenstand mit solcher Vorliebe nach, da\u00df ich, wor\u00fcber mich mancher auslachen mag, wenig nach dem fernen Weltteil fragte, sondern mich am liebsten an Bord auf hielt, wo ich unausgesetzt arbeiten konnte, und wo ich mich in manchen Stunden gleichsam inspiriert f\u00fchlte, wie ich mich zuvor oder sp\u00e4ter nie an etwas \u00c4hnliches erinnern kann. Einige Gedankenblitze, die mich, es war auf der Beede von Surabaja, durchfuhren, wurden sofort emsig verfolgt und f\u00fchrten wieder auf neue Gegenst\u00e4nde. Jene Zeiten sind vorbei, aber die ruhige Pr\u00fcfung dessen, was damals in mir auftauchte, hat mich gelehrt, da\u00df es Wahrheit ist, die nicht nur subjektiv gef\u00fchlt, sondern auch objektiv bewiesen werden kann ; ob dieses aber durch einen der Physik so wenig kundigen Mann geschehen k\u00f6nne, dies mu\u00df ich nat\u00fcrlich dahingestellt sein lassen . . . .\u2019\nx) Jung: 1. c. S. 103.\n2) Jung: 1. c. 8. 101.","page":1308},{"file":"p1309.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1309\nDie Frage ist nun, woher stammte die nene Idee, die sich mit so elementarer Gewalt dem Bewu\u00dftsein aufdr\u00e4ngte1? Und woher nahm sie jene Kraft, welche das Bewu\u00dftsein derma\u00dfen ergreifen konnte, da\u00df sie es von all den mannigfaltigen Eindr\u00fccken einer ersten Tropenfahrt g\u00e4nzlich abziehen konnte ? Diese Fragen sind nicht so leicht zu beantworten. Wenden wir aber unsere Theorie auf diesen Fall an, so mu\u00df die Erkl\u00e4rung lauten : Die Idee der Energie und ihrer Erhaltung mu\u00df ein urt\u00fcmliches Bild sein, das im kollektiven Unbewu\u00dften schlummert1).\u201d\nJung sucht dann noch den Nachweis zu erbringen, da\u00df ein solches urt\u00fcmliches Bild wirklich in der Geistesgeschichte wirksam war. Er verweist daf\u00fcr auf die primitivsten Religionen in den verschiedensten Gebieten der Erde, sogenannte dy na mis tische Religionen, in denen eine allgemein verbreitete magische Kraft die Hauptrolle spiele. Taylor habe diese Auffassung irrt\u00fcmlich als Animismus bezeichnet, treffend sei die Charakterisierung dieser Kr\u00e4fte von Lovejoy als ,,primitive energetics\u201d. Im Alten Testament finde man etwas \u00c4hnliches in der magischen Kraft im brennenden Dornbusch des Moses und im Neuen Testament in der Ausgie\u00dfung des Heiligen Geistes. Sodann weist er hin auf das \u201eewig brennende Feuer Heraklits, die Heimarmene, die Schicksalskraft der Stoiker und die Lehre von der Seelenwanderung, bei der es sich handle um eine unbeschr\u00e4nkte Umwandlungsf\u00e4higkeit bei konstanter Erhaltung.\nWir nehmen zu diesen Auffassungen von Jung, die in ein paar Jahren weltbekannt geworden sind, kritisch in folgender Weise Stellung:\n1.\tWenn gesagt wird, da\u00df diese Theorie das \u201eeigentlich unglaubliche Ph\u00e4nomen\u201d erkl\u00e4rt, da\u00df gewisse Sagenstoffe sich auf der ganzen Welt in identischen Formen wiederholen, so ber\u00fccksichtig t man nicht in geh\u00f6riger Weise, da\u00df die Lebens -umst\u00e4nde an den verschiedenen Stellen in der Welt, so different dieselben auch sein m\u00f6gen, gewisse \u00c4hnlichkeiten auf weisen, und da\u00df auch die Natur der primitiven Menschen ohne Zweifel gemeinsame Z\u00fcge hat. Aus diesen beiden Tatbest\u00e4nden mu\u00df eine gewisse \u00dcbereinstimmung in den Sagenstoffen auf der ganzen Erde erwachsen.\n2.\tWas sodann den Hinweis darauf betrifft, da\u00df gewisse Geisteskranke die gleichen Bilder und Gedankeng\u00e4nge ,,reproduzieren\u201d k\u00f6nnen, wie wir sie in den alten Texten kennen, so ist zu ber\u00fccksichtigen, da\u00df bei einer Ausschaltung der h\u00f6heren psychischen\n1) Jung: 1. c. S. 97 ff.","page":1309},{"file":"p1310.txt","language":"de","ocr_de":"1310\nGr. St\u00f6rring\nFunktionen das psychische Verhalten dem Verhalten des primitiven Menschen \u00e4hnlich wird, der auch nicht so sehr durch die Einstellung zum geordneten Denken als durch grobe, gel\u00e4ufige Assoziationen in seinem ,,Denken\u201d bestimmt wird!\n3.\tWenn Jung betont, da\u00df er keine Vererbung von urt\u00fcmlichen Vorstellungen annehme, sondern nur die Vererbung von M\u00f6glichkeiten von solchen Vorstellungen, so passen dazu die n\u00e4heren Angaben nicht, die er \u00fcber diese vererbten M\u00f6glichkeiten des Vorstellens macht.\nDiese M\u00f6glichkeiten sind ,,ebenso wohl Gef\u00fchl als Gedanke\u201d, sie sind die \u201etiefsten Gedanken der Menschheit\u201d.\n4.\tEs ist erstaunlich, da\u00df die st\u00e4rksten und gewaltigsten Gedanken, ohne welche der Mensch aufh\u00f6rt, Mensch zu sein, nicht klar bewu\u00dfte Gedanken und Wertsch\u00e4tzungen sein, sondern dem Unbewu\u00dften angeh\u00f6ren sollen.\nEs ist auch sehr merkw\u00fcrdig, da\u00df diese gewaltigsten Gedanken der Menschheit aus der Zeit des Primitiven stammen sollen, mechanisch entstandene \u201eMederschl\u00e4ge stets sich wiederholender Erfahrungen der Menschheit sind\u201d !\n5.\tZu diesen Archetypen soll auch die Idee der D\u00e4monen, der G\u00f6tter, Gottes geh\u00f6ren. Als ob nicht die Beligionspsychologie in der Lage w\u00e4re, von diesen Vorstellungsweisen psychogenetisch Bechenschaft zu geben1). K\u00f6nnen wir aber von diesen Vorstellungsweisen empirisch Bechenschaft geben, so fordert die Methodologie, da\u00df man nun nicht noch au\u00dferdem angeborene Tatsachen annimmt: die Annahme des Angeborenseins dieser Vorstellungsweisen, von denen man schon psychogenetisch Bechenschaft gegeben hat, schwebt dann ja vollst\u00e4ndig in der Luft2).\n6.\tEtwas genauer m\u00fcssen wir uns mit den Entwicklungen Jungs \u00fcber die Idee der Erhaltung der Energie befassen. Diese wissenschaftliche Entdeckung soll in Robert Mayer aus urt\u00fcmlichen Bildern, Archetypen, dem kollektiven Unbewu\u00dften, hervorgetrieben sein. Es wird dabei besonders betont, da\u00df zur Zeit der Entdeckung Robert Mayer sich in manchen Stunden gleichsam inspiriert f\u00fchlte. Der Eindruck der pl\u00f6tzlichen Erleuchtung tritt aber bei den meisten gro\u00dfen wissenschaftlichen Entdeckungen auf, auch bei den abstraktesten. Dann m\u00fc\u00dften ja die meisten, auch die abstraktesten wissenschaftlichen Entdeckungen den urt\u00fcmlichen Bildern entstammen, d. h. Niederschl\u00e4ge stets sich wiederholender Erfahrungen der Menschheit sein!\n1)\tWundt: V\u00f6lkerpsychologie, Mythus und Religion. 4. Bd.; St\u00f6rrinq: Psychologie. S. 438 ff.\n2)\tSt\u00f6rring: Logik. S. 295 ff.","page":1310},{"file":"p1311.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1311\nDer Eindruck der pl\u00f6tzlichen Erleuchtung ist sodann psychologisch-empirisch gut verst\u00e4ndlich zu machen1); man hat dann ebensowenig ein Recht, hier das Wirken eines angeborenen Faktors anzunehmen wie bei der Entstehung der Gottesidee.\nJung sucht auch noch einen Nachweis der Wirkung eines entsprechenden urt\u00fcmlichen Bildes aus der Geistesgeschichte zu geben.\nDieser \u201eNachweis\u201d ist nun allerdings v\u00f6llig mi\u00dflungen. Was hilft es f\u00fcr die Behauptung, da\u00df der Gedanke der Erhaltung der Energie dem primitiven Denken entstammt, darauf hinzuweisen, da\u00df primitive Religionen an eine allgemein verbreitete magische Kraft4) glauben, da\u00df im Alten Testament gelegentlich von der magischen Kraft eines brennenden Dornbusches gesprochen wird, da\u00df nach dem Neuen Testament eine Ausgie\u00dfung des Heiligen Geistes erfolgte in Form feuriger Zungen vom Himmel, und da\u00df sich der Glaube an eine Seelenwanderung entwickelt hat ? Was hat das alles zu tun mit der Rudolf Mayerschen Behauptung der \u00c4quivalenz der verschiedenen Energieformen in der Welt !\nHier liegen ja nur die bl\u00e4ssesten Analogien vor !\n15. Kapitel.\n\u00dcbertragung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei verdr\u00e4ngten Komplexen.\nDie \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden macht sich bei verdr\u00e4ngten Komplexen in verschiedener Weise geltend.\n1. Bei der fr\u00fcher besprochenen Patientin, welche an Schmerzen an einer bestimmten Stelle des Oberschenkels litt, hatte Patientin sich Selbstvorw\u00fcrfe dar\u00fcber gemacht, da\u00df sie ihren kranken Yater ihrem Vergn\u00fcgen zuliebe l\u00e4ngere Zeit unversorgt gelassen hatte. Ihr Verhalten entsprechend der Liebe zu einem jungen Mann kam in Kollision mit ihren sittlichen Wertsch\u00e4tzungen und dieser Konflikt f\u00fchrte zu einer Verdr\u00e4ngung des betreffenden Erlebnisses. Dieser Konflikt begann sich in ihr abzuspielen, als sie das arg geschwollene Bein ihres Vaters zum Zweck des Verbandwechsels auf einer bestimmten Stelle eines Oberschenkels liegen hatte. Da\u00df sie sp\u00e4ter eigenartige Schmerzen gerade an dieser Stelle des Oberschenkels hatte, l\u00e4\u00dft sich nur so verst\u00e4ndlich machen, da\u00df die in jenem Konflikt miteinander streitenden Affekte, da mit ihnen gleichzeitig Druckempfindungen am Oberschenkel gegeben waren, eine \u00dcbertragung auf diese Empfindungen fanden. Es stellte sich dann auch bei der hypnotisch-analytischen Behandlung bald heraus, da\u00df diese \u201eSchmerzen\u201d, die von vornherein sich als\n1) St\u00f6rring: Psychologie. S. 384 ff.","page":1311},{"file":"p1312.txt","language":"de","ocr_de":"1312\nGr. St\u00f6rring\neigenartige darges teilt hatten, den Charakter jener miteinander k\u00e4mpfenden Affekte trugen.\nHier l\u00e4\u00dft sich also der Tatbestand symbolisch charakterisieren mit dem einfachsten Symbol f\u00fcr \u00dcbertragungen :\n^-(72)-\u00a3u + i.\nI A\nHier stellt dann V2 den verdr\u00e4ngten Komplex dar und V1 die Druckempfindungen an einer bestimmten Oberschenkelstelle.\n2. In einer anderen Klasse von F\u00e4llen findet die \u00dcbertragung der Affekte des Komplexes nicht auf eine bei Entwicklung des verdr\u00e4ngten Komplexes deutlich aus anderen K\u00f6rperempfindungen hervortretende Empfindung eines bestimmten K\u00f6rperteiles statt, sondern die \u00dcbertragung vollzieht sich auf einen K\u00f6rperteil, der bei Entstehung des verdr\u00e4ngten Komplexes keine deutlich hervortretenden Empfindungen hat, dessen Empfindung aber fr\u00fcher bei einem \u00e4hnlichen Affektzustand durch Schmerzen an demselben im Bewu\u00dftsein hervortrat. Hier wird durch das Mittelglied des fr\u00fcheren \u00e4hnlichen Affektzustandes die Vorstellung dieses K\u00f6rperteiles wachgerufen; dadurch tritt eine Assimilation mit der gegenw\u00e4rtigen, nicht deutlich bemerkten Empfindung desselben ein, infolgedessen tritt er ins klare Bewu\u00dftsein und es vollzieht sich jetzt eine \u00dcbertragung der g e g e n w \u00e4 r t i g e n Affekte des in Verdr\u00e4ngung begriffenen Komplexes auf die Empfindung dieses K\u00f6rperteiles. Erleichtert wird diese \u00dcbertragung noch durch den Umstand, da\u00df fr\u00fcher schon eine nahe Beziehung der Empfindung dieser K\u00f6rperstelle mit einem \u00e4hnlichen Affektzustand bestand.\nIch gebe hier einen sch\u00f6nen Fall von Pfister:\n,,Ein 18j\u00e4hriger Holl\u00e4nder klagt mir, da\u00df er an heftigen Schmerzen, Zuckungen und oft f\u00f6rmlicher L\u00e4hmung des rechten Armes und der Schulter leide, so da\u00df ihm Schreiben und Klavierspielen gro\u00dfenteils versagt seien. Das Leiden sei ,nerv\u00f6s\u2019.\nAuf Befragen gab er an, da\u00df er an schwerer Gem\u00fctsverstimmung leide. Das Problem des Selbstmordes besch\u00e4ftige ihn lebhaft, besonders seit er Goethe s , Werther\u2019, Ibsens , Gespenster\u2019 und einige \u00e4hnliche d\u00fcstere Literaturwerke gelesen hat. Doch wollte er keinen Selbstmordimpulsen unterworfen sein, was sich sp\u00e4ter als unwahre Behauptung herausstellte.","page":1312},{"file":"p1313.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1313\nEin Jahr sp\u00e4ter gelang es dem J\u00fcngling, seiner Widerst\u00e4nde gegen Analyse nnd Analytiker Herr zn werden. Die Exploration vom Symptom ans ging mit solcher Leichtigkeit vonstatten, da\u00df die nmst\u00e4ndlichere, wenn anch bei schwereren F\u00e4llen unvermeidliche, jedenfalls aber viel tiefer eindringende Widerstandsanalyse, bei welcher der Analytiker seinem Patienten den Lauf des Gespr\u00e4ches fast ganz \u00fcberl\u00e4\u00dft, umgangen werden konnte.\nDer Kranke gab an, da\u00df er vor zwei Jahren Goethe s ,Werther\u2019 las, ohne den Grund seiner Lekt\u00fcre zu kennen, wie er sofort spontan hinzuf\u00fcgte. Kurze Zeit sp\u00e4ter brachen einerseits heftige Schmerzen aus, die, beim Oberarm beginnend, den ganzen Arm durchzuckten, andererseits Selbstmordimpulse, die ohne die Liebe zu den Eltern sich wohl zu einer Tat der Yerz weif lung entladen h\u00e4tten.\nSelbstverst\u00e4ndlich fand sich jener dunkel geahnte Grund der Identifikation mit dem leidenden Werther in einem ungl\u00fccklichen Liebesverh\u00e4ltnis. Seit ungef\u00e4hr f\u00fcnf Jahren unterhielt der J\u00fcngling platonische Beziehungen zu einem gleichaltrigen M\u00e4dchen, das ihn m\u00e4chtig anzog und begl\u00fcckte, aber auch durch Launen und angeblich \u00fcbertriebene Zur\u00fcckhaltung erz\u00fcrnte. Best\u00e4ndig schwankte er zwischen freudvoll- und leidvollsein hin und her. Auf Zerw\u00fcrfnisse, in denen das D\u00e4mchen seine Liebe optima forma aufk\u00fcndigte, folgten s\u00fc\u00dfe Yers\u00f6hnungen. Die Werther Stimmung ging aus einer endg\u00fcltigen Abl\u00f6sung hervor, die nach der Behauptung des Analysanden dadurch entsprungen war, da\u00df das junge M\u00e4dchen, als es zu einem gemeinsamen Spaziergang mit dem Geliebten Gelegenheit hatte, sich auf unz\u00e4rtliche und feige Weise zur\u00fcckzog. Die Selbstmordimpulse entsprachen somit der erotischen Stauung.\nTodessehnsucht und Ablehnung des Suicidiums schlossen ein Kompromi\u00df in zahlreichen Tr\u00e4umen, in denen der Lebensm\u00fcde ohne eigene Schuld ums Leben kam, z. B. aus dem Fenster st\u00fcrzte. Der erotische Hintergrund ist aus dem typischen Symbol des Fallens dem Erfahrenen noch deutlicher erkennbar.\nW\u00e4hrend Patient die Schuld des Bruches auf die Freundin schob, verschwieg er das eigentliche Motiv und die brennende Selbstanklage.\nErst die Analyse entlockte ihm das Gest\u00e4ndnis, da\u00df einige Kameraden ihm vorgehalten hatten, jenes M\u00e4dchen besitze zu wenig Anmut und zu geringe Talente, er d\u00fcrfe weit h\u00f6here Anspr\u00fcche erheben usw. Die \u00e4ngstliche Haltung der einst so hei\u00df Begehrten rechtfertigte ihre schroffe Ablehnung so wenig, da\u00df er sich der ITnritterlichkeit bezichtigen mu\u00dfte. Zu stolz, die ab geschnittenen F\u00e4den wieder anzukn\u00fcpfen, entsagte er innerlich der Liebe zu einem M\u00e4dchen \u00fcberhaupt und ergab sich dem Weltschmerz. Als R\u00e4cherin des gekr\u00e4nkten Amor stellte sich alsbald die Hysterie ein.","page":1313},{"file":"p1314.txt","language":"de","ocr_de":"1314\nG-. St\u00f6rring\nDie Analyse der Schmerzen im Arm kam rasch zustande. Das Symptom ins Auge fassend, erinnerte sich der junge Mann, da\u00df ihn der Vater in einem Schmerzausruf ,in merkw\u00fcrdig sanftem Ton\u2019 gefragt habe, was ihm fehle. Damit verriet der Explorand seinen Vaterkomplex, der ihn jedenfalls h\u00e4ufig zur Hervorbringung des Symptoms veranla\u00dfte, um Teilnahme zu erpressen.\nIn zweiter Linie erinnerte sich der Patient, w\u00e4hrend sich unangenehme Innervationen im Arm einstellten, an eine Szene, die er mit seinem gesch\u00e4tzten Musiklehrer erlebt hatte. Dieser sagte ihm n\u00e4mlich vor mehreren Jahren wegen schlechter Armhaltung beim Klavierspiel: ,Ich h\u00e4tte Dich nicht f\u00fcr so ungeschickt gehalten\u2019, wodurch sich der angehende K\u00fcnstler in seinem Ehrgef\u00fchl verletzt glaubte.\nEndlich kam auch das ma\u00dfgebende Trauma zum Vorschein. Sieben Jahre vor der Analyse hatte der Analysand eines Tages mehrere M\u00e4dchen, die auf einer Mauer sa\u00dfen, verjagt, indem er sie mit Steinen bewarf, und sich selbst hinaufgesetzt. Kach einer Weile wollte er noch mehr Steinchen holen, fiel aber dabei so ungl\u00fccklich, da\u00df er das Schl\u00fcsselbein brach. Das Einziehen gelang erst am dritten Tage unter heftigen Schmerzen.\nDieses Gest\u00e4ndnis macht uns begreiflich, warum der Bruch mit der Freundin die hysterischen Symptome im Arm hervorrief. Jener bekannte Identifikationsproze\u00df, der sich in die Formel: ,es ist wieder wie damals\u2019, fassen l\u00e4\u00dft, kam zustande. Hatte der elfj\u00e4hrige Knabe seine Schmerzen im Arm als eine gerechte Z\u00fcchtigung f\u00fcr seine Unritterlichkeit gegen das sch\u00f6ne Geschlecht angesehen \u2014 der Unfall hat offenbar den Sinn einer unabsichtlichen, wenn auch unterschwellig gewollten Selbstbestrafung \u2014, so sah sich der 16j\u00e4hrige J\u00fcngling erst recht vor dem Richterstuhl seines Gewissens als unritterlich und brutal gebrandmarkt. Die Erinnerung an das fr\u00fchere Gottesgericht trat nicht klar ins Bewu\u00dftsein. Allein das Bed\u00fcrfnis nach S\u00fchne, das dem Treulosen mehr zu schaffen gab als der Verlust des einst geliebten M\u00e4dchens, leistete sich Genugtuung durch Erzeugung des schmerzhaften Symptoms, das sich folglich auch hier als Wunscherf\u00fcllung zu erkennen gibt. . . .\nKurze Zeit nach dem Beginn der Selbstmordimpulse und der physischen Begleiterscheinungen, die sich, wie wir wissen, bis zur L\u00e4hmung steigerten, kam es zum Bruch mit dem Glauben an Gott. Diesem hatte er fr\u00fcher f\u00fcr seine Liebe zur Freundin hei\u00df gedankt. Da sich das Geschenk als T\u00e4uschung erwies, mu\u00dfte auch der Geber fallen \u2014 ein psychologischer Vorgang, der sich nicht selten beobachten l\u00e4\u00dft, wo die erotische St\u00f6rung zum Verzicht auf jegliche zur Ehe hinziehende Liebe f\u00fchrt ....","page":1314},{"file":"p1315.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1315\nEs verging beinahe ein Jahr, da kamen dem jungen Atheisten, den sein Unglaube vollends niederdriickte, einige herrliche Madonnenbilder in die H\u00e4nde. Der Eindruck war so gewaltig, da\u00df er alsbald znr Maria zn beten begann. Sein gnt reformiertes Gewissen, das durch den begeisternden Einflu\u00df seines an kritischer Sch\u00e4rfe ebenso wie an Gem\u00fct hervorragenden Beligionslehrers aus-gebildet war, beschwichtigte er durch einen Fehlschlu\u00df: Da er kein Christ mehr sei und an keinen Gott mehr glaube, so brauche er sich keine Vorw\u00fcrfe zu machen, wenn er sogar zur himmlischen Jungfrau sein Herz erhebe. Kurz vor dieser Sublimierung hatte ihn die Schwester der fr\u00fcheren Freundin \u00fcberaus artig gegr\u00fc\u00dft, wobei ihm die \u00c4hnlichkeit der beiden auffiel und die edle Gesinnung des M\u00e4dchens eine geheime Sehnsucht einfl\u00f6\u00dfte, die Begierde nach einer idealen Schwester der verlorenen Braut. . Letzteren Tatbestand deutet Pfister in folgender Weise:\n,,In dieser Madonnenverehrung manifestieren sich ebensosehr der Vater- als der Mutter- und der Brautkomplex. Die Sehnsucht nach der idealen Jungfrau tritt an die Stelle der Keigung zur fr\u00fcheren Geliebten. Maria, die Herrliche, Beine, Makellose, zu lieben, unterlag nicht der Gefahr fr\u00fcherer Entt\u00e4uschung und unzarter Einmischung von seiten des Vaters und der Freunde. Die Gottesmutter bot ferner mit ihrer grenzenlosen Liebe zum mi\u00dfverstandenen, leidenden Sohn einen Ersatz f\u00fcr die eigene Mutter, die den Ton liebevollen Trostes vermissen lie\u00df1).\u201d\nHier schlie\u00dft also bei dem Patienten sich an den Gedanken an eine junge Dame der Gedanke unritterlichen Benehmens ihr gegen\u00fcber seinerseits mit starkem Unlustaffekt an. Als Kind hat er ein ganz \u00e4hnliches Erlebnis gehabt, mit dem ein kleiner Ungl\u00fccksfall zusammenhing, der im Schulterbruch bestand und heftige k\u00f6rperliche Schmerzen mit sich f\u00fchrte. Der sich mit starkem Unlustaffekt verbindende Gedanke an das unritterliche Benehmen der jungen Dame gegen\u00fcber regt also reproduktiv den Gedanken an ein fr\u00fcheres \u00e4hnliches Benehmen an und durch Vermittlung dieses nur eben anklingenden Gedankens (eine E r-innerung daran fand nicht statt), die damit innig verkn\u00fcpfte Vorstellung des Mi\u00dfgeschickes an der Schultergegend. Diese Vorstellung bedingt eine Assimilation mit der gegenw\u00e4rtig nicht deutlich bemerkten Empfindung dieser K\u00f6rpergegend ; damit tritt dieselbe ins klare Bewu\u00dftsein, und es erfolgt eine \u00dcbertragung des vorhandenen Unlustaffektes auf diesen Empfindungskomplex. Im selben Sinne wirkt dann noch der Umstand, da\u00df fr\u00fcher mit den Schmerzen an der Schulter sich ein \u00e4hnlicher Unlustaffektzustand verband.\nx) Pfister: Die psychoanalytische Methode. S. 116.","page":1315},{"file":"p1316.txt","language":"de","ocr_de":"1316\nGr. St\u00f6rring\n3. In einer weit gr\u00f6\u00dferen Klasse von F\u00e4llen vollzieht sich die \u00dcbertragung eines verdr\u00e4ngten Unlustaffektes auf einen K\u00f6rperteil, dessen Empfindung fr\u00fcher nicht mit einem \u00e4hnlichen Affektzustand verbunden war, sondern mit einem Unlustaffektzustand anderer Qualit\u00e4t. Es schlie\u00dft sich dann an die Empfindung dieser K\u00f6rpergegend ein Unlustaffekt an, welcher dem zuerst mit Empfindung dieses K\u00f6rperteiles zusammen aufgetretenen Affektzustand von dieser anderen Qualit\u00e4t verwandt ist. Freud nennt das \u201eNeubesetzung alter Symptome\u201d.\nIch gebe einen Fall von Frank:\n,,Ein junger Akademiker, ein ausgezeichneter und ethisch hochstehender Mann von 25 Jahren, kam zu mir mit schmerzhaften Affektionen in der Bein- und Kumpfmuskulatur. Er schilderte seine Schmerzen genau so wie sie beim Muskelrheumatismus Vorkommen. H\u00e4tte ich die Anamnese nicht kennengelernt, so w\u00fcrde ich auf Grund seiner Schilderungen die Affektion auch, wie andere Kollegen, f\u00fcr einen Muskelrheumatismus angesehen haben. Zwei Jahre vorher hatte er sich bei einer l\u00e4ngeren Hochtour, wo er den Unbilden der Witterung in hohem Ma\u00dfe ausgesetzt war, einen schweren Muskelrheumatismus zugezogen. Zu seiner Wiederherstellung machte er eine Bade- und Massagekur in Baden durch. Der Zustand hob sich und Patient konnte wieder seinem Berufe und auch seiner Lieblingsneigung nachgehen, Hochtouren zu machen. Fach zwei Jahren stellten sich die gleichen Schmerzen wieder ein. Da die Kur in Baden eine probate war, so lag es nahe, dieselbe zu wiederholen. Kun wollten aber die Schmerzen nicht weichen; der sehr t\u00fcchtige Masseur versicherte dem Patienten wiederholt, da\u00df diesmal sein Zustand ein anderer sei, denn er f\u00fchle beim Massieren, da\u00df nicht die gleichen Ver\u00e4nderungen in seinen Muskeln seien wie vor zwei Jahren. Der Masseur stellte die Vermutungsdiagnose, da\u00df es diesmal wohl ein nerv\u00f6ser Zustand sei. Auf Grund meiner Erfahrungen suchte ich nachzuforschen, ob Patient in seinem Affektleben irgendwelche St\u00f6rungen haben k\u00f6nnte. Ich bemerkte ausdr\u00fccklich, da\u00df es in solchen F\u00e4llen h\u00e4ufig St\u00f6rungen im Sexualleben sein k\u00f6nnen, da\u00df aber auch St\u00f6rungen in anderen Affekten genau die gleiche Wirkung hervorrufen k\u00f6nnen. Es ergab sich nun, da\u00df unser Patient aus rein ethischen Gr\u00fcnden seit l\u00e4ngerer Zeit seine sexuellen Kegungen unterdr\u00fcckt hatte. Er tat dies, weil er aus moralischen Gr\u00fcnden jeden au\u00dferehelichen Sexualverkehr verwarf und er sich durch Unterdr\u00fcckung seiner Erregungen durch den Willen vor Masturbation sichern wollte. Wie immer in solchen F\u00e4llen, hatte Patient eine gro\u00dfe \u00dcbung erlangt, mittels seines Willens jede Erregung","page":1316},{"file":"p1317.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1317\nhintanzuhalten. So entstand nach nnd nach sein schmerzhaftes Leiden. Das w\u00fcrde anch mir zun\u00e4chst nichts beweisen. Nachdem ich aber den Patienten dar\u00fcber aufgekl\u00e4rt hatte, da\u00df sein Yorgehen ein ganz falsches ist, da\u00df er so sein Nervenleben sch\u00e4dige nnd nachdem ich ihn angewiesen hatte, jedes Unterdr\u00fccken zn vermeiden, da\u00df es deshalb doch nicht n\u00f6tig ist, sexuellen Verkehr anfznsnchen oder sich der Masturbation hinzngeben, so versuchte er, nun die Erregungen einfach ablaufen zu lassen. Der Zustand des Patienten hob sich bald, er wurde wieder lebens- und arbeitsfreudig und nach vier Wochen bekam ich einen Kartengru\u00df aus den Bergen, womit mir Patient seine erste Bergbesteigung, die er voller Freude und gr\u00f6\u00dftem Genu\u00df gemacht hatte, meldete. Er ist auch von seinen Beschwerden frei geblieben.\nWenn bei einem hysterischen Patienten sich ein verdr\u00e4ngter Komplex auf die Empfindung einer K\u00f6rpergegend \u00fcbertr\u00e4gt, die sich fr\u00fcher mit einem anderen Unlustaffekt verbunden hat und nun ein dieser anderen Affektqualit\u00e4t verwandter Affekt entsteht, so ist das sehr einfach verst\u00e4ndlich zu machen, da bei dem Hysterischen schon der Gedanke an diese K\u00f6rpergegend den fr\u00fcheren Affekt ausl\u00f6sen kann; es w\u00fcrden sich dann beide Affekte \u00fcberdecken. \u2014 Anders bei Nichthysterischen. In dem soeben gegebenen Fall handelt es sich nach 'Frank nicht um einen hysterisch Kranken. Wenn in solchen F\u00e4llen der fr\u00fchere Affektzustand wieder zur Entwicklung kommt, so m\u00f6chte ich das auf das Konto des auf die K\u00f6rpergegend \u00fcbertragenen Affektes in solcher Weise setzen, da\u00df die durch diesen Affekt herbeigef\u00fchrte Steigerung der Erregbarkeit der betreffenden Empfindungszentren den fr\u00fcheren Affekt mitsichf\u00fchrt.\nIn die Behandlung der Frage der M\u00f6glichkeit der Umwandlung eines Affektes in einen anderen trete ich sp\u00e4ter ein.\n4. In anderen Klassen von F\u00e4llen wird von einem aus dem Bewu\u00dftsein verdr\u00e4ngten oder einem im Bewu\u00dftsein zur\u00fcckgedr\u00e4ngten Komplex die intellektuelle Unterlage durch eine \u00e4hnliche Vorstellung, Wahrnehmung oder einen \u00e4hnlichen Gedanken angeregt und es vollzieht sich die \u00dcbertragung auf diesen intellektuellen Tatbestand. Wir k\u00f6nnen das im\nAbderhalden, Handbuch, der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t86","page":1317},{"file":"p1318.txt","language":"de","ocr_de":"2318\tG-. St\u00f6rring\nfolgenden Schema znr Darstellung bringen, wobei mit 7k die intellektuelle Unterlage des Komplexes bezeichnet wird und mit Uae der \u00e4hnliche intellektuelle Tatbestand.\n1.\t7k-7<?.\n2.\tVae.^(V\u00b1)-yG.\nDieser Fall ist \u00fcberall da realisiert, wo bei einer psychoanalytischen Behandlung die \u00dcbertragung der von der Hemmung befreiten Affekte auf den Arzt eintritt.\nIn dem von uns angezogenen Fall des jungen hysterischen Holl\u00e4nders ist' der Gedanke der Sehnsucht nach einer idealen Geliebten im Bewu\u00dftsein zur\u00fcckgedr\u00e4ngt. Die Wahrnehmung eines pr\u00e4chtigen Madonnenbildes l\u00f6st in ihm dies ideale Liebes-gef\u00fchl aus.\n5. Wir besprechen zuletzt diejenigen F\u00e4lle von Affekt\u00fcbertragung, in denen diese \u00dcbertragung auf eine Symbolvorstellung stattfindet.\nHier mu\u00df ich zun\u00e4chst einige Worte \u00fcber meine Auffassung der Symbolvorstellungen sagen. Symbol-Vorstellungen lasse ich nicht durch ein unbewu\u00dftes \u00dcberlegen zustande kommen, welches auf die Forderungen der Zensur B\u00fccksicht nimmt, sondern rein reproduktiv unter Mitwirkung von Hemmungsprozessen : Bei reproduktiver Anregung des intellektuellen Bestandteiles des verdr\u00e4ngten Komplexes entwickelt sich eine Hemmung dieser Gr\u00f6\u00dfe in statu nas-cendi, .'aber von diesem eben anklingenden intellektuellen Tatbes ta nde aus kann u n-beschadet der Hemmung unter reproduktiver Mitwirkung des an diesen intellektuellen Komplex sich anschlie\u00dfenden Unlustaffektes eine \u00e4hnliche V orstellung, ein \u00e4hnlicher Gedanke reproduziert werden. (Ist dieser Gedanke der Gedanke einer auszuf\u00fchrenden Bewegung, so wird durch Ausl\u00f6sung desselben die Entstehung einer Symbolhandlung verst\u00e4ndlich.)\nIst nun aber von der intellektuellen und emotionellen Seite des verdr\u00e4ngten Komplexes aus eine Symptomvorstellung reproduziert und wird nun von dieser Symptomvorstellung, diesem Symptomgedanken,. wieder die intellektuelle Seite des verdr\u00e4ngten Komplexes reproduktiv angeregt, so kann sich eine \u00dcbertragung des emotionellen Bestandteiles des verdr\u00e4ngten Komplexes auf die Symbolvorstell\u00fcng, den Symbolgedanken, vollziehen. In Zeichen","page":1318},{"file":"p1319.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1319\ndr\u00fcckt sich das also bei Bezeichnung des Symbolgedankens mit Uka in folgender Weise ans:\n1.\tcrk) w/;i\nFk0\n2.\tVka-y(Vk)->Gu\n!y\n16. Kapitel.\nDie Frage der Konversion der Affekte.\nDie Frage der Umwandlung der Libido in Angst.\n1. Die Psychoanalytiker behaupten, da\u00df sich ein Affekt in einen qualitativ verschiedenen umwandeln kann. So spricht man von einer Umwandlung der Libido in Angst. Und manche Autoren behaupten, da\u00df alle Angst umgewandelte Sexualit\u00e4t sei.\nFreud sagt: ,,Die neurotische Angst entspricht einer von ihrer Bestimmung abgelenkten, nicht zur Verwendung gelangten Libido.\u201d ,,Angst ist ein libidin\u00f6ser Impuls, der vom Unbewu\u00dften ausgeht und vom Vorbewu\u00dften gehemmt wird.\u201d\nUns interessiert besonders eine Seite der Sache : O b L i b i d o in Angst konvertiert werden kann!\nJung sagt: ,,Angst ist der Ausdruck einer konvertierten Libido1).\u201d\nBleuler nimmt eine \u201e\u00dcbertragung\u201d der Quantit\u00e4t eines Affektes auf einen anderen an. Er sagt: ,,Es ist etwas anderes, als w\u00e4re eine Kraft, die eigentlich sexuell ist, in eine andere umgewandelt worden.\u201d \u201eDer Affekt wird oft gar nicht als solcher \u00fcbertragen, sondern nur die Quantit\u00e4t der Energie, die er vertritt2).\u201d \u201eWo ein Weib ha\u00dft, da liebt sie, hat sie geliebt oder wird sie lieben.\u201d \u201eAuf psychopathischem Gebiet sehen wir einen Umschlag der Liebe in Ha\u00df auch ohne psychoanalytische Untersuchungen fast allt\u00e4glich. Dabei ist ganz unzweifelhaft, da\u00df die beiden Gegens\u00e4tze in ihren quantitativen Verh\u00e4ltnissen einander ungef\u00e4hr entsprechen. Eine gro\u00dfe Liebe kann nicht in eine geringe Abneigung verwandelt werden. Man kann also die Beobachtung auch so beschreiben, da\u00df man sagt : ,,D er Energiebetrag der Liebe sei in Ha\u00df umgewandelt worden3).\u201d\nDiese Umwandlungsprozesse erscheinen als r\u00e4tselhafte. Frank sagt: \u201eSo kann z. B. die durch Angst gesteigerte Libido wiederum\n1)\tJung: Jahrbuch, f\u00fcr psychoanalytische Forschungen. 2.\n2)\tBleuler: Zeitschr. f. psychoanal. Forsch. 2. Jg. S. 646.\n3)\tBleuler: 1. c. S. 697.\t-\n86*","page":1319},{"file":"p1320.txt","language":"de","ocr_de":"1320\nG-. St\u00f6rring\ndie Angstgef\u00fchle in ganz erheblichem Ma\u00dfe steigern. Dies ist ein ganz gew\u00f6hnlicher, au\u00dferordentlich h\u00e4ufig zu beobachtender Vorgang. Wie sich diese Prozesse in Wirklichkeit vollziehen, werden wir wohl nie nachweisen k\u00f6nne n.\u201d Er stellt folgende Vermutung auf: \u201eAm plausibelsten d\u00fcrfte es sein, wenn wir uns vorstellen, da\u00df die verschiedenen Affekte durch Keurokymwellen (Ford) bedingt sind, und da\u00df jeder Affekt durch eine andere Art von Wellenbewegung entsteht, vielleicht nur durch die Schwingungszahl oder Schwingungsart bedingt. So k\u00f6nnte eine Umwandlung der einen Schwingungsart in eine andere m\u00f6glich sein1).\u201d\nIch mu\u00df nun sagen, da\u00df ich keine Umwandlung eines Affektes in einen qualitativ anderen anerkenne, auch nicht die Umwandlung der Libido in Angst.\nSehen wir uns zun\u00e4chst n\u00e4her die Entwicklungen Jungs \u00fcber die Konversion der Libido in Angst in seinem Aufsatz \u00fcber den \u201eKonflikt der kindlichen Seele\u201d an2). Da h\u00f6ren wir, da\u00df ein Kind sich get\u00e4uscht sieht in der Behauptung seiner Eltern, da\u00df die Kinder vom Storch gebracht werden. Es wird Liebe (Libido) \u201evon den Eltern weggenommen\u201d und \u201eals gegenstandslos invertiert\u201d. Jung fragt: \u201eWas geht da vor!\u201d, und sagt im Sinne des Kindes: \u201eDas mu\u00df etwas zu Verheimlichendes, vielleicht gar Gef\u00e4hrliches sein3).\u201d\nHier liegt doch nicht eine einfache Konversion der Libido in Angst vor, sondern hier tritt deutlich hervor, da\u00df zu der Libido noch intellektuelle Faktoren hinzutreten und die Libido mit den intellektuellen Faktoren zusammen Angst entstehen l\u00e4\u00dft. Zu der Libido tritt hinzu einmal die Feststellung: \u201eDie Eltern bel\u00fcgen mich\u201d und sodann der Gedanke: \u201eDas mu\u00df etwas zu Verheimlichendes, Gef\u00e4hrliches sein!\u201d Da\u00df da Angst entsteht, ist nicht weiter merkw\u00fcrdig.\nHier liegt also vor die Entstehung der Angst aus Libido auf Grund der Mitwirkung weiter hinzukommender intellektueller Mittelglieder. Und \u00e4hnliches l\u00e4\u00dft sich in einer F\u00fclle von F\u00e4llen nachweisen.\nAus dieser Klasse von F\u00e4llen sind noch besonders diejenigen herauszuheben, in denen Angst sich sehr stark entwickelt, wenn Libido durch Angst verdr\u00e4ngt wird4). Frank hat eine gro\u00dfe Anzahl\n1)\tFrank Ludwig: Affektst\u00f6rungen. S. 6.\n2)\tJung: Jahrb\u00fccher f\u00fcr psychoanalytische Forschungen. 2.\n3)\tJung: 1. c. S. 40.\n4)\tL. Frank'. Affektst\u00f6rungen. S. 6; 1. c. S. 7.","page":1320},{"file":"p1321.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1321\nsolcher F\u00e4lle sehr eingehend beschrieben. Er macht hier\u00fcber folgende allgemeine Bestimmung: \u201eAls einen h\u00e4ufig vorkommenden Mechanismus der Verdr\u00e4ngung m\u00f6chte ich hier den hervorheben, der bei der Entstehung von Angstznst\u00e4nden eine au\u00dferordentlich h\u00e4ufige Bolle spielt. Es ist dies der Mechanismus der Verdr\u00e4ngung der Libido durch die Angst selbst, z. B. bei der Angst vor dem Sexualverkehr oder vor Schw\u00e4ngerung \u00fcberhaupt oder Wiederschw\u00e4ngerung bei verheirateten Frauen. Diese Ursachen der Angst sind ganz au\u00dferordentlich h\u00e4ufig. Hier kann man deutlich verfolgen, wie sich die Angst immer mehr steigert und wie nach und nach ein Zustand entsteht, den man bisher als neurasthenischen Angstzustand bezeichnet hat.\u201d\nVon diesen F\u00e4llen hat Frank, wie wir h\u00f6rten, fr\u00fcher gesagt: ,,Wie sich diese Prozesse in Wirklichkeit vollziehen, werden wir wohl nie nach weisen k\u00f6nnen.\u201d Er nimmt eben an, da\u00df hier eine Umwandlung der Libido in Angst vorliegt. In einem sehr ausf\u00fchrlich beschriebenen Fall hat eine Patientin vor ihrer Verheiratung den Geburtsvorgang bei einer Dame, bei welcher sie in Stellung war, in gro\u00dfer Aufregung mitangesehen. Hach ihrer Verheiratung hat sie bei dem geschlechtlichen Verkehr Angst-zust\u00e4nde und vor der Menses stets Erregungszust\u00e4nde und Angst. Die Angst steigert sich so stark, da\u00df sie zu Suizidalversuchen f\u00fchrt1).\nHier ist die Steigerung der Angst durch die Libido durch intellektuelle Mittelglieder bedingt und speziell durch eine sich infolge von H\u00e4ufung der F\u00e4lle ausbildende Disposition zur Entwicklung von Angstzust\u00e4nden.\nBei den h\u00e4ufigen Wiederholungen der Funktionen der Libido ist ein immer neu auftretender Anla\u00df zur Entwicklung der Angst gegeben; dadurch bildet sich eine immer st\u00e4rker werdende Disposition zur Entwicklung von Angstzust\u00e4nden aus.\n2. In einer weiteren Klasse von F\u00e4llen scheint sich aus der Libido Angst auf Grund des Wirkens vermittelnder organischer Faktoren zu entwickeln.\nBleuler sagt, da\u00df er den Zusammenhang zwischen Sexualit\u00e4t und Angst nicht ganz verstehe, \u201eda\u00df er aber Tatsache sei\u201d. Er hebt hervor, da\u00df die meisten psychischen, motorischen usw. Funktionen dadurch reguliert werden, da\u00df zwei entgegengesetzte Kr\u00e4fte einander hemmen. Hier bei der Sexualit\u00e4t ist die negative Seite repr\u00e4sentiert durch die Affekte Angst und Ekel, wie das besonders beim Weibchen in die Augen springt. Beim menschlichen Back-\n1) L. Frank: 1. c. S. 56 ff.","page":1321},{"file":"p1322.txt","language":"de","ocr_de":"1322\nG. St\u00f6rring\nfisch ist die sexuelle Libido deutlich mit dem Affekt der Angst besetzt.\u201d \u201eAuch bei M\u00e4nnern sahen wir Erscheinungen, die sonst der Angst zugeschrieben werden (z. B. Zittern). Bei uns gibt es ein Volkslied, das in witziger Weise den sexuell erregten Zitternden tr\u00f6stet, das Haus falle nicht um. In Jakobsens ,Mels Lyne\u2019 (Reklam 56) trifft ein Knabe eine Tante im entbl\u00f6\u00dften Zustande: die Knie zittern ihm, er hat Angst\u201d 1).\nHier sieht man also bei starker sexueller Erregung organische Faktoren auftreten, die auch k\u00f6rperliche Begleiterscheinungen der Angst sind. Kun nehme man noch hinzu, da\u00df man \u00fcberhaupt bei einem Konflikt pathologischer Affekte Angst auftreten sieht. Ein solcher Konflikt f\u00fchrt auch zu k\u00f6rperlicher Ersch\u00f6pfung, und zwar zu einer Ersch\u00f6pfung, die mit Erregung verbunden ist. Wenn in einem solchen Ersch\u00f6pfungszustand Angst auftritt, da d\u00fcrfen wir sie doch als organisch bedingt auffassen.\nBei Entstehung der Angst \u201eaus\u201d Libido sexueller Art liegt \u00e8benfalls ein Konflikt vor. Dabei auf tretende Angst als organisch bedingt aufzufassen, liegt um so n\u00e4her, als schon bei starker sexueller Libido Zittererscheinungen auftreten.\n17. Kapitel.\nDas Abreagieren von verdr\u00e4ngten Komplexen und die Sublimierung.\n1. Die Untersuchung des Abreagierens von starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden, die sich l\u00e4ngere Zeit mit gewissen Intervallen im Bewu\u00dftsein behauptet haben, mit den Mitteln der Psychologie unter Ausschlu\u00df der Verwendung der pathopsychologischen Methode, kann sich fruchtbar erweisen f\u00fcr die Untersuchung des Abreagierens von verdr\u00e4ngten Komplexen.\nDas ist methodologisch gut verst\u00e4ndlich. Wichtiger ist aber die entgegengesetzte Beziehung:\tEs wird sich uns zeigen, da\u00df die\nUntersuchung des Abreagierens verdr\u00e4ngter Komplexe wieder f\u00f6rdernd auf die Feststellungen \u00fcber normalpsychologische Vorg\u00e4nge wirkt, da\u00df durch diese Untersuchungen eine Bereicherung der Psychologie des normalen Seelenlebens eintritt.\n\u00dcber das Abreagieren von verdr\u00e4ngten Komplexen wurden zuerst Feststellungen von Breuer und Freud gemacht. Wir verweisen auf die fr\u00fcher beigebrachten F\u00e4lle dieser Autoren2).\nx) Bleuler: Die Psychoanalyse Freuds in Jahrb. f. psychoanal. Forsch. 2.\n2) Diese Schrift S. 1164 n. 1249.","page":1322},{"file":"p1323.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1323\nSie sprechen davon, da\u00df nach Aufdeckung der intellektuellen Unterlage eines verdr\u00e4ngten Komplexes der Affekt zur E n t-ladung gebracht werde; der ,,eingeklemmte\u201d Affekt entl\u00e4dt sich. Das Abreagieren wird hiernach durch zwei Faktoren zustande gebracht : Die Aufdeckung der intellektuellen Seite des Komplexes setzt, so sagt man, diesen psychischen Tatbestand in \u201ea s s o z i a-tive\u201d Beziehung zum bewu\u00dften Ich und dazu kommt noch die Entladung des Affektes in starken Erregungszust\u00e4nden.\nMan hat bald eingesehen, da\u00df man sich \u00fcber die \u201eEntladung\u201d von Affektenergien eine falsche Vorstellung gebildet hatte.\nMan sah, da\u00df bei wiederholter Ausl\u00f6sung dieser Affekte meist keine der Intensit\u00e4t der Affekte entsprechende Abnahme der disponiblen Affektenergie zu konstatieren ist, man sagte sich, da\u00df die hier auftretenden Energieentwicklungen einen Wiederersatz durch Funktionen des Zentralnervensystems finden, ganz im Gegensatz zu der Entladung der elektrischen Energie bei Bet\u00e4tigung eines Akkumulators1).\nEs hat sieh uns gezeigt, da\u00df hier komplizierte psychische Prozesse mit ihren physiologischen Begleiterscheinungen eine bestimmende Bolle spielen, da\u00df durch Einwirkung gewisser psychischer Prozesse eine Erh\u00f6hung der Affekterregung eintritt, durch eine Beihe von anderen psychischen Faktoren eine Verminderung der Intensit\u00e4t des Affektes und der Disposition zu seiner Entwicklung zustande gebracht wird.\nWas nun weiter die Bedeutung der Herstellung \u201eassoziativer\u201d Beziehung zwischen der intellektuellen Seite des Komplexes und dem \u201ebewu\u00dften Ich\u201d betrifft, so ist doch' die Vorstellungsweise gar zu primitiv, da\u00df es sich nur um Herstellung von Assoziationen handelt. Es wird sich uns zeigen, da\u00df, wenn einmal der Komplex auf gedeckt ist, f\u00fcr die Verarbeitung der intellektuellen Seite des Komplexes im Sinne des Abreagierens Urteilsprozesse und Willensvorg\u00e4nge, die doch keine Assoziationen sind, eine dominierende Bolle spielen !\n2.\tDie Aufdeckung der intellektuellen Seite des verdr\u00e4ngten Komplexes hat zun\u00e4chst auf das Individuum eine befreiende Wirkung insofern, als der Affekt des Ko mp 1 e x e s jetzt nicht mehr als ein unh eimlicher irrationaler Tatbestand erscheint, dessen Ursache man nicht kennt, man hat jetzt Aufkl\u00e4rung \u00fcber die Ursache der Gem\u00fcts erregung gewonnen und wei\u00df jetzt, womit man zu rechnen hat.\n3.\tIn vielen F\u00e4llen entzieht die Aufdeckung der intellektuellen Seite des Komplexes dem Affektzustand des Komplexes dadurch\n1) Bleuler: Zeitschr. f. Psych. 78.","page":1323},{"file":"p1324.txt","language":"de","ocr_de":"1324\nG. St\u00f6rring\nseine Kahrling, da\u00df damit die Erkenntnis gegeben ist, da\u00df sich inzwischen die Situation, auf deren Erfassung sich der Affekt fr\u00fcher gr\u00fcndete, in Hauptpunkten ver\u00e4ndert hat, so da\u00df das betreffende fr\u00fchere Erlebnis jetzt gar nicht mehr von aktueller Bedeutung ist oder doch an Bedeutung eingeb\u00fc\u00dft hat.\n4.\tIn noch anderen F\u00e4llen kommt es zu einem Abreagieren durch den Einblick in die Genesis der emotionellen Stellungnahme, die in dem Affekt gegeben ist : Man erkennt, da\u00df nicht die Objekte selbst, auf welche der Affekt des Komplexes \u00fcbertragen ist, die emotionelle Stellungnahme bedingen, sondern zuf\u00e4llige Beziehungen, in denen diese Objekte stehen, an dieser Stellungnahme schuld sin d1).\n5.\tSodann ist zu beachten, da\u00df die Aussprache, zumal dem Arzte gegen\u00fcber, erleichternd auf Patienten wirkt. In diesem Tatbestand sind verschiedene wirksame Faktoren vorhanden.\nHie Aussprache \u00fcber ein emotionelles Erlebnis, das man hat, setzt voraus, da\u00df man auf dies Erlebnis seine Auf merks am-keit richtet, es zum Gegenstand seiner Betrachtung macht. Es ist ein gro\u00dfer Unterschied, ob man einen Affektzustand hat oder ob man es fertig bringt, den Affekt zum Gegenstand der Betrachtung zu machen! Habei ist der Affekt und seine Intensit\u00e4t herabgesetzt.\nHie Aussprache \u00fcber ein emotionelles Erlebnis setzt sodann voraus, da\u00df man den Tatbestand gedanklich charakterisiert. So bleibt das Individuum nicht befangen in dem emotionellen Erlebnis, sondern stellt sich in der Aussprache demselben aktiv gegen\u00fcber.\nZuletzt kommt hier hinzu das erleichternde Bewu\u00dftsein der Mitteilung an eine andere Person und dazu an den Arzt, dem Patient besonderes Vertrauen entgegenbringt. Hierin liegt nun allerdings auch ein suggestives Moment, da der Arzt dem Patienten mit dem Anspruch auf Hilfe entgegentritt. Ich halte es allerdings f\u00fcr v\u00f6llig verfehlt, die Suggestion hier als den einzig therapeutisch wirksamen Faktor zu bezeichnen.\nIch verweise auf eine von mir fr\u00fcher von Frank gegebene Krankengeschichte2).\nx) Vgl. diese Schrift. S. 1318 ff.\n2) Diese Schrift S. 1254 u. 1255.","page":1324},{"file":"p1325.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1325\nDabei findet im Laufe einer gr\u00f6\u00dferen Anzahl von Sitzungen ein Abreagieren einer F\u00fclle von g ef\u00fc bisstarken Erlebnissen der Patientin statt. 'Frank sagt hier\u00fcber: \u201eWer die Wirkung der Suggestion kennt, wird sich immer wieder die Frage Vorhalten m\u00fcssen, wieweit sie in diesem Falle in Betracht kommt; wer aber Gelegenheit hat, immer wieder die Wirkung des Abreagierens starker Affekte zu beobachten, kann sich eine Y or Stellung von den sich hierbei entfaltenden Kr\u00e4ften machen und wird eher geneigt sein, das Verschwinden dieser schmerzhaften Affektionen auf das Eliminieren solcher latent wirkenden Kr\u00e4fte zur\u00fcckzuf\u00fchren, als auf die freilich nur schwer total auszuschlie\u00dfende Sug-gestio n.\u201d\n6. Weiter wirkt erfahrungsgem\u00e4\u00df sehr stark im Sinne des Abreagierens die Wiederholung der Aussprache dem Arzt gegen\u00fcber. Die Wirkung der Wiederholung der Aussprache tritt besonders deutlich hervor in KretscJinikows Berichten \u00fcber die Gestaltung der Psychoanalyse in den einzelnen von ihm behandelten F\u00e4llen1).\nWorauf beruht nun die auff\u00e4llige Wirkung der Wiederholung der Aussprache? Offenbar in der Wiederholung des bezeich-neten aktiven Verhaltens des Patienten seinem emotionellen Erlebnis gegen\u00fcber und in der Wiederholung der Aussprache gegen\u00fcber dem Arzte.\nAber hierin nicht allein. Mit der Wiederholung \u00e4ndert sich n\u00e4mlich noch etwas: Schon bei der einleitenden Untersuchung \u00fcber Abreagieren habe ich hervorgehoben, da\u00df in Trauerf\u00e4llen die Abnahme der Trauer nach einigen Tagen darauf beruht, da\u00df nach h\u00e4ufiger Wiederholung der Gedanken an den Trauerfall der gesamte Komplex der Gedanken nicht mehr in seinen einzelnen Bestandteilen ausgedacht wird. So ist es auch hier:\tFach mehrfacher Wiederholung des\nbetreffenden Gedankenkomplexes treten auf der intellektuellen Seite die einzelnen Kom-\nP Diese Schrift. S. 1259 ff.","page":1325},{"file":"p1326.txt","language":"de","ocr_de":"1326\t6!-, St\u00f6rring\nponenten nicht mehr so deutlich heraus; das zieht eine betr\u00e4chtliche Abnahme der Intensit\u00e4t des sich anschlie\u00dfenden Gef\u00fchl s-znstandes nach sich.\n7. Ein weiterer Tatbestand, der das Abreagieren bei verdr\u00e4ngten Komplexen behindert, ist in der sogenannten \u00dcb er-tragnng anf den Arzt gegeben. Es kann n\u00e4mlich in dem monatelang sich hinziehenden analytischen Proze\u00df sich meist eine \u00dcbertragung der zur Entwicklung gebrachten Affekte auf den behandelnden Arzt entwickeln. \u00dcber diesen eigenartigen Proze\u00df sagt Jung folgendes:\n,,Tritt eine \u00dcbertragung auf den Arzt ein und wird sie angenommen, dann ist damit auch eine nat\u00fcrliche Form gefunden, welche sowohl die fr\u00fchere Form ersetzt als auch einen relativ konfliktfreien Ablauf des energetischen Prozesses erm\u00f6glicht. Wenn man daher der Libido den nat\u00fcrlichen Lauf l\u00e4\u00dft, so findet sie von selbst den Weg in die \u00dcbertragung. Wo dies nicht der Fall ist, da handelt es sich immer um eigenm\u00e4chtige Emp\u00f6rungen gegen die Gesetze der Katur oder um eine minderwertige Leistung des Arztes.\nIn der \u00dcbertragung werden zun\u00e4chst alle m\u00f6glichen infantilen Phantasien projiziert, welche ge\u00e4tzt, d. h. reduktiv aufgel\u00f6st werden m\u00fcssen. Man nannte das fr\u00fcher ,,Aufl\u00f6sung der \u00dcbertragung\u201d. Dadurch wird die Energie auch aus dieser untauglichen Form befreit und wiederum stehen wir vor dem Problem der disponiblen Energie.\nDie \u00dcbertragung ist an sich nichts anderes als eine Projektion unbewu\u00dfter Inhalte. Zuerst werden die sogenannten oberfl\u00e4chlichen Inhalte des Unbewu\u00dften projiziert. In diesem Zustand ist der Arzt interessant als m\u00f6glicher Liebhaber. Darauf erscheint er mehr als der Papa, entweder als der g\u00fctige oder etwa auch als der donnernde, je nach den Qualit\u00e4ten, die der wirkliche Yater des Patienten f\u00fcr ihn hatte. Bisweilen erscheint der Arzt dem Patienten auch m\u00fctterlich, was schon etwas sonderbar anmutet, aber immerhin noch im Eahmen des M\u00f6glichen liegt. Alle diese Phantasieprojektionen sind unterlegt von pers\u00f6nlichen Reminiszenzen.\nDarauf aber treten Phantasieformen auf, welche einen \u00fcberschw\u00e4nglichen und unm\u00f6glichen Charakter haben. Der Arzt erscheint dann pl\u00f6tzlich als mit unheimlichen Qualit\u00e4ten begabt, etwa als ein Zauberer oder als ein d\u00e4monischer Verbrecher oder als das entsprechende Gute, als ein Heiland. Koch sp\u00e4ter erscheint er als eine unbegreifliche Mischung beider Seiten. Wohl verstanden: Der Arzt erscheint nicht dem Bewu\u00dftsein des Patienten so, sondern es treten Phantasien an die Oberfl\u00e4che, welche den Arzt so dar-","page":1326},{"file":"p1327.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1327\nstellen. Wenn, wie es nicht selten vorkommt, der Patient nicht ohne weiteres einsehen kann, da\u00df diese Art, in der der Arzt erscheint, eine Projektion seines (des Patienten) Unbewu\u00dften ist, dann geb\u00e4rdet er sich etwas toll. In diesem Stadium gibt es oft gro\u00dfe Schwierigkeiten, wo von beiden Seiten viel guter Wille und gro\u00dfe Geduld n\u00f6tig ist. Ja, es gibt sogar ausnahmsweise F\u00e4lle, die sich nicht zur\u00fcckhalten k\u00f6nnen und anfangen, die albernsten M\u00e4rchen \u00fcber ihren Arzt auszustreuen. Solchen Patienten will es nicht in den Kopf, da\u00df ihre Phantasien tats\u00e4chlich aus ihnen selbst stammen und eigentlich nichts oder sehr wenig mit dem Charakter des Arztes zu tun haben. Dieser hartn\u00e4ckige Irrtum r\u00fchrt daher, da\u00df keine pers\u00f6nlichen Reminiszenzgrundlagen f\u00fcr diese Art von Projektionen vorhanden sind. Man kann gelegentlich nachweisen, da\u00df \u00e4hnliche Phantasien schon zu einer gewissen Zeit in der Kindheit sich an Vater und Mutter h\u00e4ngten, zu denen aber weder Vater noch Mutter wirklichen Anla\u00df gaben\u201c1).\nDieser Proze\u00df der \u00dcbertragung der entwickelten Prozesse vollzieht sich nicht bei jeder Methode des psychoanalytischen Vorgehens. Er spielt bei derjenigen Methode, die als die k a thartische bezeichnet wird, eine verschwindende Eolle. Das h\u00e4ngt offenbar damit zusammen, da\u00df bei dieser Methode der Arzt selbst sehr stark in den Hintergrund tritt.\nTritt die \u00dcbertragung der Affekte auf den Arzt in ausgepr\u00e4gter Weise ein, so mu\u00df der Psychoanalytiker nat\u00fcrlich eine \u201eAufl\u00f6sung\u201d (Deduktion) der einzelnen \u00dcbertragungen vollziehen.\nIch gebe zwei F\u00e4lle von \u00dcbertragung auf den Arzt von Pfister.\nEs handelt sich um einen 17j\u00e4hrigen J\u00fcngling, der wegen hochgradiger Schwermut, Absperrung gegen alle Menschen, zeitweiliger Erregungen und allerlei damit zusammenh\u00e4ngender k\u00f6rperlicher Defekte in spezielle Erziehung bei mir eingetreten war. Ich beschr\u00e4nkte mich auf eine sehr oberfl\u00e4chliche Analyse, die ihm die Ursachen seines Zustandes und die Kotwendigkeit einer zweckm\u00e4\u00dfigen Trieb Verwertung im Sinne der Religion, N\u00e4chst en-liebe und Pflichterf\u00fcllung nahelegte. Nach der vierten Sitzung erkl\u00e4rte er mir triumphierend, da\u00df er sich ganz wohl f\u00fchle und sich fortan selbst helfen k\u00f6nne. Erst sp\u00e4ter vernahm ich, er habe damals ein wackeres M\u00e4dchen kennengelernt und in ihrer Familie freundliche Aufnahme gefunden.\nEin Jahr sp\u00e4ter kehrte die Depression wieder, was mich angesichts der fr\u00fcheren oberfl\u00e4chlichen Behandlung nicht wunderte. Es erwies sich, da\u00df er durch einen Konflikt mit der Geliebten aus dem Gleichgewicht geworfen sei. Als ich mich nach weiteren\n1) Jung: Das Unbewu\u00dfte im normalen und kranken Seelenleben. S. 92 ff-","page":1327},{"file":"p1328.txt","language":"de","ocr_de":"1328\nG-. St or ring\nSymptomen erkundigte und speziell nach Halluzinationen fragte, vernahm ich zu meiner \u00dcberraschung, da\u00df der Kranke fr\u00fcher drei bis vier Jahre lang sehr h\u00e4ufig sich als Tod in Gestalt eines in ein wei\u00dfes Tuch geh\u00fclltes Skelettes im Spiegel sah. Vorher hatte er auffallend starke Vorliebe f\u00fcr Totensch\u00e4del. Vach den ersten Unterredungen mit mir h\u00f6rten die Erscheinungen auf. Ich bemerkte zu meinem Klienten, da\u00df wir zun\u00e4chst einmal von seiner Jugend reden wollen, eine Gewaltsamkeit, die sich sofort r\u00e4chte, denn das Unbewu\u00dfte l\u00e4\u00dft sich sein Pensum nicht vorschreiben.\nMein Besucher erz\u00e4hlte von seinem alten Ha\u00df auf Eltern und Geschwister. Der Vater habe ihn bis zum elften Jahre dem Gro\u00dfvater zur Erziehung \u00fcbergeben und daf\u00fcr unversch\u00e4mterweise noch eine Art Mietpreis bezogen, ja sogar die Forderung von Zeit zu Zeit erh\u00f6ht. Die Gro\u00dfmutter sei im Irrenhaus gestorben.\nPl\u00f6tzlich ver\u00e4ndert sich der Gesichtsausdruck des Analysanden. Die Haare str\u00e4uben sich, Entsetzen redet aus den verzerrten Z\u00fcgen. Er ruft \u00e4ngstlich: ,,'Warum schauen Sie mich so scharf an?\u201d (Ich tue es ja gar nicht.) ,,Doch! Sie sind das Skelett, Sie tragen ein wei\u00dfes Tuch um Gesicht und Leib, Sie sind der Tod ! Ich kann Sie nicht mehr ansehen!\u201d (Beruhigen Sie sich, wir wollen diese h\u00fcbsche Halluzination sofort analysieren. Stellen Sie mich als Tod vor!) ,,Meine Freundin. Bei ihr passierte mir k\u00fcrzlich das n\u00e4mliche. Als ich mit ihr Streit hatte und sie mich schmerzlich entt\u00e4uscht \u00e4nsah, schien sie mir der Tod. Ebenso halluzinierte ich, als ich nachts erwachte. Ich mu\u00dfte aufstehen und das Haus verlassen. Die Freundin ist der einzige Mensch, den ich liebe. Auch zu Ihnen f\u00fchrt mich nicht Keigung, sondern Ehrgef\u00fchl. Bei Ihnen f\u00fchlte ich mich nie befreit, erst aber, wenn ich von Ihnen ging.\u201d (Der Gesichtsausdruck des M\u00e4dchens.) \u201eVorwurfsvoll, Wunsch nach Vers\u00f6hnung. Ich kann ihr aber noch nicht verzeihen, da\u00df sie einem anderen eine Gunst erwies.\u201d (Ihre Liebe ist wieder verriegelt, darum Depression und Erregung. Sie w\u00fcnschten sich fr\u00fcher den Tod, daher die damaligen Halluzinationen. Die Freundin verhalf Ihrer Libido zum Ausweg in die Wirklichkeit. Da Sie die Geliebte zu verlieren glauben, lasen Sie aus ihren Augen den Tod und machen das M\u00e4dchen zu Ihrer M\u00f6rderin. Jetzt beachten Sie den Zusammenhang Ihrer heutigen Vision: Sie erz\u00e4hlten vorhin vom geldgierigen Verhalten des Vaters und vom Tod der geisteskranken Gro\u00dfmutter. Dann riefen Sie: Warum schauen Sie mich so scharf an! Kun?) \u201eIch erkl\u00e4re es so: Ich war w\u00fctend auf den Vater. Dann fielen Sie mir auf. Ich betrachtete Sie f\u00fcr den Vater. Darauf komme ich erst in diesem Augenblick, ich h\u00e4tte in anderen Gegenden die Erkl\u00e4rung gesucht. Jetzt kann ich Sie ganz gut ansehen. Sowie ich soeben die L\u00f6sung fand, ging das wei\u00dfe Tuch weg, dann die Gestalt; die Augen des Todes blieben noch","page":1328},{"file":"p1329.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1329\neinen Augenblick l\u00e4nger, wichen aber, als ich Sie das zweitemal ansah.\u201d\nDie sogenannte negative \u00dcbertragung anf den Arzt, d. h. die \u00dcbertragung unlustartiger Affekte auf denselben, wird gel\u00f6st durch sorgf\u00e4ltige Analyse. Diese gibt dem Analytiker das Material, dem Patienten zu zeigen, da\u00df seine feindselige Gesinnung gegen ihn auf zuf\u00e4lligen Beziehungen beruht, durch blo\u00dfe \u00dcbertragung auf den Arzt entstanden ist. Was. die positive \u00dcbertragung auf den Arzt anlangt, d. h. die \u00dcbertragung von lustgef\u00e4rbten Affekten auf denselben, so wird gefordert, daf\u00fcr zu sorgen, da\u00df dieselbe sich in m\u00e4\u00dfigen Grenzen h\u00e4lt1).\n8. Die h\u00f6chste Form des Abreagierens verdr\u00e4ngter Komplexe ist gegeben in der sogenannten Sublimierung.\nMan versteht darunter die Verwendung der durch die Analyse freigewordenen emotionellen Energien zu h\u00f6heren Zwecken.\nDie meisten Psychoanalytiker denken bei der Sublimierung an eine Verwandlung, der sexuellen Libido in eine h\u00f6here Form des Streben s, in eine der Situation des Patienten angepa\u00dfte sittlich wertvolle praktische Bet\u00e4tigung, an wissenschaftliche oder k\u00fcnstlerische Bet\u00e4tigung.\nIch habe oben die Frage der Verwandlung einer Qualit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in eine andere Qualit\u00e4t von Gef\u00fchlszust\u00e4nden n\u00e4her untersucht und bin zu der Feststellung gekommen, da\u00df die Behauptung, da\u00df solche Umwandlungen Vorkommen, .sich keineswegs rechtfertigen l\u00e4\u00dft.\nSogar Bleuler sagt, man gewinne den Eindruck, ,,da\u00df wirklich eine Kraft, ein Eifer, der sonst f\u00fcr erotische Bestrebungen verbraucht wird, sich auf etwas anderes geworfen habe,\u201d und er f\u00fcgt hinzu: ,,Je n\u00e4her man mit solchen Leuten bekannt wird, um so bestimmter wird man zu dieser Ansicht gedr\u00e4ngt.\u201d Aber er sagt auch wieder: \u201eWird nun aber auch die urspr\u00fcnglich sexuelle Libido zu k\u00fcnstlerischer oder wissenschaftlicher Bet\u00e4tigung verwendet, so hei\u00dft das noch nicht, da\u00df die Sexualit\u00e4t in ganz neuen Bahnen laufe und etwas schaffe, in etwas verwandelt sei, was vorher nicht vorhanden war. Hinter manchen Ausspr\u00fcchen von Sch\u00fclern Freuds scheint diese Ansicht zu stecken. Ich kenne aber f\u00fcr sie noch keinen Beweis. Es ist mir im Gegenteil wahrscheinlicher, da\u00df die wissenschaftlichen oder \u00e4sthetischen Bestrebungen prim\u00e4r vorhanden sind und da\u00df erst sekund\u00e4r sich die Libido ihnen zugewendet und ihnen damit die St\u00e4rke und die lebens-ausf\u00fcllende Bedeutung gibt.\u201d\n1) Pfister: Psychoanalytische Methode. S. 402 ff.","page":1329},{"file":"p1330.txt","language":"de","ocr_de":"1330\nG-. St\u00f6rring\nBleuler findet sodann, da\u00df wo eine auff\u00e4llige Sublimierung der Erotik anftritt, es sich nm Lente mit lebhaften Affekten und lebhaftem Streben handelt I1)\nHier ist die Stelle zur Anregung von Willensbet\u00e4tigungin dem von dem verdr\u00e4ngten Komplex Befreiten von seiten des Psychoanalytikers.\nMit Becht betont Jung, da\u00df die frei gewordene psychische Energie vom Patienten nicht in beliebiger Weise \u2014 wie man bisher gedacht hat \u2014 verwendet werden k\u00f6nne2). Das illustriert er an einem interessanten Fall3).\nHier kann eine Willensanregung in doppelter Weise stattfinden. Einmal in der Weise, da\u00df man den Ich willen des Analysanden mobil macht zur kr\u00e4ftigen Selbstbehauptung. Wir nennen nicht jeden Willen Ich-willen, aber hier handelt es sich um Interessen der Pers\u00f6nlichkeit, die als solche aufgefa\u00dft werden. Wir haben oben bei einleitender Behandlung des Abreagierens hervor gehoben, da\u00df es bei l\u00e4ngere Zeit hindurch sich geltend machenden Unlustaffekten dem Individuum nahe liegt, sich auf die wahren Interessen seiner Pers\u00f6nlichkeit zu besinnen und den Entschlu\u00df zu fassen, sich von diesen zum eigenen Euin f\u00fchrenden Bestrebungen zu em anzipieren.\nDieser formale Willensentschlu\u00df gen\u00fcgt aber nicht. Der Psychoanalytiker hat in monatelanger Behandlung des Patienten einen Einblick in seinen Charakter und seine Bef\u00e4higungen gewonnen; er kann in vorsichtigen Schritten auch Anregung zu materialen Wille hsentschl\u00fcssen geben, die ganz der konkreten Situation des Patienten angepa\u00dft sind. Es w\u00fcrde dann die Willensbet\u00e4tigung in diesem Arbeitsgebiet eine derivative Hemmung f\u00fcr die weitere Entwicklung jenes Unlustaffektes setzen. Ja, es lie\u00dfe sich in manchen F\u00e4llen erreichen, da\u00df sich von einem noch etwa auftretenden Unlustaffekt der gedachten Art aus der Gedanke der gl\u00fcckbringenden Bet\u00e4tigung in diesem Arbeitsgebiet dem Individuum auf dr\u00e4ngte-. Dadurch w\u00fcrde dann erreicht sein, da\u00df diese U nlustaffekte eine Verst\u00e4rkung der Willensimpulse zu dieser h\u00f6heren Art der Bet\u00e4tigung mit sich f\u00fchrten! \u2014\nx) Bleuler'. Die Psychoanalyse Freuds. Jahrb. f. Psych. 2. S. 701.\n2)\tJung: Das Unbewu\u00dfte im normalen und kranken Seelenleben. S. 71.\n3)\tJung: 1. c. S. 75 ff.","page":1330},{"file":"p1331.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1331\nAus diesen Untersuchungen \u00fcber das Abreagieren verdr\u00e4ngter Komplexe mit Einschlu\u00df der Sublimierung ziehen wir besonders folgende Schl\u00fcsse f\u00fcr die Psychologie des normalen Seelenlebens:\nSehr in die Augen springend ist zun\u00e4chst der Effekt der Wiederholung der Aussprache gef\u00fchlsstarker Erlebnisse mit Unlustcharakter. Man wei\u00df schon aus den Tatsachen des normalen Seelenlebens, da\u00df eine Aussprache bei solchen Erlebnissen den Affekt herabsetzt. Hier im pathologischen Seelenleben treten die Erscheinungen in viel gr\u00f6\u00dferen Intensit\u00e4tsdifferenzen auf. Ha konnten wir leichter und sicherer a ls im normalen Seelenleben die mitwirkenden Faktoren a u f w e i s e n.\nSo danntr at uns hier die \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden in grotesker Weise entgegen. Das ist f\u00fcr die normale Psychologie deshalb nicht ohne Wert, weil es noch Psychologen gibt, welche eine \u00dcbertragung von Gef\u00fchlen leugnen, so z. B. Th. Tipps.\nWir haben hier sodann Einblick gewonnen in die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen dessen, was man auf psych opathologischem Gebiete Sublimierungen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden nennt. Eine solche Sublimierung findet nat\u00fcrlich aber nicht nur auf psychoanalytischem Gebiete statt, sondern sie hat allgemeine psychologische Bedeutung, besonders f\u00fcr die - Psychologie der E n t-wicklung sittlicher Wertsch\u00e4tzungen, und f\u00fcr die Psychologie der wissenschaftlichen und der \u00e4sthetischen Bet\u00e4tigung.\nZuletzt ist wohl offensichtlich geworden, da\u00df eine immer weitergehende psychologische Verfolgung der Prozesse bei den, psychoanalytischen Ma\u00dfnahmen und besonders bei den Prozessen des Abreagierens f\u00fcr die Psychologie der menschlichen Charaktere von eminenter Bedeutung ist. \u2014\nDiese soeben gegebenen pathopsychogischen Bestimmungen \u00fcber die Bedeutung, der Psychologie des Abreagierens verdr\u00e4ng Ue r Komplexe f\u00fcr die normale Psychologie bed\u00fcrfen noch einer Erg\u00e4nzung dahin, da\u00df wir hier f\u00fcr die psychopathologischen Untersuchungen in viel weiter gehender, Weise, als wir dazu gew\u00f6hnlich Veranlassung haben, Feststellungen der normalen Psychologie, die unter Ausschlu\u00df der Verwendung der","page":1331},{"file":"p1332.txt","language":"de","ocr_de":"1332\nG. St\u00f6rring\npathopsychologischen Methode gemacht sind, vorausgesetzt haben. Es springt hier also bei der Untersuchung des Abreagierens die Wechselwirkung zwischen der Psychologie des normalen Seelenlebens und der Psychopathologie sehr in die Augen.\nAuch die Bedeutung der Psychoanalyse f\u00fcr die Erziehung tritt hier deutlich hervor.\n18. Kapitel.\nAdlers Maehttheorie.\nIm Anfang jeder Psychoneurose findet man nach Adler ein Gef\u00fchl der Minderwertigkeit. Die Ursache seiner Minderwertigkeit sucht der Psychoneurotiker nicht in der Abnormit\u00e4t seiner Dr\u00fcsensekretion, sondern in seiner Schw\u00e4chlichkeit, seinem kleinen Wuchs, Verbildungen, einem Mangel an vollkommener M\u00e4nnlichkeit, seinem weiblichen Gesicht, weiblichen Z\u00fcgen k\u00f6rperlicher und geistiger Art, seiner Heredit\u00e4t usw.\nMit dem Bewu\u00dftsein der Minderwertigkeit verbindet sich das Gef\u00fchl der Unsicherheit.\nSeine von ihm selbst noch \u00fcbertriebene Minderwertigkeit und sein Gef\u00fchl der Unsicherheit sucht der Patient zu kompensieren durch das Streben nach \u00fcbertriebener Erh\u00f6hung seines Pers\u00f6nlichkeitsgef\u00fchls, das Streben \u201egro\u00df\u201d zu sein, ,,stark\u201d zu sein, ,,obenauf\u201d zu sein, andere zu beherrschen.\nDieses Streben entwickelt sich nach Adler in aller Heimlichkeit; es kommt ihm nicht klar zum Bewu\u00dftsein, beherrscht aber sein ganzes psychisches Geschehen. ,,Der Sinn der Heurose kleidet sich in den gegens\u00e4tzlichen Gedanken: ,ich bin ein Weib und will ein Mann sein\u2019. Minderwertigkeit wird mit Weiblichkeit identifiziert. ,Ich mu\u00df so handeln, als ob ich ein ganzer Mann w\u00e4re oder werden wollte\u2019.\u201d\nDem Gef\u00fchl der Minderwertigkeit tritt also nach Adler der Patient gegen\u00fcber mit einem \u201em\u00e4nnlichen Protest\u201d. Mit erh\u00f6hter Spannung ,,lauert\u201d er, ob er sich als Mann bew\u00e4hren w\u00fcrde.\nSein Kampf, ,,gro\u00df zu sein, der erste zu sein, nicht zu unterliegen\u201d, vollzieht sich in \u201eScheingefechten\u201d. Aus der Eurcht, sich blo\u00dfzustellen, entwickelt sich eine \u201eSicherungstenden z\u201d.\nDiese Sicherungstendenz f\u00fchrt zu allerlei \u201eKunstgriffen\u201d, zu \u201eArrangements\u201d. Der hervorstechendste Kunstgriff ist der neurotische Anfall. Er hat die \u201eA u f g a b e\u201d, das Pers\u00f6nlichkeitsgef\u00fchl vor Herabsetzung zu bewahren.","page":1332},{"file":"p1333.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1333\nDie funktionelle Neurose entspricht sodann dem Streben zu ,,m\u00e4nnlichem Protest\u201d insofern, als der Patient durch seine nerv\u00f6se Erkrankung eine gewaltige Macht auf seine Umgebung' ausiibt. \u201eEs gibt \u00fcberhaupt kein besseres Mittel, ein ganzes Haus zu tyrannisieren, als eine Neurose: Namentlich Herzzust\u00e4nde, Erstickungsanf\u00e4lle, Kr\u00e4mpfe aller Art erzielen eine enorme Wirkung, die kaum \u00fcberboten werden kann, Str\u00f6me des Mitleides werden entfesselt, sublime Angst treubesorgter Eltern, ein Hin- und Herrennen der Dienstboten, Telephongeklingel, herbeie\u00fcende \u00c4rzte, schwierige Diagnosen, eingehende Untersuchungen, langwierige Behandlungen, bedeutende Ausgaben, und mitten drin in all dem L\u00e4rm liegt der unschuldig Leidende, dem man sogar noch \u00fcberstr\u00f6mend dankbar ist, wenn er die ,Kr\u00e4mpfe\u2019 \u00fcberstanden hat1)\u201d.\nZur Realisierung des neurotischen Pers\u00f6nlichkeitsideals ent\" wickelt sich auch nach Adler eine ,,E ntwertungstenden z\u201d> eine Tendenz zur Verkleinerung anderer. Dieselbe macht sich geltend in Ha\u00df, Rechthaberei, Unduldsamkeit, Neid.\nEine Qu\u00e4lerei anderer Art kann auch durch Selbstqu\u00e4lerei in \u00fcbertriebenem Schuldgef\u00fchl herbeigef\u00fchrt werden2).\nDie ganze Auffassung der Erscheinungen in der Welt ist bei diesen Kranken unter dem Einflu\u00df dieses emotionellen Gegensatzes zu ihnen in \u201estarre Gegens\u00e4tze\u201d zerfallen. Adler hebt hervor, da\u00df auch das Ged\u00e4chtnis unter der Herrschaft dieser Gegens\u00e4tze steht, da\u00df dadurch gegeben ist ein Mangel an Anpassungsf\u00e4higkeit an die Realit\u00e4t, eine Entfremdung der Realit\u00e4t gegen\u00fcber.\nIch gebe einen Fall Adlers:\n\u201eEiner meiner Patienten, der wegen Stotterns und Depressionszust\u00e4nden in meine Behandlung kam, lie\u00df f\u00fcr seine Umgebung nur die Z\u00fcge der Freigebigkeit erkennen .... Als obiger Patient sich mir vorstellte, erz\u00e4hlte er mir unaufgefordert, sein Vater sei nicht wohlhabend, und er k\u00f6nne f\u00fcr die Behandlung keine gro\u00dfen Opfer bringen. Nach einiger Zeit kam w\u00e4hrend der Behandlung notgedrungen das Gest\u00e4ndnis zutage, da\u00df er auch in diesem Punkte gelogen habe, um einen geringeren Honorarsatz zu erzielen. Auch in vielen anderen Beziehungen erwies er sich als geizig. Aber gleichzeitig suchte er sich und insbesondere andere dar\u00fcber zu t\u00e4uschen. Beide Z\u00fcge besa\u00df auch der Vater, und unser Patient war von diesem mit besonderem Nachdruck auf Sparsamkeit hingelenkt worden. Oft hatte man es ihm vorgesagt: \u201eGeld ist Macht\u201d . . . So konnte es nicht fehlen, da\u00df unser Patient, der bereits in der\nx) Jung: Das Unbewu\u00dfte im normalen und kranken Seelenleben. S. 58.\n2) Adler: 1. c. S. 145.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t87","page":1333},{"file":"p1334.txt","language":"de","ocr_de":"2334\tGL St\u00f6rring\nKindheit sehr ehrgeizig nnd herrschs\u00fcchtig war, als er sp\u00e4ter in eine unsichere Situation geriet nnd das Ma\u00df des Maters auf geradem Wege nicht erreichen zu k\u00f6nnen glaubte, unter dem Druck seines Ehrgeizes zu dem Kunstgriff Zuflucht nahm, durch Beibehaltung eines Kindesfehlers, des Stotterns, den 'Vater von dessen Ohnmacht, vom Fehlschlagen seiner Erziehungspl\u00e4ne zu \u00fcberzeugen. Er verdarb durch das Stottern dem Mater das Spiel, weil er nicht der erste sein, weil er ihn nicht, \u00fcberfl\u00fcgeln konnte.\n... Der Mater unseres Patienten konnte leicht von dem Knaben als beil\u00e4ufiges Morbild genommen werden, da er an Gr\u00f6\u00dfe, Kraft, Reichtum und sozialer Stellung seine Umgebung \u00fcberragte. Wollte er aus seiner Unsicherheit heraus, in die ihn seine konstitutionelle Minderwertigkeit (angeborene Minderwertigkeit des Ern\u00e4hrungstraktus) gest\u00fcrzt hatte, so mu\u00dfte er, wie nach einem Plan, auf einen fixen Punkt zu seine Morbereitungen f\u00fcrs Leben treffen. Das starke Hervortreten der Leitlinie zum Materideal ist bereits ein ne u-rotischer Zug, denn in ihm k\u00f6nnen wir die ganze Kot dieses Kindes begreifen, das aus seiner Unsicherheit heraus will. Die Sicherungstendenz der Ueurose f\u00fchrt so den Patienten aus dem Bereich seiner eigenen Kr\u00e4fte und zwingt ihn auf einen Weg, der aus der Wirklichkeit herausf\u00fchrt: 1. weil er seine Fiktion, dem Mater zu gleichen oder ihn zu \u00fcbertreffen, zu seiner Aufgabe macht und nun gezwungen ist, sein Erleben der Welt unter ihrem Zwang zu formen, zu gruppieren und zu beeinflussen; 2. weil es nie gelingen kann, eine derartige abstrakte Fiktion in der Wirklichkeit durchzusetzen, au\u00dfer in der Psychose. Es kommt so in die Psyche des Kindes ein intensiv suchender, messender, w\u00e4gender Zug ....\nSein Mater hatte gro\u00dfe Hoffnungen auf des Patienten Rednergabe gesetzt, die sich in der Kindheit schon gezeigt hatte, hatte sich auch durch das geringf\u00fcgige Stottern des Knaben nicht beirren lassen und hoffte, da\u00df er die juristische Laufbahn ergreifen werde. Hier konnte er den Mater an der wundesten Stelle treffen, und so verfiel er in immer heftigeresS lottern, eine neurotische \u00c4u\u00dferung der Sicherung gegen die \u00dcberlegenheit des Maters, zu der ihm die Anregung durch einen stotternden Hauslehrer gekommen war. In der Folge bekam dieses Symptom nun eine Unzahl anderer Merwendungen, beispielsweise die, da\u00df er durch das Stottern immer Zeit gewann, seinen Partner zu beobachten, seine Worte abzuw\u00e4gen, Forderungen der Familie an ihn abzulehnen, das Mitleid anderer auszunutzen und ebenso das Morurteil, womit man nur geringe Erwartungen an ihn stellte, die er dann \u00fcbertraf. Interessant ist, da\u00df ihm sein recht auff\u00e4lliges Stottern in der","page":1334},{"file":"p1335.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1335\nLieb es Werbung kein Hindernis war, da\u00df es ihn eher f\u00f6rderte, was von unserem Standpunkt aus begreiflich scheint, nach welchem ein weit verbreiteter Typus von M\u00e4dchen von der Liebesbedingung nicht lassen kann, der Mann ihrer Wahl m\u00fcsse unter, ihnen stehen, damit sie ihn sicher beherrschen k\u00f6nnen.\nBesonders feindselige B Regungen gegen Eltern, Geschwister und Dienstboten beendete er mit der Aufstellung einer neuen Leitlinie, die ihn zum g\u00fctigen Menschen machen sollte. Diese neue Entwicklung vollzog sich unter allabendlicher Ablegung seiner Selbstbeichte, bei der er sich seine B\u00f6sartigkeit vorwarf und Gewissensbisse arrangierte. Sein wachsendes Verst\u00e4ndnis hatte ihn so auf einen kulturellen Umweg zur Erh\u00f6hung seines Pers\u00f6nlichkeitsgef\u00fchls hingewiesen.\nDer Mangel einer geradlinigen Aggression zeigte sich auch darin, da\u00df er seinen Ehrgeiz in Gedanken und Phantasien, allerdings auch in guten Fortschritten in der Schule bewies, so da\u00df er die meisten seiner Mitsch\u00fcler besiegte. Eine zunehmende Neigung zu Sarkasmus und Verhetzung anderer wurde jetzt der einzig sichtbare Ausdruck seiner fr\u00fcher oft gewaltt\u00e4tigen Aggression, die ihm den Spitznamen ,Blutegel\u2019 eingetragen hatte ...\u201d\nEine Heilungsm\u00f6glichkeit solcher Patienten ist nach Adler darin gegeben, da\u00df sowohl das Minderwertigkeitsgef\u00fchl als das Streben nach Erh\u00f6hung des Pers\u00f6nlichkeitsgef\u00fchles \u00fcbertrieben, ,,fiktiv\u201d ist. Es kommt darauf an, in der Psychoanalyse die Gestaltung des Pers\u00f6nlichkeitsbewu\u00dftseins aufzudecken und dann eine Ausgleichung dieses Gegensatzes herbeizuf\u00fchren.\nWas die psychoanalytische Methode betrifft, so nimmt Adler zur Lehre Freuds \u00fcber Symbolik eine positive Stellung ein. Er sagt: ,,Der um die Aufdeckung der Symbolik in der Neurose und Psychose hochverdiente Forscher Freud . . . hat auf die F\u00fclle der Symbolik aufmerksam gemacht. Leider ist er blo\u00df zur Aufdeckung der in ihnen vorhandenen und m\u00f6glichen Sexualformeln gelangt und hat ihre weitere Aufl\u00f6sung in das dynamische Geschehen des m\u00e4nnlichen Protestes nicht verfolgt. So kam es, da\u00df sich ihm der Sinn der Neurose in der Verwandlung der libidin\u00f6sen Regungen ersch\u00f6pft1).\u201d\nEr erkennt also die Vorstellungsweisen Freuds \u00fcberSymboleimganzenan.\nEbenso anerkennt er Freuds Vorstellungsweisen \u00fcber die Tr\u00e4ume. Nach ihm war Freuds Traumdeutung \u201evielleicht die st\u00e4rkste F\u00f6rderung unseres Verst\u00e4ndnisses der Neurosenpsychologie\u201d.\n1) Adler: 1. c. S. 40.\n87*","page":1335},{"file":"p1336.txt","language":"de","ocr_de":"1336\nGr. St\u00f6rring\nUnsere fr\u00fcher gegebenen methodologischen Einw\u00e4nde gegen die psychoanalytische Freud sehe Symbolik und seine Traumdeutung richten sich also auch gegen Adler.\nJung stellt in geschickter Weise die Anschauungen Freuds und Adlers einander gegen\u00fcber. Er sagt : \u201eIm einen Fall ist die Liebe und ihr Schicksal die oberste und ausschlaggebende Tatsache, im anderen Eall die Macht des Ich. Im ersteren Fall h\u00e4ngt das Ich blo\u00df als eine Art Anh\u00e4ngsel am Liebestrieb, im letzteren Fall ist die Liebe jeweils blo\u00df ein Mittel zum Zweck des Obenaufkommens. Wem die Macht des Ich am Herzen liegt, der revoltiert gegen die erstere Auffassung, wem aber die Liebe am Herzen liegt, wird sich mit der letzten Anschauung nie auss\u00f6hnen k\u00f6nnen1).\u201d\nJung beschreibt eingehend einen Fall von Hysterie, dem er eine Deutung nach Freud und daneben eine Deutung nach Adler gibt. Er findet beide Theorien bestechend einfach und klar. Die eine soll ebensoviel erkl\u00e4ren als die andere: \u201eDie Freudsche Theorie ist so bestechend einfach und klar, da\u00df es einem fast weh tut, wenn jemand den Keil einer gegens\u00e4tzlichen Behauptung hineintreibt. Aber dasselbe gilt von der M\u00e4rschen Theorie: auch sie ist von einleuchtender Einfachheit und Klarheit und erkl\u00e4rt ebensoviel wie die Freudsche Theorie2).\u201d\nDas ist ja eine methodologisch sehr interessante Situation.\nJung entscheidet sich in folgender Weise: \u201eDa nun beide Theorien in weitgehendem Ma\u00dfe richtig sind, d. h. ihren Stoff ad\u00e4quat erkl\u00e4ren, so mu\u00df die Heurose offenbar zwei gegens\u00e4tzliche Aspekte haben, wovon der eine durch die Freu\u00e4sche, der andere durch die Adlersche Theorie gefa\u00dft wird. Woher aber kommt es, da\u00df der eine Forscher nur die eine und der andere nur die andere Seite sieht ! Und warum meinen beide, da\u00df sie die alleing\u00fcltige Ansicht besitzen ? Das kommt wohl daher, da\u00df verm\u00f6ge ihrer psychologischen Eigenart die beiden Forscher gerade das an der Heurose am ehesten sehen, was ihrer Eigenart entspricht. Es ist nicht anzunehmen, da\u00df Adler ganz andere Heurosef\u00e4lle zu Gesicht bekomme als Freud. Beide gehen offenkundig vom selben Erfahrungsmaterial aus, aber da sie aus pers\u00f6nlicher Eigenart die Dinge verschieden sehen, so entwickeln sie grundverschiedene Ansichten und Theorien3).\u201d\nFreud soll diejenige Einstellung haben, die Jung als introvertiert bezeichnet, Adler diejenige, die er als extravertiert bezeichnet4).\n1) Jung: 1. c. S. 59. \u2014- 2) Jung: 1. c. S. 60. \u2014 3) Jung: 1. c. S. 69. \u2014\n4) Jung: 1. c. S. 63 ff.","page":1336},{"file":"p1337.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1337\nDa\u00df Freud und Adler die F\u00fclle ihrer F\u00e4lle ganz verschieden deuten, ist nnr dadnrch erm\u00f6glicht, da\u00df sie eine Methode der Dentnng verwendeten, von der wir fr\u00fcher gezeigt haben, da\u00df sie an vielen Punkten keinen wissenschaftlich zwingenden Charakter hat, sondern der Willk\u00fcr des Denkens einen gro\u00dfen Spielraum l\u00e4\u00dft.\nAnhang zu den pathopsychologisehen Methoden \u00fcber verstehende und naturwissenschaftlich fundierte Psychologie.\n1. Naturwissenschaftlich fundierte\nPsychologie.\nIn den letzten Jahren hat sich neben der naturwissenschaftlich fundierten Psychologie eine geisteswissenschaftliche und verstehende Psychologie geltend gemacht. Sie will der \u201enaturwissenschaftlichen Psychologie\u201d nur relativ einfache psychische Tatbest\u00e4nde zur Untersuchung zuweisen, w\u00e4hrend sie selbst den Anspruch erhebt, die Tatbest\u00e4nde des h\u00f6heren psychischen Lebens zu untersuchen.\nEs erscheint uns nicht zweckm\u00e4\u00dfig, von naturwissenschaftlicher Psychologie zu sprechen, wir sprechen von naturwissenschaftlich fundierter Psychologie. Die als naturwissenschaftliche bezeichnete Psychologie weist n\u00e4mlich in ihrer Materie kolossale Differenzen auf gegen\u00fcber der Materie der Naturwissenschaften. Diese Differenzen liegen offen zutage1).\nDiesen Tatbest\u00e4nden tr\u00e4gt man Eechnung, wenn man Von \u201enaturwissenschaftlich fundierter Psychologie\u201d spricht. Trotz der Differenz in der Materie weist diese Psychologie n\u00e4mlich nahe Beziehungen zur Naturwissenschaft auf. Sie handhabt n\u00e4mlich experimentelle Methoden wie die Naturwissenschaften, und sodann ist zu beachten, da\u00df die experimentelle Psychologie aus der Sinnespsychologie hervorgewachsenist.\nDazu kommt nun, da\u00df die \u00fcbrigen Methoden dieser Psychologie sich auf experimentelle Psychologie gr\u00fcnden.\nDas gilt zun\u00e4chst von der pathopsychologisehen Methode, wie wir sahen. Die Verarbeitung der psychopatho-logischen Tatsachen zum Zwecke von Folgerungen f\u00fcr die normale Psychologie arbeitet ja doch mit Begriffen, die im experimentellen Betrieb gewonnen sind, und sie setzt elementare psychische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten voraus, welche die experimentelle Psychologie festgelegt hat.\nx) St\u00f6rring: Psychologie. S. 56 ff.","page":1337},{"file":"p1338.txt","language":"de","ocr_de":"1338\nG. St\u00f6rring\nWie mit der Verwertung psychopathologischer Tatbest\u00e4nde stellt es auch mit der Verwertung entwicklungspsychologischer Tatbest\u00e4nde f\u00fcr die normale Psychologie \u2014 ich meine die Verwertung der V\u00f6lkerpsychologie und der Kinderpsychologie. Wundt suchte alle psychischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten des h\u00f6heren psychischen Lebens v\u00f6lkerpsychologisch abzuleiten. Aber V\u00f6lkerpsychologie und Kinderpsychologie lassen sich nicht verwerten zur Feststellung von psychischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten im Leben der \u201ekultivierten Erwachsenen, ohne da\u00df man aus der experimentellen Psychologie Begriffe und Feststellungen \u00fcber dort gefundene psychische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten entlehnt.\nAuch eine h\u00f6here Form der Selbstbeobachtung setzt den experimentellen Betrieb voraus. Von einer Selbstbeobachtung alten Stiles unterscheide ich nicht blo\u00df eine Selbstbeobachtung unter experimentellen Bedingungen, sondern auch eine Selbstbeobachtung, welche derjenige Psychologe, welcher sich an experimentellen Untersuchungen geschult hat, an h\u00f6heren psychischen Tatbest\u00e4nden aus\u00fcbt.\n2. Verstehende Psychologie.\nDa\u00df man es \u00fcberhaupt riskiert hat, zu behaupten, eine naturwissenschaftliche Psychologie habe es nur mit den niederen psychischen Vorg\u00e4ngen zu tun, eine geisteswissenschaftliche und verstehende Psychologie aber mit der h\u00f6heren, h\u00e4ngt damit eng zusammen, da\u00df jahrzehntelang die meisten Vertreter der Psychologie auch in ihren Vorlesungen sich fast ganz auf die Behandlung des Wahrnehmung s- und des Vorstellungslebens beschr\u00e4nkt haben. Die neu aufgekommene experimentelle Psychologie wurde \u2014 wie es verst\u00e4ndlich ist bei einer neuen Disziplin \u2014 zu einseitig betont. Die Handhabung der v\u00f6lkerpsychologischen Methode erforderte eine ganz andere Arbeitsweise, die pathopsychologische Methode vermochten die wenigsten Psychologen zu handhaben, da sie eben eine intime Vertrautheit mit den psychopathologischen Tatbest\u00e4nden voraussetzt, die nicht etwa einfach aus der Literatur zu gewinnen ist ! Und was zuletzt die Anwendung einer gel\u00e4uterten Selbstbeobachtungsmethode anlangt, so wurde man daran meist durch die scharf oppositionelle Stellung zu der unsicheren Handhabung der Selbstbeobachtung seit den Zeiten des Aristoteles gehindert.\nVon den verschiedenen Formen der verstehenden Psychologie mu\u00df den Psychiater am meisten die verstehende Psychologie von","page":1338},{"file":"p1339.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1339\nJaspers interessieren, da er Psychiater ist. Dieselbe steht in der innigsten Beziehung zu der Psychologie des geisteswissenschaftlichen Philosophen Dilthey1).\nDer Psychiater unterscheidet mit Recht zwischen psychologisch verst\u00e4ndlichen und psychologisch unverst\u00e4ndlichen Symptomenkomplexen bei den Kranken. Manche .-psych\u00f6patho-logischen Tatbest\u00e4nde sind eben durch ein Sichhinein-versetzen psychologisch verst\u00e4ndlich zu machen, andere dagegen nicht.\nMan mu\u00df aber beachten, da\u00df ein Ye r-stehen von Zusammenh\u00e4ngen durch ein Sich-hineinversetzen ein vulg\u00e4rpsychologisches Verfahren ist, das auch derjenige vollziehen kann, der nicht psychologisch gebildet ist. Ein solches Verstehen durch Sichhineinversetzen ist nat\u00fcrlich sehr verschieden von einer psychologisch-wissenschaftlichen Erfassung der Zusammenh\u00e4nge. Was sich durch Sichhineinversetzen verstehen l\u00e4\u00dft, l\u00e4\u00dft sich auch kaus a 1ps ycho1ogisch durch Deduktion auf allgemeine psychologische Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten erfassen. Aber diese allgemeinen psychologischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten kann sich derjenige nicht zum Bewu\u00dftsein bringen, der, ohne Psychologe zu sein, durch Sichhineinversetzen psychische Zusammenh\u00e4nge versteht!\nDas vulg\u00e4re Verstehen durch Sichhineinversetzen ist aber deshalb nicht wertlos f\u00fcr den Psychologen und Psychopathologen, es stellt ein Verfahren von gro\u00dfem propaedeutischem Wert dar, ein Verfahren, dessen Resultat dem Psychologen und Psychopathologen eine wertvolle Aufgabe darstellt.\nDieses vulg\u00e4rpsychologische Sichheinversetzen hat besonders in der Entwicklung der P\u00e4dagogik eine gro\u00dfe Polle gespielt. Pestalozzi war kein geschulter Psychologe, aber er hatte durch vulg\u00e4rpsychologische Feststellungen, besonders auf dem Gebiete der sittlichen Entwicklung, der wissenschaftlich-psychologischen Auffassung der Tatbest\u00e4nde, vorgearbeitet, indem er durch seine Feststellungen der wissenschaftlichen Psychologie bestimmte wertvolle Auf-g ab en gestellt hat.\nKun ist weiter zu betonen, da\u00df mit der Anerkennung des Wertes des vulg\u00e4rpsychologischen Verstehens von psychischen Zusammenh\u00e4ngen noch keineswegs die verstehende Psychologie\n1) St\u00f6rring: Die Frage der geisteswissenschaftlichen und verstehenden Psychologie. Eine Streitschrift 1928. . .\t- V -\t:","page":1339},{"file":"p1340.txt","language":"de","ocr_de":"1340\nG-. St\u00f6rring\ngegeben ist. Die Differenz zwischen beiden wollen wir jetzt heraus-stellen.\nZur Unterscheidung von seiner verstehenden Psychologie charakterisiert Jaspers die bisherige naturwissenschaftliche Psychologie in einer sehr komischen Weise: \u201eSie ist Psychologie ohne Seelisches\u201d ( !). Ihre Untersuchungen pflegen \u201enur sekund\u00e4r subjektiv seelische Ph\u00e4nomene zur Deutung oder zum Vergleich mit den objektiven Leistungen heranzuziehen\u201d1).\n\u201eDurch Hineinversetzen in Seelisches verstehen wir genetisch, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht.\u201d\nW\u00e4hrend eine naturwissenschaftliche Psychologie, da sie den Begriff der Kausalit\u00e4t von der Naturwissenschaft \u00fcbernommen hat, nach Jaspers nur eine \u201eKausalit\u00e4t von au\u00dfen\u201d kennt ( !), erfa\u00dft man durch Sichhineinversetzen die \u201eKausalit\u00e4t von innen\u201d, man versteht, \u201ewie Seelisches aus Seelischem hervorgeht\u201d!\nDie von Jaspers angef\u00fchrten F\u00e4lle des Verstehens f\u00fchren nur bei der von ihm angenommenen merkw\u00fcrdigen Deutung zu seiner Theorie.\nWir verstehen, da\u00df der Angegriffene zornig wird und Abwehrbewegungen macht, da\u00df der Betrogene mi\u00dftrauisch wird, da\u00df aus W\u00fcnschen, Bef\u00fcrchtungen, Stimmungen Gedanken hervorgehen, aus Motiven Handlungen, da\u00df vom Brotpreis die Zahl der Diebst\u00e4hle abh\u00e4ngt, da\u00df die Herbstwitterung eine Tendenz zum Selbstmord setzt u. \u00e4.\nBei solchem Erleben handelt es sich nach Jaspers um eine \u201eKausalit\u00e4t von innen\u201d, man soll dabei verstehen, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht. Bei David Hume tritt die bedeutsame, von Kant eminent gesch\u00e4tzte Erkenntnis auf, da\u00df man keine einzige Wirkung aus der Ursache begreifen kann, da\u00df kein Hervorgehen einer Wirkung aus einer Ursache erlebt wird ; neuere geisteswissenschaftliche Psychologen kennen aber wieder ein Hervorgehen der Wirkung aus der Ursache !\nDamit h\u00e4ngt folgendes zusammen: Bei der Erfassung dieser Beziehungen soll eine eigenartige Evidenz vorliegen, die \u00fcber die Evidenz, welche sonst beim Erkennen realwissenschaftlicher, also z. B. naturwissenschaftlicher Tatbest\u00e4nde gegeben ist, nach der positiven Richtung weit hinausliegt, eine Evidenz, wie man sie bei Vernunft Wahrheiten, bei mathematischen Erkenntnissen findet !\nVon dieser Evidenz wird n\u00e4mlich gesagt, da\u00df sie nicht, wie bei naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, induktiv begr\u00fcndet ist, sondern einen wunderbaren Tatbestand darstellt, ein \u201eletztes Faktum des Bewu\u00dftseins\u201d ! Diese Zusammenh\u00e4nge werden\nx) Jaspers-. Allg. Psychopathologie. 2. Aufl. S. 170.","page":1340},{"file":"p1341.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1341\neben erkannt \u201eans Anla\u00df der Erfahrung\u201d, aber nicht induktiv durch Erfahrung\u201d ! Also wie nach Kant die synthetischen Urteile a priori in der Mathematik.\nWenn der Psychiater von einem Verstehen psychischer Zusammenh\u00e4nge durch ein Sichhineinversetzen spricht, so f\u00e4llt es ihm gar nicht ein, zu behaupten, da\u00df diese Erkenntnis eine h\u00f6here wissenschaftliche Dignit\u00e4t habe, als alle naturwissenschaftliche Erkenntnis!\nAuch von dem Psychiater wird diese ,,Erkenntnis\u201d als vielmehr unter der Dignit\u00e4t naturwissenschaftlicher und kausal-psychologischer Entwicklung stehend erkannt1).\nDiese merkw\u00fcrdigen Entwicklungen, welche den Kern der Jasper suchen Psychologie des Verstehens darstellen, m\u00fcssen wir uns etwas n\u00e4her ansehen.\nWenn gesagt wird, da\u00df die Auffassung der neuen Beziehung beim Verstehen nichts mit Induktion zu tun hat, weil hier keine H\u00e4ufung von F\u00e4llen vorliege, so ist dagegen geltend zu machen, da\u00df hier von Jaspers ein ganz antiquierter Begriff von Induktion in Anwendung gebracht wird, die Induktion im Sinne einer Enume-ratio simplex. Die hier vorliegende Art des Erkennens f\u00e4llt aber unter den ganz andersartigen modernen Begriff der Induktion. Bei der modernen Induktion wird die G\u00fcltigkeit des allgemeinen Kausalprinzips vorausgesetzt. Wenn man das tut, dann kann man bekanntlich2) auf Grund von ein paar F\u00e4llen, unter Umst\u00e4nden sogar auf Grund eines Falles eine sichere allgemeine Bestimmung machen: (auf Grund eines Falles, wenn man sicher sein kann, da\u00df die Versuchsumst\u00e4nde konstant gehalten sind).\nHier liegt nun ein Induktionsschlu\u00df vor auf Grund eines Experimentes, welches der einf\u00fchlende Beobachter an sich selbst anstellt \u2014 keine h\u00f6here Form der Erkenntnis, wie bei den mathematischen Urteilen ! Es handelt sich hier um ein Experiment nach der Differenzmethode, das der Sicheinf\u00fchlende an sich selbst anstellt.\nDer einf\u00fchlende Betrachter l\u00e4\u00dft einen Beiz auf seine Pers\u00f6nlichkeit wirken, indem er sich in Gedanken \u2014 im Fall der Feststellung, da\u00df der Angegriffene zornig wird \u2014 in die Situation des Angegriffenen versetzt. Er erlebt dann als Beaktion seiner Pers\u00f6nlichkeit auf diesen Beiz ein Zornigwerden. Dieses Zornigwerden fa\u00dft er nun als Wirkung des Angegriffenseins auf, nicht nur in\n*) Vgl. Schilder: Selbstbewu\u00dftsein und Pers\u00f6nlichkeitsbewu\u00dftsein. S. 119..\n2) St\u00f6rring: Logik. S. 254 ff.","page":1341},{"file":"p1342.txt","language":"de","ocr_de":"1342\nGr. St\u00f6rring\ndiesem Fall, sondern allgemein b ei . sich nnd auf Grund von Analogiebet rachtung als Wirkung des Angegriffenseins bei allen Menschen.\nEs ist noch zu fragen, woher der Eindruck kommt, da\u00df hier eine intimere Auffassung von Beziehungen vorliegt, als bei Kausalauffassung auf naturwissenschaftlichem Gebiet. Dieser Eindruck r\u00fchrt daher, da\u00df hier nicht wie bei anderen kausalen Feststellungen die aufeinander bezogenen Beziehungsglieder zum Gegenstand der Deflexion gemacht werden, sondern hier diese Beziehungsglieder unmittelbar erlebt werden. Hier wird aber nicht etwa, wie Jaspers behauptet, die Verbindung zwischen Ursache und Wirkung erlebt, es wird nicht erkannt, wie Seelisches aus Seelischem hervorgeht. Die hier vorliegende intimere Auffassung der kausalen Beziehungsglieder wird von Jaspers umgedeutet in ein intimes Auffassen, ein Erleben der kausalen Beziehung.\nEs ist ja auch absurd anzunehmen, da\u00df aus der autosuggestivurteilsm\u00e4\u00dfigen Feststellung des Angegriffenseins, einem i n-tellektuellen Tatbestand, ein emotioneller Tatbestand, Zorn, hervor geht.\nWir haben gezeigt, da\u00df in den F\u00e4llen des Verstehens durch Sichhineinv ersetz en keineswegs eine h\u00f6here Art von Evidenz vorliegt, sondern eine induktiv gewonnene Kausalauffassung. Wir haben auch feststellen k\u00f6nnen, woher der Schein h\u00f6herer Evidenz entsteht.\nDa\u00df die durch ein solch vulg\u00e4rpsychologisches Verstehen gewonnene Auffassung nicht \u00fcber, sondern vielmehr unter dem Mveau kausaler Feststellung von seiten der Psychologie steht, erkennt man hier daraus, da\u00df bei diesem Experiment an sich selbst auf gutes Gl\u00fcck die oben angegebene doppelte Verallgemeinerung vollzogen wird.\nEs darf aber trotz allem nicht die gro\u00dfe heuristische Bedeutung dieses vulg\u00e4rpsychologischen Verstehens f\u00fcr den Vollzug endg\u00fcltiger Bestimmungen von seiten naturwissenschaftlich fundierter Psychologie \u00fcbersehen werden !\nII. ABSCHNITT.\nDie experimentellen Methoden der Psychologie der Gef\u00fchle.\n1. Kapitel.\nExperimentelle Untersuchungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde seihst.\nMit G. JE. St\u00f6rring zusammen habe ich Experimente, welche sich nicht auf die Begleiterscheinungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde, sondern auf diese selbst beziehen, angestellt, und zwar nach \u00e4hn-","page":1342},{"file":"p1343.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1343\nlieber Methode, wie sie von Th: Haeringx), Girgensohn1 2) und Gruehn3) zur Anwendung gebracht ist. Wir glauben, die Versuchsanordnung vorteilhafter gestaltet zu haben.\nWir gaben unseren Versuchspersonen Reizw\u00f6rter, die emotionelle Erlebnisse auszul\u00f6sen geeignet sind, Reizw\u00f6rter, wie z. B. Eerienreise, M\u00e4rchen, Examen, Forschung, Landhaus, Entt\u00e4uschung, Tatkraft, Entschlossenheit.\nDabei erhielten die Versuchspersonen die Anweisung, das mit dem Reiz wert Bezeichnete zu fixieren und eine emotionelle Stellungnahme zu vollziehen an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde oder\ndie Anweisung, das mit dem Reizwort Bezeichnete zu fixieren und eine emotionelle Verarbeitung zu vollziehen an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde.\nIn anderen F\u00e4llen wurde anstatt einer ,,emotionellen Stellungnahme\u201d oder einer ,,emotionellen Verarbeitung\u201d eine \u201eWertsch\u00e4tzung\u201d, in noch anderen ein \u201eWerturteil\u201d verlangt.\nDie unter der Anweisung, ein Werturteil zu vollziehen, an-gestellten Versuche werden uns sp\u00e4ter bei Besprechung der Werturteile besch\u00e4ftigen.\nVon ganz besonderem Einflu\u00df auf die Gestaltung der Versuche war die n\u00e4here Anweisung, die emotionelle Stellungnahme usw. zu vollziehen : an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde. Arbeitet man ohne diese zus\u00e4tzliche Bestimmung, so treten h\u00e4ufig unerw\u00fcnschte abstrakte Er\u00f6rterungen auf. Die Forderung der Heranziehung konkreter Tatbest\u00e4nde, die sich fast ausnahmslos auf Grund der Erinnerung vollzog, macht die Versuche viel reichhaltiger und lebensn\u00e4her.\nMan gewinnt durch diese zus\u00e4tzliche Forderung ein Material, welches f\u00fcr Feststellungen auf dem Gebiete der Gef\u00fchlspsychologie sehr geeignet ist.\nIch fasse zuerst die Feststellungen ins Auge, welche sich auf Grund dieses Materials \u00fcber Analyse von Gef\u00fchlszust\u00e4nden machen lassen.\nA. Analyse von Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf Grund dieser experimentellen Untersuchungen.\nI. Analyse synthetisch entstandener Gef\u00fchlszust\u00e4nde und Analyse\nhomplex gegebener Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nWir unterscheiden auf Grund des vorliegenden Materials zwei Arten von Analyse in der Weise, da\u00df wir die eine Art als\n1)\tTh. Haering: Untersuchungen zur Psychologie der Wertung. Arch. f. d. ges. Psychol. 23. und 27.\n2)\tGirgensohn: Der seelische Aufhau des religi\u00f6sen Erlebens. 1921.\n3)\tW. Gruehn: Das Werterlebnis. 1924.","page":1343},{"file":"p1344.txt","language":"de","ocr_de":"1344\nG. St\u00f6rring\nAnalyse synthetisch entstandener Gef\u00fchlszust\u00e4nde charakterisieren, die andere als Analyse komplex gegebener Gef\u00fchlsznst\u00e4nde.\nIn der einen Grnppe von F\u00e4llen hat sich der zn analysierende Gesamtgef\u00fchlsznstand so entwickelt, da\u00df die Yersnchsperson bei Vergegenw\u00e4rtigung eines konkreten Falles zn dem mit dem Beiz-wort Gemeinten nacheinander einzelne Seiten oder Teile dieses konkreten Falles betrachtet, wobei dann an diese intellektuellen Einzeltatbest\u00e4nde sich Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde anschlie\u00dfen, welche dann in einen Gesamtgef\u00fchlszustand, meist unter Verschmelzung, eingehen.\nIn der anderen Gruppe von F\u00e4llen findet bei Vergegenw\u00e4rtigung des konkreten Falles keine Heraushebung einzelner Seiten oder Teile des intellektuellen Gesamttatbestandes statt, sondern es bleibt bei seiner Gesamtbetrachtung, und an diese schlie\u00dft sich ein Gesamtgef\u00fchlszustand an.\nIm ersten Falle sind also vor der Analyse schon Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde, welche Komponenten des Gesamtgef\u00fchlszustandes sind, im Bewu\u00dftsein isoliert f\u00fcr sich im Anschlu\u00df an Betrachtung einzelner Seiten oder Teile des intellektuellen Gesamttatbestandes aufgetreten. Das erleichtert nat\u00fcrlich au\u00dferordentlich die sp\u00e4tere Heraushebung der Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde aus dem Gesamtgef\u00fchls-zustand.\nIm anderen Falle sind aus dem Gesamtgef\u00fchlszustand bei der Analyse herauszuholende Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde vorher nicht f\u00fcr sich im Bewu\u00dftsein aufgetreten.\nZur Erl\u00e4uterung des Falles des synthetisch entstehenden Gesamtgef\u00fchlszustandes gebe ich ein Protokoll.\nBeizwort Sport, Versuchsperson G (VII, 75), zirka drei Sekunden.\nVersuchsperson denkt bei Sport sogleich an Laufen, Springen, Bewegen in frischer Luft in leichter Kleidung. \u201eIch sp\u00fcrte die frische Luft, das Laufen, Springen usw.\u201d Jede einzelne Vorstellung brachte etwas Lust; so war das Springen lustvoll, das Laufen ohne Behinderung lustvoll, die frische Luft. Die einzelnen Lustgef\u00fchle verschmolzen miteinander. Das vollzog sich schnell.\n\u201eUnter Sport verstehen manche Leute auch Bekord. Dieser Gedanke brachte ein Gef\u00fchl der Unlust. Das Jagen nach Bekord pa\u00dfte mir nicht. Ich dachte daran, wie ich anderen gegen\u00fcber ge\u00e4u\u00dfert habe: ,Das ist kein Sport mehr, bekommt dann den Charakter des Gesch\u00e4ftlichen.\u2019 Ich merkte auch deutlich, wie eine intensive Unlust sich gegen diesen Geist richtete. \u201c\nVersuchsperson versetzt sich in eine Situation, wo sie morgens fr\u00fch auf den Sportplatz zog und sich mit Gleichgesinnten und Gleichalterigen traf, in Sportkleidung, in frischer Luft, und wie man dann nicht erwarten konnte, bis die Bet\u00e4tigung losging.","page":1344},{"file":"p1345.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1345\n\u201eDabei batte man eine Frische- nnd Kraftempfindung, die Empfindung schnellen Pulsstromes durch alle Glieder. Au\u00dferdem das Streben, sich nun auch ausgiebig zu bet\u00e4tigen und das Streben, eine Bewegung ebenm\u00e4\u00dfig und leicht auszuf\u00fchren, besonders beim Stabhochsprung. Hier liegt die Kunst darin, alle Glieder in der Gewalt zu haben und trotzdem hochzukommen, in dem Schwung auf die Glieder zu achten und willk\u00fcrlich die Bichtung zu halten; das l\u00f6st noch besondere Lust aus, die sich von dem Ganzen abhob. Nach jeder einzelnen Leistung eigene Kritik. Dabei hat man besondere Freude am Gelingen, auf das Gelingen kausal bezogen. Die Freude ist Freude am Gegenstand des Urteils, da\u00df es gelungen ist, nur ihre Ausl\u00f6sung h\u00e4ngt vom Urteil ab. Auch kommt hier noch hinzu, da\u00df man daneben auf die anderen gerichtet ist und sieht, wie sie sich freuen. Man freut sich mit. Diese Freude an der Freude anderer hebt sich als etwas Besonderes ab in der Entstehung. In einer Pause der Bet\u00e4tigung sind die verschiedenen Lustgef\u00fchle verschmolzen; die einzelnen heben sich nicht mehr ab. Bei neuer Bet\u00e4tigung heben sich die drei verschiedenen Arten wieder untereinander ab. Der Unterschied der Arten ist nur durch die differenten intellektuellen Unterlagen bedingt.\u201d\nMan sieht hier, wie die Versuchsperson sich vergegenw\u00e4rtigt, wie sie auf den Sportplatz hinauszieht, dabei die Empfindung der frischen Luft und des beschleunigten Blutstromes hat; sie vergegenw\u00e4rtigt sich, wie sie bei der Sportbet\u00e4tigung selbst das Bestreben hat, sich ausgiebigzu bet\u00e4tigen, ebenm\u00e4\u00dfige Bewegungen zu machen; sie vergegenw\u00e4rtigt sich, wie nach jeder Leistung Freude am Gelingen auftritt. Sie vergegenw\u00e4rtigt sich zuletzt auch, wie sie auf die Leistungen der anderen achtet, wie sich eventuell Freude mit deren Bet\u00e4tigung entwickelt.\nEs ist leicht zu erkennen, da\u00df es sich in diesem Falle nicht um Hervorhebung einzelner Seiten, sondern um Hervorhebung einzelner Teile des komplexen intellektuellen Tatbestandes handelt und da\u00df sich an diese Teile des intellektuellen Gesamttatbestandes Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde anschlie\u00dfen, die zu einem Gesamtgef\u00fchlszustand verschmelzen.\nBei dem so synthetisch entstandenen Ges amtgef\u00fch 1szustand ist nat\u00fcrlich die sp\u00e4tere Analyse der Einze1 gef\u00fch 1 szust\u00e4 n d e aus diesem Gesamtgef\u00fchlszustand unvergleichlich leichter als in solchen F\u00e4llen, wo ein Komplex intellektueller Gesamttatbest\u00e4nde einen Gesamtgef\u00fchlszustand aus-","page":1345},{"file":"p1346.txt","language":"de","ocr_de":"1346\nG. St\u00f6rring\nl\u00f6st, ohne da\u00df Vorher einzelne Seiten oder einzelne Teile des intellektuellen Gesamttatbestandes einzeln betont gewesen si n d und E i n z e 1 g e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e ausgel\u00f6st haben.\nII. Arten des Vorganges der Analyse.\naj Analyse von der Gef\u00fchlsseite ans.\n1. Analysierendes Her ausheben von Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden aus Gesamtgef\u00fchlszust\u00e4nden.\nWir fassen jetzt die verschiedenen Arten des Vollzuges der Analyse ins Auge: Die Analyse von Gef\u00fchlszust\u00e4nden wird vollzogen entweder von der Gef\u00fchlsseite aus oder von der intellektuellen Seite oder von beiden Seiten aus.\nWas nun die Analyse von der Gef\u00fchlsseite betrifft, so findet man da gew\u00f6hnlich ein analytisches Herausholen von Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden aus Gesamtgef\u00fchlszust\u00e4nden, in einzelnen relativ wenigen F\u00e4llen findet ein analytisches Herausholen von Organempfindungskomplexen mit Gef\u00fchlst\u00f6nen aus den Gef\u00fchlszust\u00e4nden statt ohne Abhebung der Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde gegeneinander.\nWir wollen zun\u00e4chst die Analyse von Gesamtgef\u00fchlszust\u00e4nden von der Gef\u00fchlsseite aus durch ein Protokoll erl\u00e4utern.\nHeiz wort Wiedersehen, Versuchsperson J. (VII, 12), dreieinhalb Minuten.\n,,Zuerst etwas Hemmung. Dann ging ich systematisch vor und achtete auf den Gef\u00fchlszustand, der sich an die Auffassung anschlo\u00df. Von da aus kam ich erst auf die intellektuelle Unterlage. Der Gef\u00fchlszustand war leicht lustgef\u00e4rbt und hatte zugleich etwas beklemmenden Charakter. Die Gef\u00fchle waren zeitweilig nebeneinander, zeitweilig verschmolzen; das Nebeneinander war deutlich, wenn die Aufmerksamkeit sich auf den Gef\u00fchlszustand richtete, im anderen Falle Verschmelzung oder wenigstens Tendenz zur Verschmelzung. Dann warf ich die Frage auf, woher das beklemmende Gef\u00fchl komme, und fand, da\u00df es daher kam, da\u00df ich Erlebnisse gehabt hatte, die an sich Freude machten, aber nachher in Entt\u00e4uschung ausliefen. Dann ging ich dazu \u00fcber zu sehen, woher das Lustgef\u00fchl kam. Da fiel mir ein Erlebnis von Wiedersehen ein mit einem Bekannten. Es wurde festgestellt, da\u00df lustvolle Spannungen vorhergingen. Dann erfolgte das Wiedersehen mit starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden, da kamen aber wehm\u00fctige Hemmungen mit hinein.\nDann fiel mir pl\u00f6tzlich der Fall des Luftschiffes \u201eIta.lia\u201d ein, ich dachte, da\u00df die Leute wahrscheinlich auf-","page":1346},{"file":"p1347.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1347\ngefunden werden, und es wurde nun n\u00e4her dieses zu erwartende Wiedersehen ins Ange gefa\u00dft. Das Hineinversetzen brachte starke Erregung mit sich, die sich durch schnelles und unregelm\u00e4\u00dfiges. Atmen kenntlich machte. In diesem Erregungsgef\u00fchl war Lust als hervorstechende Komponente enthalten. Diese Lust war zweifacher Art : 1. Mitfreude als Zuschauer und 2. Lust, die entstand; im Anschlu\u00df an die phantasievoll ausgemalte Szene, als ob ich selbst einer von der Besatzung w\u00e4re. Die Erregung selbst tendierte, in Unlust umzuschlagen mit Zugeschn\u00fcrt sein der Kehle, vielleicht ein Kontrast zu der Situation des Aufgegebenseins. Ich fragte mich dann: Woher? Das ist ein Gef\u00fchl, welches man hat, wenn man etwas m\u00f6glich sieht, was man f\u00fcr unm\u00f6glich gehalten hat (Abh\u00e4ngigkeit vom Schicksal), das eigentlich Menschliche im Dasein ist abh\u00e4ngig von mechanischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten!\nDie Analyse des Gef\u00fchlszustandes wurde zum Teil erst beim Referat gemacht. Das Ganze war verschmolzen, Lust- und Unlust-gef\u00fchle mit den Beklemmungen in der Kehle zusammen ein Gef\u00fchlszustand. Der Gef\u00fchlszustand war so intensiv, da\u00df ich den Versuch bald abgebrochen habe. Deutlich w\u00e4hrend des Versuches war 1. die Stellung als Zuschauer und 2. als Mitbeteiligter.\n(Wie wurde die Analyse vollzogen?) Ich hielt mich an das am meisten Auffallende, das war das Unlustgef\u00fchl. Dabei fragte ich nach der Ursache. Auch im weiteren Verlauf wurde die Analyse durch die Gef\u00fchle selbst bestimmt.\u201d\nHier ist die Analyse auf der Gef\u00fchlsseite sehr in die Augen springend. Der zuerst aufgetretene Gef\u00fchlszustand wird analysiert, indem sich die Aufmerksamkeit auf ihn richtet. Als die verschmolzenen oder ann\u00e4hernd verschmolzenen Gef\u00fchls komp\u00f6nenten stellen sich heraus ein lustgef\u00e4rbter und ein beklemmender Gef\u00fchlszustand. Von der analytischen Heraushebung dieser Gef\u00fchlszust\u00e4nde wird dann \u00fcbergegangen zu den intellektuellen Unterlagen. Als solche erweisen sich Erlebnisse von Wiedersehen mit lustgef\u00e4rbter Spannung auf das Wiedersehen und Entt\u00e4uschung beim Wiedersehen. Hier ist also die Analyse als von der Gef\u00fchl s-seite aus prim\u00e4r zu bezeichnen.\nBei dem anderen Gef\u00fchlszustand, der beim Gedanken an das verschollene Luftschiff \u201eItalia\u201d sich entwickelt, spricht Versuchsperson von Erregungsgef\u00fchl. Aus demselben hebt sie analysierend heraus zwei","page":1347},{"file":"p1348.txt","language":"de","ocr_de":"1348\nG-. Sfc\u00f6rring\nLustkomp onenten: Die Lust, welche Versuchsperson dabei als Zuschauer und als Mitbeteiligter erlebt. Nach Herausholung dieser beiden Lustzust\u00e4nde bleibt noch ein unlustartiger Erregungszustand \u00fcbrig mit Empfindung des Zugeschn\u00fcrtseins in der Kehle.\nEs wird dann nach dem \u201eWoher!\u201d dieses unlustartigen Erregungszustandes gefragt. Die ausl\u00f6sende Ursache wird gefunden in allgemeinen Gedanken \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit des menschlichen Schicksals.\nAuch hier tritt die Analyse als eine prim\u00e4r von der Gef\u00fchlsseite aus sich vollziehende deutlich in die Erscheinung: Versuchsperson sagt, da\u00df in dem Erregungszust\u00e4nde Lust als \u201ehervorstechende Komponente\u201d enthalten war. Und sie findet in dem Erregungszustand auf gef\u00fchlsanalytischem Wege nach Herausholung der beiden Lustzust\u00e4nde noch eine unlustgef\u00e4rbte Erregungskomponente vor. Von der herausgehobenen unlustgef\u00e4rbten Erregungskomponente aus findet dann \u2014 mit Beantwortung der Frage nach dem \u201eWoher!\u201d eine Feststellung der intellektuellen Unterlage statt, welche in allgemeinen Gedanken \u00fcber Menschenschicksal gegeben ist.\nBei Analyse der Gef\u00fchlszust\u00e4nde von der Gef\u00fchlsseite aus findet man bei n\u00e4herer Betrachtung der Einzelf\u00e4lle, da\u00df die Analyse von der Gef\u00fchlsseite aus erleichtert ist:\n1.\tbei dem Vorhandensein emotioneller gegens\u00e4tzlicher Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde in dem Gesamtgef\u00fchlszustand (also von lust- und unlustgef\u00e4rbten Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden);\n2.\tbei dem Vorhandensein von Affektcharakter der Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde ;\n3.\tbei dem Vorhandensein von aktiven und passiven Komponenten von Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden nebeneinander.\nAngeregt wird diese Gef\u00fchlsanalyse sodann noch durch eine nicht klar bewu\u00dfte intellektuelle Unterlage.\nBei der Analyse prim\u00e4r von der Gef\u00fchlsseite aus sieht man die intellektuellen Unterlagen zuweilen die Bolle spielen, da\u00df sie zur Charakterisierung der Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde dienen.","page":1348},{"file":"p1349.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1349\n2. Analytisches Herausheben von OrganempfindungsTcomplexen mit Gef\u00fchlst\u00f6nen aus den Gef\u00fchlszust\u00e4nden ohne Abhebung der Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde gegeneinander.\nYon einer Analyse von der Gef\u00fchlsseite ans kann man anch da noch sprechen, wo ans einem gegebenen Gesamtgef\u00fchlszustand Organempfindnngskomplexe mit ihren Gef\u00fchlst\u00f6nen heransgehoben werden, ohne da\u00df die Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde gegeneinander abgehoben werden.\nIch gebe znr Erl\u00e4nternng ein Protokoll.\n11/74, Beizwort Entt\u00e4nschnng, Yersnchsperson Sch. K. T. (+ e. V.).\n\u201eZun\u00e4chst: Du wei\u00dft, was es ist. Darnach war die Bedeutung repr\u00e4sentiert durch ein Gef\u00fchl, ein Gef\u00fchl, wie ich es habe, wenn ich einen anderen entt\u00e4uscht sehe. Darin waren Spannungen enthalten.\nIch suchte dauernd nach konkreten passenden F\u00e4llen und fand nichts Wesentliches. Dann habe ich zwischendurch nach Tatbest\u00e4nden gesucht, wo andere Entt\u00e4uschung erlebt haben. Dann kam mir eine Situation, die undeutlich blieb, wo ich selbst Entt\u00e4uschung erlebt habe. Es blieb bei dem Gef\u00fchl, wie ich es habe, wenn ich bei anderen Entt\u00e4uschung sehe. Lokalisiert ist es in der Brust. Es lenkt die Aufmerksamkeit auf die Atemt\u00e4tigkeit. Der Atem wird f\u00fchlbar und seine Intensit\u00e4t wird genau reguliert, um keine unlustbetonten Spannungen aufkommen zu lassen. Bur vorsichtig! Dann scheint der ganze K\u00f6rper eine gewisse Schwere zu haben, man glaubt tiefer zu sein als sonst. Yor allen Dingen ist das Gef\u00fchl beim Sitzen deutlich. Beim Suchen nach konkreten F\u00e4llen Gedanke, da\u00df Entt\u00e4uschung auf den Menschen in verschiedener Weise wirken kann, mal so, mal so. Es sind Gef\u00fchle dazu dagewesen.......\u201d\nHier sucht Versuchsperson den Gef\u00fchlszustand der Entt\u00e4uschung zu charakterisieren durch die Empfindungen k\u00f6rperlicher Beg 1 eiterscheinungen dieses Gef\u00fchlszustandes. Im vorstehenden Protokoll habe ich diese Beschreibungen dieser Organempfindungskomplexe durch gesperrten Druck hervorgehoben.\nb) Analyse der G e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e von der\nintellektuellen Seite aus.\nWir wenden uns jetzt zur Untersuchung der Analyse der Gef\u00fchlszust\u00e4nde von der intellektuellen Seite aus. Wir beginnen mit einem Protokoll.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n88","page":1349},{"file":"p1350.txt","language":"de","ocr_de":"1350\nGr. St\u00f6rring\nEeizwort Unklarheit, Versuchsperson M. (VI, 52), zweieinhalb Sekunden.\n,,Bei Unklarheit zuerst an Intellektuelles gedacht, kein starkes Gef\u00fchl. Dann trat der Gedanke an praktische Situationen auf, wo man Unklarheiten erlebt : Ich erinnere mich an eine praktische Situation, in welcher Unklarheit mit Unlust verbunden war. Es handelte sich um einen Gef\u00fchlszustand, der sehr komplex war, vorwiegend unlustgef\u00e4rbt. Ich stellte den Gef\u00fchlszustand vor als unmittelbar mit der Situation verbunden, konnte ihn aber auch unmittelbar erleben.\nDabei ein Hingezogenwerden zu verschiedenen Seiten und Unlust \u00fcber erfolglose \u00dcberlegung, sodann der Versuch einer Entscheidung, die ich nicht treffen konnte, sodann eine Bestrebung, einer nahestehenden Person gef\u00e4llig zu sein, streitend mit dem Pflichtbewu\u00dftsein, so da\u00df ein Schwanken zwischen beiden entstand. Das stellte sich alles aktuell dar.\nIch mu\u00dfte jetzt nach dem Versuch das Intellektuelle analysieren, um die verschiedenen Gef\u00fchlsseiten herauszufinden. Die verschiedenen Gef\u00fchle lassen sich auch ohnedem nicht bezeichnen. Sodann waren die verschiedenen Seiten des Gef\u00fchlszustandes auch vor der intellektuellen Analyse noch nicht deutlich da. Der Gef\u00fchlszustand hat sich durch die Analyse verdeutlicht mit seinen qualitativ verschiedenen Komponenten.\u201d\nIn diesem Falle charakterisiert sich die Analyse deutlich als eine prim\u00e4r von der intellektuellen Seite aus vollzogene. Versuchsperson sagt selbst: \u201eIeli mu\u00dfte... das Intellektuelle analysieren, um die verschiedenen Gef\u00fchlsseiten herauszufinde n.\u201d\n3. Wirkungen der vollzogenen Analyse.\n1. Wirkungen der Analyse der G ef \u00fch ls z u s t \u00e4 n d e selbst.\nKach Abschlu\u00df der Untersuchung \u00fcber die verschiedenen Arten des Vollzuges der Analyse wenden wir uns der Untersuchung der Wirkungen der vollzogenen Analyse zu.\nIch gebe zun\u00e4chst einen hierher geh\u00f6rigen Fall.\nEeizwort Standhaftigkeit, Versuchsperson M.\n,,Das Wort l\u00f6ste einen Gef\u00fchlszustand aus, der auch etwas Motorisches an sich hatte. Dabei wurde sofort etwas Energievolles erlebt (darin das Motorische). Dann versuchte ich, konkrete Erlebnisse zu reproduzieren. Ich erinnerte mich an die Examensvorbereitung: speziell des dabei aufgetretenen Strebens nach Standhaftigkeit. Damit war gegeben etwas Lustvolles als reproduziertes Gef\u00fchl, und auch etwas Unlustv olles; das","page":1350},{"file":"p1351.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1351\nwar gleichzeitig. Versuchsperson sucht sich nun dar\u00fcber [Rechenschaft zu geben. Sie fand dann, da\u00df das Lustvolle gegeben war in Freude an der Arbeit und Vorstellung des Gelingens, die Unlust im Ank\u00e4mpfen gegen Abgelenktwerden von der Arbeit (weiterer Beitrag zur Analyse von der Gef\u00fchlsseite aus !). Aber diese Lust- und Unlustkomponenten waren zun\u00e4chst v\u00f6llig miteinander verbunden und ich konnte sie erst nachtr\u00e4glich unterscheiden und bei dieser Unterscheidung stellten sich erst die verschiedenen intellektuellen Unterlagen heraus. Hierbei war also deutlich das Gef\u00fchl das Prim\u00e4re.\nDas aktive Moment war in dem Lustvollen vorhanden, aber durch die Analyse wurde es etwas zur\u00fcekgedr\u00e4ngt, und als ich das Lustvolle allein betrachtete, wurde es wieder etwas st\u00e4rker, wohl infolge Beachtung der intellektuellen Unterlage.\u201d *\nHier haben wir es mit einem Fall von Analyse eines Gesamtgef\u00fchlszustandes prim\u00e4r von der Gef\u00fchlsseite aus zu tun, der in mehrfacher Hinsicht interessant ist. Uns interessiert hier, da\u00df infolge der Analyse des Gesamtgef\u00fchlszustandes ein analytisch herausgehobener Einzelgef\u00fchlszustand an Intensit\u00e4t zunimmt. Von dem aktiven Lustgef\u00fchl, welches hier aus dem Gesamtgef\u00fchls-zustand herausgehoben ist, wird gesagt, da\u00df das aktive Moment w\u00e4hrend des Vollzuges der Analyse schw\u00e4cher wurde, da\u00df aber nach Vollzug der Analyse das Lustgef\u00fchl st\u00e4rker hervortritt.\nDa\u00df w\u00e4hrend des Vollzuges der Analyse das aktive Moment des Lustgef\u00fchles schw\u00e4cher zur Entwicklung kommt, ist verst\u00e4ndlich: Die bei der Analyse entwickelte Spannung st\u00f6rt die Entwicklung der mit dem Lustgef\u00fchle gegebenen Aktivit\u00e4t. Bez\u00fcglich der Verst\u00e4rkung des Lustgef\u00fchles nach Vollzug der Analyse, die uns hier besonders angeht, hat Versuchsperson den Eindruck, da\u00df diese Verst\u00e4rkung der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchlszustandes dadurch bedingt ist, da\u00df nach der Analyse die intellektuelle Unterlage beobachtet wird. Das Herausheben eines Einzelgef\u00fchlszustandes aus dem Gesamtgef\u00fchlszustand beg\u00fcnstigt nat\u00fcrlich die Reproduktion und Beachtung der intellektuellen Unterlage dieses Einzelgef\u00fchlszustandes. Tritt aber infolge des Heraushebens eines Einzelgef\u00fchlszustandes seine intellektuelle Unterlage klarer und deutlicher im Bewu\u00dftsein hervor, so wird durch die so ver\u00e4nderteinte 1-lektuelle Unterlage wieder der Gef\u00fchlszustand beeinflu\u00dft: Die so ver\u00e4nderte intellektuelle Unterlage l\u00f6st dann einen st\u00e4rkeren Gef\u00fchlszustandaus.\n88*","page":1351},{"file":"p1352.txt","language":"de","ocr_de":"1352\nG. St\u00f6rring\n2. Wirkung der Analyse der intellektuellen Unterlage der\nGef\u00fchlszust\u00e4nde.\nWir haben nun weiter die Wirkung der Analyse der intellektuellen Unterlage von Gef\u00fchlszust\u00e4nden ins Auge zu fassen.\nIch beginne mit Darbietung eines Protokolls.\nEeizwort Sehnsucht, Versuchsperson M. (XI), zwei Minuten.\n,,Xach Auffassung des EeizWortes tiat die Vorstellung einer bestimmten Person auf, der gegen\u00fcber Versuchsperson Sehnsucht empfunden hat. Zun\u00e4chst Tendenz, nach anderem Inhalt zu suchen. Das wurde aber abgelehnt. Ich blieb bei dieser Erinnerung: stehen. Ich erlebte zun\u00e4chst, da\u00df die Entwicklung des Gef\u00fchles durch die Versuchsumst\u00e4nde gehemmt wurde. Aber trotzdem konzentrierte ich mich weiter daiauf und nun erlebte sie ein Hin-gezogenwerden zu der betreffenden Person. Dabei war das reproduzierte Gef\u00fchl sehr stark, das aktuelle zun\u00e4chst schwach. Beim Xacherleben des Gef\u00fchles ergaben sich verschiedene Komponenten: Gef\u00fchl des Geborgenseins, der Beruhigung, der Dankbarkeit. Es war au\u00dferdem noch eine motorische Tendenz vorhanden, eine Tendenz des Entgegenkommens. Die Komponenten konnte ich erst feststellen durch ein gewisses Analysieren. Indem ich jetzt die einzelnen Komponenten festhielt, wurde das Gef\u00fchl mehr aktuell. Die intellektuellen Tatbest\u00e4nde zu den einzelnen Komponenten machten die Komponenten selbst wieder aktuell. Die Verbindung der intellektuellen Tatbest\u00e4nde mit dem Gef\u00fchl war sehr eng: Es war eigentlich nicht zu trennen, es wurde keine Beziehung zu den intellektuellen Tatbest\u00e4nden aufgefa\u00dft, erst sp\u00e4ter wurden sie als eng verbunden auf gef a\u00dft.\u201d\nDas Eeizwort ,,Sehnsucht\u201d l\u00f6st hier aus den Gedanken an eine Person, zu der Versuchsperson Sehnsucht erlebt hat. Zun\u00e4chst l\u00f6st dieser Gedanke eine Eeproduktion fr\u00fcherer Sehnsuchtsgef\u00fchle aus. Aus den reproduzierten Sehnsuchtsgef\u00fchlen werden aber, wie Versuchsperson selbst hervorhebt, im Verlauf des Versuches aktuelle Sehnsuchtsgef\u00fchle. Versuchsperson hebt Komponenten in den sehns\u00fcchtigen Gef\u00fchlszust\u00e4nden heraus (das Gef\u00fchl der Geborgenheit, der Beruhigung, der Dankbarkeit, und eine motorische Komponente, Tendenz zum Entgegenkommen). Versuchsperson sagt: ,,Indem ich jetzt die einzelnen Komponenten festhielt, wurde das Gef\u00fchl mehr aktuell. Die intellektuellen Tatbest\u00e4nde zu den einzelnen Komponenten machen die Komponente selbst a k t u e 11.\u201d\n\u00ab","page":1352},{"file":"p1353.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1353\nDie intellektuellen Unterlagen dieser emotionellen Komponenten machen aber die Komponenten selbst aktuell dadurch, da\u00df sie selbst eine Modifikation erfahren: Je mehr Versuchsperson die emotionellen Komponenten voneinander analytisch scheidet, desto deutlicher t r eten auch die intellektuellen 0 nterlagen heraus und sie werden um so konkreter gestaltet, je l\u00e4nger Versuchsperson sich auf die Beziehungen zu dieser Person konzentriert. Je konkreter aber die intellektuellen Unterlagen gestaltet werden, um so mehr bekommen die mit ihnen sehr innig verkn\u00fcpften G e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e den Charakter des Aktuellen.\nB. Beziehungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu ihren intellektuellen Unterlagen oder dem darin\nGemeinten.\nEs ergibt sich in unseren Versuchen, da\u00df die Gef\u00fchlszust\u00e4nde in den verschiedensten Beziehungen zu ihren intellektuellen Unterlagen stehen. Die Feststellung dieser Beziehungen hat an und f\u00fcr sich besondere Bedeutung f\u00fcr die Gef\u00fchlspsychologie. Im gegenw\u00e4rtigen Zeitpunkt ist diese Feststellung besonders interessant, weil sie zur Wiederlegung der Auffassung von Brentano u. a. dient, da\u00df den Gef\u00fchlszust\u00e4nden selbst eine intentionale Beziehung zukommt. Es wird sich uns ergeben, da\u00df die Beziehung der Gef\u00fchle zu ihren Bezugsobjekten entweder in Beziehungsgedanken bestehen, welche dem intellektuellen Leben angeh\u00f6ren, oder in auf solche Beziehungsgedanken sich gr\u00fcndenden Urteilen. In einzelnen Fallen treten Gef\u00fchlszust\u00e4nde auch isoliert auf, ohne da\u00df -sie irgendwie bezogen sind.\nI. Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die isoliert unbezogen sind.\nIch gebe daf\u00fcr einen Beleg.\nBeizwort Selbstbeherrschung, Versuchsperson K. T. ( -J- e. 1.), zirka eine Minute.\nIn der Vorperiode hatte Versuchsperson etwas Angst, da\u00df sie jetzt nicht mehr so intensiv erleben k\u00f6nne, da nicht mehr volle Frische vorhanden war. Situation nicht ganz lustvoll. Mach Darbietung des Beiz wort es wurde in demselben das ,, Selbst\u201d besonders betont. Dabei trat der Gedanke auf, hier wirst du sofort auf das ,,Ich\u201d verwiesen. Dann wurde die Aufmerksamkeit auf den Gef\u00fchls-Zustand gelenkt, der ein Gemisch von Lust und Unlust war; das fiel Versuchsperson auf. Bei Befragung nach Beziehung der Unlust wird gesagt, da\u00df Unlust und Lust isoliert im Bewu\u00dftsein","page":1353},{"file":"p1354.txt","language":"de","ocr_de":"1354\nGr. St\u00f6rring\nvorhanden gewesen seien (nicht sehr stark). Da\u00df sie zuerst ,,un-bezogen\u201d gewesen seien, wird als sichere Angabe bezeichnet.\nAls Versuchsperson auf diese Gef\u00fchle achtete, war das Bewu\u00dftsein vorhanden, die Unlust r\u00fchre von einer latenten Wertung des Begriffes der Selbstbeherrschung her. Dabei war unklar, ob diese Wertung aktiv vollzogen war oder ob sie assoziativ mit dem Wort verbunden auftrat. Vor Befragung nach der Beziehung der Unlust wird von Versuchsperson ausgesagt, da\u00df, nachdem die Aufmerksamkeit sich auf den Gef\u00fchlszustand gerichtet habe und ihr aufgefallen war, da\u00df ein Gemisch von Lust und Unlust vorliege, sogleich der Gedanke aufgetreten sei, ,,hier ist ein Wert zu konstatieren\u201d. Es fiel Versuchsperson auf, da\u00df dies Bewu\u00dftsein wie aus heiterem Himmel kam. \u201eDu sollst ja gar nicht prim\u00e4r wertsch\u00e4tzen\u201d. Das war Versuchsperson unangenehm. Jetzt war der Wert da. (Es war die Anweisung gegeben, eine \u201eemotionelle Stellungnahme\u201d zu vollziehen an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde. Es war gelegentlich nach dem Beferat von Versuchsleiter bemerkt worden, da\u00df ein vorzeitiges Werturteil nicht erw\u00fcnscht sei, sondern ein emotionelles Erleben gew\u00fcnscht werde.) Du mu\u00dft Dich fragen* woher kommt die Unlust? Versuchsperson wog den Begriff \u201eSelbstbeherrschung\u201d gegen den Begriff \u201eEntschlossenheit\u201d (dieser Reizwert war unmittelbar vorher gegeben worden) ab, und zwar auf Grund der verschiedenen erlebten Gef\u00fchls-zust\u00e4nde. Da kam das Urteil: Entschlossenheit ist ein viel intensiverer Wert als Selbstbeherrschung. Dann wurde gesagt: Selbstbeherrschung ist ein Wert, der in der Ethik stark gewertet wird. Es wurde geurteilt, da\u00df Selbstbeherrschung in manchen F\u00e4llen n\u00f6tig sei. Von diesem Begriff des \u201eN\u00f6tig\u201d kam Versuchsperson der Eindruck, da\u00df S\u2014B einen stark konventionellen Beigeschmack h\u00e4tte. An sich soll jeder seine Kr\u00e4fte zur Anwendung bringen; der soziale Verkehr zwingt ihn, die Kr\u00e4fte rationell anzuwenden. Es kam Versuchsperson so vor, als ob der Begriff S\u2014B nicht in die tiefere Ethik geh\u00f6re. Dann fest-gestellt : die Unlust, die bei diesem Begriff auftritt, stamme von dem unangenehmen Zwang her, den die S\u2014B auf die Versuchsperson aus\u00fcbt. Dann dar\u00fcber beruhigt und gefragt : wie kommt es, da\u00df Du hier wieder wertsch\u00e4tzest ? Anfangs geschah das nicht. Dann Eindruck, hier ist die Kategorie \u201eWert\u201d zu beachten;, darauf klar gemacht. S\u2014B geh\u00f6rt in die Kategorie von Begriffen hinein, die als Werte bekannt sind, wobei der Begriff WTert assoziativ aus dem Bewu\u00dftsein mitgebracht wird, ohne da\u00df eine aktive Wertsch\u00e4tzung n\u00f6tig ist.\nHier l\u00f6st das Beizwort Lust und Unlust aus, ein \u201eGemisch\u201d von beiden. Dabei treten hier diese Gef\u00fchlszust\u00e4nde isoliert, unbezogen im Bewu\u00dftsein auf. Sp\u00e4ter tritt eine Wertung mit Beziehung besonders der Unlust zur intellektuellen Unterlage auf. Jedenfalls wird hier ausdr\u00fccklich ais sichere Aussage bezeichnet, da\u00df ein Gemisch von Lust und Unlust zuerst unbezogen, isoliert sich an das Beizwort anschl\u00f6sse. Die sich sp\u00e4ter vollziehende Beziehungssetzung hebt sich hiervon scharf ab, sie tritt erst auf, nachdem sich die Aufmerksamkeit auf den Gef\u00fchlszustand gerichtet hatte.\nII. Gef\u00fchlszust\u00e4nde findet man sodann mit einer intellektuellen Unterlage mehr oder weniger innig verkn\u00fcpft, ohne auf die intellektuelle Unterlage oder das darin Gemeinte bezogen zu sein.\nIn einer relativ gro\u00dfen Gruppe von F\u00e4llen sehen wir die Gef\u00fchlszust\u00e4nde mit ihren intellektuellen Unterlagen innig ver-","page":1354},{"file":"p1355.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1355\nkn\u00fcpft auftreten, ohne da\u00df sie darauf bezogen werden. Ich. gebe daf\u00fcr einen Fall.\nVersuchsperson G., Reizwort Eisenbahnungl\u00fcck. RZ 3 Min., 20 Sek.\nBei Auffassung des Reizwortes war der erste Gedanke, wie aktuell dieses Reizwort ist. Das H\u00f6ren des Wortes war begleitet mit warmem Gef\u00fchl der N\u00e4he, lustbetont, nicht auf den Tatbestand selbst bezogen. Dann wurde konstatiert: es soll an das Eisenbahnungl\u00fcck bei F\u00fcrth gedacht werden. Es entstanden visuelle Vorstellungen von Abbildungen, Tr\u00fcmmerhaufen usw. Die Bilder wurden an einen unbekannten, fern liegenden Ort lokalisiert mit Unterst\u00fctzung der Landkarte. Dann visuelle Vorstellung der Zeitung mit der ersten Nachricht. Erinnerung daran,, wie Versuchsperson sich sagte, ,,wie schrecklich\u201d. Dann wurde das Gef\u00fchl des Bedauerns und des Schreckens reproduziert, zuerst das Gef\u00fchl des Bedauerns. Das steigerte sich zum Schrecken. (Gef\u00fchl des Bedauerns bezogen*?) Anders als beim Schrecken. Das Gef\u00fchl des Bedauerns entwickelte sich von Schritt zu Schritt, es war bezogen auf den gedachten Tatbestand, darauf sagt Versuchsperson, sie habe sich das Bedauern durch das Lesen des Ungl\u00fcckes erkl\u00e4rt, die Erkl\u00e4rung sei aber nur angedeutet gewesen. Versuchsperson war mit dieser Beziehungsetzung zufrieden.\nDas Gef\u00fchl des Bedauerns steigert sich dann zum Gef\u00fchl des Schrecklichen mit eigenartigen Empfindungen in der Brust. Versuchsperson erinnert sich dabei des N\u00e4heren an Einzelnachrichten, Augenzeugenberichte, Berichte von zwei wenig Verletzten, die eingeklemmt gewesen waren (was Versuchsperson weniger schrecklich als traurig erschien). Der Gedanke an die t\u00f6dlich Verungl\u00fcckten bildete eine Einheit mit dem Schrecken, ,,besser, der Schrecken war eine Seite des gedachten Tatbestandes\u201d.\nWir sehen hier das Reizwort \u201eEisenbahnungl\u00fcck\u201d, welches kurze Zeit nach einem aufgetretenen Eisenbahnungl\u00fcck dargeboten wurde, die Gef\u00fchlszust\u00e4nde des Bedauerns und des Schreckens ausl\u00f6sen. Zun\u00e4chst entsteht der Gef\u00fchlszustand des Bedauerns, nach Vergegenw\u00e4rtigung von Einzelheiten des Eisenungl\u00fccks wird dieser Gef\u00fchlszustand durch den des Schreckens abgel\u00f6st. Dabei ist zu betonen, da\u00df der Gef\u00fchlszustand des Bedauerns noch auf das in der intellektuellen Unterlage Gemeinte bezogen war, der Gef\u00fchlszustand des Schreckens aber nicht mehr. Der Gef\u00fchlszustand des Schreckens repr\u00e4sentiert oben eine so gro\u00dfe psychophysische Energie, da\u00df dadurch eine derivative Hemmung gesetzt ist f\u00fcr die Entwicklung eines sich an ihn anschlie\u00dfenden","page":1355},{"file":"p1356.txt","language":"de","ocr_de":"1356\nG-. St\u00f6rring\nBeziehungsgedankens. Der Schrecken scheint Versuchsperson eine Einheit mit der intellektuellen Unterlage zu bilden; deshalb sagt Versuchsperson, der Schrecken stelle eine Seite des Erlebnisses dar.\nHier haben wir es also mit einem Gef\u00fchlszustand zu tun, der mit der intellektuellen Unterlage innig verkn\u00fcpft ist, ohne auf sie oder das darin Gemeinte bezogen zu sein.\nIII.\tGef\u00fchlszust\u00e4nde \"k\u00f6nnen sodann als zur intellektuellen Unterlage\noder dem darin Gemeinten geh\u00f6rig aufgefa\u00dft werden.\nMan findet sodann in vielen F\u00e4llen die Gef\u00fchlszust\u00e4nde als zu ihrer intellektuellen Unterlage geh\u00f6rig auf gef a\u00dft. Da sind dieselben dann mit der intellektuellen Unterlage mehr oder weniger innig verkn\u00fcpft und werden zugleich als zu ihr geh\u00f6rig aufgefa\u00dft.\nZur Erl\u00e4uterung gebe ich ein Protokoll.\nVersuchsperson G., Beiz wort Glaubensfreiheit, 2 Min.\nIn der Vorperiode indifferente Stimmungslage. Als das Eeizwort geh\u00f6rt wurde, entstand vor klarer Auffassung desselben ein sympathisches, zustimmendes Gef\u00fchl. Versuchsperson konstatierte das und wiederholte \u201eGlaubensfreiheit\u201d und fa\u00dfte es auf.\nJetzt verst\u00e4rkte sich der Gef\u00fchlszustand. Zugleich wurde er auf die gedachte \u201eGlaubensfreiheit\u201d bezogen; es war keine kausale Beziehung ; er wurde darauf als dazu geh\u00f6rig bezogen.\nIV.\tIn einer weiteren gro\u00dfen Klasse von F\u00e4llen werden die Gef\u00fchlszust\u00e4nde als mit der intellektuellen Unterlage oder dem in ihr Gemeinten kausal verkn\u00fcpft bezeichnet oder es liegt potentielle Kausalsetzung vor.\n1. Die F\u00e4lle von aktueller Kausalsetzung. In einer relativ gro\u00dfen Anzahl von F\u00e4llen wird der Gef\u00fchlszustand auf die intellektuelle Unterlage kausal bezogen. Diese Kausalit\u00e4ts-setzung findet sich mehr bei schwachen Gef\u00fchlszust\u00e4nden als bei starken. Deshalb findet man sie h\u00e4ufiger bei abgeleiteten, wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nden als bei urspr\u00fcnglichen. Wenn die kausale Beziehungssetzung bei starken und sehr starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden stattfindet, so l\u00e4\u00dft sich meist noch ein besonderer Faktor aufweisen, der diese Beziehungssetzung beg\u00fcnstigt.\na) Ich gebe zun\u00e4chst einen Fall, in welchem kausale Beziehung zwischen einem Gef\u00fchlszustand und seiner intellektuellen Unterlage bei relativ schwachem urspr\u00fcnglichem Gef\u00fchlszustande auftritt.","page":1356},{"file":"p1357.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1357\nVersuchsperson M., Reizwort Entschlossenheit.\n\u201eBei Auffassung des Wortes zun\u00e4chst starke motorische Tendenzen, ohne da\u00df sie anf Bestimmtes bezogen gewesen w\u00e4ren; dabei ein Gef\u00fchl der Aktivit\u00e4t. Dann trat der Gedanke anf, da\u00df Versuchsperson im allgemeinen unentschlossen sei, aber Versuchsperson erinnerte sich auch fr\u00fcher, in einzelnen F\u00e4llen Entschlossenheit gezeigt zu haben; sie hatte aber nichts Konkretes pr\u00e4sent. Nun wollte Versuchsperson sich einen konkreten Fall vergegenw\u00e4rtigen. Da fiel ihr ein, da\u00df sie jetzt gerade dar\u00fcber unschl\u00fcssig sei, ob sie nach Hause fahren oder ob sie hier bleiben sollte (dieser Zustand dauert schon mehrere Tage an). Versuchsperson schwankte dabei zwischen zwei Zielen, von denen jedes gef\u00fchlsbetont ist. Aber eine Tendenz zu einem der Ziele kann keine \u00dcberhand gewinnen. Die sich an die vorgestellten Ziele anschlie\u00dfenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde werden als Wirkungen der intellektuellen Unterlagen aufgefa\u00dft...\u201d\nIn diesem Fall finden die Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche sich in einem Zustand des Schwankens zwischen zwei aktuellen Handlungsm\u00f6glichkeiten an die Gedanken der M\u00f6glichkeiten anschlie\u00dfen, eine kausale Beziehung auf die entsprechende intellektuelle Unterlage. Die Gef\u00fchlszust\u00e4nde sind hier nur von mittlerer Intensit\u00e4t. Sie setzen deshalb keine betr\u00e4chtliche derivative Hemmung.\n&) Ein kausales Beziehungssetzen findet sich sodann h\u00e4ufig bei abgeleiteten Gef\u00fchlszust\u00e4nden.\nVersuchsperson M., Reizwort Erfolg, 1 Min., 55 Sek.\nEs lag sofort nahe, die Beziehung zum Doktorexamen zu setzen (das vor einigen Tagen stattgefunden hat). Der Gedanke war mit freudigem Gef\u00fchl verbunden. Versuchsperson ging dem Gedanken nach und sagte sich, welcher Art der Erfolg war. So entstand eine reproduzierte Freude \u00fcber den Erfolg, dann ein Gef\u00fchl der Erleichterung und Freude im Gedanken, es anderen mitzuteilen. Bez\u00fcglich der reproduzierten Freude \u00fcber den Erfolg wird auf Frage nach der Beziehung zur intellektuellen Unterlage ausgesagt : diese Freude wurde aufgefa\u00dft als bedingt durch den Erfolg....\nDann kam Versuchsperson zur\u00fcck auf die Vorstellung des Zustandes nach dem Examen; darin fand Versuchsperson jetzt etwas wie Arbeitsspannung, Freude auf die kommende Arbeit, eine durch den Erfolg gesteigerte Freude. (In ihr Beziehung zur kommenden Arbeit*?) Die ArbeitsSpannung war prim\u00e4r und das r\u00fchrte daher, da\u00df Versuchsperson das bestandene Examen als eine Leistung auffa\u00dfte. Mit dem Gef\u00fchle","page":1357},{"file":"p1358.txt","language":"de","ocr_de":"1358\nG-. St\u00f6rring\nder Arbeitsspannung Gedanke an die kommende Arbeit. Dieser Gedanke verband sieb mit einem Gef\u00fchl der Freude mit aktivem Charakter (Wief) Das Gef\u00fchl war eng damit verbunden, keine Kausalbeziehung.\nWir sehen hier also durch das Reizwort \u201eErfolg\u201d die Erinnerung an das kurz vorher sehr gut bestandene Doktorexamen ausgel\u00f6st. Der Gedanke an den Erfolg verbindet sich mit einem reproduzierten Gef\u00fchlszustand der Freude. Dieser wiedererlebte Gef\u00fch 1szustand wird aufgefa\u00dft als bedingt durch den Erfolg.\nW\u00e4hrend der abgeleitete Gef\u00fchlszustand, der sich an den Gedanken des erzielten Erfolges anschlie\u00dft, in kausale Beziehung zu dem in der intellektuellen Unterlage gemeinten gestellt wird, finden wir in demselben Versuch, da\u00df eine Freude auf die kommende Arbeit keine kausale Beziehung zur intellektuellen Unterlage oder dem darin Gemeinten auf weist, sie ist nur eng mit dem Gedanken an die kommende Arbeit verbunden. Es liegen hier Faktoren vor, welche das Auftreten dieser Differenz beg\u00fcnstigen. Der abgeleitete Gef\u00fchlszustand hat eine Intensit\u00e4t, wodurch keine betr\u00e4chtliche derivative Hemmung gesetzt ist. Die Freude auf die kommende Arbeit tr\u00e4gt aber aktiven Charakter. Sie tritt in einem Zustande der Arbeitsspannung auf, welcher daher r\u00fchrt, da\u00df das bestandene Examen als eine vollzogene Leistung aufgefa\u00dft ist. An diese Arbeitsspannung hat sich reproduktiv der Gedanke an kommende Arbeit angeschlossen. Und dieser Gedanke verbindet sich wieder mit Spannung, er hat n\u00e4mlich aktiven Charakter. Diese Spannung kommt noch hinzu zu der durch den Gedanken an die vollzogene Leistung ausgel\u00f6sten Arbeitsspannung, welche f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit sich im Bewu\u00dftsein behauptet, kun ist klar, da\u00df diese beiden Spannungszust\u00e4nde eine nicht unbetr\u00e4chtliche derivative Hemmung f\u00fcr den Anschlu\u00df intellektueller Prozesse an den Gef\u00fchlszustand setzen.\nDazu kommt zweitens, da\u00df, wie sich uns sp\u00e4ter zeigen wird, an Bet\u00e4tigungen sich anschlie\u00dfende Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu ihrer intellektuellen Unterlage im allgemeinen in innigerer Beziehung stehen als Gegenstandsgef\u00fchle. Hier liegt nun zwar keine Bet\u00e4tigung vor, aber der Ansatz zu einer solchen.\nSodann kommt hier noch ein Drittes hinzu. Die in den Spannungszust\u00e4nden repr\u00e4sentierte psychophysische Energie setzt nicht nur eine derivative Hemmung f\u00fcr intellektuelle Prozesse, welche die Tendenz haben, sich daran unmittelbar anzuschlie\u00dfen, sondern auch zur Auffassung der Situation als einer vergangenen! Wird aber dieAuff assung der Situation als einer vergangenen zur\u00fcckgedr\u00e4ngt oder","page":1358},{"file":"p1359.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1359\nans dem Bewu\u00dftsein verdr\u00e4ngt, so vollzieht, sich damit der \u00dcbergang von einem wiedererlebten Gef\u00fchlsznstand in einen urspr\u00fcnglichen, ein \u00dcbergang, von dem zwar hier nicht berichtet wird^ den aber die Versuchspersonen h\u00e4ufig konstatieren.\nMethodologisch weise ich hier darauf hin, da\u00df ich nicht den Anspruch erhebe, die Gesamtheit der Faktoren anzugeben, welche hier in diesem konkreten Falle das Auftreten eines kausalen Beziehungsetzens verhindert haben; dazu ist das individuelle psychische Geschehen viel zu komplex. Aber wir waren in der Lage, in diesem Fall drei Faktoren aufzuweisen, von denen sich zeigen l\u00e4\u00dft, da\u00df sie nach allgemeinen psychologischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten dazu tendieren, das Auftreten dieses Beziehungsetzens zu verhindern.\nc) Wir wenden uns jetzt zur Behandlung solcher F\u00e4lle, in \u201ewelcher ein kausales Beziehungsetzen zur Entwicklung kommt, obgleich der betreffende Gef\u00fchlszustand von starker oder sehr starker Intensit\u00e4t ist. Ich sagte schon, da\u00df in solchen F\u00e4llen meist ein Faktor aufzuweisen ist, welcher das Auftreten dieses kausalen Beziehungsetzens beg\u00fcnstigt.\na) E i n solcher Faktor liegt da vor, wo die Versuchsperson mit der Einstellung zu kausaler Auffassung an den Tatbestand herantritt.\nVersuchsperson G. Reizwort Zuversicht. Anweisung emotioneller Stellung. Reizzeit 2 Minuten 10 Sekunden. Das Reizwort erschien Versuchsperson zuerst fernliegend. Intensive Konzentration: zuversichtlich hoffen, zuversichtlich erwarten.\nZuversichtlich hoffen verfolgt. Gedacht: etwas erhoffen; daf\u00fcr mu\u00df ein Grund da sein. Zuweilen wird auch zuversichtlich gehofft ohne Grund. Das. gefiel Versuchsperson nicht, Unlust (schw\u00e4chere Intensit\u00e4t), kausal verkn\u00fcpft. (Darauf kommt es hier nicht an.)\nDann Abwendung zu: mit Zuversicht erwarten; dabei wird angenommen, da\u00df ein Grund f\u00fcr die Annahme vorhanden ist. Es ist darin etwa\u00bb Unsicheres, sonst braucht man keine Zuversicht zu haben. Ich selbst habe eine Veranstaltung getroffen, bei der ich nicht genau wei\u00df, ob ich alle Bedingungen erf\u00fcllt habe, oder ob noch Bedingungen hinzukommen, die nicht von mir abh\u00e4ngig sind. Aber die Bedingungen sind so gesetzt, da\u00df nach meiner Annahme die Wirkung auftreten m\u00fc\u00dfte. Jetzt entwickelt sich Zuversicht auf das Eintreten der erwarteten Wirkung. Das war haupts\u00e4chlich ein Gef\u00fchl. Das Intellektuelle war nur die Setzung des Palles. Dann wurde festgesetzt : wenn das real ist, habe ich solche Zuversicht wie jetzt. Die Festsetzung wird nicht als Wertsch\u00e4tzung aufgefa\u00dft. Es fehlt noch etwas daran. Es war keine Beziehung gesetzt zu dem dargebotenen Wort \u201eZuversicht\u201d. Die Feststellung kam nach dem Gef\u00fchlszustand, w\u00e4hrend er noch anhielt. (Wie zum intellektuellen Moment Aus der Phase der intellektuellen Prozesse schien Versuchsperson sich das Gef\u00fchl herauszubilden, kausal aufgefa\u00dft, aus den einzelnen Phasen immer wieder neue Kraft ziehend.","page":1359},{"file":"p1360.txt","language":"de","ocr_de":"1360\nG. St\u00f6rring\nNach dieser Feststellung kam der Gedanke, da\u00df in solchen Erlebnissen der Wille eine Bolle spielen kann, da\u00df da willensm\u00e4\u00dfig etwas gesetzt ist, wovon Versuchsperson die Wirkung erwartet. Jetzt wurde der Wille erlebt. Das erstemal war das nicht der Fall. Ich setze wissentlich etwas und erwarte zuversichtlich mit Becht die Wirkung. Da stellte sich eine mehr intellektuelle Zuversicht ein. Das sich hier entwickelnde Gef\u00fchl verschmolz mit dem von fr\u00fcher her noch vorhandenen.\nJetzt kam der Gedanke, auch auf anderer Menschen Willensbet\u00e4tigung k\u00f6nne man Zuversicht haben. Fl\u00fcchtige Gedanken an das Sichverlassenk\u00f6nnen auf Menschen. Dann ,,Ich kann mich auf Dich verlassen\u201d. Jetzt verallgemeinert: bei einem Menschen mit Charakter kann man mit Zuversicht gewisse Verhaltungsweisen erwarten. Versuchsperson freute sich, ausgepr\u00e4gtes Lustgef\u00fchl \u2014- kausal bezogen \u2014 dar\u00fcber, da\u00df man sich auf gewisse Menschen verlassen kann. \u2014\nHier entwickeln sich bei dem Eeizwort \u201eZuversicht\u201d unter der Anweisung zu emotioneller Stellungnahme an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde zwei Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die kausal bezogen werden. Von dem einen derselben, dem Lustgef\u00fchl beim Gedanken daran, da\u00df man sich auf Menschen mit Charakter bez\u00fcglich Handlungen, welche diesen Charakter betreffen, verlassen kann, ist gesagt, da\u00df es ein Gef\u00fchlszustand starker Intensit\u00e4t sei, \u201eausgepr\u00e4gtes Lustgef\u00fchl\u201d, von dem anderen Gef\u00fchlszustand ist es wegen der langen Dauer wahrscheinlich. In beiden F\u00e4llen liegt eine Einstellung zu kausaler Auffassung vor. Das Eeizwort Zuversicht erscheint Versuchsperson zuerst etwas fernliegend. Sie konzentriert sich auf die Bedeutung, indem sie sich Klassen von F\u00e4llen zuversichtlichen Verhaltens vergegenw\u00e4rtigt : zuversichtlich hoffen, zuversichtlich erwarten. Um die Bedeutung klar zu erfassen und dann eine emotionelle Stellungnahme zu vollziehen, fragt Versuchsperson nach den B edingungen, unter denen Zuversicht auftritt: \u201eIch selbst habe (etwa) eine Veranstaltung getroffen, bei der ich nicht genau wei\u00df, ob ich alle Bedingungen erf\u00fcllt habe, oder ob noch Bedingungen hinzukommen, die nicht von mir abh\u00e4ngig sind. Aber die Bedingungen sind so gesetzt, da\u00df nach meiner Annahme die Wirkung auftreten m\u00fc\u00dfte. Jetzt entwickelt sich Zuversicht auf das Eintreten der erw\u00e4hnten Wirkung\u201d \u2014 Gef\u00fchlszustand. Versuchsperson ist also auf kausales Beziehungsetzen eingestellt. Das geht auch daraus hervor, da\u00df nach dem Auftreten des Gef\u00fchlszustandes der Zuversicht noch die Feststellung gemacht wird: \u201eWenn das real ist, habe ich solche Zuversicht wie jetzt.\u201d D a ist es nicht zu verwundern, da\u00df auch der auftretende Gef\u00fchlszustand, auch wenn er st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t ist, davon betroffen wird.\nIm Fall des Auftretens des \u201eausgepr\u00e4gten\u201d Lustgef\u00fchles war darnach gefragt, ob man sich auf Verhaltungsweisen anderer Menschen verlassen k\u00f6nne, Versuchsperson hatte dann die Bedingungen festzustellen gesucht, unter denen das der Fall ist. Das Lustgef\u00fchl war aufgetreten im Anschlu\u00df an die vollzogene Fixierung dieser Bedingungen. Von diesem Lustgef\u00fchl gibt Versuchsperson sich kausal Eechenschaft \u2014 nicht etwa in der Weise, da\u00df es sich um eine aus dieser intellektuellen Bet\u00e4tigung sich ergebende Freude handelt, sondern um eine Freude, die dadurch bedingt ist, da\u00df man tats\u00e4chlich unter den angegebenen Bedingungen sich auf einen Menschen verlassen kann.\nDie Anwendung der kausalen Einstellung trotz der starken Intensit\u00e4t des Lustgef\u00fchles auch auf die auftretende Freude ist hier sehr verst\u00e4ndlich.\n\u00df) Ein Faktor, welcher das Auftreten einer kansalen Beziehung, auch starker Gef\u00fchl s-znst\u00e4nde zn ihrer intellektuellen Unterlage oder dem darin Gemeinten beg\u00fcnstigt, liegt weiter da vor, wo eine allgemeine Tendenz zn reflektierendem Verhalten vorhanden ist.","page":1360},{"file":"p1361.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1361\nVersuchsperson V., Reizwort Glaubensfreiheit. Anweisung zn emotioneller Stellungnahme an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde. Reizzeit 2 Minuten.\nBei Auffassung nach ,,Glauben\u201d Unlustgef\u00fchl. \u201eGlaubensfreiheit\u201d mit einem positiven Gef\u00fchlszustand unmittelbar verbunden. . . .\u201d\nErinnerung an die Anweisung, Wunsch, einen konkreten Fall zu haben f\u00fcr Glaubensfreiheit. Gedanken, in \u201eGlaubensfreiheit\u201d liegt eine Aufforderung: es soll der Geist nicht frei sein von jedem Glauben, sondern jeden soll man glauben lassen, was er will. Leichtes Lustgef\u00fchl und Zustimmung: das ist richtig, man soll nicht Glaubensfreiheit proklamieren und von jedem verlangen, da\u00df er keinen Glauben hat oder da\u00df nur ein rationeller Glaube anerkannt wird. . . . W\u00e4hrend des ganzen Versuches war der Gedanke vorhanden, da\u00df der Begriff der Glaubensfreiheit n\u00e4her bestimmt werden mu\u00df. An irgendeiner Stelle trat der Gedanke an Versuchsperson selbst auf: sie d\u00fcrfe niemals gest\u00f6rt werden, wenn der Begriff g\u00fcltig sein sollte. Das hast du unbedingt n\u00f6tig. Sehr starkes aktuelles, angenehmes Gef\u00fchl. Die Lust hatte dabei aktiven Charakter; mit Glaubensfreiheit ist die Grundlage f\u00fcr ein aktives Leben gegeben. Mit der vorgestellten und der erlebten Situation waren diese Gef\u00fchle innig verbunden und zugleich erlebt als erzeugt durch die Situation.\nHier sieht man bei dem Reizwort \u201eGlaubensfreiheit\u201d mannigfache Reflexionen auftreten, welche die Glaubensfreiheit negativ und positiv zu bestimmen suchen und sodann weitere Reflexionen \u00fcber Berechtigung oder Richtberechtigung der Glaubensfreiheit im einen oder anderen Sinne. Versuchsperson findet dann, da\u00df in diesem Begriff eine berechtigte Forderung liegt und wendet nun diese Forderung auf sich an, fordert f\u00fcr sich Glaubensfreiheit. Dadurch wird ein starker, lustartigerGef\u00fchls-zustand ausgel\u00f6st mit aktivem Charakter und obgleich dieser Gef\u00fchlszustand mit der intellektuellen Unterlage \u201einnig verbunden\u201d ist, wird er doch als durch dieselbe e r z e u g t aufgefa\u00dft.\nAuf Schritt und Tritt sieht man in diesem Versuch eine starke Tendenz zu reflektierendem Verhalten hervortreten. Auf das Konto dieser Tendenz zu reflektierendem Verhalten ist es deshalb auch sehr wahrscheinlich, jedenfalls zum Teil, zu setzen, da\u00df ein starkes Lustgef\u00fchl aktiven Charakters, obgleich es mit der intellektuellen Unterlage innig verbunden ist, doch als kausal durch dieselbe bedingt aufgefa\u00dft wird.\ny) Das Auftreten einer kausalen Beziehung sehr starker Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu ihrer int el-","page":1361},{"file":"p1362.txt","language":"de","ocr_de":"1362\nG. St\u00f6rring\nlektuellen Unterlage oder dem darin Gemeinten wird auch weiter durch eine l\u00e4ngere Dauer solcher Gef\u00fchlszust\u00e4nde beg\u00fcnstigt, soweit sich entweder, was h\u00e4ufiger der Fall ist, diese mit einem Schwanken der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde verbindet, wo dann in den negativen Schwankungen Gelegenheit zu intellektuellen Prozessen vorhanden ist oder wo ein starker Gef\u00fchlszustand allm\u00e4hlich abklingt und in den Phasen schw\u00e4cherer Intensit\u00e4t intellektuellen Prozesse freien Spielraum l\u00e4\u00dft.\nVersuchsperson G., Reizwort Treue. Reizzeit 1 Min., 55 Sek. Anweisung zu emotioneller Stellungnahme an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde.\nVersuchsperson vergegenw\u00e4rtigt sich verschiedene Arten der Treue. Zuerst Treue in kleinen Dingen. Daran fiel Versuchsperson auf, da\u00df sie oft denkt, das ist insofern auch sch\u00e4tzenswert, weil man hier nicht voraussetzt, da\u00df sekund\u00e4re Beweggr\u00fcnde da waren. Dann Freundestreue, eheliche Treue. Es war ein Denken daran, ohne Vorstellung konkreter Tatbest\u00e4nde. Dann wurde gefragt: welches ist das Charakteristische am Treusein ?\nDabei wurde das soeben \u00dcberlegte bez\u00fcglich Treue in kleinen Dingen, Freundestreue, eheliche Treue reproduziert, dann als das Gemeinsame das Selbstlose erkannt. Versuchsperson erlebte das auch jetzt, ein Bereitsein zu tun oder das Tun selbst f\u00fcr einen anderen. Daran schlo\u00df sich ein auf wallendes Gef\u00fchl (bezogen ?)j kausal darauf bezogen. Hierin verharrte Versuchsperson, lie\u00df das Gef\u00fchl sich aus wirken.\n2. F\u00e4lle von potenzieller K a u s a 1 s e t z u n g. Den bisher besprochenen F\u00e4llen kausaler Beziehungssetzung stehen solche gegen\u00fcber, in denen nur eine potenzielle Kausalsetzung vorliegt.\nVersuchsperson M., Reizwort Entschlossenheit.\nSchwanken zwischen zwei Zielen. Nun wurde festgestellt, da\u00df hier ein Zustand der Unentschlossenheit vorliege und da\u00df es n\u00fctzlich sei, zu einem Entschlu\u00df zu kommen. Dann stellt sich Wertsch\u00e4tzung des gedachten Entschlusses ein: an die Einsicht in die N\u00fctzlichkeit eines solchen Entschlusses schlo\u00df si c h jedenfalls ein Gef\u00fchl der Befriedigung an. (Beziehung dieses Gef\u00fchles?) Es wurde erlebt als Wirkung dieser \u00dcberlegung, aber nicht ausdr\u00fccklich als solche aufgefa\u00dft. (Was ist gemeint mit dem ,,erlebt als Wirkung ?\u201c) Versuchsperson sagt, sie wolle mit diesem \u201eErleben\u201d","page":1362},{"file":"p1363.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1363\nnicht sagen, da\u00df hier die innige Beziehung zwischen Ursache nnd Wirkung erlebt wurde, sondern es war ein Anhaltspunkt da, auf Grund dessen sie kausale Beziehung auf entsprechende Frage hin ausgesagt h\u00e4tte.\nEs liegt hier ein \u00e4hnlicher Tatbestand vor wie auf dem Gebiet der Urteilsprozesse. Durch experimentelle Untersuchung der Urteile in Schlu\u00dfprozessen habe ich gezeigt, da\u00df die psychologische Kontroverse, ob mit jedem Urteil ein Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit gegeben ist oder nicht, dahin entschieden werden mu\u00df, da\u00df zwar mit jedem Urteil ein Bewu\u00dftsein der G\u00fcltigkeit oder ein \u00c4quivalent des Bewu\u00dftseins gegeben ist, wobei ich unter \u00c4quivalent des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit ein psychisches Etwas verstehe, welches so beschaffen ist, da\u00df auf Frage nach der G\u00fcltigkeit Bejahung eintritt1). Diesem \u00c4quivalent des Bewu\u00dftseins der G\u00fcltigkeit entspricht hier ein potenzielles Kausalit\u00e4tsbewu\u00dftsein. Im vorstehenden Versuch sagt Versuchsperson, da\u00df zwar keine Kausalbeziehung zwischen dem Gef\u00fchlszustand und seiner intellektuellen Unterlage gesetzt wurde, da\u00df aber ein \u201eAnhaltspunkt\u201d da war, \u201eauf Grund dessen sie die kausale Beziehung auf entsprechende Frage hin ausgesagt h\u00e4tte\u201d.\nIn diesem \u201eAnhaltspunkt\u201d ist gegeben das psychische Etwas, welches so beschaffen ist, da\u00df auf Frage hin die kausale Beziehungsetzung vollzogen wird. Dieses psychische Etwas ist wahrscheinlich ein psychischer Tatbestand, welcher das Resultat einerHem-mung ist, so beschaffen, da\u00df es ohne diese Hemmung sich als Kausalgedanke dargestellt h\u00e4tte.\nV. Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche eine Beziehung auf das in der intellektuellen Unterlage Gemeinte aufweisen, in der eine kausale Beziehung\nsteckt.\nWir wollen jetzt Gef\u00fchlszust\u00e4nde ins Auge fassen, die eine Beziehung zu ihrer intellektuellen Unterlage aufweisen, in der eine kausale Beziehung steckt, wobei dieselbe dem betreffenden Individuum das eine Mal mehr, das andere Mal weniger zum Bewu\u00dftsein kommt.\n1. Hierhin geh\u00f6rt zun\u00e4chst der Fall, wo von dem Gerichtetsein des Strebens auf etwas gesprochen wird. Weshalb wird hier nicht einfach von kausaler Beziehung, sondern von einem Gerichtetsein des Willens auf etwas gesprochen? Manche Psyeho-\nx) St\u00f6rring\\ Psychologie. S. 257.","page":1363},{"file":"p1364.txt","language":"de","ocr_de":"1364\nGr. St\u00f6rring\nlogen sagen, es handle sich hier nm einen letzten Tatbestand, der nicht weiter ableitbar sei. Wenn wir von dieser Erscheinung Rechenschaft geben wollen, so m\u00fcssen wir psychopathologische und experimentell psychologisch gewonnene Feststellungen bez\u00fcglich des Willensgeschehens hier heranziehen.\nBei dem einfachsten Wollen haoen wir es zu tun mit dem Gedanken einer als zuk\u00fcnftig auf gefa\u00dften Bet\u00e4tigung, an den sich Lust anschlie\u00dft (oder es dr\u00e4ngt sich von einem Unlustzustand ein solcher Gedanke auf). Schlie\u00dft sich aber an den Gedanken einer Bet\u00e4tigung Lust an, so ist damit gesetzt eine Tendenz zur Realisierung dieser Bet\u00e4tigung. Wird die Realisierung des Gedankens dieser Bet\u00e4tigung gehemmt, so macht sich diese Tendenz in einem \u201eWillensimpuls\u201d oder \u201eWillensgef\u00fchl\u201d, einem Gef\u00fchl des Hindr\u00e4ngens deutlich bemerkbar.\nRun kann die kausale Beziehung der gegebenen, beschriebenen Bewu\u00dftseinskonstellation zur Ausf\u00fchrung der betreffenden Bet\u00e4tigung aufgefa\u00dft werden. Dann ist das Individuum sich bewu\u00dft, da\u00df die gegebene Bewu\u00dftseinskonstellation herbeizuf\u00fchren tendiert eine bestimmte Wirkung, n\u00e4mlich die gedachte Bet\u00e4tigung. Dabei ist der Gedanke dieser Bet\u00e4tigung im Bewu\u00dftsein durch das Willensgef\u00fchl fixiert, und zwar mit mehr oder weniger starken Spannungen.\nDieser besondere Fall der Auffassung einer kausalen Beziehung wird mit einem besonderen R a m e n belegt, als \u201egespanntes Gerichtetsein des Willens auf Etwas\u201d bezeichnet.\n2. Hierhin geh\u00f6ren sodann F\u00e4lle von feindlicher, abweisender oder freundlicher willensm\u00e4\u00dfiger Beziehung auf Personen und Auffassungen.\nIch gebe einen Fall, wo eine Entr\u00fcstung sich gegen jemand richtet und wo sie zugleich in ihrer kausalen Abh\u00e4ngigkeit auf gef a\u00dft wird, so da\u00df das kausale Beziehungssetzen nach beiden Seiten hin geht.\nVersuchsperson M., Reizwort Menschenw\u00fcrde, Reizzeit 1 Min. 30 Sek.\nVersuchsperson dachte sofort an Kant und weshalb er davon spricht. Das wurde aber zur\u00fcckgewiesen, um konkrete Tatbest\u00e4nde zu suchen, wo ein Mensch nur als Mittel zum Zweck gebraucht wird. Dann fiel Versuchsperson ein Erlebnis ein, wo sie glaubt, in dieser Beziehung beeintr\u00e4chtigt zu sein. Es entstand ein G e-f\u00fchl der Entr\u00fcstung, Opposition, sehr schmerzvoll, und","page":1364},{"file":"p1365.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1365\nzwar erlebte Versuchsperson die Entr\u00fcstung als sich anschlie\u00dfend an diesen Gedanken. Es war darin Beziehung anf den Gedanken, da\u00df eine solche Behandlung der Menschenw\u00fcrde widerspricht. Die Entr\u00fcstung richtete sich gegen das betreffende Individuum. Die Entr\u00fcstung war keine reproduzierte. Versuchsperson vermied es auch, sich an die Einzelheiten zu erinnern, vielleicht da\u00df die Versuchsumst\u00e4nde mitwirkten. ...\nC. Aktive und passive Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nI. Aktive Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nWir schreiten jetzt zur Untersuchung der aktiven und passiven Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nIch beginne mit Darbietung eines Protokolls, in welchem sich T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle sehr scharf gegen passive Gef\u00fchlszust\u00e4nde abheben.\nVersuchsperson K., Beizwort Forschung. Beizzeit 30 Sek.\nAn die Auffassung des Wortes schlie\u00dft sich unmittelbar ein Gef\u00fchlszustand an, der als reproduziert bezeichnet wird. Es entwickelte sich dann schnell der \u00dcbergang zu einer aktuellen W e r t u n g, wohl, weil das Gebiet sehr nahe liegt. Bei dieser aktuellen Wertung sind verschiedene Gef\u00fchlsmassen zu unterscheiden. Am deutlichsten entwickelt ist ein Gef\u00fchlskomplex, den Versuchsperson als A k t i v i t \u00e4 t s g e f \u00fc h 1, als Gef\u00fchl kraftvoller Bet\u00e4tigung bezeichnet :\nVersuchsperson sah sich innerlich forschend t\u00e4tig und von dieser T\u00e4tigkeit, dem Kampf mit den Widerst\u00e4nden, kam dieser Gef\u00fchlskomplex her, der stark lustbetont war.\nIn zweiter Linie finden sich hier Gef\u00fchle, die Versuchsperson zun\u00e4chst als Wertgef\u00fchle im eigentlichen Sinn bezeichnet. (Sind Urteile darin?) Ich unterscheide das von den anderen, weil es die Bedeutung, den Wert der Forschung mehr zum Ausdruck bringt. Hierin stecken auch Urteile: es waren jedenfalls Ans\u00e4tze dazu da: es klangen einzelne Seiten der Kultur an (so die Medizin und speziell die Herabsetzung der Sterblichkeit, aber eben nicht explicite); es war eine Tendenz vorhanden zur Aufspaltung des Gedankens der Kultur. Es waren hier mehr die wertvollen Effekte ins Auge gefa\u00dft. Der wissenschaftliche Wert selbst ist etwas vertreten durch das Aktivit\u00e4tsbewu\u00dftsein. Der gr\u00f6\u00dfte Gegensatz zu den Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen hat sich in dem Gedanken der Effekte geltend gemacht. Es soll damit nicht gesagt sein, da\u00df die Effekte allein gemeint sind. ... Es wird sodann hervorgehoben, da\u00df im unmittelbaren Eindruck der Gef\u00fchlszustand sich vor Vollzug der Analyse als einheitlicher darstellt.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n89","page":1365},{"file":"p1366.txt","language":"de","ocr_de":"1366\nG-. St\u00f6rring\nHier l\u00f6st das Beizwort Forschung Gef\u00fchlszust\u00e4nde verschiedener Art ans. Yersnchsperson versetzte sich hinein in die forschende T\u00e4tigkeit nnd erlebt dabei einen Gef\u00fchls zustand, der mit dieser Bet\u00e4tigung innigst verkn\u00fcpft ist, der deshalb das ist, was wir als T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle bezeichnen.\nDie T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle heben sich in unserem Fall einem anderen Gef\u00fchlszustand gegen\u00fcber ab : einem Gef\u00fchlszustand, der sich mit Gedanken an die Effekte der Forschung, die Bedeutung der Forschung f\u00fcr die Kultur verbindet.\n1. Arten der T\u00e4tigJceitsgef\u00fcllte (dynamische und statische).\nDie Untersuchung der T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle ergibt uns, da\u00df hier zwei Arten derselben zu unterscheiden sind.\nIch gebe ein Protokoll, in welchem eine andere Art von Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen auftritt als bei dem Beizwort Forschung.\nBei dem Beizwort Standhaftigkeit, Kn. (VI, 42) entwickelt sich zun\u00e4chst bei Auffassung ein unmittelbarer schwacher Gef\u00fchlszustand. Der Gef\u00fchlszustand gestaltet sich anders auf Grund von Yergegenw\u00e4rtigung konkreter Tatbest\u00e4nde. Da entstehen drei verschiedene Gef\u00fchlsgruppen: 1. Gef\u00fchle ethischer Katur, 2. Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle und 3. eine Gruppe von Gef\u00fchlen, die daraus entstehen, da\u00df die Standhaftigkeit als erfolgreich aufgefa\u00dft wird.\nAd 1. Standhaftigkeit wird als etwas aufgefa\u00dft, was f\u00fcr eine sittliche Pers\u00f6nlichkeit selbstverst\u00e4ndlich ist. Wer nicht Standhaftigkeit besitzt, wird als sittliche Pers\u00f6nlichkeit nicht gewertet. Es ist darin auch ein Moment von Treue gegen sich selbst.\nAd 2. Aktivit\u00e4t. Man sieht sich stehend und stemmend gegen Widerst\u00e4nde. Damit h\u00e4ngen bestimmte Gef\u00fchle zusammen. Das gibt starke Spannungen in der Muskulatur, nicht so sehr lustgef\u00e4rbt, eher Unlust. Diese starke Spannung wird zugleich positiv gewertet. Zu dem Moment des Widerstandes wird noch gesagt, es sei weniger Aktivit\u00e4t in der Dichtung der Bewegung, es fehlt den Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen das Moment des Fortschreiten s. Schon das Stehenbleiben wird als Plus aufgefa\u00dft. Man ist mehr in Yerteidigungs- als in Angriffs Stellung. Der Widerstand ist hier nicht Hemmung, es ist hier etwas, was in die Situation hineinpa\u00dft, das verbindet sich mit lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlen. Es ist auch eine Unlustkomponente darin; sie scheint Versuchsperson mehr von den starken Spannungen herzukommen.","page":1366},{"file":"p1367.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1367\n\u201eHier ist mehr statische Aktivit\u00e4t, fr\u00fcher (in einem Yersnch mit dem Beizwort \u201eSehnsucht\u201d) mehr dynamische.\u201d\nIn diesem Falle liegt eine Aktivit\u00e4t vor, welche von Versuchsperson mit Becht als statische Aktivit\u00e4t einer dynamischen Aktivit\u00e4t gegen\u00fcbergesetzt ist, wie Versuchsperson dieselbe erlebt hat, kurze Zeit vorher bei dem Beiz wort \u201eSehnsucht\u201d und l\u00e4ngere Zeit vorher bei dem Beiz wort \u201eForschung\u201d, \u00fcber das wir oben referierten. Versuchsperson sagt von der hier auftretenden Aktivit\u00e4t sehr bezeichnend: \u201eMan sieht sich stehend und stemmend gegen Widerst\u00e4nde\u201d. Damit h\u00e4ngen gewisse Gef\u00fchle zusammen. Das gibt starke Spannungen in der Muskulatur.\nBei der einen Art der Aktivit\u00e4t wird von einem \u201eAnstemmen gegen Widerst\u00e4nde\u201d gesprochen, bei der auch von einem \u201eM ornent des Fortschreitens in Bichtung der Bewegung. Diese verschiedenen Arten der Aktivit\u00e4t entsprechen offenbar dem physiologischen Gegensatz zwischen Arbeitsleistung des Muskels bei isotonischem und bei isometrischem Zuckungsregime: bei isotonischem Zuckungsregime hat man den Muskel unter Bedingungen gestellt, unter denen er bei Beizung gleichen Tonus beh\u00e4lt, w\u00e4hrend die L\u00e4nge wechselt, w\u00e4hrend er sich kontrahiert; bei isometrischem Zuckungsregime reizt man den Muskel unter Bedingungen, unter denen seine L\u00e4nge relativ konstant bleibt, wo er Spannungen entwickelt, die man messen kann, wenn man ihn an einer starken Feder arbeiten l\u00e4\u00dft.\nDiesen verschiedenen Arten von Aktivit\u00e4t entsprechen verschiedene aktive Gef\u00fchle.\n2. Die den aktiven Gef\u00fchlen gemeinsamen Komponenten.\nDie aktiven Gef\u00fchle in Willens Vorg\u00e4ngen werden von der Versuchsperson verschieden benannt, als Gef\u00fchle des motorischen Dranges, als Willensgef\u00fchle, Willensimpulse, T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle. Diesen Gef\u00fchlszust\u00e4nden, sie m\u00f6gen einer mehr dynamischen oder mehr statischen T\u00e4tigkeit entsprechen, ist gemeinsam, da\u00df sie V e r-schmelzungsprodukte von Spannungsempfindungen und Gef\u00fchlszust\u00e4nden der Lust oder Unlust sind.\nWir treten damit der \u00e4lteren Auffassung? die sich zugleich bei teueren wiederfindet? entgegen, da\u00df die aktiven Gef\u00fchle, das also? was man auch als Gef\u00fchl des motorischen\n89*","page":1367},{"file":"p1368.txt","language":"de","ocr_de":"1368\nG. St\u00f6rring\nDranges, Willens ge f\u00fchl usw. bezeieh.net, elementare, nicht weiter rednzierbare psychische Tatbest\u00e4nde sind. Sie sind Verschmelzungs-prodnkte. Wir k\u00f6nnen darin ander emotionellen Tatbest\u00e4nden Spannnngsempfindnngen aufweisen. [In den dynamischen, aktiven Gef\u00fchlen sind anch schwache Bewegnngsempfindnngen als Komponenten enthalten. Nur lassen sie sich schwer darin nachweisen: einmal sind sie schwache Gebilde nnd sodann ist zn beachten, da\u00df die \u00fcntersnchnngen, die ich \u00fcber Angenbewegnngen habe anstellen lassen, ergeben haben1), da\u00df Spannnngsempfindnngen Bewegnngsempfindnngen, die mit ihnen zusammen auf treten,, v\u00f6llig zn verdecken verm\u00f6gen.]\nSo sagt eine Versuchsperson beim Reizwort \u201eEntschlossenheit\u201d, wo sie das Gef\u00fchl beim Entschlu\u00df charakterisieren will,, von der dabei anftretenden Lust: \u201eDabei war das Gef\u00fchl des Festen, Sicheren. Anch das Gef\u00fchl, als h\u00e4tte ich den Atem angehalten und als h\u00e4tte ich beim Entschlu\u00df mit Druck dahinter ausgeatmet. Auch motorische Tendenzen, des Sichauf-richtens, S i c h s t e i f h a 11 e n s und Spannungen (gemeint sind allgemeine K\u00f6rperspannungsempfindungen) waren darin enthalte n.\u201d\nEine andere Versuchsperson sagt bei einer willentlich vollzogenen Wertsch\u00e4tzung, also bei einer geistigen inneren Willensbet\u00e4tigung, bei dem Reizwort \u201eErfolg\u201d: \u201eBei der Wertsch\u00e4tzung hatte ich Gef\u00fchle (gemeint sind nach dem Folgenden ,Spannungs-gef\u00fchle\u2019) im Oberk\u00f6rper, in der Brust, die man hat, bevor man sich entschlie\u00dft, etwas zu tun, aber wo man genau wei\u00df, man wird sich dazu entschlie\u00dfen. Diese Spannungsempfindungen waren mit Lust verbunden.\u201d\nAuch bei experimenteller Untersuchung, die ich \u00fcber Willens Vorg\u00e4nge habe an stellen lassen2), hat sich ergeben, da\u00df in dem Willensgef\u00fchl Spannungsempfindungen als Verschmelzungskomponenten stecken. Ich komme darauf bei LTntersuchung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Willensvorg\u00e4ngen zur\u00fcck.\nMan mu\u00df beachten, da\u00df auch neben dem Willensgef\u00fchl Spannungsempfindungen auf-treten k\u00f6nnen. Das hat man gegen die Behauptung geltend gemacht, da\u00df Spannungsempfindungen im Willens g ef\u00fchl stecken.\nAber beide lassen sich voneinander unterscheiden. Die einen lassen sich als im Willens-\nx) St\u00f6rring: Psychologie, S. 75.\n2) Skawran: 1. c. S. 129.","page":1368},{"file":"p1369.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1369\ng e f \u00fc h 1 steckend erkennen, die anderen als nicht darin gegeben. Sodann heben sich auch die im Willens g ef\u00fchl steckenden Spannung s-empfindnngen dadurch von etwaigen anderen Spannungsempfindungen ab, da\u00df sie sich als von dem Gedanken einer bestimmten Bet\u00e4tigung abh\u00e4ngig auffassen lassen und als in dem Willensgef\u00fchl auf E ealisierung der betreffenden Bet\u00e4tigung hindr\u00e4ngend!\nWer Willensversuche, wie die von Trouet, Skawran, Gies und Jancke als Versuchsperson mitgemacht hat, l\u00e4\u00dft sich nicht mehr einreden, da\u00df man das, was man Gef\u00fchl des motorischen Dranges, Willensgef\u00fchl usw. nennt, nicht weiter reduzierbare Gr\u00f6\u00dfen sind, sondern erkennt in ihnen leicht Spannungsempfindungen als Verschmelzungskomponenten.\n3. V er Objektivierung und Ichbeziehung von T \u00e4tigkeits gef \u00fcblen.\nUnser V e r s u c h s m a t e r i a 1 ergibt \u00fcber die T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle weiter, da\u00df sie verobjek-tiviert und auch ichbezogen auf treten k\u00f6nnen.\nIch gebe dazu einen interessanten Versuch.\nII, 51. Beizwort Tatkraft. Versuchsperson W. (K. T. -f- e St. + Wu.)\nAuf Anh\u00f6ren des Wortes gleich ausgesprochene Lust und eine motorische Tendenz: ich richtete mich pl\u00f6tzlich vom Stuhle auf und hatte die undeutliche Vorstellung eines tatkr\u00e4ftigen Menschen, und zwar entsprach die Vorstellung den Vorstellungen, die ich bei der k\u00fcrzlichen Lekt\u00fcre von J\u00fcrg Jenatscb hatte ; schwarze Haare, hellrotes Wams, schwarze Sch\u00e4rpe, gelb-braune Gesichtsfarbe; stolz, straff, aufgerichteter Oberk\u00f6rper. Hatte etwas mehr wie Sympathie mit der Tatkraft, die sich in dieser Figur ausdr\u00fcckt, ich f\u00fchlte mich mit angesteckt von der Tatkraft, sagte mir: \u201eSo m\u00f6chte ich sein\u201d. Dies eine Wertung. . . . Diese wertende Stellungnahme hob sich von dem oben bezeichneten Gef\u00fchlszustande ab, die Sache wurde zum Gegenstand der Bewertung gemacht. Hatte zwischendurch Vorstellungen von Tattypen: glattrasierte Gesichter, straffe B\u00fcgelfalten, energisches Auftreten. ...\u201d\n\u201eAuf Anh\u00f6ren des Wortes\u201d entsteht sogleich ein starker Willensdrang, der sich mit Lust verbindet: \u201eich richtete mich pl\u00f6tzlich vom Stuhle auf\u201d. Es tritt also nach Anh\u00f6ren und wohl auch nach Auffassung des Wortes \u201eTatkraft\u201d eine tatkr\u00e4ftige Haltung auf, Innervationen der Muskulatur, die bei Einstellung zu tatkr\u00e4ftigem Verhalten auf treten.\nDiese Innervationen l\u00f6sen Spannringsempfindungen aus und diese verbinden sich mit Lustgef\u00fchlen. Die Verschmelzung der","page":1369},{"file":"p1370.txt","language":"de","ocr_de":"1370\nG. St\u00f6rring\nSpannungsempfindungen mit den Lustgef\u00fchlen sind das, was wir Willensgef\u00fchle nennen.\nDiese Willensgef\u00fchle sind als T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle zu bezeichnen einmal, weil die Herstellung nnd Anfrechterhaltnng der Spannung eine Aktivit\u00e4t darstellt nnd sodann, weil sie sich an den Gedanken einer Bet\u00e4tigung eng anschlie\u00dfen.\nDiese Spannungsempfindungen, welche in diesen Willensgef\u00fchlen stecken, reproduzieren eben Gedanken einer Pers\u00f6nlichkeit, die Versuchsperson als Typus von Tatkraft kennt, J\u00fcrg Jenatsch.\nMit dieser als exquisit tatkr\u00e4ftig gedachten Pers\u00f6nlichkeit sympathisiert Versuchsperson nnd die erlebten (dynamischen nnd statischen!) T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle werden in dieser vorgestellten Pers\u00f6nlichkeit, wie Versuchsperson selbst sagt, \u201everobj ekti-v i e r t\u201d.\nBei dieser Verobj ektivierung bleibt es aber in unserem Fall interessanterweise nicht, sondern Versuchsperson wird, sympathisierend mit der gedachten tatkr\u00e4ftigen Pers\u00f6nlichkeit, von der Tatkraft derselben, \u201eangesteckt\u201d. So l\u00f6sen die verobjektivierten T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle aus, welche eine Ichbe Ziehung erfahren!\nII. Passive Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nDen aktiven Gef\u00fchlszust\u00e4nden stehen nicht aktive gegen\u00fcber. Sie sind entweder ichbezogen oder nichtichbezogen. Die nichtichbezogenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde kann man in zwei Gruppen teilen: Gegenstandsgef\u00fchle und Inhaltsgef\u00fchle, je nachdem die Gef\u00fchlszust\u00e4nde mit einem Denkgegenstand verkn\u00fcpft sind oder mit einfachen Bewu\u00dftseinsinhalten Empfindungen oder Vorstellungen.\nD. Superposition von Gef\u00fchlszust\u00e4nden.\nDie Beziehung der Superposition von Gef\u00fchlszust\u00e4nden habe ich zuerst auf dem Gebiet der sittlichen Wertsch\u00e4tzungen nachgewiesen, wo sich \u00fcber einer relativ einfachen Wertsch\u00e4tzung eine komplexere auf baut, welche die erste einschlie\u00dft1).\nDiese Beziehung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden sehen wir auch in unseren Versuchen auftreten. Ich gebe daf\u00fcr zwei Protokolle, die eine charakteristische Differenz aufweisen.\n1) St\u00f6rring: Psychologie des menschlich en Gef\u00fchlslebens. 2. Aufl. S. 253 ff. Die sittlichen Forderungen und die Frage ihrer G\u00fcltigkeit. 1919. S. 13 ff.","page":1370},{"file":"p1371.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1371\nI,\t69/70. Reizwort K i r c h e. Versuchsperson Bo. (K. T. + e St. + W.)\n\u201eZuerst lie\u00df mich das Wort ganz k\u00fchl. Es fielen mir zwei Bedeutungen ein: 1. Organisation, 2. Geb\u00e4ude; dabei blieb ich wegen der Anweisung auf Konkretes stehen.\nIch stellte mir das \u00c4u\u00dfere und dann das Innere der Kirche vor. Da h\u00f6rte ich Orgelspiel, und ich hatte dabei feierliche Stimmung, Ruhe. Ich vollzog Kehlkopfinnervationen, dann wurde die Vorstellung deutlicher. Da sagte ich mir: das ist noch nicht alles. Da tauchte ein hellbeleuchteter, goldglei\u00dfender Hochaltar vor meinen Augen auf. Das Orgelspiel dauerte dabei an. Ich sp\u00fcrte, wie sich dabei Spannungen l\u00f6sten und Lustgef\u00fchle h\u00f6herer Art auftraten. 1ST un fiel mir ein, da gibt es auch Weihrauch und schlechte Luft; blieb beim Weihrauch stehen, dachte dann an Blumenduft, W\u00f6lkchen, Weihrauch, Geruch der Feuchtigkeit und wunderbare Frische um die Zeit vor der D\u00e4mmerung, dann sah ich die Blumen auf dem Maialtar, rot, wei\u00df usw. Mit dem Geruch trat ein Gef\u00fchl von Sehnsucht auf, das in mir den Gedanken verursachte: K\u00f6nntest Du das noch einmal haben. Hierin w\u00fcrde ich eine Wertsch\u00e4tzung und emotionelle Stellungnahme sehen. Ich hatte fr\u00fcher schon einmal diese Stimmung und den Wunsch. Der Gedanke, da\u00df es nicht mehr ist, erzeugte Unlust. Sie verschmolz mit der Lust zu einem sehns\u00fcchtigen Gef\u00fchl, in dem ein Streben steckte auf das Bild zu und das den Gedanken verursachte: \u201eW\u00e4re das noch einmal !\u201d\nHier sieht man, da\u00df das Reizwort \u201eK ir che\u201d die Erinnerung an den Geruch des Maialtars wachrief. Der Gedanke an den Maialtar verbindet sich mit Lust. Sodann erzeugt der Gedanke, da\u00df das Erlebnis nicht mehr ist, Unlust.\nDer Gedanke, da\u00df das Erlebnis des Maialtars nicht mehr ist, erzeugt Unlust auf Grund der Tatsache, da\u00df der Gedanke an den Maialtar Lust erzeugt. Die negativ emotionelle Reaktion setzt also die positive emotionelle Reaktion voraus und schlie\u00dft sie ein. Man kann also sagen, da\u00df sich die negative emotionelle Reaktion \u00fcber der positiven aufbaut, sich \u00fcber ihr superponiert.\nII,\t3. Reizwort Menschengl\u00fcck. Versuchsperson M. (K. T + e . St.)\nVersuchsperson setzt zun\u00e4chst sofort Beziehung zum vorhergehenden Versuch (Reizwort Menschenw\u00fcrde). Sie geht darauf aber nicht n\u00e4her ein. Es stellten sich nun allgemeine Gedanken","page":1371},{"file":"p1372.txt","language":"de","ocr_de":"1372\nGr. St\u00f6rring\ndar\u00fcber ein, was man darunter verstehe. Diese waren nicht stark gef\u00fchlsbetont. Dann nahm sich Yersuchsperson vor, das eigene Leben daraufhin zu betrachten und das ihr nahestehender Personen. Der Gedanke an die eigene Beziehung zu diesen Personen verband sich mit einem Gef\u00fchl der Freude, und zwar war es der Gedanke der Yersuchsperson, diese Personen zu begl\u00fccken, der sich mit Freude verband. Zugleich Freude \u00fcber diese Feststellung. Dann ging Yersuchsperson n\u00e4her auf diese Beziehung ein. . . .\nMan sieht, wie sich hier der Gedanke der Versuchsperson, ihr nahestehende Personen zu begl\u00fccken, mit Freude verbindet; wie dann diese emotionelle Reaktion zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird und die urteilsm\u00e4\u00dfige Feststellung, da\u00df dieser Gedanke sich mit Freude verbindet, sich auch wieder mit Freude verbindet. Die sich an dies Urteil anschlie\u00dfende Freude gr\u00fcndet sich also auf die erstere emotionelle Reaktion. Die an das Urteil sich anschlie\u00dfende Freude superponiert sich also \u00fcber der ersteren Freude.\nW\u00e4hrend sich im letzteren Fall eine emotionelle Reaktion an die urteilsm\u00e4\u00dfige Feststellung einer urspr\u00fcnglich gegebenen emotionellen Reaktion anschlie\u00dft, sahen wir im ersteren Fall die sich superponierende Reaktion nicht einfach an die urteilsm\u00e4\u00dfige Feststellung einer gegebenen emotionellen Reaktion sich anschlie\u00dfen, sondern an eine Urteils m\u00e4\u00dfige Feststellung, in deren Gegenstand die urspr\u00fcnglich gegebene emotionelle Reaktion als Teilkomponente steckt.\nAuf der einen Seite stand ja doch in unserem ersten Fall die Freude, welche sich mit dem Gedanken an ein bestimmtes Erlebnis verbindet und auf der anderen die Unlust, welche sich an den Gedanken anschlo\u00df, da\u00df dies (freudvolle) Erlebnis nicht mehr ist.\nDie eine Superposition nennen wir eine einfache, die andere eine komplexe.\nE. Gleichzeitigkeit von lust- und unlustartigen Gef\u00fchlszust\u00e4nden.\nIn der Gef\u00fchlspsychologie streitet man dar\u00fcber, ob lust-und unlustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde gleichzeitig auftreten k\u00f6nnen oder nicht.","page":1372},{"file":"p1373.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1373\nDa\u00df es Oszillationen von Lnst- und Unlustzust\u00e4nden gibt, bezweifelt niemand. Daf\u00fcr brauchen wir also keine Belege zn bringen.\nIn der Frage der Gleichzeitigkeit von lnst- nnd unlustartigen Gef\u00fchlszust\u00e4nden nehmen wir die Stellung ein, da\u00df wir mit Entschiedenheit auf Grund eines gro\u00dfen Materials das Vorkommen einer Gleichzeitigkeit von Lust- und Unlustzust\u00e4nden behaupt en m\u00fcssen.\nWir w\u00e4hlen ein paar F\u00e4lle aus.\nBeizwort G e h o r s a m. Versuchsperson K. (VI, 54).\n\u201eAn die Auffassung der Wortbedeutung schlie\u00dft sich unmittelbar ein Gef\u00fchlszustand positiver Art an.\nBei der Verarbeitung des Beizwortes nach der Anweisung tritt heben dem Gef\u00fchlszustand positiver Qualit\u00e4t noch ein unlustartiger Gef\u00fchlszustand auf. Bei letzterem spielt der Gedanke eine \"Bolle, ,da\u00df Gehorsam auch sehr kritiklos ge\u00fcbt werden und dadurch viel Unheil anrichten kann\u2019. ,Das Negative kam daher, da\u00df der Gehorsam als solcher verbreiteter ist als der sittliche Gehorsam. Der nicht sittliche Gehorsam ist etwas Gef\u00e4hrliches; das ist angeklungen\u2019. ,Dieses Positive und Negative ist nicht intermittierend. Pr\u00e4valierend war das Negative, gleichzeitig mit dem Positiven\u2019\u201d.\nHier wird bei dem Beiz wort Gehorsam bei Verarbeitung der Anweisung, eine emotionelle Stellungnahme an der Hand eines konkreten Tatbestandes zu vollziehen, ein positiver und negativer Gef\u00fchlszustand entwickelt.\nDer positive Gef\u00fchlszustand entwickelte sich sofort bei Auffassung der Bedeutung des Wortes; der negative entstand auf Grund der Feststellung, da\u00df es auch unsittlichen Gehorsam gibt. Versuchsperson behauptet nun, da\u00df diese Lust- und Unlustgef\u00fchle \u201eg 1 e i c h z e i t i g\u201d auftreten, \u201enicht intermittierend\u201d. Diese Aussage wird gemacht, ohne da\u00df vom Experimentator darnach gefragt ist.\nBeizwort Gehorsam. Versuchsperson G. (VI, 59).\n\u201eIch fixierte das Wort, da kamen verschiedene Erinnerungen: Gehorsam bei Kindern und Sch\u00fclern. Dann wurde an die Ethik von Th. Tipps gedacht, an verschiedene Arten des Gehorsams. Nun, das willst du jetzt nicht reproduzieren, du sollst einen konkreten Tatbestand nehmen. Bis jetzt war kein Gef\u00fchl bemerkbar. Du willst dich auf den Gehorsam, wie er sich im Erleben darstellt, konzentrieren. Es wurde an Gehorsamsein gedacht. Da merkte ich, da\u00df ein Gef\u00fchlszustand in mir lebendig wurde. Er war noch","page":1373},{"file":"p1374.txt","language":"de","ocr_de":"1374\nG-. St\u00f6rring\nnicht klar ausgepr\u00e4gt, etwas W\u00e4rme dabei. Nun trat der Gedanke auf: gern folgen. Jetzt merkte ich, da\u00df der Gef\u00fchlszustand sich modifizierte, da\u00df eine lustvolle Seite daraus hervortrete, als auch eine entgegengesetzte Tendenz. Nach einer Abschweifung trab wieder Konzentration nuf Gehorsamsein, Unterwerfen ein. ,Wenn gewisse Voraussetzungen erf\u00fcllt sind, k\u00f6nnte ich sagen, ich will gehorsam sein\u2019. Jetzt merkte ich, wie wieder ein Gef\u00fchl auf stieg. Gesagt : ,Ich erkenne die Autorit\u00e4t an und unterwerfe mich.\u2019 Unlust. Diese richtet sich gegen das Niedergebeugtsein. Das geht gegen meine Haltung, mir kam es beinahe entehrend vor. Ich wollte diesen Zustand nicht erleben. Dann wurde wieder an Gehorsamsein gedacht. Es l\u00e4\u00dft sich nicht umgehen, eine Unterordnung ist damit verbunden, es braucht nicht ein Unterwerfen zu sein; eine Ordnung ist notwendig. Ich k\u00f6nnte jetzt sagen: ich ordne mich unter, nicht blind, ich unter ordne mich Prinzipien. Der Gef\u00fchls-zustand wird zufrieden lustvoll, der Umschlag war deutlich. Dieser bezog sich auf den Gedanken, mich als vern\u00fcnftiges Wesen unter Prinzipien unterzuordnen. (Wie bezogen?) Kausal, sehr deutlich.\nAls Unlust noch vorhanden war in dem Gedanken an Gehorsam, war Unlust und Lust gleichzeitig vorhanden, nicht intermittierend. Dabei bezog sich die eine auf diesen, die andere auf jenen intellektuellen Tatbestand, die auch gleichzeitig bewu\u00dft zu sein schienen, vielleicht mit Differenz der Pr\u00e4valenz.\u201d\nHier schlie\u00dft sich an den Gedanken des Gehorsamseins ein Gef\u00fchlszustand an, in welchem zuerst W\u00e4rmeempfindungen konstatiert werden. Als dann der Gedanke an ,,gern folgen\u201d auf tritt, modifiziert sich der Gef\u00fchlszustand und bekommt deutlich eine Lust- und Unlustseite. Nach einer Abschweifung findet wieder Konzentration auf Gehorsamsein im Unterwerfen statt. Es entstehen lust- und unlustartige Gef\u00fchle; Unlust im Anschlu\u00df an Reflexionen \u00fcber eine Unterwerfung unter Autorit\u00e4ten mit Niedergebeugtsein. Dann \u00e4ndert sich die Reflexion: es wird gesagt: das Unterordnen braucht kein Unterwerfen zu sein, ich erkenne es als vern\u00fcnftiges Wesen an als Unterordnung unter Prinzipien.\nVersuchsperson sagt nun aus, da\u00df vor dem letzten Schritt der Reflexion, als noch Unlust im Gedanken an Gehorsam vorhanden war, sie gleichzeitig, nicht intermittierend mit Lust vorhanden gewesen sei. Dabei habe sich die Lust auf den einen, die Unlust auf den anderen intellektuellen Tatbestand bezogen, ,,die auch gleichzeitig bewu\u00dft zu sein schienen, vielleicht mit Differenz der Pr\u00e4valen z\u201d. Die Behauptung der Gleichzeitigkeit von Lust und Unlust und die Frequenz","page":1374},{"file":"p1375.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1375\ndes intermittierenden Auftretens wird wieder gemacht, ohne da\u00df eine Frage von seiten des Experimentators aufgeworfen wurde.\nF\u00e4lle dieser Art haben sich in sehr gro\u00dfer Zahl dargeboten.\nEinen sch\u00f6nen Fall dieser Art haben wir fr\u00fcher in anderem Zusammenhang gebracht.\nEs handelte sich um ein Protokoll mit dem Beiz wort \u201eHoffnung\u201d. Habei fand eine Einf\u00fchlung in das Hoffnnngsgef\u00fchl der Mutter auf die Entwicklung ihres in der Ferne weilenden Sohnes statt. Es entstanden da Vorfreude und Vertrauen, miteinander verschmolzen und sodann Furcht (vor Mi\u00dferfolg).\nVon jenem Verschmelzungsprodukt wird gesagt: ,,Es bildete mit der Furcht zusammen einen Komplex, aber keine Einheit. Ich m\u00f6chte unbestimmt lassen, ob der Komplex auch Verschmelzungsprodukt ist. .. Hie sich widerstreitenden Gef\u00fchle sind nicht auf verschiedene Zeitmomente verteilt, sondern gleichzeitig, allerdings im einen Zeitmoment das eine, im anderen Zeitmoment das andere st\u00e4rker betont, aber in keinem Moment geht dieGegen-seite verloren, am wenigsten die Freude (Vorfreude und Vertrauen), selbst wenn dieFureht den st\u00e4rksten Betrag ha t.\u201d\nSolche Beschreibungen machen doch einen sehr vertrauenerweckenden Eindruck !\nHiejenigen Psychologen, welche die Gleichzeitigkeit von Lust- und Unlustzust\u00e4nden leugnen, lassen sich meist durch eigenartige Beflexionen \u00fcber die Beziehung der Gef\u00fchle zum Ich bestimmen: die Gef\u00fchle sollen Beaktionen des Ichs auf Beize darstellen und da lasse sich nicht denken ( !), da\u00df in einem Zeitmoment eine positive und zugleich eine negative Beaktion stattf\u00e4nde \u00ce\nF. Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden.\n1. Gleichzeitige Gef\u00fchlszust\u00e4nde k\u00f6nnen miteinander verschmolzen oder unverschmolzen nebeneinander bestehen oder sie k\u00f6nnen eine gewisse Verbindung miteinander eingehen, die man als niederen Grad von V er Schmelzung bezeichnen kann (man hat in solchen F\u00e4llen von gemischten Gef\u00fchlen gesprochen).\nVerschmelzungen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden sind uns bisher mehrfach begegnet, so bei dem Beizwort Hoffnung eine Verschmelzung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde der Vorfreude und des Vertrauens. Bez\u00fcglich des gleichzeitig vorhandenen Gef\u00fchlszustandes","page":1375},{"file":"p1376.txt","language":"de","ocr_de":"1376\nG-. St\u00f6rring\nder Furcht schwankten die Versuchspersonen, ob sie von Verschmelzung sprechen sollen oder nicht, jedenfalls sei die Beziehung von Vorfreude und Vertrauen zusammengenommen zur Furcht weniger innig als die zwischen Vorfreude und Vertrauen.\nEin blo\u00dfes hiebeneinander lag andrerseits nicht vor, denn Versuchsperson spricht von einer Einheit, die durch diese drei Gef\u00fchlszust\u00e4nde gebildet wird. Hier haben wir also einen Fall von Verschmelzung niedrigen Grades vor uns oder einen \u201egemischten\u201d Gef\u00fchlszustand.\n2. Bevor ich die Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden n\u00e4her behandle, will ich einen Fall von Nebeneinander gleichzeitiger Gef\u00fchlszust\u00e4nde geben, in welchem uns zugleich ein m\u00f6glicher \u00dcbergang zur Verschmelzung entgegentritt.\nBeizwort Eisenbahnungl\u00fcck. Versuchsperson K. (Kurz nach einem gr\u00f6\u00dferen Eisenbahnungl\u00fcck.)\n\u201eSehr komplexer Gef\u00fchlszustand. Eine Menge von Anschauungen traten auf. Her intellektuelle Unterbau ist durch Zeitungslekt\u00fcre sehr reichhaltig. Gef\u00fchlszust\u00e4nde sind sehr stark ausgepr\u00e4gt. Es ist nicht so sehr eine wertende Stellungnahme, das tritt stark zur\u00fcck hinter der Gef\u00fchlsmasse, die sich unmittelbar darstellt. Mitleiden mit den Betroffenen (z. B. junges Ehepaar auf der Hochzeitsreise). Dazu kommen pers\u00f6nliche Beziehungen: ich bin selbst mit dem Zuge h\u00e4ufig gefahren usw. So ist eine Beihe von Einzelheiten mit starken Gef\u00fchlen vorhanden. Es ist aber noch keine Zusammenfassung der Gef\u00fchle da !\nIn fr\u00fcheren F\u00e4llen konnte ich bestimmte Gruppen von Gef\u00fchlen aus einem Ganzen herausheben, jede f\u00fcr sich einheitlich. Das fehlt hier. Das kommt von der Frische des Erlebens. Die Einzelheiten sind noch so deutlich, da\u00df die Gef\u00fchle noch an jeder Einzelheit haften! Dies wirft ein Licht, wie mir scheint, ein Licht auf die Gef\u00fchlsbelastung.\nJetzt ist jede Einzelheit noch da, auch das weniger Bedeutungsvolle. Die Scheidung in Wesentlich und Unwesentlich ist noch nicht eingetreten. Der Schlu\u00dfwert wird nicht so sehr beachtet, als die Einzelheiten.\nF\u00fcr mich ist dies Beispiel insofern interessant, als ich die Vermutung habe, da\u00df nach einiger Zeit, wenn der Fall etwas vergessen ist, das gleiche Beispiel eine BeaktioiUin gewohnter Weise ausl\u00f6sen w\u00fcrde.\nEine weitere Folge der zeitlichen Distanz ist: die Unm\u00f6glichkeit, die einzelnen Komponenten herauszuheben; da gewinnt das Gef\u00fchl einheitlichen Charakter. Es ist hier keine Gef\u00fchlsverschmelzung vorliegend, sondern ein Nebeneinander von Gef\u00fchlen! Jedes Gef\u00fchl bleibt von dem anderen isoliert.\u201d","page":1376},{"file":"p1377.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1377\nBei diesem Beizwort \u201eEisenbahnungl\u00fcck\u201d, welches ganz kurze Zeit nach einem gro\u00dfen Eisenbahnnngliick dargeboten wird, tritt zun\u00e4chst der Gegensatz zwischen Verschmelzung nnd dem Nebeneinander von Gef\u00fchlszust\u00e4nden sehr deutlich heraus, der Versuchsperson macht sich dieser Gegensatz geltend im Vergleich mit den vorangegangenen Versuchen,, in denen ausgepr\u00e4gte Verschmelzungen vorkamen. Versuchsperson vermutet ganz richtig, da\u00df das Nebeneinander zusammenh\u00e4ngt mit der Frische der Eindr\u00fccke bei der F\u00fclle der gelesenen Zeitungsberichte. Es liegt hier eineF\u00fclle von \u201eEinzel-heiten\u201d vor, von denen jeder einzelnen ein ganzer Komplex intellektueller Unterlagen f\u00fcr Entwicklung eines Gef\u00fchlszustandes entspricht.\nJede \u201eEinzelheit\u201d, jeder in der Zeitung hervorgehobene eigenartige Ungl\u00fccksfall,, besch\u00e4ftigt das Bewu\u00dftsein der Versuchsperson mit dem die F\u00fclle der intellektuellen Unterlagen dieser \u201eEinzelheit\u201d begleitenden Gef\u00fchlszustand l\u00e4ngere Zeit, so da\u00df es nicht zu einer Zusammenfassung dieser komplexen \u201eEinzelheiten\u201d kommt. Verlieren diese \u201eEinzelheiten\u201d im Laufe der Zeit an F\u00fclle der intellektuellen Unterlagen, so wird immer mehr eine Zusammenfassung mehrerer solcher komplexer Einzelheiten im Bewu\u00dftsein m\u00f6glich. Damit r\u00fccken aber nicht nur die einzelnen intellektuellen Komplexe, sondern auch nat\u00fcrlich die Gef\u00fchlszust\u00e4nde n\u00e4her aneinander.\nHier ist uns also nicht nur der Gegensatz zwischen Verschmelzung von Gef\u00fchlen und dem Nebeneinander von Gef\u00fchlen ad oculos demonstriert, sondern wir lernen auch Bedingungen kennen, bei deren Erf\u00fcllung bei bestimmt geartetem Nebeneinander ein \u00dcbergang von dem Nebeneinander zu der Verschmelzung sich vollzieht.\nWir wollen nicht vers\u00e4umen, die Art von Verschmelzung hier sogleich zu charakterisieren, welche hier angebahnt ist : es ist eine Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf Grund enger Aneinander lagerung in einer Zusammenfassung ihrer intellektuellen Unterlagen. Aber das ist es nicht allein. Hier wirkt zugleich mit die Auffassung dieser","page":1377},{"file":"p1378.txt","language":"de","ocr_de":"1378\nGr. St\u00f6rring\nEinzelheiten als durch denselben Ursachenkomplex bedingt. In dieser Auffassung ist zugleich eine partielle Identit\u00e4t der intellektuellen Unterlagen der einzelnen Gef\u00fchlszust\u00e4nde gegeben.\n3. In manchen F\u00e4llen von Verschmelzung sehen wir die partielle Identit\u00e4t der intellektuellen Unterlagen fast allein wirken, in anderen handelt es sich allein um ein enges Zusammen und eine Zusammenfassung der intellektuellen Unterlagen.\nEin Beispiel f\u00fcr die erste Klasse von F\u00e4llen ist gegeben in dem uns schon bekannten Protokoll bei dem Reizwort Hoffnung. Verschmolzen sind dabei die Gef\u00fchlszust\u00e4nde der Vorfreude und des Vertrauens. Beide beziehen sich auf dieselbe vorgestellte Person!\nIch gebe noch einen weiteren Fall \u00e4hnlicher Art.\nReizwort Genesung. Versuchsperson Ku.\nAn die Auffassung des Reizwortes schlie\u00dft sich unmittelbar ein starker Gef\u00fchlskomplex an, wobei Versuchsperson nicht angeben kann, wie er zusammengesetzt ist, nur hat sie den Eindruck gro\u00dfer Mannigfaltigkeit. Dann trat eine kleine Pause ein. Darauf kam Versuchsperson etwas in Verlegenheit, weil die Zahl der sich darbietenden F\u00e4lle zu gro\u00df war : F\u00e4lle aus dem eigenen Leben und auch dem Leben anderer. Es kam aber doch zu einer konkreten Situation. Dabei trat ein Gef\u00fchlszustand auf, in welchem 1. ein Gef\u00fchlskomplex steckt mit naher Beziehung zu Organempfindungen, ein Gef\u00fchl der Erleichterung, wie beim Aufatmen, Empfindungen, lokalisiert in der Herzgegend und in der Atmungsmuskulatur, Nachlassen von Spannungen. 2. Treten visuelle Bilder mit Gef\u00fchlen auf, welche wechseln, je nachdem man sich selbst oder andere ins Auge fa\u00dft : ein Gef\u00fchl der Freude, ein Gef\u00fchlszustand selbst komplexester Art, ein Gef\u00fchl der Hoffnung; es steckt auch darin etwas von der neuen Einstellung zum Leben. Es ist dann noch ein Gef\u00fchlskomplex da, er stammt daraus, da\u00df dem Zustand der Genesung ein ernster vorausgegangen ist, deshalb Moment des Ernstes; geht aus der Einstellung hervor, da\u00df eine Krisis da war.\nIn dem Gef\u00fchlszustand mit Freude, Hoffnung, Ernst war kein Gegensatz, die Komponenten waren nicht einzeln isoliert, sondern ein Zusammen; diese Gef\u00fchlsmasse war im Hintergrund gegen\u00fcber dem Erleichterungsgef\u00fchl. Die zweite Klasse hat fast Affektcharakter. Im Hintergrund stand das Gef\u00fchl des Ernstes oder noch besser: das Gef\u00fchl des Ernstes gab dem ganzen zweiten Komplex seine F\u00e4rbung.","page":1378},{"file":"p1379.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1379\nDie Gef\u00fchle der Freude, Hoffnung usw. hatten eine komplexe intellektuelle Grundlage, die nicht in der unmittelbaren Auffassung des Begriffes ,,Genesung\u201d gegeben war.\n(Hat das Erleichterungsgef\u00fchl eine intellektuelle Grundlage?) Versuchsperson kann eine solche nicht nach weisen. Der Begriff \u201eErleichterung\u201d ist erst entstanden aus dem Gef\u00fchls-best\u00e4nde, der sich durch das Reizwort Genesung entwickelte. \u2014\nHier liegt ein komplexer Gesamtgef\u00fchlszustand vor, der ein Verschmelzungsprodukt darstellt aus den Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden der Freude, der Hoffnung und des Ernstes. Daneben ein Gef\u00fchls -zustand der Erleichterung mit Empfindungen in der Atemmuskulatur der Herzgegend, Empfindungen des Nachlassens von Spannungen.\nWas das Verschmelzungsprodukt von Freude, Hoffnung und Ernst betrifft, so stand ,,im Hintergr\u00fcnde das Gef\u00fchl des Ernstes\u201d, es gab dem ganzen zweiten Komplex seine F\u00e4rbung\u201d.\nVon dem Moment des Ernstes wird weiter gesagt, da\u00df es dadurch bedingt erschien, da\u00df eine Krisis da war. Der Gef\u00fchlszustand der Freude ist offenbar dadurch ausgel\u00f6st, da\u00df diese Krisis als \u00fcberwunden aufgefa\u00dft wird. Man sieht leicht, wie hier Ernst und Freude Zusammenh\u00e4ngen. Freude ist hier ein superponierter Gef\u00fchlszustand: der Gedanke der Krisis l\u00f6st Ernst aus, dar\u00fcber super-poniert sich die Auffassung der Krisis als \u00fcberwunden, wodurch Freude bedingt ist.\nDaneben ist noch der Gef\u00fchlszustand der Hoffnung vorhanden. Offenbar mu\u00df dieser Gef\u00fchlszustand wieder als super-poniert bezeichnet werden in Relation zu dem Gef\u00fchlszustand der Freude: die Freude schlie\u00dft sich ja doch an die Auffassung der Krisis als \u00fcberwunden an und die Hoffnung setzt voraus den Gedanken an die zuk\u00fcnftige Auswertung der als gl\u00fccklich \u00fcberwunden aufgefa\u00dften Krisis !\nDie Verschmelzung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde Ernst, Freude und Hoffnung zeigt sich hier dadurch bedingt, da\u00df die intellektuellen Unterlagen derselben in der innigen Beziehung zueinander stehen, wie das bei Superpositionsgef\u00fchlen der Fall ist. Dabei stellt der Gef\u00fchlszustand der Hoffnung ein Superpositionsgef\u00fchl h\u00f6herer Ordnung dar!\n4. Anders als in dem zuletzt besprochenen Fall steht es mit dem Bedingtsein der Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden in folgendem Fall, den wir in ganz anderem Zusammenhang bereits heranzogen1).\nP Diese Schrift. S. 1344.","page":1379},{"file":"p1380.txt","language":"de","ocr_de":"1380\nG. St\u00f6rring\nHier denkt Versuchsperson an Springen, Laufen und frische Luft. Jeder Gedanke verband sich mit Lust. Die einzelnen Lustgef\u00fchle verschmolzen schnell miteinander \u2014 offenbar, indem die Gedanken an diese verschiedenen Tatbest\u00e4nde sich eng nebeneinander im Geiste gruppieren. Hier wirkt das Zusammen und wohl auch das Zusammenfassen der intellektuellen Unterlage. Veranlassung zu diesem Zusammen und eventuellen Zusammenfassen gab allerdings der Gedanke an Sport, aber die Einzeltatbest\u00e4nde k\u00f6nnen gedacht werden, ohne da\u00df man auf den allgemeinen Begriff Sport zur\u00fcckgreift.\nAnders liegt es bei der Ausmalung eines konkreten Falles, wo Versuchsperson zum Sport fr\u00fch morgens, ins Freie ging. Da schlie\u00dfen sich lustartige Gef\u00fchlszust\u00e4nde an das Streben, sich ausgiebig zu bet\u00e4tigen, das Streben, ebenm\u00e4\u00dfige Bewegungen zu machen und bei denselben die Lichtung selbst zu \u25a0 bestimmen; sodann an die Feststellung der gelungenen Leistung und an die Freude andrer.\nHier tritt die partielle Identit\u00e4t der intellektuellen Unterlagen wieder stark hervor.\n5. Fragen wir bei den verschmolzenen Gef\u00fchlszust\u00e4nden nach den Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen f\u00fcr die \u00c4nderung des Verschmelzungsgrades, so ist schon nach dem Vorhergegangenen zun\u00e4chst dies zu sagen, da\u00df der Verschmelzungsgrad durch Steigerung der Innigkeit des Zusammens steigt.\nMan findet sodann zuwe\u00fcen die Angabe, welche auch zu experimentellen Tatbest\u00e4nden \u00fcber Analyse von Tonverschmelzungen pa\u00dft, da\u00df der Verschmelzungsgrad herabgesetzt wird durch Lichtung der Aufmerksamkeit auf die Komponenten, um beim Nachlassen der Aufmerksamkeit wieder zu steigen. Damit h\u00e4ngt zusammen, da\u00df bei der Analyse eines Gef\u00fchlskomplexes an Hand der Gef\u00fchle selbst oder an Hand der intellektuellen Unterlagen der Verschmelzungsgrad abnimmt.\nIn dem zuletzt besprochenen Protokoll \u00fcber Sport tritt die Angabe auf, da\u00df in der Pause zwischen den einzelnen sportlichen Bet\u00e4tigungen die Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche sich an das Streben, sich ausgiebig zu bet\u00e4tigen, sich ebenm\u00e4\u00dfig usw. zu bet\u00e4tigen, an die Feststellung der gelungenenLeistung und an die Betrachtung der Freude anderer an schlie\u00dfen, miteinander verschmelzen, w\u00e4hrend sie bei der folgenden neuen Bet\u00e4tigung wieder einzeln isoliert zum Bewu\u00dftsein kommen.","page":1380},{"file":"p1381.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1381\nLetzteres ist leicht verst\u00e4ndlich, weil bei der Bet\u00e4tigung differente intellektuelle Unterlagen wieder gesondert heraustreten. Interessanter ist hier das Auftreten ausgepr\u00e4gter Verschmelzung in den Pausen. Das ist offenbar dadurch bedingt, da\u00df sich in den Pausen ein zusammenfassender B\u00fcckblick auf die vollzogenen Funktionen vollzieht.\nG. Steigerung der Intensit\u00e4t von Gef\u00fchlszust\u00e4nden durch \u00c4nderung der intellektuellen Unterlagen eines Vulg\u00e4rhegriffs.\nGef\u00fchlszust\u00e4nde erfahren nach unseren Untersuchungen eine betr\u00e4chtliche Steigerung der Intensit\u00e4t durch gewisse \u00c4nderungen der intellektuellen Unterlagen.\nIch beginne mit Darbietung eines Protokolls.\nBeizwort Arbeit. Versuchsperson G. (V), emotionelle Wertung.\n,,Das Beizwort l\u00f6st ohne Verarbeitung sofort ein Lustgef\u00fchl und positive Wertsch\u00e4tzung aus. Ich erinnerte mich an die Anweisung, eine Wertung zu vollziehen, konstatierte dann aber, da\u00df da\u00df das schon geschehen sei.\nJetzt setzte eine Analyse ein.\nEs wurde gedacht an geistige Arbeit, Forschungsarbeit, an k\u00f6rperliche Arbeit im wirtschaftlichen Leben und an die Arbeit der Hausfrau. Dann sagte ich mir: das ist alles Arbeit. Jetzt verband sich damit der Gedanke der Bet\u00e4tigung; es trat zugleich ein lust volles Gef\u00fchl mit motorischer Tendenz auf. Dadurch r\u00fcckte der Gesichtspunkt nahe, wozu man arbeitet. Die motorische Tendenz erweckte den Gedanken des Strebens. Es schlo\u00df sich an der Gedanke des eigenen Strebens ; derselbe war mit Lustgef\u00fchlen verbunden. Diese Gef\u00fchle steigerten sich; es traten ausgepr\u00e4gte Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle auf. Wenn mir jetzt Arbeit gegeben w\u00e4re, so h\u00e4tte ich den Beschlu\u00df gefa\u00dft, mit aller Kraft heranzugehen. Ich konstatierte diese Gef\u00fchle und dachte: gleich welche Arbeit, ich h\u00e4tte jetzt Lust dazu. Es fand nun eine Vorwegnahme einer Bet\u00e4tigung statt, ich hatte die Vorstellung, da\u00df ich mich bet\u00e4tigen w\u00fcrde: dem Drang zur Bet\u00e4tigung wurde nachgegeben und jetzt erlebte ich Befriedigungsgef\u00fchle, welche sich an Verwirklichung anschlie\u00dfen. Da sagte ich: ja, Arbeit das ist ein Wert \u2014 auf Grund dieses Erlebnisses. Kun sagte ich reflektierend: inwiefern ist es als Wert zu bezeichnen und welcher Art ?. . . . (Wie waren die Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle ?) Ich erlebte ein Hindr\u00e4ngen, welches sich bezog auf eine Art der Bet\u00e4tigung. Nachher wurde dies Hindr\u00e4ngen auf gef a\u00dft als aus mir kommend und auf eine Bet\u00e4tiguug gerichtet. (Wie stand es mit den Befriedigungsgef\u00fchlen; hatten sie Beziehung\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t90","page":1381},{"file":"p1382.txt","language":"de","ocr_de":"1382\nGr. St\u00f6rring\nzu dem intellektuellen Tatbestand?) Der intellektuelle Tatbestand war der Gedanke an die tats\u00e4chliche Ausf\u00fchrung einer Bet\u00e4tigung. Diese Befriedigungsgef\u00fchle waren zusammen mit Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen und sie waren bezogen auf den Gedanken der Bet\u00e4tigung. (Wie?) Die Befriedigungsgef\u00fchle schlossen sich an den Gedanken der Bet\u00e4tigung an (assoziativ?). Jetzt entwickle ich erst den Gedanken der kausalen Beziehung der Befriedigungsgef\u00fchle zu der Wirkung der als tats\u00e4chlich gedachten Bet\u00e4tigung.\u201d\nAn diesem Protokoll interessiert uns hier die Steigerung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die sich an den Gedanken an Arbeit anschlie\u00dfen, in Abh\u00e4ngigkeit von \u00c4nderung der intellektuellen Unterlage.\nEin erster Gef\u00fchlszustand mit Lustf\u00e4rbung schlie\u00dft sich schon an das Anh\u00f6ren des Wortes Arbeit an ,,ohne Verarbeitung\u201d und zugleich entstand eine Wertsch\u00e4tzung. Dann erfolgt eine Verarbeitung: Versuchsperson denkt an verschiedene Arten von Arbeit und sagt sich \u201edas ist alles Arbeit\u201d. Dabei tritt in dem Gedanken an \u201eArbeit\u201d der Gedanke der \u201eBet\u00e4tigung\u201d besonders hervor. Er verbindet sich mit einem zweiten st\u00e4rkeren Gef\u00fchlszustand, einem lustvollen Gef\u00fchl mit motorischer Tendenz. G e-steigert hat sich hier die Intensit\u00e4t des Gef\u00fchlszustandes, weil Versuchsperson nicht stehen geblieben ist beim momentanen Auffassen des Vulg\u00e4rbegriffes Arbeit, sondern die Gedanken an verschiedene Arten der Arbeit hat Revue passieren lassen. Das sind nat\u00fcrlich etwas konkretere Tatbest\u00e4nde. Wenn dann Versuchsperson von diesen konkreten Tatbest\u00e4nden aus wieder auf den allgemeinen Vulg\u00e4rbegriff zur\u00fcckgeht (\u201eDas ist alles Arbeit\u201d), so werden sich in demselben die \u00fcbereinstimmenden Partien jetzt st\u00e4rker geltend machen als bisher und auch st\u00e4rker auf Entwicklung eines Gef\u00fchlszustandes wirken. Am st\u00e4rksten ist aber von diesem Proze\u00df offenbar der Gedanke der Bet\u00e4tigung betroffen, er tritt gesondert aus dem Ganzen heraus, an ihn besonders schlie\u00dft sich ein lustgef\u00e4rbter Gef\u00fchlszustand mit motorischer Tendenz. Mit der Verst\u00e4rkung der Intensit\u00e4t des Gef\u00fchlszustandes ist zugleich eine gewisse \u00c4nderung der Qualit\u00e4t auf getreten, indem er jetzt deutlich motorischen Charakter angenommen hat.\nVon dem lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustand mit motorischer Tendenz wird dann weiter gesagt: \u201eDadurch r\u00fcckte der Gesichtspunkt nahe, wozu man arbeitet\u201d. Hier sehen wir also die umgekehrte Kausalbeziehung auftrete n. Der Gef\u00fchlszustand modifiziert jetzt den Gedanken an \u201eArbeit\u201d, indem aus dem Komplex dieses Vulg\u00e4rbegriffes jetzt der Gedanke des \u201eWozu\u201d herausgehoben wird.","page":1382},{"file":"p1383.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1383\nAu\u00dferdem wird von einer Komponente dieses Gef\u00fchlszustandes, der motorischen Tendenz desselben, gesagt \u201edie motorische Tendenz erweckte den Gedanken des Streben s\u201d.\nIndem der Gef\u00fchlsznstand den Gedanken des \u201eWozu?\u201c der Arbeit wachruft und den Gedanken des Strebens erweckt, werden durch ihn intellektuelle Tatbest\u00e4nde herangezogen, welche seiner eigenen Verst\u00e4rkung dienen k\u00f6nnen. In dem Protokoll ist allerdings hier\u00fcber nicht berichtet.\nAber von einer weiteren Verst\u00e4rkung des Gef\u00fchlszustandes wird ausdr\u00fccklich berichtet : Es schlo\u00df sich an den Gedanken des Strebens nach dem Protokoll der Gedanke des eigenen Strebens. Jetzt treten, sagt die Versuchsperson, \u201eausgepr\u00e4gte Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle\u201d auf, von denen sie aussagt, da\u00df in ihnen ein starkes Hin-dr\u00e4ngen auf Bet\u00e4tigung irgendeiner Art gegeben ist.\nBisher hatte der Gef\u00fchlszustand eine Verst\u00e4rkung durch Konkretisierung der intellektuellen Unterlage erfahren, indem der Gedanke an die verschiedenen Arten des mit dem Beizwort Gemeinten eine Komponente des allgemeinen Vulg\u00e4rbegriffes (Gedanke der Bet\u00e4tigung) deutlich hervortreten lie\u00df und sodann durch B\u00fcckwirkung des Gef\u00fchl s z u s t a n d e s auf die intellektuelle Seite (Gedanke des wozu? und Gedanke des Strebens); nun tritt hier eine Wendung auf die pers\u00f6nlichen Interessen der Versuchsperson ein; sie ist nahe gelegt durch die B\u00fcckwirkung des Gef\u00fchlszustandes auf die intellektuelle Seite, eine entferntere Wirkung derselben (Gedanke des Strebens, Gedanken an das eigene Streben).\nDa\u00df der Gedanke an das eigene Streben im Vergleich mit dem Gedanken an Streben \u00fcberhaupt eine betr\u00e4chtliche Steigerung des Gef\u00fchlszustandes, der sich an den Gedanken an \u201eArbeit\u201d anschlie\u00dft, herbeif\u00fchren mu\u00df, ist f\u00fcr sieh verst\u00e4ndlich.\nIn manchen F\u00e4llen findet nach der Beziehung auf das eigene Ich der Gef\u00fchlszustand dadurch eine letzte Steigerung, da\u00df eine Beziehung auf das eigene Ich in seiner jetzigen Situation auftritt !\nHier wird eine weitere Steigerung des Gef\u00fchlszustandes dadurch herbeigef\u00fchrt, da\u00df auf Grund des vorliegenden Dranges nach Bet\u00e4tigung die Fiktion der Bealisierung einer Bet\u00e4tigung auftritt. Dadurch entstehen dann Befriedigungs-gef\u00fchle, welche sich an die Verwirklichung anschlie\u00dfen.\n90*","page":1383},{"file":"p1384.txt","language":"de","ocr_de":"1384\nGr. St\u00f6rring\nEs ist sodann noch festzustellen, da\u00df bei den h\u00f6heren Graden der Steigerung der Intensit\u00e4t der Gef \u00fchlszust\u00e4nde m'i t \u00c4ndern n g d e r intellektuellen Unterlage in dieser an die Stelle von Vorstellungen und Gedanken. Urteile, Eealit\u00e4tsurteile, treten! Zuletzt ist noch hervorzuheben, da\u00df in den F\u00e4llen der allm\u00e4hlichen Steigerung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch n\u00e4here Ausgestaltung der intellektuellen Unterlage aufdielntensit\u00e4tderGef \u00fchlszust\u00e4nde auch der Umstand steigernd wirkt, da\u00df in relativ kurzer Aufeinanderfolge qualitativ gleichartige oder \u00e4hnliche Gef\u00fchlszust\u00e4nde unter \u00e4hnlichen Bedingungen aufeinander gefolgt sind.\nH. Das Sicheinf\u00fchlen.\n1. Da wir Beizw\u00f6rter darbieten, bei denen das Bezeichnete im allgemeinen Gef\u00fchle st\u00e4rkerer Art ausl\u00f6sen kann und wir dabei die Anweisung geben, eine Vergegenw\u00e4rtigung konkreter Tatbest\u00e4nde zu vollziehen, so ist es verst\u00e4ndlich, da\u00df zuweilen sich als solche konkrete F\u00e4lle Erlebnisse anderer Personen darstellen, in denen das durch das Beizwort Bezeichnete st\u00e4rkere Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6st. Letztere k\u00f6nnen dann Gegenst\u00e4nde des Sicheinf\u00fchlens werden.\nAu\u00dfer dem Sicheinf\u00fchlen in Gef\u00fchlszust\u00e4nde anderer Personen kann nat\u00fcrlich auch ein Sicheinf\u00fchlen in eigene, fr\u00fchere Gef\u00fchlszust\u00e4nde und auch ein Sicheinf\u00fchlen in eigene, zuk\u00fcnftige Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Betracht kommen.\nWir geben jetzt ein paar F\u00e4lle des Sicheinf\u00fchlens.\nBeizwort Hoffnung. Versuchsperson Sehr. (VII, 2).\n,, Schon an die Bedeutungserfassung schlo\u00df sich ein Gef \u00fchl an, durch den Begriff ,Hoffnung\u2019 reproduziert. Die Bedeutungserfassung war zugleich erleichtert durch das Gef\u00fchl. Es trat das Urteil auf: ich wei\u00df, was Hoffnung ist. Dann Hemmung: ich wu\u00dfte nicht, was jetzt. Da w\u00fcrde die Anweisung reproduziert: konkreter Tatbestand gefordert. Dieser wurde nun gesucht. Frage, erlebst du Hoffnung % Ich dachte an ein paar konkrete F\u00e4lle, die ich aber sogleich ablehnte. Dann wurde Hoffnung bei anderen gesucht. Es tauchte der Begriff ,Mutter\u2019 auf. Dann wurde, nachdem eine konkrete Sache in bezug auf diesen Begriff abgelehnt war, daran gedacht, mit welchen Gef\u00fchlen eine Mutter an den Sohn denken mu\u00df, der von ihr entfernt ist und etwas leisten soll. Es fand dann eine Einf\u00fchlung in die Gef\u00fchle einer solchen Mutter statt.","page":1384},{"file":"p1385.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1385\nEs trat nun ein Gef\u00fchl der Freude auf etwas, was kommen sollte, auf, also Vorfreude. Damit verband sich ein Vertrauens-gef\u00fchl (angedeutet), deutlicher als letzteres war ein Gef\u00fchl der Furcht; die Furcht hemmte das Hoffnnngsgef\u00fchl, aber andererseits geh\u00f6rt sie wieder dazu. Dieses Widerspiel war die Hoffnung.\nVorfreude und Vertrauen sind eine Verschmelzung eingegangen, bevor die Furcht auf trat. Das ist eine Einheit. Dieses Verschmelzungsprodukt bildet mit der Furcht zusammen einen Komplex, aber keine Einheit. Ich m\u00f6chte unbestimmt lassen, ob der Komplex auch Verschmelzungsprodukt ist. Jedenfalls h\u00e4ngen Vorfreude und Vertrauens gef \u00fchl viel inniger zusammen als diese auf der einen Seite und Furcht auf der anderen.\nDie sich widerstreitenden Gef\u00fchle sind nicht auf verschiedene Zeitmomente verteilt, sondern gleichzeitig, allerdings in einem Moment das eine, in einem anderen Moment das andere st\u00e4rker betont, aber in keinem Moment geht die Gegenseite verloren, am wenigstens die Freude (Vorfreude und Vertrauen), selbst wenn die Furcht den st\u00e4rksten Betrag hat.\u201d\nVersuchsperson versetzt sich in die Gef\u00fchle einer Mutter, die \u201ean ihren Sohn denken mu\u00df, der von ihr entfernt ist und etwas leisten soll\u201d. Es ist offenbar die eigene Mutter. Versuchsperson f\u00fchlt sich in die Situation seiner Mutter ein, die Hoffnung auf die Entwicklung des von ihr entfernt lebenden Sohnes hat. Versuchsperson erlebt bei diesem Sich-einf\u00fchlen die Hoffnungsgef\u00fchle der Mutter in ihren verschiedenen Komponenten als eigene Gef\u00fchle. Leider ist von den intellektuellen Unterlagen wenig die Bede. Das h\u00e4ngt offenbar au\u00dfer von Hemmungen davon ab, da\u00df die intellektuellen Unterlagen h\u00e4ufig in Reflexionen der Versuchsperson entwickelt sind, da Versuchsperson ihr Studium etwas lange ausgedehnt hat. Dabei ist sicherlich h\u00e4ufig eine Einf\u00fchlung in die Hoffnungsgef\u00fchle der Mutter vollzogen worden, sonst w\u00fcrden auch diese Gef\u00fchle mit ihren Komponenten nicht so glatt zur Entwicklung gekommen sein.\nIch gebe jetzt einen Fall, in welchem die intellektuellen Unterlagen des Einf\u00fchlungsprozesses deutlich heraustreten.\nReizwort Wiedersehen. Versuchsperson J. (VII. 12.) Beizzeit Minuten.\n\u201eZuerst etwas Hemmung, dann ging ich systematisch vor und achtete auf den Gef\u00fchlszustand, der sich an die Auffassung von Wiedersehen anschlo\u00df. Von da aus kam ich erst auf die intellektuellen Unterlagen. Der Gef\u00fchlszustand war leicht lustgef\u00e4rbt und hatte zugleich etwas beklemmenden Charakter. Die","page":1385},{"file":"p1386.txt","language":"de","ocr_de":"1386\nG. St\u00f6rring\nGef\u00fchle waren zeitweilig nebeneinander, zeitweilig verschmolzen. Das Nebeneinander war deutlich, wenn die Aufmerksamkeit sich auf den Gef\u00fchlszustand richtete, im anderen Fall Verschmelzung oder wenigstens Tendenz zur Verschmelzung. Dann warf ich die Frage auf, woher das beklemmende Gef\u00fchl komme und fand, da\u00df es daher kam, da\u00df ich Erlebnisse gehabt hatte, die an sich Freude machten, aber nachher in Entt\u00e4uschung ausliefen. Dann ging ich dazu \u00fcber, zu sehen, woher das Lustgef\u00fchl kam. Da fiel mir ein Erlebnis von Wiedersehen ein mit einem Bekannten. Es wurde festgestellt, da\u00df lustvolle Spannung vorherging. Dann erfolgte das Wiedersehen mit starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden, da kamen aber wehm\u00fctige Hemmungen mit hinein.\nDann fiel mir pl\u00f6tzlich der Fall des Luftschiffes ,,Italia\u201d ein, ich dachte, da\u00df die Leute wahrscheinlich aufgefunden werden, und es wurde nun n\u00e4her dieses zu erwartende Wiedersehen ins Auge gefa\u00dft. Das Hineinversetzen brachte starke Erregung mit sich, die sich durch schnelles und unregelm\u00e4\u00dfiges Atmen kenntlich machte. In diesem Erregungsgef\u00fchl war Lust als hervorstechende Komponente enthalten. Diese Lust war zweifacher Art, erstens Mitfreude als Zuschauer und zweitens Lust, die entstand im Anschlu\u00df an die phantasievoll ausgemalte Szene, als ob ich selbst einer von der Besatzung w\u00e4re. Die Erregung selbst tendierte, in Unlust umzuschlagen mit Zugeschn\u00fcrtsein der Kehle, vielleicht im Kontrast zu der Situation des Aufgegebenseins. Ich fragte mich dann, woher ? Das ist ein Gef\u00fchl, welches man hat, wenn man etwas m\u00f6glich sieht, was man f\u00fcr unm\u00f6glich gehalten hat (Abh\u00e4ngigkeit vom Schicksal). Das eigentlich Menschliche im Dasein ist abh\u00e4ngig von mechanischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten !\nDie Analyse des Gef\u00fchlszustandes wurde zum Teil erst beim Beferat gemacht. Das Ganze war verschmolzen, Lust- und Unlustgef\u00fchle mit den Beklemmungen in der Kehle zusammen im Gef\u00fchls -zustand. Der Gef\u00fchlszustand war so intensiv, da\u00df ich den Versuch bald abgebrochen habe. Deutlich w\u00e4hrend des Versuches war erstens die Stellung als Zuschauer und zweitens als Mitbeteiligter.\n(Wie wurde die Analyse vollzogen?) ,,Ich hielt mich an das am meisten Auffallende, das war das Lust-Unlust-Gef\u00fchl. Dabei fragte ich nach der Ursache. Auch im weiteren Versuch wurde die Analyse durch die Gef\u00fchle selbst bestimmt.\u201d\nDas Beizwort wurde zu einer Zeit gegeben, als das Luftschiff ,,Italia\u201d verschollen war, aber sich allgemein begr\u00fcndete Hoffnung entwickelte, es wieder aufzufinden. Versuchsperson vollzieht ein S i c h e i n f \u00fc h 1 e n in das Wiedersehen der Leute der \u201eI t a 1 i a\u201d.\nDiesem Einf\u00fchlungsproze\u00df gehen \u00e4hnliche Gef\u00fchlszust\u00e4ndevoraus. Zun\u00e4chst ein Gef\u00fchls-","page":1386},{"file":"p1387.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1387\nzustand, der sich an das Anffassen des Wortes ,,'Wiedersehen\u201d anschlie\u00dft. Derselbe wird dahin analysiert, da\u00df sich eine lustgef\u00e4rbte und eine unlustgef\u00e4rbte Komponente mit beklemmendem Charakter findet. Dann tritt die Erinnerung an einen konkreten Fall des Wiedersehens eines Freundes auf, wobei sich ebenfalls wider-streitende Gef\u00fchle entwickeln, die Versuchsperson analysierend aus dem Gef\u00fchlskomplex heraushebt. Die Analyse der Wiedersehensgef\u00fchle in diesen beiden F\u00e4llen wirkt offenbar beg\u00fcnstigend auf die st\u00e4rkere Entwicklung der Komponenten des Wiederseh e n s g e f \u00fc h 1 s in dem uns in letzter Linie interessierenden Fall.\nSodann tritt der Gedanke an ein wahrscheinliches Wiedersehen bez\u00fcglich der ,,Italia\u20195 auf.\nAls intellektuelle Unterlagen f\u00fcr Entwicklung des Gef\u00fchlszustandes beim Wiedersehen sind zun\u00e4chst gegeben die Eealit\u00e4ts-urteile, da\u00df die Leute wahrscheinlich aufgefunden werden und da\u00df deshalb ein Wiedersehen zu erwarten ist. Auf Grund dieser B ealit\u00e4tsurteile findet nun ein Hinein y ersetzen in die Situation beim Wiedersehen statt, und zwar mit Entwicklung starker Erregungsgef\u00fchle. In diesen finden sich au\u00dfer der Erregung Lustgef\u00fchle. Letztere haben als intellektuelle Unterlagen einmal die Fiktion, Versuchsperson sei Zuschauer eines solchen Wiedersehens und sodann die Fiktion, Versuchsperson sei ein Mitbeteiligter. Dabei steht im Hintergr\u00fcnde des Bewu\u00dftseins der Gedanke der Abh\u00e4ngigkeit des Menschenschicksals von mechanischen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten. Der fiktive Charakter jener Annahme verschwindet bei Versuchsperson aber bald wie Schnee vor der Sonne. Es entwickeln sich Gef\u00fchlszust\u00e4nde von solcher Intensit\u00e4t, da\u00df Versuchsperson der \u00fcbergro\u00dfen Gef\u00fchlsintehsit\u00e4t wegen den Versuch abbricht!\nWie ist die Aufhebung dieser Fiktionen bedingt? E s kommt zun\u00e4chst zu einer au\u00dferordentlichen Steigerung der entsprechenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Wie diese Steigerung bedingt ist, haben wir, in der voraufgehenden Entwicklung n\u00e4her im allgemeinen untersucht. Die \u00fcberm\u00e4\u00dfig starken Gef\u00fchlszust\u00e4nde s Atz ten nun eine derivative Hemmung f\u00fcr :d i e Auffassung der vorgestellten Situation als","page":1387},{"file":"p1388.txt","language":"de","ocr_de":"1388\nG. St\u00f6rring\neiner fiktiven. So kommt es zu einer maximalen Einf\u00fchlung.\nEine Vergr\u00f6\u00dferung des Versuchsmaterials ist in diesem Punkte erw\u00fcnscht.\nAnhang zum 1. Kapitel.\nMethodologische Bestimmungen bez\u00fcglich dieser Experimente.\n1.\tDurch die vorstehend beschriebenen Experimente sind nicht Feststellungen \u00fcber Kausalbeziehungen unmittelbar gewonnen, wie das bei Anwendung der Induktionsmethoden im allgemeinen der Fall ist.\nDurch diese Experimente erzeugt man willk\u00fcrlich Erleben der Versuchsperson in einem bestimmten psychischen Gebiet. Es werden zun\u00e4chst nur Beschreibungen der experimentell erzeugten Erlebnisse gewonnen. An Hand derselben ist erst eine Analyse komplexer psychischer Tatbest\u00e4nde zu vollziehen und an Hand dieser Beschreibungen sind Kausalbeziehungen der betreffenden Vorg\u00e4nge aufzusuchen.\n2.\tMan wird fragen, weshalb man dann hier von Experimenten spreche, wenn hier kein kausales Geschehen durch Ma\u00dfnahmen ausgel\u00f6st und aufgedeckt werde. Darauf ist zu antworten : Hier besteht die Kausalbeziehung zwischen der Aufgabenstellung und der durch diese ausgel\u00f6sten psychischen Prozesse.\n3.\tBez\u00fcglich der hier vorliegenden Beschreibungen ist zu sagen, da\u00df sie f\u00fcr die psychologische Analyse und f\u00fcr die psychologische Feststellung von Kausalbeziehungen zwischen den beschriebenen Vorg\u00e4ngen weit wertvoller ist als eine einfache Selbstbeobachtung.\nDer Vorteil der hier zun\u00e4chst gewonnenen Beschreibungen psychischer Tatbest\u00e4nde liegt einmal darin, da\u00df das entsprechende Erleben sich an einem relativ einfachen Material abgespielt hat, so da\u00df das betreffende Erleben relativ leicht f\u00fcr die psychologische Analyse der zu untersuchenden psychischen Prozesse und f\u00fcr die Feststellung von Kausalbeziehungen zwischen den psychischen Vorg\u00e4ngen \u00fcbersehbar ist.\nEin weiterer Vorteil der so gewonnenen Beschreibungen liegt darin, da\u00df das Erleben selbst sich reiner darstellt, als das Erleben der psychischen Vorg\u00e4nge in der Psyche","page":1388},{"file":"p1389.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1389\neines Psychologen, der im Hintergrund seines Bewu\u00dftseins noch durch die Absicht belastet ist, die psychischen Erlebnisse kausal zu verarbeiten. Hier ist das Erleben reiner gestaltet : f r e i von subjektiven Komplikationen.\nWir k\u00f6nnen also sagen, da\u00df durch dieses Vorgehen subjektive Komplikationen und objektive Komplikationen, wie sie bei der gew\u00f6hnlichen Selbstbeobachtungsmethode auftrete n, ausgeschaltet sind.\n2. Kapitel.\nK\u00f6rperliche Begleiterscheinungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\n1. Zun\u00e4chst sind die Apparate zu bezeichnen, welche der Untersuchung der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der Gef\u00fchls -zustande dienen.\nDahin geh\u00f6rt zun\u00e4chst der Sphygmograph.\nDie alten Formen desselben bestehen aus einer Pelotte,. welche \u00fcber einer Metallkapsel spielt, die mit einem Gestell verbunden ist, das eine Fixierung des Apparates an einem K\u00f6rperteil erm\u00f6glicht. Die Metallkapsel steht durch einen Gummischlauch mit einem Mareyschen Tambour, den man wohl als bekannt voraussetzen darf, in Verbindung, durch welchen der durch Bewegung der Pelotte in diesem System ver\u00e4nderte Luftdruck eine \u00dcbertragung auf einen Schreibhebel findet, der auf einer rotierenden beru\u00dften Kymographiontrommel seine Bewegungen verzeichnet.\nLeicht erkennbare Vorz\u00fcge vor dem Mareysehen Tambour hat in gewisser Beziehung ein j\u00fcngerer Apparat, der Pistonrekorder.\nEine neuere Form des Sphygmographen verdanken wir v. Frey,\nVon Plethysmographen hat sich am meisten der von Alfred Lehmann f\u00fcr die in Bede stehenden Zwecke bew\u00e4hrt. Er besteht aus einem zylindrischen Glasgef\u00e4\u00df zur Aufnahme der Hand und eines Teiles des Unterarmes. Am nachstehenden Apparat befindet sich rechts eine \u00d6ffnung f\u00fcr Aufnahme der Hand. Diese \u00d6ffnung ist mit einer Kautsehukmansehette versehen, welche sich der eingef\u00fchrten Hand luftdicht anlegt. Auf der linken Seite des abgebildeten Apparat\u00e9s befindet sich eine \u00d6ffnung zur Zuf\u00fchrung von Wasser, welches passend temperiert ist. Auf dem Glaszylinder befindet sich ein Steigrohr, welches durch einen Gummischlauch zu einem Mareyschen Tambour oder Pistonrekorder in Beziehung gesetzt wird. Durch eine auf dem Tisch fixierbare Armst\u00fctze l\u00e4\u00dft sich eine Fixierung des Ellenbogens zustande bringen. In den mit Steigrohr verbundenen Zylinder f\u00fchrt man passend temperiertes Wasser bis etwa zu halber H\u00f6he des Steigrohres ein. .","page":1389},{"file":"p1390.txt","language":"de","ocr_de":"1390\nG-. St\u00f6rring\nAls Pneumograph eignet sich f\u00fcr psychologische Zwecke am meisten der von Alfred Lehmann.\n2. Was die Leistungsf\u00e4higkeit dieser Apparatur betrifft, so haben Kliniker und auch Physiologen sich\nFig. 253. Pistonrekorder.\nIn einem Glaszylinder bewegt sich ein sehr leichter, hohler Kolben, der durch ein Doppelgelenk mit dem Schreibhebel in Verbindung steht. Der letztere ist \u00e4quilibriert und in feinen Stahlspitzen drehbar. Mittels einer Stellschraube wird die Hebelvergr\u00f6\u00dferung ver\u00e4ndert. Die Schlauchspitze dient zur Einstellung des Nulldruckes; mit mikrometrischer Feinstellung f\u00fcr den Schreibhebel. Zylinderma\u00dfe:\nDurchmesser im Lichten : 11 mm ; Hub : 20 mm.\nLIlMMERima IOE21Q\nFig. 254. Sphygmograph.\nDie \u00dcbertragung der Pulsbewegung von der Pelotte auf den Schreibhebel geschieht durch ein Stahlst\u00e4bchen ohne Gelenkverbindung. Der Schreibhebel ist nach Art der Schalenaufh\u00e4ngung an chemischen Waagen in winzigen Pfannen beweglich und wird durch eine variierbare Spiralfeder in gleicher Spannung erhalten.\n(Nach v.Frey.)\nzum Teil dar\u00fcber ung\u00fcnstig ge\u00e4u\u00dfert. Man mu\u00df sich klar sein \u00fcber die Grenzen der Leistungsf\u00e4higkeit dieser Apparate. Wenn z. B. ein Kliniker diese Apparate verwertet, um Atemkurven,","page":1390},{"file":"p1391.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1391\nPulskurven, Volumkurven zu gewinnen, die f\u00fcr eine bestimmte Erkrankung charakteristisch sind, so ist zu beachten, da\u00df hier die etwa f\u00fcr eine Erkrankung charakteristischen Kurven nicht blo\u00df verdeckt werden durch Differenzen, welche die ver-\nFig. 255.\nschiedenen Menschen schon in der Vorm (im Gesundheitszustand) aufweisen, sondern auch durch differente Art der Applikation an den K\u00f6rper. Die Applikation an den K\u00f6rper l\u00e4\u00dft sich eben\nFig. 256. Pneumograph.\nDie metallene Hohlkapsel des Apparates ist mit zwei Gummimembranen verschlossen. Schlauch spitz en f\u00fchren in den hinter den Membranen gelegenen Hohlraum und zwischen beide Membranen. Bei Benutzung des Apparates saugt man aus der hinteren Kammer etwas Luft; es str\u00f6mt dabei durch die zweite Schlauchspitze Luft zwischen die Membranen. Verschlie\u00dft man dann diesen Zuflu\u00df, so bildet dieselbe ein Kissen, welches jeden Druck der in der Schale befindlichen Luft und den damit verbundenen Schreibhebel vermittelt. Der Apparat wird mit B\u00e4ndern befestigt oder zur Kegistrierung der Bauchatmung unter die Kleidung\n^geschoben.\nnicht zahlenm\u00e4\u00dfig eindeutig bestimmen, man hat deshalb nichts in der Hand, um die Applikation in zwei verschiedenen F\u00e4llen v\u00f6llig \u00fcbereinstimmend zu gestalten. So kann man also keine reinen Resultate bekommen, wenn diese zwei Faktoren nicht ausgeschaltet sind.","page":1391},{"file":"p1392.txt","language":"de","ocr_de":"1392\nG. St\u00f6rring\nSie lassen sich aber bei gewissen Untersuchungen ausschalten, indem man mit den Apparaten Feststellungen macht bei ein und derselben Applikation der Apparate nnd ein nnd derselben Versuchsperson zu eng begrenzter Zeit. Mit anderen Worten, die Apparate sind wissenschaftlich wertvoller, wenn man sie zn passenden Vergleichen verwendet.\nMan nimmt die Atemknrven anf im sogenannten Uormal-znstand der Versnchsperson, l\u00e4\u00dft dann einen Gef\u00fchlsreiz einwirken nnd sieht zn, wie sich die Atemknrven \u00e4ndern. Hier ist nat\u00fcrlich die Mitwirkung der Differenz der Atmung verschiedener Personen in der Horm und die Differenz bei Applikation des Apparates ansgeschaltet.\nWenn man etwa feststellen will, welche Atemknrven f\u00fcr verschiedene Stimmungen charakteristisch sind, und man n\u00e4hme Atemknrven bei Versuchspersonen je in einer bestimmten Stimmnngslage anf, so w\u00fcrden die f\u00fcr die verschiedenen Stimmungen charakteristischen Atemknrven verdeckt werden, indem sie eine Komplizierung erfahren durch die genannten beiden Faktoren. Ich bin deshalb, um die gehobene Stimmung pneumo-graphisch zu charakterisieren, so verfahren, da\u00df ich zun\u00e4chst ,, normale\u201d Atemkurven bei einer Versuchsperson auf genommen und dann in ihr durch bestimmte Ma\u00dfnahmen eine gehobene Stimmung erzeugt habe: ich applizierte ihr eine sehr angenehme Geschmacksl\u00f6sung, nachdem ich ihr die Anweisung gegeben hatte, auf ein bestimmtes Signal hin die L\u00f6sung zu schlucken und dann die Geschmacksempfindung ,,als eine erledigte Tatsache\u201d zu betrachten. Unter diesen Bedingungen, die zugleich eine leichte Suggestion in sich schlie\u00dfen, konnte ich prompt Luststimmung erzeugen. So lie\u00dfen sich dann die Atemkurven im Indifferenz-zustand mit denen bei bestimmter Stimmungslage vergleichen. Die Mitwirkung der bezeichneten st\u00f6renden Faktoren war ausgeschaltet.\nEine besondere Diskussion mu\u00df man noch bez\u00fcglich der Leistungsf\u00e4higkeit des Plethysmographen er\u00f6ffnen. Gegen ihn ist man besonders Sturm gelaufen.\nMartins1) sagt in seiner Kritik des Plethysmographen: ,,Die Frage liegt nahe genug, ob bei den plethysmographischen Versuchen nicht unwillk\u00fcrliche Bewegungen beteiligt sind, welche entweder die Volum\u00e4nderungen und ihre graphischen Folgen beeinflussen und das Ergebnis dadurch f\u00e4lschen oder welche gar die einzige Ursache der scheinbaren Volum\u00e4nderungen w\u00e4ren, sei es in einzelnen F\u00e4llen, sei es in allen\u201d. Zugleich nahm er an, da\u00df\nP Martins: \u00dcber die Lehren von der Beeinflussung des Pulses und der Atmung durch psychische Reize. S. 431.","page":1392},{"file":"p1393.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t14>93\ndie Atemwellen der Volumkurve von unwillk\u00fcrlichen Atembewegungen bei der Atmung abh\u00e4ngig seien.\nMartins entwickelt dann, da\u00df die Lustzust\u00e4nde und Unlust-zust\u00e4 nde sich mit entgegengesetzten Bewegungsvorg\u00e4ngen verbinden, und zwar bringe ein Unlustzustand eine \u00dfiickzugsbewe-g u n g mit sich (dadurch sei sehr wahrscheinlich im Plethysmogramm ein Sinken der Kurve bedingt), ein Lustzustand dagegen f\u00fchre zu einer Angriffsbewegung, dadurch sei dann wahrscheinlicherweise ein Steigen der Kurve im Plethysmogramm bedingt. Er macht dann selbst Experimente, in denen er die Bewegungen im Plethysmographen ausschaltet.\nDiese Ausschaltung der Bewegungsm\u00f6glichkeit wird dann allerdings durch energische Ma\u00dfnahmen vollzogen, zu denen die Anlegung einer Gipsbinde um den Arm geh\u00f6rt ! Martins findet dann, da\u00df die plethysmographischen Erscheinungen um so unerheblicher werden, je mehr man die Bewegungsm\u00f6glichkeit ausschaltet.\nKritisch hat Alfred Lehmann dazu mit Becht ge\u00e4u\u00dfert: ,,Die Volumschwankungen sind auf ein Minimum reduziert, nicht weil Atembewegungen ausgeschlossen * sind, sondern weil die Vorrichtungen die Beweglichkeit der Gef\u00e4\u00dfebeschr\u00e4nkt1)!\u201d\nK\u00fcppers2) ver\u00f6ffentlichte zuerst Versuche, in welchen die Behauptungen von Martins \u00fcber den Einflu\u00df von unwillk\u00fcrlichen Bewegungen bei den plethysmographischen Versuchen eine Pr\u00fcfung fanden. K\u00fcppers schuf eine einfache Vorrichtung, welche Bewegungen des in der Plethysmographenr\u00f6hre liegenden Armes zu registrieren gestattete, die nach vorn oder hinten in der Bichtung der Unterarml\u00e4nge gerichtet waren. Belativ feine willk\u00fcrliche Vor- und B\u00fcckw\u00e4rtsbewegungen des Armes ergaben dabei deutliche Ausschl\u00e4ge der Bewegungskurven. Dieselbe blieb aber bei den st\u00e4rksten Kiveauver\u00e4nderungen der plethysmographischen Kurve v\u00f6llig in Buhe ! Daraus schlo\u00df K\u00fcppers, da\u00df die Behauptungen von Martins \u00fcber den Einflu\u00df unwillk\u00fcrlicher Bewegungen auf die plethysmographische Kurve unberechtigt seien.\nBei diesen Versuchen glaubt K\u00fcppers, zugleich feststellen zu k\u00f6nnen, da\u00df synchron mit den Atembewegungen leichte Vor- und B\u00fcckw\u00e4rtsbewegungen des Armes ausgef\u00fchrt w\u00fcrden.\nMehrere Jahre vor der K\u00fcppersschen Ver\u00f6ffentlichung hatte Werner Amsler in meinem damaligen Psychologischen Institut in\nx) A. Lehmann: Hauptgesetze des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Aufl. S. 410.\n2) K\u00fcvners: \u00dcber die Deutung der plethysmographischen Kurve. Zeitschr. f. Psychol. 81. (1919).\t. _ .\t.\tt\t.","page":1393},{"file":"p1394.txt","language":"de","ocr_de":"1394\nG. St\u00f6rring\nStra\u00dfburg ebenfalls Versuche angestellt, welche die in Rede stehenden Behauptungen von Martins pr\u00fcften und zu einem verneinenden Resultat f\u00fchrten. Diese Versuche waren ans \u00e4u\u00dferen Gr\u00fcnden aber nicht zur Ver\u00f6ffentlichung gekommen.\nDa in den Versuchen von Werner Amsler eine viel empfindlichere graphische Registrierung vorgenommen war als bei den K\u00fcpperssehen Versuchen \u2014 leichte Armbewegungen f\u00fchrten zur Bewegung eines Spiegelchens, dessen Bewegungen in der bekannten Poggendorf sehen Weise abgelesen wurden \u2014 so lie\u00df ich sp\u00e4ter noch einmal eine Pr\u00fcfung der Martins sehen Behauptungen durch Angnst Ernst vornehmen.\nDerselbe beschreibt seine Yersuchsanordnnng in folgender Weise: \u201eEs wurde auf dem aus der Plethysmographenr\u00f6hre herausragenden Teil des Unterarmes der Versuchsperson ein starker und unnachgiebiger Faden mittels Leukoplast (auf Kretonne) haltbar gemacht, dieser Faden in einmaliger Windung um ein auf einem Nebentisch \u2014 die ganze Kontrollversuchseinrichtung war seitw\u00e4rts hinter der Versuchsperson aufgebaut \u2014 in H\u00f6he der Ausgangsstelle des Fadens angebrachtes und um eine vertikale Achse drehbare Holle geleitet und unterw\u00e4rts dieser durch ein geeignetes Gewicht beschwert. Das R\u00e4dchen trug auf einem senkrecht zu ihm stehenden Stift ein kleines, im Durchmesser 1 cm gro\u00dfes Spiegelchen so fisiert, da\u00df das R\u00e4dchen sich bewegte durch (positiven oder negativen) Zug des Fadens infolge einer Bewegung des Armes, das Spiegelchen die Wendung in gleicher St\u00e4rke mitmachte. In einer Entfernung von zirka 1 m war dem Spiegelchen eine grell beleuchtete Skala, wie man sie f\u00fcr eben diese Zwecke kennt \u2014 die mit fortlaufenden Ziffern versehenen Hauptteilstriche der Skala wiesen eine Distanz auf von zirka 1 cm, die Zwischenteilstriche eine solche von 1mm bei einer Gesamtskalenl\u00e4nge von 1*5m\u2014\u2022 so gegen\u00fcbergestellt, da\u00df man mittels eines \u00fcber der Skala angebrachten und auf das Spiegelchen eingestellten Fernrohres eine bestimmte Ziffer der Skala im Spiegelchen erblickte.\u201d\nAngnst Ernst nahm dabei plethysmographische Kurven anf mit Lust- und Unlustgef\u00fchlen, mit Schreckreizen, mit Aufmerksamkeitsspannung, mit psychischer T\u00e4tigkeit (Rechnen), mit Ausf\u00fchrung bestimmter aktiver Bewegungsvorg\u00e4nge nach Weber (Anpressen der Zunge an die fest geschlossenen Z\u00e4hne u. dgl.) und mit willk\u00fcrlich forcierter Atmung.\nEr fand, da\u00df die Behauptungen von K\u00fcppers \u00fcber die Beziehung von Armbewegungen bei der Atmung zu den Atmungswellen der plethysmographischen Kurve nicht zu Recht bestehen. Auch bei forcierter Atmung sind die so entstehenden Armbewegungen so gering, da\u00df sie f\u00fcr Entstehung der Atmungswellen nicht in Betracht kommen k\u00f6nnen1).\nA. Ernst konnte bei seiner feineren Registriermethode zwar im Gegensatz zu K\u00fcppers Armbewegungen auch bei Erzeugungvon Gef\u00fchlszust\u00e4nden feststellen, die nicht Schreckzust\u00e4nde sind, aber diese Armbewegungen waren so fein, da\u00df sie nicht als die Ausschl\u00e4ge der\n1) August Ernst: Die Frage der plethysmographisch en Erscheinungen. Arch. f. d. ges. Psychol. 50. H. 1/2 (192b).","page":1394},{"file":"p1395.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1395\nplethysmographisch en Kurven bedingend auf gef a\u00dft werden k\u00f6nnen1).\nWerner Amsler hatte \u00fcbrigens noch eine n\u00e4here Bestimmung \u00fcber die Richtung dieser Bewegungen gemacht ! Sie lagen in entgegengesetzter Richtung als Martins annahm !\n3. \u00dcber \u00c4nderung des Pulses und des plethysmographisch aufgenommenen Armvolums und des Hirnvolums bei Lust- und Unlustgef\u00fchlen liegen folgende Feststellungen vor.\nDie Yolumkurve des Armes weist bei Unlust deutliche Senkung des Yolums auf; dazu zugleich Abnahme der Pulsh\u00f6he.\nFig. 257. Atem- und Volumpulskurve hei Unlustreizung (stark bitterer Chiningeschmack): 5 Beginn der Reizes.\nNach Wundt.\nMeist ist die Unlust durch sensorielle Reize erzeugt worden. Bichel findet auch bei intellektueller Unlust Y olumsenkung2 3).\nIn dem Gef\u00fchlskurvenatlas von Alfred Lehmann tritt dieses Resultat bei seinen ausgedehnten Versuchen in eindeutiger Weise auf. Auch in den Untersuchungen von Weberz) ist diese Yolum-\u00e4nderung sehr in die Augen springend.\nNun behauptet aber neuerdings K\u00fcppers, da\u00df ein schmerzhafter Nadelstich dieselbe \u00c4nderung des Yolums herbeif\u00fchre wie ein sanftes Streicheln. Daran schlie\u00dft sich dann die Behauptung an, da\u00df Lust- und Unlustreize keine spezifischen Differenzen in der plethysmographischen Kurve aufzuweisen h\u00e4tten.\nDagegen ist folgendes zu erwidern. Aufmerksamkeitsspannung zieht \u00e4hnlich wie Unlust eine Senkung des Arm-\n1)\tAugust Ernst: 1. c. S. 168 und 169.\n2)\tBichel: Die wechselseitigen Beziehungen zwischen psychischem Geschehen und Blutkreislauf. Leipzig 1916.\n3)\tWeber: Einflu\u00df psychischer Vorg\u00e4nge auf den K\u00f6rper. Berlin 1910.","page":1395},{"file":"p1396.txt","language":"de","ocr_de":"1396\nGr. St\u00f6rring\nvolums nach sich. Bei sanftem Streicheln ist aber eine Anspannung der Aufmerksamkeit gegeben ! tJnd was ausgepr\u00e4gte Lustreize betrifft, so komplizieren dieselben sich im allgemeinen auch mit Aufmerksamkeitsspannung auf den Beiz. Bichel fand bei zuf\u00e4llig auftretendem Lustzustand, wo also Spannung der Aufmerksamkeit auf einen Beiz ausfiel, betr\u00e4chtlichen Anstieg der Armvolumkurven1). Im \u00fcbrigen fand er bei intellektueller Lust ebensoviel Yolumvermehrung wie Volumver\u00e4nderung, bei sensorieller Lust fast stets Yolumabnahme. (W\u00e4hrend man allerdings bei A. Lehmann bei sensorieller Lust meist Yolumzunahmen, allerdings relativ schwach, in seinen Kurven auftreten sieht.) Es ist offenbar, da\u00df ein Lustzustand und eine Aufmerksamkeitsspannung auf die peripheren Gef\u00fchle interferierend wirkt. So kann jemand, wenn er die Wirkung der Spannung nicht in Betracht zieht, zu der falschen Auffassung kommen, als ob nicht blo\u00df nicht nur die Unlust, sondern auch die Lust sich in einer Senkung des Armvolums dokumentierte.\nWas nun weiter das Verhalten des Hirnvolums bei Unlust betrifft, so weisen die Angaben der Experimentatoren da nicht unbetr\u00e4chtliche Differenzen auf.\nDie betreffenden Feststellungen sind nat\u00fcrlich gewonnen bei Sch\u00e4deldefekten.\t%\nBerger findet bei heftigem Schreck das Hirnvolum vermehrt, nach wenigen Sekunden aber Abnahme des Hirnvolums. Er unterstreicht aber die anf\u00e4ngliche Zunahme, obgleich hier offenbar eine Komplizierung der Unlust mit Erregung stattfindet.\nBei sensoriellen Unlustreizen findet er ebenfalls Vermehrung des Hirnvolums bei gleichzeitiger Abnahme der Puis-h\u00f6he( !) 2).\nWeber findet in allen seinen Kurven bei Unlustreizen nach einer anf\u00e4nglichen starken Yolumerhebung betr\u00e4chtliche Senkung. Weber zeigt dann, da\u00df die anf\u00e4ngliche Yolumerhebung von dem beim Eingeben der Fl\u00fcssigkeit in den Mund und w\u00e4hrend des Hinunterschluckens stattfindenden Bewegung der Temporalmuskeln abh\u00e4ngig ist. Kach Auf h\u00f6r en dieser Bewegungen findet sich ausgepr\u00e4gte Yolumabnahme in jedem Fall !\nx) Bickel: 1. o. S. 128.\n2) Dazu vgl. Weber: 1. c. S. 339.","page":1396},{"file":"p1397.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1397\nNun tritt aber neuerdings Bichel, der ein zuverl\u00e4ssiger Experimentator ist, wieder mit der Behauptung auf, da\u00df bei Unlustreizen sich das Hirnvolumen vergr\u00f6\u00dfere. Er gibt ein paar Kurven, in denen auf Nadelstich hin eine betr\u00e4chtliche Vergr\u00f6\u00dferung des Hirnvolums auf tritt. Das eine Mal sinkt allerdings das Volumen vor dem Ende des Stechens schon wieder ab. Aber in einem anderen Fall bleibt das Hirnvolumen noch l\u00e4ngere Zeit nach dem Stechen vergr\u00f6\u00dfert.\nNun mu\u00df ich allerdings zun\u00e4chst allgemein methodologisch sagen, da\u00df man in einem so komplexen Forschungsgebiet nicht wie bei physikalischen Untersuchungen auf ein paar Versuche hin eine Behauptung \u00fcber Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen aufstellen kann.\nSodann aber ist zu beachten, da\u00df die Unlust, welche von Nadelstichen gesetzt wird, keine reine Unlust ist, sondern mit Erregungkompliziert. \u2014\nWas die \u00c4nderung des Pulses bei Unlust angeht, so stimmen wohl alle Autoren darin \u00fcberein, da\u00df die H\u00f6he desselben abnimmt. Die \u00c4nderung der Pulsfrequenz tritt offenbar nicht so regelm\u00e4\u00dfig auf; hier werden wir also Differenzen in der Art der Unlust als wirksam anzunehmen haben; vielleicht h\u00e4ngt das mit der Differenz zwischen sthenischer und asthenischer Unlust zusammen. Gent behauptet, da\u00df bei asthenischer Unlust Verlangsamung, bei sthenischer Unlust Beschleunigung des Pulses1) auf tritt.\nWeber betont, da\u00df mit Verminderung des Hirnvolums und Verminderung der Pulsh\u00f6he eine Herabsetzung der Versorgung des Gehirnes mit Blut gesetzt sei, das w\u00fcrde dann als zweckm\u00e4\u00dfig f\u00fcr die Hirnzentren anzusehen sein, indem dann bei den starken Unlustreizen bei gleichzeitiger Herabsetzung der Anspruchsf\u00e4higkeit der Zentren dieselben vor Sch\u00e4digung gesch\u00fctzt w\u00fcrden.\nBei Lust sind die Resultate der Untersuchungen \u00fcber Volum und Puls\u00e4nderungen viel mehr \u00fcbereinstimmend als bei Unlust.\n\u00dcbereinstimmend finden zun\u00e4chst die Experimentatoren bei Lust Pulserh\u00f6hung. Der sp\u00e4rlich auftretende Widerspruch gegen die Behauptung, da\u00df bei Lust die Volumkurve des Armes sich hebt, erledigt sich, wie wir sahen, leicht durch Beobachtung des interferierend wirkenden Einflusses der Aufmerksamkeitsspannung.\nWie steht es nun mit der \u00c4nderung des H i r n v o lu m s bei Lust %\t-------...-\nMosso, der erste Experimentator in diesem Gebiet, findet Volumzunahme.\nP Gent: Wundts Philos. Studien. Bd. 18. S. 715 ff.\t-\t\u2022\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t91","page":1397},{"file":"p1398.txt","language":"de","ocr_de":"1398\nG-, St\u00f6rring\nBerger findet bei sensorischer Lust Schwankungen des Yolnms (bei gleichzeitiger Steigerung der Pulsh\u00f6he) und bei intellektueller Lust eine schwache Volumabnahme.\nGegen das letztere Eesultat macht aber Bickel mit Beeht geltend, da\u00df der Patient Bergers zur Zeit der Aufnahme dieser Kurven sich in einem Zustand leichter Depression befunden habe.\nBickel findet bei intellektueller Lust (er stellt dem Patienten Yollrente in Aussicht) starke Zunahme (hier liegt allerdings wohl Komplikation mit Erregung vor), bei sensorieller Lust ebenfalls Zunahme des Hirnvolums, jedoch schw\u00e4cher.\n4. Wir haben nun weiter die pneumographische Untersuchung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ins Auge zu fassen.\nMan hat sich fr\u00fcher bem\u00fcht, in den Atemkurven charakteristische Merkmale von Lust- und Unlustzust\u00e4nden zu finden, indem man die \u00c4nderung der L\u00e4nge und der H\u00f6he der Atemkurven untersuchte. Man ist dabei zu wenig befriedigenden Kesultaten gekommen.\nG\u00fcnstiger stellt sich die Sache, wenn man au\u00dferdem den Quotienten\nInspirationsdauer\nExspirationsdauer\nbestimmt1). Die Messung dieses Quotienten hat sieh inzwischen eingeb\u00fcrgert, nachdem festgestellt ist, da\u00df eine Yerkleinerung dieses Quotienten die Unlustkurven gegen\u00fcber den Lustkurven charakterisiert.\nEs hat sich weiter als sehr zweckm\u00e4\u00dfig zur pneumographischen Charakterisierung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde erwiesen, noch folgende Werte festzustellen: zun\u00e4chst den Quotienten obere Breite durch untere Breite (Bx: B2)2). (Dabei ist die obere Breite in einem Abstand von einem Achtel der Kurvenh\u00f6he vom h\u00f6chsten Punkt der Atemkurve aus gemessen, die untere Breite im Abstand von drei viertel H\u00f6he vom h\u00f6chsten Punkt der Kurve.)\nSodann hat es sich als zweckm\u00e4\u00dfig erwiesen, die obere (relative) Breite Bx auch f\u00fcr sich festzustellen und weiter noch einen Wert aufzunehmen, der als obere absolute Breite (Bx abs.) bezeichnet worden ist. Zu seiner Bestimmung\n1)\tG. St\u00f6rring-. Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Lehre vom Gef\u00fchl. Arch. f. d. ges. Psychol. 6. (1906).\n2)\tE. St\u00f6rring-. Pneumographische Untersuchung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden. Arch. f. d. ges. Psychol. 55, S. 308 ff.","page":1398},{"file":"p1399.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1399\nist der Mittelwert ans den einzelnen Atemz\u00fcgen der Rormalkurven festgestellt nnd in einem Abstand von einem Achtel dieses Wertes vom H\u00f6hepunkt der Kurven die Breite gemessen. Die \u00c4nderung dieses Wertes gibt einen Anhaltspunkt f\u00fcr das Spitzer- oder Stumpferwerden der Atemkurven unter Reizwirkung.\nUm zu klaren Resultaten zu kommen, ist es weiter n\u00f6tig, die Unterscheidungen von Empfindungslust und Stimmungslust und von Empfindungsunlust und Stimmungsunlust einzuf\u00fchren.\nSodann m\u00fcssen die KurvenbeiAffektzust\u00e4nden von solchen bei anderen Gef\u00fchlszust\u00e4nden geschieden werden.\nErnst St\u00f6rring, dessen pneumographische Untersuchungen \u00fcber Gef\u00fchlszust\u00e4nde in letzter Linie durch die Behauptung Stumpfs veranla\u00dft sind, die Atemkurven des Zornes unterschieden sich nicht von den Atemkurven bei Affektlust und damit sei ein Argument gegen die James-Lange sehe Gef\u00fchlstheorie und mit ihr zusammenh\u00e4ngende Gef\u00fchlstheorien gegeben, untersuchte au\u00dfer Zorn- und Freudeaffektkurven auch den Unterschied zwischen Empfindungslust und Stimmungslust und zwischen Empfindungsunlust und Stimmungsunlust.\nDieser Autor findet bei schwacher und mittelstarker Empfindungsunlust in der Brustatmung:\n\u2014 verkleinert in ... B\t. . . 100-0%,\n7L\t\nB2\t\u201d\t\u201d\t'\t. . . 100-0%,\nBx abs. ,,\t,,\t...\t\u2022 \u2022 \u25a0\t93-7%,\n.Bi rel. \u201e\t\u201e\t. . .\t\u2022 \u2022 \u2022 81-2%,\nL\u00e4nge vergr\u00f6\u00dfert in . .\t\u2022 \u2022 \u2022\t76-0 %_,\nKiveau erniedrigt in . .\t\u2022 - -\t87-5%,\nH\u00f6he vergr\u00f6\u00dfert in . . .\t\u2022 \u2022 \u2022 81-2%,\nsodann in der Bauchatmung:\nverkleinert in................ 100-0%,\n100-0%,\n100-0%,\n72-7%,\n55-5%, 63-6%,\nH\u00f6he vergr\u00f6\u00dfert in ..... .\t72-7%.\n-Bx\nBx abs. ,, Bx rel. ,, L\u00e4nge ,, Mveau ,,\n91*","page":1399},{"file":"p1400.txt","language":"de","ocr_de":"1400\nG-. St\u00f6rring\nBei starker Empfindungsunlust heben sich durch besondere Konstanz heraus die Werte von J : JE, Bx : B2 und B1 abs.\nJ : E ist verkleinert in 100%; Bx abs. in der Brustatmung verkleinert in 100 %, in der Bauchatmung in 88-8 %, Bx : B2 verkleinert in der Brustatmung in 90-9 %, in der Bauchatmung in\n77-7%.\nAls charakteristischer Enterschied zwischen Empfindungsunlust und Affektunlust ergibt sich eine Vergr\u00f6\u00dferung von Bx : B2 bei Affektunlust, w\u00e4hrend dieser Wert bei Empfindungsunlust sich verkleinert zeigte. J : JE zeigte sich in beiden F\u00e4llen verkleinert.\nBei Stimmungsunlust findet sich wie bei Affektunlust gegen\u00fcber Empfindungsunlust eine Vergr\u00f6\u00dferung von Bx : jB2; sie scheint sich von Affektunlust zu unterscheiden durch Vergr\u00f6\u00dferung von B abs. gegen\u00fcber einer Verkleinerung bei Affektunlust.\nBei starker Empfindungslust findet sich J : JE sowie Bx : B2 vergr\u00f6\u00dfert in 100%. Bei schwacher und mittelstarker Empfindungslust weisen die Werte geringere Konstanz auf; so ist J : E in der Brustatmung vergr\u00f6\u00dfert um 70-6 %, in der Bauchatmung sogar um 57 %; Bx: B2 ist in der Brustatmung vergr\u00f6\u00dfert um 94 %, in der Bauchatmung um 78*6 %.\nBei Stimmungslust ergibt sich als charakteristisch eine Vergr\u00f6\u00dferung von Bx abs.\nL\u00e4\u00dft man innerhalb eines Versuches auf Empfindungslust Stimmungslust folgen, so sind die Werte J : JE, Bx : B2 und besonders Bx abs. in einer hohen Prozentzahl der F\u00e4lle vergr\u00f6\u00dfert. Au\u00dferdem findet sich bei Stimmungslust gegen\u00fcber Empfindungslust Vergr\u00f6\u00dferung der Kurvenl\u00e4nge.\nDie Affektlust zeigt in Versuchen, bei denen sie auf Empfindungslust in demselben Versuch folgt, Vergr\u00f6\u00dferung von Bx abs., dagegen in Versuchen, bei denen Stimmungslust und Affektlust in denselben Versuch einbezogen sind, Verkleinerung von Bx abs., so da\u00df gilt:\nBx abs. : Normalzustand <j Empfindungslust < Affektlust <\n< Stimmungslust1).\nBevor ich die Zornkurve charakterisiere, mu\u00df ich angeben, wie Zorn erzeugt wurde. Es war der Versuchsperson der Auftrag gegeben, in der n\u00e4chsten\nb JE. St\u00f6rring: 1. c. S. 336.","page":1400},{"file":"p1401.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1401\nVersuchsst\u00e4nde ein Stichwort anzugeben, auf dessen Darbietung von seiten des Versuchsleiters Zorn bei Versuchsperson ausgel\u00f6st wurde. Diese Anweisung wirkte sehr prompt.\nWas nun die Zornatmungskurven betrifft, so weisen dieselben gegen\u00fcber der Norm auf:\nVerkleinerung von J : JE, Verkleinerung von B1 abs., Vergr\u00f6\u00dferung von B1 : B2 und Vergr\u00f6\u00dferung der H\u00f6he. Sodann zeigt sich hier in der Brust- und Bauchatmung ein interessanter Antagonismus: Der Antagonismus betrifft die L\u00e4nge der Atmungskurven, das Niveau und den Wert Bx rel.\nBei starkem Zorn weist der Antagonismus folgende Auspr\u00e4gung auf : Die L\u00e4nge ist bei der Brustatmung vergr\u00f6\u00dfert in 71-4 %, in der Bauchatmung verkleinert in 80 % ; der Wert Bx rel. ist in der Brustatmung vergr\u00f6\u00dfert in 100 %, in der Bauchatmung verkleinert in 60 %.\nSetzen wir jetzt die Beziehung der Zornatmungskurven zur Atmungskurve bei Empfindungslust, Stimmungslust und Affektlust.\nL\u00e4\u00dft man in ein und demselben Versuch auf Empfindungslust Zorn folgen (eine umgekehrte Reihenfolge w\u00e4re nat\u00fcrlich unzweckm\u00e4\u00dfig), so ergibt die Zornkurve f\u00fcr J : JE Verkleinerung in 100 % und f\u00fcr Bx abs. Verkleinerung in 87-5%.\nL\u00e4\u00dft man in demselben Versuch auf Stimmungslust Zorn folgen, so findet man eine noch ausgepr\u00e4gtere Abgrenzung des Zornes gegen\u00fcber dem Lustzustande: Hier werden in 100 % verkleinert J : JE, Bx abs. und die L\u00e4nge.\nDie meiste \u00c4hnlichkeit mit der Zornkurve hat die Atmungskurve der Affektlust. Beide Atmungskurven zeigen ein bedeutendes Steigen der Kurvenh\u00f6he gegen\u00fcber dem Normalstand; beide weisen Zeichen der Aktivit\u00e4t auf. Vergleicht man aber Zornkurven mit Affektlustkurven desselben Versuches, so findet man deutliche Unterschiede in den Werten J : JE, L\u00e4nge und der absoluten Breite, die bei Zorn s\u00e4mtlich verkleinert werden1).\nSodann besteht noch eine sehr interessante Differenz der Zornatmungskurven von den Lustkurven in folgendem. W o\n1) JE. St\u00f6rring : 1. c. S. 346 ff.","page":1401},{"file":"p1402.txt","language":"de","ocr_de":"1402\nGr. St\u00f6rring\nsich bei Lu stk ur v en auf dem letzten Teil des Exspirationsschenkels durch den Herzschlag bedingte Zacken zeigen, wie man das nicht nur bei Empfindpngslust und Stimmungslust, sondern auch bei Affektlust sehen kann, da fallen sie in den Zorn zur Darstellung bringenden Versuchen in der Zorn-\nFig. 258. St\u00e4rkere Aufm.-Spannung, beim Lernen.\nkurve entweder v\u00f6llig aus oder doch nahezu fort1).\nDas beruht offenbar darauf, da\u00df in der Zornatmung antagonistische Spannungen entwickelt werden !\nFig. 259. Starke Aufm.-Spannung, beim unmittelbaren Behalten.\nDer von Stumpf bez\u00fcglich der \u00dcbereinstimmung der Zorn- und Lustatmungskurven gegen\u00fcber der J ames-Lange sehen Gef\u00fchlstheorie und gegen \u00e4hnliche Gef\u00fchlstheorien gemachte Einwand hat sich also als hinf\u00e4llig erwiesen. \u2014\nIn meinem fr\u00fcheren psychologischen Institut in Z\u00fcrich habe ich Herrn Suter die Atmungskurven bei Aufmerksamkeitsspannung untersuchen lassen.\nEs hat sich dabei ergeben, da\u00df diese Spannungskurven den Unlustkurven darin verwandt sind, da\u00df bei ihnen der Quotient J : JE\nx) E. St\u00f6rring: 1. c. S. 348.","page":1402},{"file":"p1403.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1403\nverkleinert ist. Sie differieren, wenn man sek wache, mittelstarke, starke nnd sehr starke Aufmerksamkeitsspannung unterscheidet. darin, da\u00df schwache, mittelstarke und starke Aufm\u00e9rk-samkeitsspannung eine Vergradung desExspi ration s-schenkels aufweist1).\nIn den nebenstehenden Atmungskurven f\u00fcr Brust-undBauch-atmung sind die ersten zwei bzw. drei Kurvenz\u00fcge links Normalkurven.\n3. Kapitel.\nDie Beziehungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu den Willensvorg\u00e4ngen auf\nGrund experimenteller Feststellungen.\n1.\tDie Auffassung der Beziehung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu den Willensvorg\u00e4ngen von seiten der Psychologen ist zuzeiten sehr stark bestimmt worden durch die Beaktionsversuche. W\u00e4hrend die \u00e4ltere Psychologie, welche sich auf Selbstbeobachtung st\u00fctzte, im allgemeinen den Gef\u00fchlszust\u00e4nden gro\u00dfe Bedeutung f\u00fcr die Willensvorg\u00e4nge zuschrieb, glaubten die experimentellen Psychologen zumeist sich durch die Beaktionsversuche gezwungen, den Einflu\u00df der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf die Willens Vorg\u00e4nge zu leugnen. Man sagte sich: in den Beaktionsversuehen k\u00f6nnen wir keine Gef\u00fchlszust\u00e4nde als mitwirkend nachweisen, in den Beaktions-versuchen haben wir es mit Willensvorg\u00e4ngen zu tun; also mu\u00df die landl\u00e4ufige psychologische Auffassung in diesem Punkte korrigiert werden.\nAllerdings nicht alle experimentellen Psychologen vollzogen diese Deutung der Beaktionsversuche. So hat Wundt trotz intensiver Besch\u00e4ftigung mit Beaktionsversuehen eine ausgesprochene emotionelle Willenstheorie entwickelt. Es lag ja au h bez\u00fcglich der Beaktionsversuche die Auffassung nicht so sehr fern, da\u00df es sich bei denselben um mechanisierte Willens Vorg\u00e4nge handelt.\n2.\tSodann ist von Ach2) betont worden, da\u00df bei den Beaktions-versuchen der Willensakt vor dem Beaktionsvorgang liegt, in dem Moment, wo die Versuchsperson die Anweisung des Experimentators akzeptiert, so und so zu verfahren.\nGleichzeitig mit dieser negativen Feststellung Achs \u00fcber Willensakt in den Beaktionsversuehen habe ich3) experimentell zu zeigen gesucht, da\u00df die Unlustgef\u00fchle unter bestimmten Bedin-\n1)\tJules Suter: Die Beziehung zwischen Aufmerksamkeit und Atmung. Arch. f. d. ges. Psychol. 25. S. 82 ff.\n2)\tAch: \u00dcber die Willenst\u00e4tigkeit und das Denken. G\u00f6ttingen. 1905.\n3)\tSt\u00f6rring : Experimentelle Beitr\u00e4ge zur Lehre vom Gef\u00fchl. Arch. f. d. ges. Psychol. 1906. Die entsprechenden Versuche sind vor Herbst 1902 im Psych. Inst, in Leipzig angestellt.","page":1403},{"file":"p1404.txt","language":"de","ocr_de":"1404\nGr. St\u00f6rring\njungen in sehr starker Weise das Willensgeschehen bestimmen, nachdem ich schon vorher dnrch Anwendung der psychopatho-logischen Methode1) gezeigt hatte, da\u00df sowohl Lustgef\u00fchle als auch Unlustgef\u00fchle im Willensvorgang eine ausschlaggebende Rolle spielen.\nIch lie\u00df \u00e4hnlich wie fr\u00fcher F\u00e9r\u00e92) abwechselnd im indifferenten Zustande und nach Applikation einer Empfindungsunlust erzeugenden Geschmacksl\u00f6sung (von Essig, Kochsalz, Tinctura Gentiana) Dynamometerdrucke vollziehen: Im Unterschied von F\u00e9r\u00e9 bei verschiedener Vorbereitung: bei einfacher Vorbereitung auf Grund der Anweisung, auf das zwei Sekunden nach einem vorbereitenden ,,Bald\u201d folgendes ,,Jetzt\u20195 mit einem maximalen Dynamometerdruck zu reagieren; sodann bei motorischer Vorbereitung mit der Anweisung, bei dem Signal ,,Bald\u201d eine die geforderte Bewegung vorbereitende Spannung der betreffenden Muskulatur zu vollziehen, bei sensorieller Vorbereitung auf Grund der Anweisung, bei dem Signal ,,Bald\u201d im Hinblick auf das kommende ,,Jetzt\u201d die Jetztvorstellung zu fixieren mit dem Gedanken, bei ,,Jetzt\u201d sofort zu reagieren.\nDas objektiv-dynamometrische Resultat war nun dies, da\u00df bei Unlust sich eine Effektsteigerung gegen\u00fcber dem Indifferenzzustand zeigte, welche in dem zun\u00e4chst relativ kleinen Versuchsmaterial bei sensorischer und motorischer Vorbereitung gr\u00f6\u00dfer zu sein schien als bei einfacher Vorbereitung.\nSubjektiv-psychologisch ergab sich, da\u00df die Versuchspersonen den Eindruck hatten, bei Unlust einen st\u00e4rkeren Bewegungsimpuls gesetzt zu haben, als im Indifferenzzustande. Sodann zeigte sich subjektiv-psychologisch, da\u00df bei den Dynamometerleistungen, bei Unlustreizen nicht etwa per Kontrast, Lustgef\u00fchle auf treten, die f\u00fcr die Leistungen h\u00e4tten verantwortlich gemacht werden k\u00f6nnen, so da\u00df die Steigerung der Leistung mit Wahrscheinlichkeit auf das Konto der Unlust zu setzen war.\n3. Diese Befunde stehen im Gegensatz zu denBefunden Ch.F\u00e9r\u00e9\u2019 s \u00fcber die Wirkung von Lust und Unlustreizen auf dynamometrische Leistungen. Er behauptet allgemein3 *): ,,La sensation de plaisir se r\u00e9sout dans une sensation de puissance, la sensation de d\u00e9plaisir dans une sensation d\u2019impuissance\u201d. Aber wenn man sich die Einzelresultate n\u00e4her ansieht, so ergibt sich ein etwas anderes Bild.\n1)\tSt\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie und ihre Bedeutung f\u00fcr\ndie normale Psychologie. 1900.\t;\n2)\tCh. F\u00e9r\u00e9: Sensation et mouvement. 1. ed. (1887).\nr 3) Ch. F\u00e9r\u00e9: Compt. rend, de la Soc. de Biol, ann\u00e9e. 1885. S. 530; Zitiert\nnach A. Ernst: Arch. f. d. ges. Psychol. 57. S. 446 ff.","page":1404},{"file":"p1405.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\nEr stellt zun\u00e4chst fest:\nL\u2019\u00e9tude d\u2019nn grand nombre d\u2019hallucinations provoqu\u00e9s nous a montr\u00e9 que* lorsqu\u2019il s\u2019agissait d\u2019une sensation subjective d\u00e9sagr\u00e9able, comme la vue d\u2019un crapaud visqueux, l\u2019odeur d\u2019oeufs pourvis, legout amer, etc. il y avait une d\u00e9pression assez notable.\nAndrerseits weist F\u00e9r\u00e9 darauf hin, da\u00df ihm bei Ausl\u00f6sung unzweifelhaft von Unlust begleiteter Sensation (eine Applikation von Chinin usw.) anstatt einer Herabsetzung regelm\u00e4\u00dfig (\u201econstamment\u201d) eine Steigerung der dynamometrischen Leistung begegnet war. A. Frnst, der meine Untersuchungen sp\u00e4ter unter meiner Leitung fortgesetzt hat, beleuchtet die Einzelresultate U\u00e9r\u00e9s sehr geschickt in folgender Weise: Dieser von F\u00e9r\u00e9 selbst getane Hinweis auf F\u00e4lle exzito-motorischen Charakters penibler Sensationen ist im Hinblick auf die weiter unten Beachtung findenden Ausf\u00fchrungen unseres Autors f\u00fcr uns besonders interessebetont. Er l\u00e4\u00dft auch einige Geschmacksversuche er\u00f6rtern, welche F\u00e9r\u00e9 anstellte und die mir zu best\u00e4tigen scheinen, da\u00df penible Sensationen tats\u00e4chlich excito-motorisch zu wirken imstande sind. Es handelt sich hier um die von F\u00e9r\u00e9 S. 286 mitgeteilten Versuche, welche, an Hysterischen und Normalen vorgenommen, dazu dienten, die Einwirkung s\u00fc\u00dfiger, salziger und bitterer Substanzen auf die Dynamometeruntersuchung festzustellen. Die Einwirkung war zum Teil eine sehr pr\u00e4gnante. Bei einer der Versuchspersonen, einer Hysterischen, beispielsweise stellte sich die dynamometrische Pression gegen\u00fcber 23 hg im Indifferenzzustande auf 29 hg nach Applikation von Zucker, auf 35 hg nach Applikation von Salz und 39 hg nach Applikation von schwefelsaurem Chinin. F\u00e9r\u00e9 hebt hervor, da\u00df wie hier so auch bei den \u00fcbrigen Versuchspersonen, also nicht nur in dem exemplifizierten Falle, eine Steigerung der dynamometrischen Pression nach Applikation von s\u00fc\u00dfen und insbesondere von salzigen und bitteren Substanzen deutlich manifestiert werden konnte. (Sans se pr\u00e9senter avec les caract\u00e8res aussi tranch\u00e9s l\u2019action du sale et de l\u2019amer peut-\u00eatre rendue tr\u00e8s manifeste surdes subjects normaux.) Er f\u00fcgt dem noch hinzu, da\u00df die \u201eaction\u201d der konzentriertesten L\u00f6sungen die intensivste sei (\u201esi on recherche les effects des solutions trit\u00e9es de sucre, de sel, etc., on voit que l\u2019action des solutions les plus concentr\u00e9es est la plus intense\u201d). Auch die sauren Substanzen sind von F\u00e9r\u00e9 auf ihre motorische Wirkung untersucht worden mit dem Ergebnis, da\u00df ihnen eine noch st\u00e4rkere Aktion zuzusprechen ist als den bitteren ; unser Autor sagt hier\u00fcber.... \u201eLes acides ont une action plus \u00e9nergique encore.. . une solution d\u2019avide ac\u00e9tique, par exemple, agit beaucoup plus activement que les amers.\u201d Wenn sich bei F\u00e9r\u00e9 auch keine n\u00e4here Angabe findet, inwieweit die applizierten Reize von den Versuchspersonen als angenehm und inwieweit sie als unangenehm empfunden wurden, die V\u00e9rsuehe dienten lediglich dazu, die Grundgeschm\u00e4cke ohne ihre Gef\u00fchlsbetonung weiter zu ber\u00fccksichtigen, nach der dynamogenen F\u00e4higkeit, die sie entwickeln... in eine bestimmte Skala einzuordnen, so berechtigt doch dier Erfahrung, die ein jeder von uns auf dem Gebiet des Geschmackes besitzt, zu der Annahme, da\u00df salzige und saure, zumindest die bitteren Substanzen in konzentrierter L\u00f6sung ausgesprochen unlusterregend wirken. ... Es ist daher in ' den Resultaten der hier besprochenen Geschmacksversuche eine Best\u00e4tigung der von F\u00e9r\u00e9 einger\u00e4umten Feststellung zu sehen von F\u00e4llen excito-motorischen Charakters penibler Sensationen\u201d 1).\nOffenbar ist F\u00e9r\u00e9 in der Verwertung seiner Einzelresultate \u00fcber Wirkung von Unlustreizen durch theoretische Voreingenommenheit gest\u00f6rt worden. Er sagt2), angenehme Sensationen w\u00fcrden als angenehm empfunden, weil sie eine,,exag\u00e9ration de l\u2019\u00e9nergie\u201c mit sich bringen, penible Sensationen als penibel, weil sie eine \u201ed\u00e9pression de l\u2019\u00e9nergie\u201c mit sich bringen; die ,,exag\u00e9ration\u201d bedingt eine Zunahme, die ,, d\u00e9pression\u201d, eine Abnahme der dynamo-\n1)\tAugust Frnst: 1. c. S. 447.\n2)\tA. Frnst: 1. c. S. 448.\t-\t-\t< \u2022","page":1405},{"file":"p1406.txt","language":"de","ocr_de":"1406\nG. St\u00f6rring\nmetrischen Leistung. Die angenehme Sensation ist eine \u201esensation de puissance\u201d, die unangenehme Sensation eine \u201esensation d\u2019impuissance\u201d.\nEinige Jahre sp\u00e4ter ist F\u00e9r\u00e9 nochmals auf die Frage der Wirkung von Unlustreizen auf die Effekte von Willenshandlungen zur\u00fcckgekommen1). Er glaubt dann auf Grund von ergographischen Versuchen, die er an sich selbst anstellte, feststellen zu k\u00f6nnen, da\u00df die Unlustreize im erm\u00fcdeten Zustande eine \u201eaction excitante\u201d haben, im unerm\u00fcdeten Zustand aber eine \u201eaction d\u00e9primante\u201d.\nDemgegen\u00fcber m\u00fcssen wir betonen, da\u00df unsere Versuchspersonen sich bei Anstellung der Versuche nicht in einem erm\u00fcdeten Zustand befunden haben. Es mu\u00df auch hervorgehoben werden, da\u00df F\u00e9r\u00e9 seine Untersuchungen in gro\u00dfer Zahl an Hysterischen anstellte, weil er annahm, \u201eda\u00df ihr empfindliches Nervensystem die zu untersuchenden normalen Verh\u00e4ltnisse in vergr\u00f6\u00dfertem Ma\u00dfstab zeigt\u201d.\nDa nicht blo\u00df die Zahl unserer ersten Versuche eine relativ kleine war, sondern auch die Verwendung des Dynamometers nicht die g\u00fcnstigste Bedingung darsteilte und da auch der Gegensatz zu F\u00e9r\u00e9 bestand, so habe ich diese Versuche sp\u00e4ter in meinem damaligen Stra\u00dfburger Psychologischen Institut unter g\u00fcnstigeren Bedingungen fortsetzen lassen. Die Dynamometerversuche haben n\u00e4mlich das Mi\u00dfliche an sich, da\u00df bei der Kompression des Dynamometers durch Handdruck bei dieser Leistung beteiligte Muskeln und Sehnen der Hohlhand eine Art von Quetschung erfahren, so da\u00df starke Schmerzempfindungen entstehen. Diese wirken nat\u00fcrlich st\u00f6rend auf die Gestaltung des Effektes.\n4. Ich habe deshalb einen Apparat konstruiert, bei dem eine solche Komplikation nicht in Betracht kam, einen dem Feder-ergographen \u00e4hnlichen Apparat, den ich Dynamographen nenne, bei dem ein bequemer Handgriff gegeben ist und Spannungsentwicklung an einer Feder am Kymographion registriert wird mit gleichzeitiger Spiegelablesung.\nEine Fortsetzung meiner Versuche ist zun\u00e4chst unter meiner Leitung von Bose vollzogen2). Bose lie\u00df am Dynamographen je dreimal auf ein zwei Sekunden nach einem vorbereitenden \u201eBald\u201d folgendes Klingelsignal mit dem Mittelfinger der rechten Hand maximale Z\u00fcge aus\u00fcben. Er verglich dabei drei im Indifferenz-zustand gemachte Z\u00fcge mit drei Z\u00fcgen bei Unlustreizung. Der Unlustreiz bestand in sehr konzentrierter Salzl\u00f6sung, st\u00e4rkstem Weinessig oder einer Mischung von beidem. Es wurde unter \u201eeinfacher\u201d Einstellung, \u201esensorischer\u201d und motorischer Einstellung gearbeitet.\nx) Ann\u00e9e psychol (1901) nach A. Ernst: 1. c. S. 449.\n2) Arch. f. d. ges. Psychol. 1914.","page":1406},{"file":"p1407.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1407\nObjektiv ergab sich in der entschiedenen Mehrzahl der F\u00e4lle Zunahme der Kurvenh\u00f6he und V erkiirzung der Latenzzeit, d. h. der Zeit, welche vergeht vom Ert\u00f6nen des Klingelsignals bis zum Einsetzen der Keaktionsbewegung.\nWas die subjektiv-psychologischen Befunde anlangt, so hatten die Versuchspersonen zun\u00e4chst den Eindruck der Steigerung des motorischen Impulses bei jeder Art der Vorbereitung.\nWichtig ist sodann, da\u00df zwei der Versuchspersonen neben der Unlust eine gewisse Erregung konstatierten. Deshalb wurde eine sp\u00e4tere Weiterf\u00fchrung der Versuche in solcher Weise desideriert, da\u00df die F\u00e4lle von gleichzeitiger Erregung scharf geschieden w\u00fcrden von solchen ohne Erregung und da\u00df diese Scheidung auch auf Grund gleichzeitiger plethysmographischer oder sphygmographi-scher Aufnahme vollzogen w\u00fcrde.\nZuletzt habe ich selbst als Versuchsperson noch die subjektive Feststellung zu betonen, da\u00df man bei Keaktion unter Unlustreizen den deutlichen Eindruck gewinnt, da\u00df bei der motorischen Keaktion eine Entladung der vorhandenen Un lus t-energiensich vollzieht! \u2014\n5. Eine Fortsetzung der Versuche von Bose wurde von A. Ernst1) unter meiner Leitung vollzogen. In dieser Arbeit wurde auf Grund subjektiver Angaben, vor allem aber auf Grund objektiver Aufweisung der bekannten k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der Erregung eine Scheidung der F\u00e4lle mit und ohne Erregung vollzogen. Charakteristisch f\u00fcr Erregung ist Pulserh\u00f6hung bei Pulsbeschleunigung (daneben plethysmographisch Volumanstieg).\nIn dieser Arbeit wurde nur je ein maximaler Dynamographenzug bei Indifferenz verglichen mit einem maximalen Zug bei Unlustreiz, um Erm\u00fcdung, welcher von E\u00e9r\u00e9 so gro\u00dfes Gewicht beigelegt wird, sicher ausschlie\u00dfen zu k\u00f6nnen.\nIn einigen F\u00e4llen gaben Versuchspersonen an, da\u00df sie bei Unlust reagiert h\u00e4tten, um die Unlust durch starken Zug herabzusetzen. Solche Versuche wurden ausgeschaltet, da hier nat\u00fcrlich keine direkte Wirkung der Unlust auf den motorischen Effekt vorliegt, indem sich an den Gedanken, die Unlust durch einen starken Zug herabzusetzen, Lust anschlie\u00dft.\nDie unter solchen Kautelen angestellten Versuche ergaben nun bei einfacher Vorbereitung (die allein untersucht wurde) in der bei weitem \u00fcberwiegenden Zahl der F\u00e4lle ohne Erregung (in 72*5%) eine Steigerung der\nx) Arch. f. d. ges. Psychol. 57. H. 3/4 (1926).","page":1407},{"file":"p1408.txt","language":"de","ocr_de":"1408\nG. St\u00f6rring\nKnrvenh\u00f6he um 9%. (In 1-3% der F\u00e4lle war Gleichheit vorhanden, in 26-1% Verminderung um 5-3 %.) Die Verminderung der Latenzzeit war weniger ausgepr\u00e4gt : sie war vorhanden in 68-7 % um 23-1 %, vermehrt in 21-3% um 9-7 %.\nMan ist also sicherlich berechtigt zu sagen, da\u00df die Unlustreize unter den gegebenen Bedingungen eine Steigerung des motorischen Effektes der Willenshandlungen zustande gebracht haben.\nVon Interesse ist auch noch die Feststellung, da\u00df die plethysmographische Kurve bei Unlust unter der hier vorhandenen Einstellung auf motorische Leistung sich anders verh\u00e4lt, als ohne solche Einstellung. W\u00e4hrend ohne solche Einstellung die plethysmographische Kurve bei Unlust eine deutliche Senkung aufweist, findet A. Ernst hier bei Unlust eine ausgepr\u00e4gte S t e i ge rung der Volumkurve!\nBeachtenswert ist die Kritik, die A. Lehmann an diesen Versuchen ge\u00fcbt hat. Um sie zu verstehen, mu\u00df vorausgeschickt werden, da\u00df A. Lehmann Versuche gemacht hat, in denen er Ergo-gramme im indifferenten Zustande zustande brachte und unter Einwirkung gleichzeitiger geistiger Arbeit oder aber gleichzeitiger Unlustreize. Er fand, da\u00df bei gleichzeitiger Arbeit nnd gleichzeitigen Unlustgef\u00fchlen eine Herabsetzung der motorischen Leistung eintritt; das sieht er mit Becht als Wirkung der Ablenkung der Aufmerksamkeit an. Lehmann sagt nun:\n,,Die Verst\u00e4rkung der Muskelkontraktionen durch ein Unlustgef\u00fchl wird daher g\u00e4nzlich ausgeschlossen sein, wenn die Aufmerksamkeit den beiden Erscheinungen gleichzeitig zugewandt sein soll; nur wenn sie sich auf ein gegebenes Signal vom Gef\u00fchle abwenden und der Arbeit zuwenden kann, wird die Wirkung des Gef\u00fchles hervortreten k\u00f6nnen. Und je weniger die Aufmerksamkeit von anderweitigen Aufgaben in Anspruch genommen wird, desto besser mu\u00df diese Ver\u00e4nderung ihrer Lichtung gelingen. Da nun die Ausf\u00fchrung eines Ergo grammes nat\u00fcrlich immer eine gewisse Aufmerksamkeit zum Innehalten des Tempos erfordert, kann man die Aufgabe auf die Weise vereinfachen, da\u00df nur eine einzelne Hebung auf ein gegebenes Signal ausgef\u00fchrt wird. Hiermit sind wir zu der von St\u00f6rring und Rose angewandten Versuchsanordnung gekommenn. Die beiden Experimentatoren haben durch ihre Versuche zweifellos dargetan: ,Empfindungsunlust schwachen bis starken Grades bewirkt, gleichviel, welches die Art der Beaktions-vorstellung und der individuellen Beizaufnahme sei, eine Steigerung des motorischen Effektes\u2019. Rose \u00fcbersieht aber \u2014\u2014 selbstverst\u00e4ndlich \u2014 da\u00df dieses Besultat wahrscheinlich nur unter den \u00e4u\u00dferen und inneren Bedingungen erreicht werden kann, die bei seinen Ver-","page":1408},{"file":"p1409.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1409\nsuchen statthatten, w\u00e4hrend eine kleine Ver\u00e4nderung der Versuchsanordnung zu dem genau entgegengesetzten Resultat f\u00fchren kann .... Wir haben schon festgestellt, da\u00df eine Aufmerksamkeit erfordernde Arbeit herabgesetzt wird, wenn die Aufmerksamkeit durch Unlustgef\u00fchle oder irgendwelche andere Erscheinungen abgelenkt wird.\nUnd wir k\u00f6nnen jetzt als das Resultat der von St\u00f6rring und Bose angesteilten Versuche, hinzuf\u00fcgen: Die mit Unlustgef\u00fchlen einhergehende motorische Tendenz l\u00e4\u00dft sich experimentell als eine Vergr\u00f6\u00dferung der geleisteten Muskelarbeit nach-weisen, wenn die Arbeit keine dauernde Aufmerksamkeitsanspannung erfordert\u201d1).\nIn unseren Versuchen handelt es sich aber nicht einfach um Gleichzeitigkeit von Muskelleistung und Unlustgef\u00fchlen, sondern es findet ein \u00dcbergang statt von den Unlustgef\u00fchlen zu der motorischen Bet\u00e4tigung. Bei meinen Folgerungen aus psychopathologischen F\u00e4llen habe ich den Tatbestand so ausgedr\u00fcckt, da\u00df ich sagte: Unlustgef\u00fchle wirken f\u00f6rdernd auf Realisierung von Willenshandlungen, wenn von den Unlustgef\u00fchlen aus sich aufdr\u00e4ngt die Vorstellung einer zu vollziehenden Bet\u00e4tigung! Dort glaube ich sehr wahrscheinlich gemacht zu haben, da\u00df, wenn dieser psychische Tatbestand gegeben ist, sich eine Entladung der den O r g a n e m p f i n d u n g e n der U n 1 u s t g e f \u00fc h 1 e entsprechenden physiologischen Energien in die motorischen Gebiete der Hirnrinde vollzieht. Dieser fr\u00fcher von mir aufgestellten Theorie entspricht es, da\u00df ich hier in unseren Versuchen als Versuchsperson den Eindruck gewann, da\u00df bei der motorischen Bet\u00e4tigung eine Entladung der Unlustgef\u00fchle sich vollzog!\nDie hier experimentell gewonnenen Tatsachen stimmen also v\u00f6llig mit den Folgerungen \u00fcberein, die ich durch psychopatho-logische Methoden \u00fcber Einflu\u00df der Unlustgef\u00fchle auf Willenshandlungen gewonnen habe, und die angezogene subjektiv psychologische Feststellung bei den Versuchen entspricht ganz meiner auf die gefolgerten Beziehungen zwischen Unlustgef\u00fchlen und Willenshandlungen aufgestellten psychologisch-physiologischen Theorie. \u2014\n6. Sehr interessante Willensversuche sind von Ach 1910 ver\u00f6ffentlicht worden2). Ach bot den Versuchspersonen\n1)\tA. Lehmann: 1. c. S. 300, 301.\n2)\tAch: \u00dcber den Willensakt und das Temperament. Leipzig 1910.","page":1409},{"file":"p1410.txt","language":"de","ocr_de":"1410\nGr. St\u00f6rring\nsinnlose Silben dar, welche vorher zu anderen sinnlosen Silben in mehr oder weniger starke assoziative Beziehung gebracht waren und gab dabei die Anweisung, einen Beim zu bilden. Es bestand auf Grund jener Assoziationen eine starke Tendenz, die mit der dargebotenen Silbe assoziierte auszusprechen, anstatt zu reimen. Die Versuchspersonen erlebten zun\u00e4chst h\u00e4ufig Fehlreaktionen. Infolge derselben nahmen die Versuchspersonen sich energisch vor, trotz dieser Tendenz die Aufgabe zu l\u00f6sen. Dieser energische Entschlu\u00df stellt einen Willensakt dar. Es kommt darauf an, ihn n\u00e4her zu charakterisieren. In diesem Willensakt wird erlebt ein ,,i c h will w i r k 1 i c h\u201d.\nIn diesem Erlebnis spielen nach Ach G e-fiihle keine Bolle. Sodann ist bez\u00fcglich desselben zu sagen, da\u00df es als nicht weiter zu reduzieren aufgefa\u00dft wird.\nWenn Selz1) in einer Kritik dieser Untersuchung von Ach betont, da\u00df dieser Willensakt, kein selbst\u00e4ndiger Akt ist, sondern von dem in der Vorperiode gesetzten Willensakt, der Instruktion zu folgen, abh\u00e4ngig ist, so ist darauf zu erwidern, da\u00df der Willensakt deshalb nicht aufh\u00f6rt, eine wirklicher Willensakt zu sein.\nMit Becht wendet Selz ein, da\u00df das ,,ich will wirklich\u201c durch die Schwierigkeit der Ausf\u00fchrung bedingt sein kann.\nWenn Achs Versuchspersonen keine Gef\u00fchle in den Willensvorg\u00e4ngen erleben, so darf deshalb nicht behauptet werden, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde in den Willensvorg\u00e4ngen keine Bolle spielen. Da sich psychopathologisch die positive Bedeutung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden f\u00fcr Willensvorg\u00e4nge nachweisen l\u00e4\u00dft, und wir auch experimentell eine gleiche Feststellung gemacht haben, so m\u00fcssen wir annehmen, da\u00df in diesen Versuchen die Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch Spannungsempfindungen, die sich, wie Ach berichtet, in starker Intensit\u00e4t bei diesen Versuchen entwickelt haben, verdeckt worden sind! Alfred Lehmann hat experimentell gezeigt, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch Spannungsempfindungen leicht verdeckt werden k\u00f6nnen.\n7. Wir haben nun weiter die Willensversuche von Michotte und Pr\u00fcm2) ins Auge zu fassen.\nDiese Autoren untersuchen Wahlakte. Sie bieten Ziffernpaare dar und lassen die Versuchsperson entscheiden zwischen\n1)\t0. Selz: Di\u00a9 experimentelle Untersuchung des Willensaktes. Zeitschr.\nf. Psychol. 57. (1911).\n2)\tMichotte nnd Pr\u00fcm: \u00c9tude exp. sur le chrix volonture et ses antic\u00e9dent immedicti. Arch, de psychol. 10. (1910).","page":1410},{"file":"p1411.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1411\nAddition und Substraktion derselben oder zwischen Multiplikation nnd Division. Im weiteren Yerlanf der Versuche machten sie die Zusatzbestimmung, die Entscheidung habe anf ernsthafte Gr\u00fcnde hin zn erfolgen. Anf Ausf\u00fchrung der gew\u00e4hlten Operation wurde verzichtet, damit nicht durch Ausf\u00fchrung dieser Rechenoperation die der Ausf\u00fchrung vorausgehenden Wahlvorg\u00e4nge verwischt w\u00fcrden.\nDie Autoren stellen fest, da\u00df in den Wahlvorg\u00e4ngen Wertungen stattfinden, die in Urteilen im allgemeinen zum Ausdruck kommen, da\u00df aber bei diesen Wertungen nur selten von Lust- und Unlustgef\u00fchlen gesprochen wird. Diese Feststellung bezieht sich allerdings auf die Aussage nur einer Versuchsperson!\nBei der Wahlentscheidung unterscheiden die Autoren. zwei Formen derselben. Sie sprechen von Zustimmung, wo eine Alternative in Vorschlag kommt und dann gebilligt wird, von Entschlu\u00df, wo unmittelbar vor Entscheidung sich nicht eine der Alternativen einseitig darbietet.\nWas nun den Kern des Willensaktes betrifft, so sehen die Autoren denselben ebenso wie Ach in einem elementaren Erlebnis. Dieses, bestimmen sie n\u00e4her als eine erlebte ,,T\u00e4tigkeit des Ich\u201d1): die T\u00e4tigkeit stelle sich dar als durch das Ich verursacht.\nDiese Auffassung soll sich aber bei den Versuchspersonen nur allm\u00e4hlich entwickeln. Man bekommt dabei den Eindruck, da\u00df bei diesen Aussagen der Versuchsperson die nachtr\u00e4gliche Interpretation eine gro\u00dfe Rolle spielt. Man mu\u00df dabei zugleich ber\u00fccksichtigen, da\u00df die Mehrheit der Versuche auf Michotte und Pr\u00fcm selbst entfallen.\nZur weiteren Kritik bemerken wir, da\u00df in den Wahlversuchen im allgemeinen der Willensentscheidung f\u00fcr eine der Wahlm\u00f6glichkeit noch einfache Willenserscheinungen vorausgehen: ein Streben, die eine oder die andere der M\u00f6glichkeiten zu realisieren \u2014 wie sich uns das sp\u00e4ter bei unseren eigenen Versuchen zeigenwird.\nSodann ist zu sagen: in diesen einfachen Willenserscheinungen spielt keineswegs das Ichbewu\u00dftsein durchaus immer mit!\nEs wird sich uns weiter sp\u00e4ter auch zeigen, da\u00df der Wahlentscheid kein elementares Erlebnisist und welches seine Komponenten sind!\nP Lindowsky: Der Wille. S. 35.","page":1411},{"file":"p1412.txt","language":"de","ocr_de":"1412\nG-. St\u00f6rring\n8. Auf der Absicht, die Versuche von Michotte nnd Pr\u00fcm nachzupr\u00fcfen, bant sich die Willensuntersuchung von Wheeler1) anf.\nEs wurden den Versuchspersonen zwei Bilder gezeigt (Landschaften und Geb\u00e4ude oder Reproduktionen von bekannten Kunstwerken), zwischen denen sie w\u00e4hlen sollten, um sie in ihrem Zimmer aufzuh\u00e4ngen. Sie konnten auch beide ablehnen.\nIn anderen Versuchsreihen wurden zwischen Phonographenst\u00fccken gew\u00e4hlt, von denen Titel, Komponist, Instrument usw. angegeben waren. Das gew\u00e4hlte St\u00fcck wurde sogleich nach Protokollierung der Angaben der Versuchsperson dargeboten.\nSodann erhielten zur Kontrolle bei Darbietung von Musikst\u00fccken die Versuchspersonen die Anweisung, alle Wortvorstellungen oder alle kin\u00e4sthetischen Reaktionen bei Ausf\u00fchrung der Wahl zu vermeiden.\nZu den Versuchspersonen geh\u00f6rten bekannte amerikanische Psychologen. Bei allen Wahlvorg\u00e4ngen traten f\u00fcr dieselben charakteristische kin\u00e4sthetische Empfindungen auf. Wortvorstellungen erwiesen sich als unterdr\u00fcckbar beim Vollzug der Wahl, aber nicht kin\u00e4sthetische Empfindungen. Die Versuchspersonen konnten nichts von einem \u201eIch\u201c und von einem elementaren \u201eWollen\u201c bei den Wahlvorg\u00e4ngen konstatieren. Sie sprachen zwar selbst von \u201eIch\u201d und \u201eT\u00e4tigkeit\u201d, erkl\u00e4rten aber, da\u00df das nachtr\u00e4gliche Interpretationen seien. Das, was so bezeichnet werde, lasse sich auf kin\u00e4sthetische Empfindungen und Vorstellungen reduzieren.\nWheeler geht so weit, zu behaupten, da\u00df, wenn in diesen Wahlversuchen von einem Wissen, etwa dem Wissen, m\u00f6glichst schnell zu reagieren oder dem Wissen, da\u00df die Zahlen gro\u00df sind, oder wenn von einem W\u00e4hlen gesprochen werde, so handle es sich dabei um eine nachtr\u00e4gliche Umdeutung bestimmter kin\u00e4sthetischer Empfindungen.\nZu buchen ist jedenfalls die Feststellung, da\u00df sich keine Wahlvorg\u00e4nge ohne kin\u00e4sthetische Empfindungen entwickeln. Es wird sich uns aber sp\u00e4ter heraussteilen, da\u00df es Spannungsempfindungen gibt, welche conditio sine qua non des Willens sind, und solche, die bei einem Willensvorgang vorhanden sind oder auch fehlen k\u00f6nnen!\nRichtig ist auch, da\u00df weder das \u201eIch\u201d, das hier gemeint ist, noch das \u201eWollen\u201d elementare psychische Tatbest\u00e4nde sind.\nWheelers Entwicklungen sind offenbar nicht so aufzufassen, als ob er sagen wolle, das Wissen und das Wollen reduzieren sich\n1) Wheeler'. An exp, investigation of the proc. of choosing. University of Oregon Publ. 1920. Nr. 2; Theories of the wih and kinaestedetic sensations. Psychol. Rev. 27. (1920); Analysed versen nnanalysed exp\u00e9rience. Psych. Rev. 29. (1922).","page":1412},{"file":"p1413.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1413\nauf kin\u00e4sthetische Empfindungen, denn er spricht doch von einer Umdeutung kin\u00e4sthetischer Empfindungen. Diese Umdeutung vollzieht sich doch offenbar nach ihm in ,,Vorstellungs\u201dprozessen. Aber ein Wissen, da\u00df Zahlen gro\u00df sind und da\u00df man m\u00f6glichst schnell reagiere, kann doch nicht als nur eine Ausdeutung von kin\u00e4sthetischen Empfindungen darstellend auf gef a\u00dft werden ! Und ebenso ist das Wollen keine Umdeutung von kin\u00e4sthetischen Empfindungen : gewisse kin\u00e4sthetische Empfindungen gehen in dasselbe ein; aber diese werden nicht in ein Wollen umgedeutet, sondern das Wollen ist ein komplexer, qualitativ ganz bestimmt gearteter psychischer Tatbestand, in dem gewisse kin\u00e4sthetische Empfindungen enthalten sind. *\u2014\n9. Sodann geh\u00f6ren hierher Versuche von Lindworsky bez\u00fcglich der \u00dcbernahme von etwas Unlustvollem.\nDie Versuche wurden in folgender Weise angestellt. Der Versuchsperson wurde eingangs erkl\u00e4rt, es solle die \u00dcbernahme von Unlustvollem experimentell untersucht werden, und sie wurde gefragt, ob sie bereit sei, im Interesse der Wissenschaft an dieser etwas opfervollen Arbeit teilzunehmen. Es w\u00fcrde ihr in jedem Versuch zugemutet, im Interesse der Wissenschaft etwas Unliebes auf sich zu nehmen. Sie sei zwar in jedem einzelnen Fall frei, die Zumutung abzulehnen oder anzunehmen, es liege jedoch im Interesse der Sache, da\u00df nicht zu viel Zumutungen abgelehnt w\u00fcrden. Eine Zusage sei als eine ehrenw\u00f6rtliche Bereitwilligkeit anzusehen, den Entschlu\u00df auszuf\u00fchren, falls dies innerhalb einer bestimmten Zeit (bis zum Semesterschlu\u00df etwa) gefordert werde. Im Versuch selbst werde aus methodischen Gr\u00fcnden das Verlangen nicht gestellt werden, der Versuch vielmehr mit der ehrenw\u00f6rtlichen Erkl\u00e4rung abgeschlossen., Als brauchbare Unwerte erwiesen sich solche Forderungen, die gegebenenfalls sofort h\u00e4tten ausgef\u00fchrt werden k\u00f6nnen, z. B. Schwefelwasserstoff riechen, ein Lied singen u. \u00e4. In einzelnen Versuchsreihen wurde bei Ablehnung der Forderung diese wiederholt mit der Aufforderung, sich um ein ja zu bem\u00fchen. Die Entscheidungen wurden von den Versuchspersonen durchwegs sehr ernst genommen. Mur in zwei F\u00e4llen, wo der Glaube an die sp\u00e4tere Ausf\u00fchrung bzw. die ernste Auffassung der Situation etwas wankend wurde, hatten die betreffenden Versuchspersonen eine harmlose Zusage auch auszuf\u00fchren1).\nAuf Grund der Aussagen der Versuchsperson glaubt Lin\u00e4-worsky die Anschauungen von Ach und Michotte \u00fcber den Entschlu\u00df best\u00e4tigen zu k\u00f6nnen. Er sagt: ,,Die Versuchspersonen waren in die strittigen Probleme der Willenspsychologie nicht eingeweiht und kannten nicht die besonderen Interessen, die den\np Lindworslcy: 1. c. S. 50.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t92","page":1413},{"file":"p1414.txt","language":"de","ocr_de":"1414\nGr. St\u00f6rring\nVersuchsleiter ber\u00fchrten. Trotzdem tritt das Entschlu\u00dferlebnis weit mehr in den Vordergrund, als etwaige kin\u00e4sthetische Erlebnisse, obwohl die Versuchspersonen die inhaltlichen und die anschaulichen Momente mit Vorliebe beachteten. Gerade der Umstand, da\u00df auch hier die Versuchspersonen genau angeben k\u00f6nnen, ob ein Entschlu\u00df erlebt wurde oder, nicht, und der weitere, da\u00df dieser Entschlu\u00df an keine bestimmte Erlebnisform gebunden erscheint, best\u00e4tigen die Beobachtungen von Ach und Michotte1).\u201d\nDie Einzelaussagen der Versuchsperson f\u00fchren sodann Lind-worsky zu der Auffassung, da\u00df man nicht von einer besonderen Intensit\u00e4t des Willens, in diesen F\u00e4llen, wo es gilt, etwas Unlustvolles auf sich zu nehmen, also nicht von einem starken Willen sprechen kann, sondern da\u00df in der \u00fcbergro\u00dfen Mehrzahl der F\u00e4lle die Bem\u00fchung in dem Auf suchen neuer Motive besteht. Gelegentlich sucht die Versuchsperson sich auch damit zu helfen, das Unlustgef\u00fchl zu vermeiden oder es tritt eine Art von \u201eBet\u00e4ubung\u201d durch seelische Aufregung ein2). Wo die Versuchspersonen von einem starken Willen sprechen, stellt sich heraus, da\u00df neue Motive aufgetreten sind.\nIn Versuch 226 [lebendige Fliege verschlucken( !)] kommt die Versuchsperson, die einen besonderen Ekel vor Fliegen hat, bei der dritten Aufforderung nach f\u00fcnf Sekunden zu einem Ja, das sie folgenderma\u00dfen erl\u00e4utert: \u201eIch habe den Versuch gemacht und ich will eine Fliege hinunterschlucken. Aber es wird wieder nicht gelingen. (Zuvor: Aus Erfahrung wei\u00df ich, da\u00df ich Dinge, die mir zuwider sind, nicht hinunter schlucken kann). Ma\u00dfgebend ist dabei: \u201ewollte sehen, was st\u00e4rker ist, mein Wille oder der Abscheu vor der Fliege.\u201d Frage des Versuchleiters: \u201eJetzt Ekel empfunden V( Versuchsperson: \u201eHein, gar nicht daran gedacht,. d. h. ich habe nichts dabei empfunden\u201d. Lindworsky sagt dazu: \u201eEs liegt auf der Hand, da\u00df dieses , St\u00e4rkersein \u2019 nicht eine Beschreibung des Erlebnisses ist, sondern nur die Leistungsf\u00e4higkeit des Wollens meint. Schon in dieser Fragestellung ist f\u00fcr die Versuchsperson ein neues Motiv gegeben, was sich unter anderem auch darin zeigt, da\u00df nunmehr der Ekel nicht im Vordergrund steht3).\u201d\nF\u00fcr uns ist es gar nicht wunderbar, da\u00df hier kein starkes Wollen auf tritt, welches eine selbst\u00e4ndige Energie neben den \u201eMotiven\u201d hat. Es wird sich uns sp\u00e4ter zeigen, da\u00df der Willensentschlu\u00df seine Energie aus demjenigen \u201eMotiv\u201d oder besser Willensantrieb bezieht, der zum Siege kommt, der sich durchsetzt. F\u00fcr uns ist es selbstverst\u00e4ndlich, da\u00df das\n1)\tLindworsky: L c. S. 51 und 52.\n2)\tLindworsky : 1. c. S. 119 und 120.\n3)\tLindworsky: 1. c. S. 117.","page":1414},{"file":"p1415.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1415\nWollen des Entschlusses keine besondere Energie repr\u00e4sentiert neben den \u201eMotiven\u201d.\nUnsere Behauptung kann mi\u00dfverstanden werden, wenn nicht hervorgehoben wird, da\u00df wir zwischen \u201eperipheren\u201d nnd zentralen \u201eMotiven\u201d unterscheiden. In den Wahlvorg\u00e4ngen schlie\u00dfen sich an den Gedanken der einzelnen Wahlm\u00f6glichkeiten im allgemeinen zun\u00e4chst Gef\u00fchlszust\u00e4nde an, ohne da\u00df dabei an die intimsten Interessen der Pers\u00f6nlichkeit gedacht wird. Diese \u201eMotive\u201d nenne ich periphere \u201eMotive\u201d. Diesen \u201eMotiven\u201c kann aber das Ich, die Pers\u00f6nlichkeit gegen\u00fcber treten mit seinen intimsten Bestrebungen, seinen Grunds\u00e4tzen. Durch Bekurrieren auf diese tiefer liegenden Interessen der Pers\u00f6nlichkeiten werden dann neue Gef\u00fchlszust\u00e4nde wach, es entstehen so zentrale \u201eMotive\u201d.\nWenn man diese Distinktion ber\u00fccksichtigt, wird es verst\u00e4ndlicher, wenn wir sagen, da\u00df der Willensentschlu\u00df seine Energie aus demjenigen \u201eMotiv\u201d bezieht, welches sich durchsetzt. Dieses \u201eMotiv\u201d kann eben auch ein zentrales \u201eMotiv\u201d sein.\nInteressant ist \u00fcbrigens, da\u00df Lindworsky, der den Gef\u00fchlszust\u00e4nden keine grundlegende Bedeutung f\u00fcr den Willen beimi\u00dft, \u00e4hnlich wie Ach und Michotte, sich gedr\u00e4ngt sieht, um das Willensgeschehen verst\u00e4ndlich zu machen, auf \u201eMotive\u201d zu rekurrieren als solche Faktoren, von denen kraftvolle Bet\u00e4tigungen abh\u00e4ngen. Worin anders stecken aber die Energien solcher \u201eMotive\u201d als in Gef\u00fchlszust\u00e4nden %\nDie Erkenntnis dieses Tatbestandes wird in einzelnen F\u00e4llen dadurch erschwert, da\u00df auf die vorhandenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde Spannungsempfindungen in st\u00e4rkerer Weise verdeckend wirken. \u2014\n10. Ich gehe jetzt dazu \u00fcber, Methoden der Untersuchung der Willensvorg\u00e4nge zu behandeln, welche von Ziehen angegeben sind.\nZiehen beschreibt dieselben in folgender Weise:\n\u201eIch habe ein auf geschlagenes Buch, einen nicht gespitzten Bleistift, ein Taschenmesser, eine Bose, eine Zigarre, ein halbverdecktes Bild und ein umgekipptes Wasserglas, alles von einem Tuch bedeckt, auf den Tisch, vor dem die Versuchsperson sitzt, gelegt und sage der Versuchsperson: ,auf dem Tisch liegt unter dem Tuch allerlei, ich werde jetzt das Tuch wegnehmen, sie k\u00f6nnen dann mit den Sachen machen, wie sie wollen\u2019. In dem letzten Satz liegt nat\u00fcrlich die stillschweigende Aufforderung, \u00fcberhaupt mit den Sachen irgend etwas zu tun. Ich stelle dann nicht nur fest, was die Versuchsperson nach dem Wegziehen des Tuches zuerst tut \u2014 diese Feststellung ist an sich wenig interessant und w\u00fcrde nur die im fr\u00fcheren Vortrag besprochene objektive Psychologie interessieren \u2014, sondern unterbreche die Versuchsperson, sobald sie die erste Handlung mit einem der Objekte ausgef\u00fchrt hat, und\n92*","page":1415},{"file":"p1416.txt","language":"de","ocr_de":"1416\nG-. St\u00f6rring\nlasse mir ausf\u00fchrlich berichten, was sie innerlich erlebt hat. Dabei vermeide ich zun\u00e4chst alle Zwischenfragen. Ich will zuerst nur einen ,S p o n t a n bericht\u2019 haben: Erst wenn die Versuchsperson nicht mehr zu berichten wei\u00df, richte ich je nach Bed\u00fcrfnis mehr oder weniger Erg\u00e4nzungsfragen an sie; die Antworten werden ebenso wie der Spontanbericht und der Wortlaut meiner Fragen w\u00f6rtlich protokolliert. Besonders wichtig ist nat\u00fcrlich die Schlu\u00df -frage: ,Was hat eigentlich den Ausschlag gegeben, da\u00df Sie gerade nach dem aufgeschlagenen Buch gegriffen haben?\u2019 Memals vers\u00e4umt man auch zu fragen: ,Was hat zuerst Ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen?\u2019 und ,Haben Sie zuerst an eine andere Handlung als die sp\u00e4ter ausgef\u00fchrte gedacht\u201d ? Wichtig ist f\u00fcr die Beurteilung des Versuches, da\u00df die Wahl der Handlung sich weder aus der Instruktion des Versuchsleiters noch aus der Gedankenlage der Versuchsperson zu Anfang des Versuches unmittelbar ergibt.\u201d\n,,Genau derselbe Versuch \u2014 mit denselben Objekten und bei gleicher Anordnung der Objekte \u2014 wird bei vielen Versuchspersonen verschiedenen Alters, Geschlechtes, Standes usw. angestellt. Darauf werden die Bedingungen des Versuches variiert: Einerseits wird die Zahl der Objekte vergr\u00f6\u00dfert und verkleinert, andere Objekte, neutrale und gef\u00fchlsbetonte, werden vorgelegt, der Fixationspunkt wird gewechselt u. dgl. m. Andrerseits werden vor dem Versuch in dieser oder jener Weise bei der Versuchsperson bestimmte Vorstellungs- oder Gedankenreihen angeregt, um festzustellen, ob diese auf die Auswahl der Bewegung irgendwelchen Einflu\u00df haben, und wie ein solcher Einflu\u00df sich der Selbstbeobachtung der Versuchsperson kundgibt (,konstellierende Versuche\u2019). Wenn Sie selbst solche Versuche anstellen, rate ich Ihnen dringend, recht oft auch selbst die Bolle der Versuchsperson zu \u00fcbernehmen.\u201d\n,,Die Ergebnisse dieser Versuche, die eine au\u00dferordentlich reiche Ausbeute versprechen, zur Zeit aber bei weitem noch nicht abgeschlossen sind, k\u00f6nnen hier nur zu einem kleinen Teil berichtet werden, soweit sie f\u00fcr die allgemeinsten Fragen der Motivation Interesse bieten. Vorl\u00e4ufig \u2014 vorbehaltlich einer sp\u00e4teren Zusammenfassung \u2014 bemerke ich, da\u00df die Selbstbeobachtungen unbeeinflu\u00dfter Versuchspersonen die Auffassung der Willensvorg\u00e4nge, die in dem ersten Vortrag entwickelt wurde, und die sich \u00fcbrigens zum Teil schon auf \u00e4hnliche Versuche st\u00fctzte, in jeder Beziehung best\u00e4tigen. Zugleich aber lernen wir zahlreiche Einzelheiten und Variationen des Willensvorganges kennen. Sehr oft tr\u00e4gt z. B. die stattfindende Bewegung den Charakter der Einfallsbewegung. Die Versuchsperson gibt z. B. an, es sei ihr gleich pl\u00f6tzlich der Gedanke gekommen, an der Bose zu riechen und dann habe sie nach der Bose gegriffen, ohne eigentlich an die Bose gedacht zu haben. In diesem","page":1416},{"file":"p1417.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1417\nFalle tritt die dominante gef\u00fchlsbetonte Zielvorstellung unverkennbar zutage. Die Bewegungsvorstellung, hier die Greifvorstellung \u2014 ist latent geblieben oder nur ganz undeutlich vor\u00fcbergehuscht oder auch untrennbar mit der Vorstellung des Biechens an der Bose zu einer Einheit verschmolzen. Warum sich gerade das Biechen an der Bose und nicht das Aufstellen der Gl\u00e4ser sich als Zielvorstellung eingestellt habe, kann die Versuchsperson mitunter gar nicht angeben. Namentlich in der Selbstbeobachtung sind unge\u00fcbte Personen sehr rasch mit der Aussage bei der Hand, das sei, wie es gern ausgedr\u00fcckt wird, ,von selbst gekommen\u2019. Von einem Kampf der Motive und daher auch von einem Entschlu\u00df wird relativ selten berichtet, obwohl die Handlung als durchaus willk\u00fcrlich bezeichnet wird. In anderen F\u00e4llen werden mehr oder weniger bestimmte Motivvorstellungen angegeben, z. B. ,ich rieche gern an Bosen\u2019 oder \u2014 wenn das Glas von der Versuchsperson aufgestellt wurde \u2014 ,ich dachte, es k\u00f6nnte fallen\u2019. Sehr oft sind diese Motivvorstellungen so fl\u00fcchtig und undeutlich, da\u00df die Versuchsperson irgendwelche genaueren Angaben \u00fcber ihren Inhalt nicht machen kann.\u201d\n,,Eine gro\u00dfe Bolle spielt auch das verschiedene Interesse, das die Versuchsperson an den einzelnen Objekten nimmt. Bei der Frage des unwillk\u00fcrlichen Aufmerkens werden wir hierauf zur\u00fcckkommen m\u00fcssen. Vorl\u00e4ufig gen\u00fcgt es zu bemerken, da\u00df in diesem Fall in der Begel zuerst die Auswahl eines Objektes im Sinne einer Aufmerksamkeitsw\u00e4hl erfolgt und an diese sich die Vorstellung einer durch das Objekt nahegelegten Handlung anschlie\u00dft ...\u201d\n,,Oft habe ich den Versuch, zum Teil im Anschlu\u00df an Langfeld, auch in der Weise angestellt, da\u00df ich der Versuchsperson auf gab, das Alphabet m\u00f6glichst rasch herzusagen, aber zwei oder drei bestimmte Buchstaben, z. B. f, r und t auszulassen oder \u2014 in einer anderen Versuchsreihe durch einen bestimmten oder beliebig anderen zu ersetzen oder \u2014 in einer dritten Versuchsreihe \u2014 nach Belieben auszulassen oder zu ersetzen. Die reinen Auslassungsversuche sind deshalb besonders interessant, weil sie uns das Wollen von einer bisher nicht ausreichend ber\u00fchrten, praktisch sehr wichtigen Seite als willk\u00fcrliche Unterlassung oder Hemmung zeigen.\u201d\n\u201eUm den Bedingungen des wirklichen Lebens n\u00e4her zu kommen, m\u00fcssen wir nach Erledigung dieser Versuche die Versuchsanordnung komplizierter gestalten und sind dabei allerdings oft gezwungen, mit der Versetzung in Gedanken, die wir vorhin erw\u00e4hnt haben, also Fiktionen, vorlieb zu nehmen. Auch hier greife ich nur beispielsweise einige Versuchsanordnungen heraus.\u201d\n,,Ich erkl\u00e4re der Versuchsperson, sie habe w\u00e4hrend der n\u00e4chsten Viertelstunde an irgendeinem Ort, z. B. in meinem Institut, zu","page":1417},{"file":"p1418.txt","language":"de","ocr_de":"1418\nG-. St\u00f6rring\nbleiben und m\u00f6ge sich eine Besch\u00e4ftigung f\u00fcr diese ganze Zeit w\u00e4hlen. B\u00fccher, Schreibzeug, Apparate, Hanteln liegen auf den Tischen. Die Versuchsperson hat dann einen Bericht \u00fcber die stattgehabten Motivationsvorg\u00e4nge abznstatten. Durch Erg\u00e4nzungsfragen wird er vervollst\u00e4ndigt. Die Ergebnisse dieses unscheinbaren, Ihnen vielleicht zuerst nur ein L\u00e4cheln abn\u00f6tigenden Versuches sind oft sehr lehrreich, mitunter geradezu in \u00fcberraschender Weise aufkl\u00e4rend. Die Versuchssituation entspricht offenbar ganz der vorhin beschriebenen Versuchsanordnung Nr. 1, nur ist sie erheblich wirklichkeitsn\u00e4her.\u201d\n\u201eGanz analoge Experimente lassen sich auch auf dem Gebiete der reinen inneren Willenst\u00e4tigkeit, also namentlich des Denkens, ausf\u00fchren. Ich kann z. B. philosophisch gebildete Versuchspersonen auffordern, sich sofort ein philosophisches Problem ganz frei auszusuchen und dar\u00fcber nachzudenken. Fehlt die philosophische Vorbildung, so verfahre ich in analoger Weise mit einem technischen, politischen Thema usf. Auch hier wird nur Gewicht auf die Selbstbeobachtung des Herganges der Wahl und ihrer Ausf\u00fchrungsweise gelegt. Als besonders geeignet kann ich Ihnen zu dem gleichen Zweck auch einfache Urteilsversuche empfehlen. Durch eine passende Vorrichtung, z. B. einen sogenannten Kartenwechsler, werden der Versuchsperson zwei Worte gezeigt und sie hat einen diese beiden Worte enthaltenden sinnvollen Satz zu bilden. Zur Not gen\u00fcgt auch ein Zurufen der beiden Worte. Sie m\u00fcssen nur immer so gew\u00e4hlt sein, da\u00df die Bildung des Satzes nicht allzu leicht ist. Gerade die Beobachtung der Willensanstrengung bei einem solchen ,Denksuchen\u2019 wirkt ungemein auf kl\u00e4rend1).\u201d\nDiese von Ziehen angegebenen Versuchsanordnungen sind jedenfalls vielversprechend f\u00fcr die Willenspsychologie und auch jedenfalls f\u00fcr die Feststellung der Beziehungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu den Willensvorg\u00e4ngen.\n11. Ich m\u00f6chte jetzt dazu \u00fcbergehen, die unter meiner Leitung gemachten Willensversuche, soweit sie noch nicht zur Darstellung gekommen sind, n\u00e4her zu besprechen und auf Grund derselben weitere Folgerungen zu ziehen \u00fcber die Beziehung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu den Willensvorg\u00e4ngen.\nKritische Bemerkungen \u00fcber die neueren Untersuchungen von Lewin \u00fcber den Willen schlie\u00dfe ich an diese Folgerungen an.\nIn der Arbeit von 8. Trouet2) habe ich Wahlhandlungen in der Weise untersuchen lassen, da\u00df zwischen einem von drei Dynamographenz\u00fcgen und dem Nichtreagieren auf ein Signal gew\u00e4hlt\n1)\tZiehen: Secks Vortr\u00e4ge zur Willenspsychologie. S. 34 ff.\n2)\tS. Trouet: Der Willensakt hei Wahlhandlungen. Arch. f. d. ges. Psychol. 45.","page":1418},{"file":"p1419.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1419\nwurde. Die drei Dynamographenz\u00fcge waren in der Anweisung als Zug \u201eEins\u201d, \u201eZwei\u201d und \u201eDrei\u201d bezeichnet: gemeint waren damit ein schwacher, mittelstarker und maximaler Zug. Die verschiedenen Zuge waren durch vorangegangene Versuche einge\u00fcbt worden.\nDie Anweisung f\u00fcr die Versuchsperson lautete: Nach \u201eBitte\u201d und \u201eBald\u201d kommen die Signale \u201eEins\u201d, \u201eZwei\u201d oder \u201eDrei\u201d. Sie haben nun entweder den diesem Befehl entsprechenden Zug genau auszuf\u00fchren oder ihn nicht auszuf\u00fchren. Folgt auf \u201eBitte\u201d, \u201eBald\u201d ein \u201eJetzt\u201d, so k\u00f6nnen sie entweder die Z\u00fcge \u201eEins\u201d oder \u201eZwei\u201d oder \u201eDrei\u201d vollbringen oder \u00fcberhaupt nichts tun. Der Entschlu\u00df zum Niehtreagieren sollte Versuchsperson in allen F\u00e4llen durch Niederdr\u00fccken eines Tasters anzeigen. Die B.-Z. wurden gemessen.\nUnter diesen Versuchsbedingungen war ein Willensakt in den Versuch selbst hineingezogen. Das tritt z. B. deutlich in folgender Aussage zutage:\nVersuchsperson II, 30 und 31: \u201eIn dem Augenblick, wo ich die Vollendung des Zuges II entwickelt hatte, kam mir zum Bewu\u00dftsein: Jetzt ist die Bolle an dir, jetzt mu\u00dft du t\u00e4tig sein. Dieser \u00dcbergang ist da, sehr ausgepr\u00e4gt, vielleicht infolge der Wahl. Das war, was man als Wille bezeichnet. Dieses \u201eJetzt ist die Bolle an dir\u201d ist jedenfalls eine andere Willenseinstellung, als in der allgemeinen Einstellung, mit der ich an die Versuche herantrat. Es ist hier ein ganz neues psychisches Erleben, das sich scharf abhebt von dem, was fr\u00fcher da war. Das liegt daran, da\u00df das bis jetzt Gehabte von au\u00dfen an mich herankam, aber jetzt geht es von mir aus.\u201d (Vorausgegangene Beaktionsversuche ohne Wahl.)\nIch gebe nun zun\u00e4chst einige Protokolle, aus denen sich schon eine gewisse Vorstellung davon gewinnen l\u00e4\u00dft, in welcher Weise in den Willensvorg\u00e4ngen Gef\u00fchlszust\u00e4nde beteiligt sind.\nII, 8. \u201eAm klarsten trat von den angedeuteten Faktoren noch die u n-mittelbare Freude an der Vorstellung der Ausf\u00fchrung einer kraftvollen Bet\u00e4tigung hervor. Diese Anregung stieg gleichsam aus dem Zwerchfell hervor zur Hals- und Schultergegend, und da alles auf der Kippe stand, war fast sofort damit auch schon die Entscheidung f\u00fcr die Ausf\u00fchrung des kr\u00e4ftigsten Zuges gesetzt, indem das ganze Bewu\u00dftsein sich nur blo\u00df dieser Handlungsweise zuwandte.\u201d\nVersuchsperson C. II, 6. ,,Das ,Schwach\u2019 wurdemiteinergewissen Befriedigung als M\u00f6glichkeit konstatiert und gew\u00e4hlt; es war so, da\u00df ,Schwach\u2019 als Vorstellung auftauchte, dann gew\u00e4hlt wurde mit den Worten: ,ja das!\u2019 Ich hatte nicht lange mich mit der anderen M\u00f6glichkeit besch\u00e4ftigt.\u201d\nI, 29. \u201eEs erschien mir das Ziehen als Erproben meiner Kraft angenehmer als dies einfache Herunterdr\u00fccken. Damit habe ich mich wenig besch\u00e4ftigt, weil das andere angenehmer war.\u201d\nI, 14. \u201eIch f\u00fchlte mich eingenommen von dieser Vorstellung. Ein gewisses Gef\u00fchl ist dabei immer vorhanden. F\u00fchlte mich hingezogen, es ist so, da\u00df ich das Betreffende gern tue; es bietet sich mir so angenehm dar, da\u00df ich dann sozusagen vollst\u00e4ndig vergesse, da\u00df noch andere M\u00f6glichkeiten da sind.","page":1419},{"file":"p1420.txt","language":"de","ocr_de":"1420\nG. St\u00f6rring\nVersuchsperson G., II, 4. Endlich aber hob sich der eine Bet\u00e4tigungsweg, n\u00e4mlich das maximale Ziehen, deutlich hervor, wobei sich mit der seiner Ausf\u00fchrung vorgreifenden Vorstellung eine gewisse Unlust verband und au\u00dferdem der Gedanke, da\u00df ich ja doch schon vorher ein oder zwei maximale Z\u00fcge ausgef\u00fchrt habe. Beides, Gedanke und Unlust, unterbrechen nun die Weiterentwicklung der in der vorgreifenden Vorstellung schon an gedeutet liegenden Willensentwicklung, wobei sich nun die andere M\u00f6glichkeit ziemlich deutlich vordr\u00e4ngte.\u201c\nIV, 2. ,,Dies Ziehen war sehr deutlich \u2014 mit dem dazu notwendigen Kraftaufwand. Das war mit Unlust verbunden. Ich f\u00fchlte mich zum Taster hingezogen. Aber das pa\u00dfte mir doch nicht recht. Hin- und Hersehwanken, Gedanke: nur doch wieder recht aktiv zu sein. Ich wollte das: Da liegt so eine starke gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Betonung drin. Es war ein Appellieren an mein Ichbewu\u00dftsein. Ich war mit mir nichtzufrieden, ich glaubte, ich habe mich in letzter Zeit stark gehen lassen. Ich wollte mich doch nicht so faul verhalten, ich wollte es auch mal anders, das ist doch auch mal sch\u00f6 n.\u201d\nVersuchsperson 1, 26: \u201e\u00dcbergang von einer M\u00f6glichkeit auf eine andere. Unlust anschlie\u00dfend an die M\u00f6glichkeit des Tasterdr\u00fcckens. Darauf wurde die andere M\u00f6glichkeit auf gef a\u00dft. Das Unlustgef\u00fchl veranla\u00dfte mich, zur anderen M\u00f6glichkeit \u00fcberzugehen (!)\u201d.\nVersuchsperson I, 12: \u201eEs kamen mir zum Bewu\u00dftsein die beiden M\u00f6glichkeiten. Doch die Vorstellung des maximalen Zuges nahm gleich eine derartige Intensit\u00e4t an und war so lustbetont, da\u00df das Mchtziehen ausgeschlossen war. Die Periode des Sich-entschlie\u00dfens ist um so k\u00fcrzer, je gr\u00f6\u00dfer die Menge der Gef\u00fchle ist, die mit einer Vorstellung verbunden sind, glaube ich.\u201d\nIn den F\u00e4llenVersuchspersonll, 8; II, 6; I, 29; I, 14; IV, 2 ; I, 12 w i r d die Entscheidung f\u00fcr eine M\u00f6glichkeit getroffen auf Grund der Lustgef\u00fchle, welche sich an den Gedanken dieser M\u00f6glichkeit a n s c h 1 i e \u00df e n.\nIn den F\u00e4llen Versuchsperson G. II, 4; IV, 2 wird eine M\u00f6glichkeit nicht gew\u00e4hlt, weil sich an den Gedanken dieser M\u00f6glichkeit ein Unlustgef\u00fchl anschlie\u00dft.\nIm Fall Versuchsperson I, 26 dr\u00e4ngt sich von einem Unlustgef\u00fchl aus der Gedanke der anderen M\u00f6glichkeit auf und zwang zur Wahl derselben.\n\u00dcber diejenigen F\u00e4lle, in denen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden nicht gesprochen wird, macht Skawran1), der die Arbeit von Trouet bei\n1) Paul Skawran: Experimentelle Untersuchungen \u00fcber den Willen bei Wahlhandlungen. Arch. f. d. ges. Psychol. 58.","page":1420},{"file":"p1421.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1421\nmir fortsetzte, folgende Feststellungen: \u201eEs darf nat\u00fcrlich nicht verschwiegen werden, da\u00df anch eine Anzahl der Protokolle nnr Angaben enthalten \u00fcber intellektuelle Vorg\u00e4nge. Dabei ist zn beachten:\n1.\tDie geringe Anzahl solcher Protokolle* Wenn alle Protokolle, in denen nicht ausdr\u00fccklich von Gef\u00fchlen gesproehenwird, zusammengez\u00e4hlt werden, so kommen auf 139 Versuche der letzten Gruppe nur llsolcherProto-kolle. Also etwa 10%.\n2.\tDa\u00df solche Protokolle fast nur in den ersten Versuchen gegeben werden.\n3.\tKeine Versuchsperson bringt nur intellektuelle Protokolle. Solche Protokolle sind immer nur Ausnahmen. Dazu kommt, da\u00df in ihnen von der Wirkung des Willens zum Ziel und von Bewegungsempfindungen gesprochen wird.\n4.\tDie auffallende K\u00fcrze dieser Protokolle. Meist nur wenige Zeilen, w\u00e4hrend fast alle \u00fcbrigen Protokolle zwei bis sechs Seiten eines Tagebuches einnehmen.\n5.\tDie sehr kurzen Reaktionszeiten...\nSoweit solche Protokolle nicht schon dem Augenschein nach auf eine ungen\u00fcgende Selbstbeobachtung der Versuchspersonen zur\u00fcckgehen, glauben wir sie auf Grund der genannten Tatsachen und der Gesamtergebnisse unserer Versuche darauf zur\u00fcckf\u00fchren zu m\u00fcssen.\nGr\u00fcnde, die zu der Annahme verleiten k\u00f6nnen, da\u00df rein intellektuelle Momente zur Entscheidung f\u00fchren, w\u00e4ren nach unseren Versuchen folgende:\n1.\tDie kolossale Breite, die der intellektuelle Vorgang in fast allen Wahlakten einnimmt1) und auf dessen Kosten vielfach die mit ihnen verbundenen emotionellen Vorg\u00e4nge vernachl\u00e4ssigt werden.\n2.\tDie Tatsache, da\u00df Gef\u00fchle h\u00e4ufig, um sie ausdr\u00fccken zu k\u00f6nnen, auf eine intellektuelle Formel gebracht werden.\u201d\nIch w\u00fcrde noch hinzuf\u00fcgen, worauf ich schon wiederholt hinwies, die Gef\u00fchlszust\u00e4nde verdeckende Wirkung gleichzeitiger Spannungsempfindungen!\n1) Anmerkung. Bei Skawran vollzieht sich die Wahl, wie wir sp\u00e4ter n\u00e4her sehen werden, zwischen vier verschiedenen M\u00f6glichkeiten.","page":1421},{"file":"p1422.txt","language":"de","ocr_de":"1422\nG. St\u00f6rring\n8. Trouet hatte Veranlassung, die mit wirkenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde einznteilen in:\n1.\tGefiihlszust\u00e4nde, die sich an den Gedankeneiner Wahlm\u00f6glichkeit anschlie\u00dfen;\n2.\tGef\u00fchlsznst\u00e4nde, die sich an den Gedanke t der Situation des W\u00e4hlenden anschlie\u00dfen; sie wurden Situationsgefiihle genannt \u2014 und\n3.\tStimmungsgefiihle.\nIn gro\u00dfen Z\u00fcgen haben wir die Wirkungsweise der ersteren kennengelernt. Was die Wirkung der Situationsgef\u00fchle betrifft, so geben wir am besten zun\u00e4chst einige F\u00e4lle.\nI\u00bb 16- \u201eLanges Schwanken, dies erzeugte eine Spannung, die unlustbetont war. Unlust wurde immer st\u00e4rker. Aus der Unlustsituation heraus-geboren die Reaktion selbst.\nDa\u00df ich gerade die maximale w\u00e4hlte, lag daran, da\u00df mein geistiges Auge zuletzt auf dieser haften blieb. Unlustgef\u00fchle wurden verwertet f\u00fcr die Reaktion. Unlust herrschte vor. Es war ein Erregungszustand damit verbunden1).\nVersuchsperson R., I, 63. ,,Das auffallendste war diese Leere, dieses Schwanken. Ich glaube, ich war dar\u00fcber ver\u00e4rgert, da\u00df das kein Ende nehmen wollte. Ich hatte nicht mehr die Freude daran, wie fr\u00fcher. Das gibt auch das Monotone, das Langweilige dieser Leere. Mich \u00e4rgert, da\u00df ich dann aus dem Schwanken nicht herauskomme. Das war am Schlu\u00df unlustbetont, aber nicht sehr auffallend. Schlie\u00dflich dr\u00fcckte ich den Taster. Das kommt durch den Arger oder durch den Gedanken, da\u00df ich etwas tun mu\u00df, ich kann es nicht sagen\u201d2).\nIII, 26. ,,Gef\u00fchl der Unsicherheit vor dem Niederdr\u00fccken des Tasters in Worten: Was nun machen? Es war eine Bewu\u00dftseinslage, in der weder die eine noch die andere Vorstellung sich heraushebt. Ich kann \u00fcberhaupt nicht sagen, was in diesem verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig langen Schwanken alles an Vorstellungen im Bewu\u00dftsein war. Nur die Gef\u00fchlslage, das Gef\u00fchl ist mir in Erinnerung. Es war ein Unbehagen, das dr\u00e4ngte, aus diesem Zustand herauszukommen. Ich f\u00fchlte mich erst erleichtert, als ich mich an eine Vorstellung anklammern konnte, als mir wieder eine Vorstellung klar wurde, n\u00e4mlich das Tasterdr\u00fccken, Vorstellung, f\u00fcr die ich mich entschied, nachdem die Ausf\u00fchrung nochmals vorgestellt war\u201d 1).\nI, 13. \u201eSehr langes Schwanken hin und her. Dies Schwanken war deutlich verbunden mit Spannungsempfindungen an Brust und Kehlkopf, aber auch solchen, die nicht lokalisiert waren. Diese verbanden sich deutlich mit Unlustgef\u00fchlen, durch das lange Schwanken wurde die Unlust immer st\u00e4rker. Ich glaube, da\u00df diese Unlustgef\u00fchle eine Tendenz gesetzt haben zur negativen Reaktion. Ich hatte eine starke Tendenz gehabt, stark zu reagieren\u201d1).\nDie Situationsgef\u00fchle sind fast ausschlie\u00dflich Unlustgef\u00fchle. Sie entstehen im allgemeinen aus einem Schwanken zwischen den verschiedenen Wahlm\u00f6glichkeiten.\n1)\tTrouet: 1. c. S. 189.\n2)\tTrouet: 1. c. S. 190.","page":1422},{"file":"p1423.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1428\nBei schwacher Sitiiationsiinlnst ist eine Herabminderung der Aktivit\u00e4t gegeben. Es tritt dann das Mindestma\u00df von Leistung, die Tasterreaktion, ein.\nBei starker Situationsunlust findet man Steigerung der Aktivit\u00e4t. Dieselbe \u00e4u\u00dfert sich entweder in einer maximalen Beaktion, oder der Drang zu reagieren wird so stark, da\u00df diejenige Wahlm\u00f6glichkeit realisiert wird, die gerade vorgestellt wird, so da\u00df die Versuchsperson bei Realisierung eines bestimmten Zuges die Aussage macht, wenn in dem Moment des intensiven Dranges zu reagieren gerade der Gedanke einer anderen M\u00f6glichkeit aufgetaucht w\u00e4re, so w\u00fcrde diese gew\u00e4hlt worden sein.\nHier bei dieser starken Situationsunlust kann man nicht umhin, von einer Entladung von Unlustenergien zu sprechen.\nWenn Trouet sagt, da\u00df bei den Situationsgef\u00fchlen eine Wahl und damit eine Entscheidung f\u00fcr eine bestimmte M\u00f6glichkeit nicht zustande kommt, so ist das nicht ganz richtig. Bei starker Situationsunlust ist allerdings die Wahlfunktion sehr stark gehemmt, offenbar durch derivative Hemmung und zugleich durch die Tendenz, m\u00f6glichst bald eine Entladung herbeizuf\u00fchren. Aber bei schwacher Situationsunlust wird doch die Tasterreaktion gew\u00e4hlt !\nSkawran hat schon darauf aufmerksam gemacht, da\u00df es merkw\u00fcrdig ist, da\u00df bei schwacher Situationsuolust eine Herabminderung der Aktivit\u00e4t auftritt, bei starker aber eine Steigerung der Aktivit\u00e4t.\nSkawran sucht sich das so verst\u00e4ndlich zu machen, da\u00df er sagt, die Situationsgef\u00fchle sto\u00dfen auf verschiedene Stimmungen. Wo sie auf eine m\u00fcde und eine depressive Stimmung sto\u00dfen, da entsteht schwache Situationsunlust mit Herabminderung der Aktivit\u00e4t, wo keine m\u00fcde oder depressive Stimmung vorliegt, entsteht beim Schwanken eine Situationsunlust mit gesteigerter Aktivit\u00e4t. Er sagt: ,,Einmal wird durch das Schwanken eine Steigerung der Aktivit\u00e4t hervorgerufen, das andere Mal eine Herabminderung derselben. Es mu\u00df also irgendwie eine Verschiedenheit in der psychischen Beschaffenheit, in der psychischen Situation, in der psychischen Empf\u00e4nglichkeit der Versuchsperson vorhanden sein, auf die das Schwanken und \u00fcberhaupt die ganze Situation einwirkt. Es mu\u00df, um mit anderen Worten zu reden, schon eine verschiedene latente Stimmung bei den Versuchspersonen vorhanden sein1).\u201d\nIn einzelnen F\u00e4llen gelingt es Skawran auch, eine m\u00fcde oder depressive Stimmung nachzuweisen. Die Behauptung des Vorhandenseins einer m\u00fcden oder depressiven Stimmung bei allen\n1) Skawran: 1. c. S. 135.","page":1423},{"file":"p1424.txt","language":"de","ocr_de":"1424\nG. St\u00f6rring\nF\u00e4llen von schwacher Situationsunlust mit Herabminderung; der Aktivit\u00e4t bleibt aber gewagt.\nDie hier vorliegenden Tatbest\u00e4nde kann man sich in engster Anlehnung an die Tatsachen und bekannte Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten in folgender Weise verst\u00e4ndlich machen.\nDen nnlnstartigen Gefiihlszust\u00e4nden kommt nicht an und f\u00fcr sich Aktivit\u00e4t zu, obgleich in ihnen Organempfindnngen stecken, die eine relativ gro\u00dfe psychophysische Energie repr\u00e4sentieren. Die in den Unlust-gef\u00fchlen steckenden psychophysischen Energien entladen sich nur in die psychomotorischen Gebiete, wenn die psychomotorischen Gebiete von den Gef\u00fchlszust\u00e4nden reproduktiv angesprochen werden (wenn sich z. B. von einem Unlustgef\u00fchl aus die Vorstellung einer bestimmten Handlung auf dr\u00e4ngt [aktives Mitleiden]), besonders aber, wenn au\u00dferdem ein allgemeiner Erregungszustand vorhanden ist, durch welchen die Anspruchsf\u00e4higkeit der psychomotorischen Gebiete gesteigert ist und au\u00dferdem die emotionell bedeutsamen O r g a n e m p f i n d u n g e n in ihrer Intensit\u00e4t gesteigert werden.\nBei sehr starker Situationsunlust wird auch von einem Zustande der Erregung gesprochen.\nEs bleibt noch verst\u00e4ndlich zu machen, da\u00df eine depressive Stimmung die Aktivit\u00e4t nicht nur nicht steigert, sondern sogar herabsetzt. Das ergibt sich sehr einfach: bei einer depressiven Stimmung \u00e4ndert sich nat\u00fcrlich auch gegen\u00fcber einer nicht depressiven Stimmung der Gef\u00fchlszustand der auftretenden Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken. Es wird dann das ,,Q u a n t u m\u201d von lustartigen Gef\u00fchlszust\u00e4nden jedenfalls vermindert und dadurch auch die Aktivit\u00e4t.\nBevor wir auf unsere experimentelle Untersuchung des Entschlusses zu sprechen kommen, wollen wir noch die Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle und Spannungsempfindungen n\u00e4her ins Auge fassen.\nNach den Untersuchungen von Skawran spielen Spannungsempfindungen und ,,A k t i v i t \u00e4 t s g e f \u00fc h 1 e\u201d f\u00fcr das Willensgeschehen eine sehr gro\u00dfe Bolle.\nVorher m\u00fcssen wir aber noch f\u00fcr diese Protokolle angeben, in welcher Weise die Versuchsanordnung von Skawran ver\u00e4ndert ist gegen\u00fcber derjenigen von Troutt.","page":1424},{"file":"p1425.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\nDa bei den Versuchen von Trouet einige Versuchspersonen klagten, da\u00df sie durch die Gedanken an die einzelnen Wahlm\u00f6glichkeiten relativ kalt gelassen w\u00fcrden im Vergleich mit Wahlm\u00f6glichkeiten des gew\u00f6hnlichen Lebens, so machten wir in den Versuchen von Sicawran die Wahlm\u00f6glichkeiten in folgender Weise weit interessanter: Wir \u00fcbten zun\u00e4chst schwache, mittelstarke und starke Z\u00fcge ein, wobei den einzelnen Versuchspersonen zun\u00e4chst freie Hand darin gelassen wurde, welchen Zug sie als einen schwachen, mittelstarken und starken Zug darboten. Sie sollten sich nur bem\u00fchen, bei Forderung eines dieser Z\u00fcge stets denselben Wert zu ziehen. Es wurden so Mittelwerte der drei Z\u00fcge f\u00fcr jede Versuchsperson gewonnen. Bei den Willens versuchen wurde dann vor dem Wahlversuch die Herstellung der Mittelwerte eines schwachen, eines mittelstarken und starken Zuges verlangt und die Abweichungen von dem Mittelwert der Versuchsperson angegeben ! In den Wahlversuchen ber\u00fccksichtigte dann die Versuchsperson bei ihrer Wahl die von ihr kurz vorher vollzogenen und nach ihrer Abweichung vom Mittelwert charakterisierten Leistungen. Dadurch stieg nat\u00fcrlich das Interesse f\u00fcr die einzelnen Z\u00fcge betr\u00e4chtlich. So wurde eine gr\u00f6\u00dfere Ann\u00e4herung an die Verh\u00e4ltnisse des gew\u00f6hnlichen Lebens f\u00fcr die Wahl geschaffen.\nUnter ,,Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen\u201d verstehen die Versuchspersonen Skawrans Gef\u00fchle des motorischen Dranges, genauer Gef\u00fchle, die der Versuchsperson hinzu dr\u00e4ngen scheinen auf Realisierung einer gedachten Bet\u00e4tigun g1).\nWo diese Gef\u00fchle in der angegebenen Beziehung zu dem Gedanken einer Bet\u00e4tigung stehen, sprechen die Versuchspersonen stets von einem Wollen!\nNicht bei jeder durch den Gedanken einer zu vollziehenden Bet\u00e4tigung ausgel\u00f6sten Handlung treten die Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle, die wir auch Gef\u00fchle des motorischen Dranges, Strebungsgef\u00fchle, Willensgef\u00fchle, Willensimpulse nennen k\u00f6nnen, auf. Es gibt eben auch abgek\u00fcrzte Willensprozesse.\nDiese Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle sind conditio sine qua non des typischen Erlebens eines Wollen s. Das gilt, wie wir sp\u00e4ter sehen werden, nicht von dem Erleben des Entschlusses und auch\nP Diese Gef\u00fchle lassen sich zugleich anffassen als durch den Gedanken an eine zu vollziehende T\u00e4tigkeit ausgel\u00f6st.","page":1425},{"file":"p1426.txt","language":"de","ocr_de":"1426\nGr. St\u00f6rring\nnicht von der Beziehung des Wollens auf ein Ich!\nIn den experimentellen Gef\u00fchlsuntersuchungen von G. E. St\u00f6rring nnd mir stellt sich heraus, da\u00df in den Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen neben Gef\u00fchlen Spannungsempf indnngen stecken, nicht irgend beliebige Spannungsempfindungen, sondern solche, welche durch den Gedanken an diejenige Bet\u00e4tigung ausgel\u00f6st sind, auf deren Realisierung die Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle hindr\u00e4ngen.\nWir geben hier au\u00dferdem daf\u00fcr einen Fall.\nVersuchsperson R. III, 3: ,,Es dr\u00e4ngte mich auf den Entschlu\u00df hin. . . W\u00e4hrend ich das dachte, reproduzierte ich ein Gef\u00fchl restloser Anstrengung, und das gefiel mir. Ich sagte mir: Das ist doch was, da mu\u00dft du dich anstrengen, bis es nicht mehr geht. Lust vorhanden. In die Lust eingetaucht, Spannungsempfindungen(I). Ich mu\u00df mich etwas znsammennehmen, Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle, und das geht unmittelbar in die Handlung \u00fcber.\u201d\nIn den angezogenen Gef\u00fchlsuntersuchungen sind zwei Arten von Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen unterschieden : dynamische Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle und statische.\nWir f\u00fcgen hier dieser Unterscheidung von anderem Gesichtspunkt hinzu die von positiven und negativen Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen oder von positivem motorischen Drang und negativem motorischen Drang.\nIch gebe ein paar F\u00e4lle. Die F\u00e4lle entstammen einer Untersuchung von H. Janclce, die unter meiner Leitung entstanden* demn\u00e4chst im Archiv f\u00fcr die gesamte Psychologie ver\u00f6ffentlicht wird.\nVersuchsperson hatte zwischen drei Dynamometerz\u00fcgen und einem Tasterdr\u00fccker zu w\u00e4hlen. Versuchsperson begibt sich beim Signal ,, Jetzt\u201d mechanisch an die Arbeit. Sie erlebt bei Vergegenw\u00e4rtigung der Wahlm\u00f6glichkeiten I und III Unlust, bei II Lust. ,,Ich nehme II; es blieb \u00fcbrig und zog mich hin. Es war keine besondere Entscheidung n\u00f6tig. Angedeutet war zuletzt noch ,das nehm ich5; das war aber an sich nicht n\u00f6tig; die Bedingungen zur Realisierung waren schon vorher realisiert. Ausf\u00fchrung ohne besonderen Impuls.\nDie negativen Willensimpulse waren die st\u00e4rksten, das Abgesto\u00dfenwerden. Die emotionellen Abwendungen waren erfolgt, daf\u00fcr war eine emotionelle Motivation gegeben. Am interessantesten war das emotionelle Sichabwenden und dann, da\u00df sofort die Wahl vollzogen wurde.\u201d\nIn einem weiteren Fall stehen drei M\u00f6glichkeiten zur Wahl (zwei Dynamographenz\u00fcge).","page":1426},{"file":"p1427.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1427\n\u201e Schwanken zwischen I und II. Starke Lust bei Vergegenw\u00e4rtigung von I. II gefiel mir nicht. Zu I zur\u00fcck; starker motorischer Drang. Ich blieb dabei stehen ! Andeutung von Zustimmung. Ich konstatierte auch den mir interessant gewordenen motorischen Drang ... Es entwickelte sich der st\u00e4rkste Wille bei I . . Ich war sehr stark pers\u00f6nlich engagiert. Der Gedanke, Fehler zu machen, war ein sehr unangenehmer . . . Soll ich auf I verzichten! Unlust. Der Grundsatz der Wahl des schwierigsten war mir bewu\u00dft. Starke Abneigung gegen anderes, aber der motorische Drang der Abweisung sprang nicht so sehr in die Erscheinung als der positiv motorische Drang bei I.\u201d\nBei positiv motorischem Drang oder positiven A k t i v i t \u00e4 t s g e f \u00fc h 1 e n haben wir es also zu tun mit Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen, welche hindr\u00e4ngen auf Realisierung einer gedachten Bet\u00e4tigung, bei negativ motorischem Drang, negativen Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen haben wir es zu tun mit Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen, welche hindr\u00e4ngen auf Abwendung von der gedachten Bet\u00e4tigung.\nVon einem anderen Gesichtspunkt aus haben wir noch zwei Arten von Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen zu unterscheiden:\nAktivit\u00e4tsgef\u00fchle, die sich an den Gedanken einer bestimmten Bet\u00e4tigung anschlie\u00dfen und sodann Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle, die sich an den allgemeinen Gedanken einer Bet\u00e4tigung anschlie\u00dfen, die einer bestimmten Klasse von Bet\u00e4tigungen angeh\u00f6rt. Ich gebe ein paar Protokolle.\nVersuchsperson S. III, 4: ,,Da sprang III gleich hervor. Es kn\u00fcpften sich starke Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle an. Ich versuchte, mir den Mittelwert vorzustellen, kam aber nur zur visuellen Vorstellung, nicht zur motorischen. Ich wurde zum Zug hingedr\u00e4ngt, die anderen M\u00f6glichkeiten waren verschwunden. Ich f\u00fchrte den Zug aus1).\u201d\nHier haben wir es mit Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen zu tun, die sich an den Gedanken einer bestimmten Bet\u00e4tigung anschlie\u00dfen, der Bet\u00e4tigung, den Zug III zu realisieren.\nAnders steht es in folgendem Fall:\nVersuchsperson S. III, 21: ,,I dr\u00e4ngte sich wieder vor, und ich lenkte meine Aufmerksamkeit auf I. Es reizte mich zum Zug . . . W\u00e4hrend ich aber \u00fcberlegte, wurden Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle bemerkbar, die die Lust wachriefen, die ganze Kraft aufzuwenden. So Aufmerksamkeit auf III gerichtet.\u201d\nl) Skawranv 1. c. S. 129.","page":1427},{"file":"p1428.txt","language":"de","ocr_de":"1428\nGr. St\u00f6rring\nDie hier auf tretenden Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle sind nicht etwa durch den Gedanken an Zug I ausgel\u00f6st, sie dr\u00e4ngen ja nicht auf Beali-sierung von Zug I. Sie sind offenbar durch die allgemeine Einstellung, einen Zug zu realisieren, ausgel\u00f6st und lenken nun, dank ihrer Intensit\u00e4t, die Aufmerksamkeit auf den st\u00e4rksten Zug III.\nIch will diese verschiedenen Arten von Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen mit verschiedenen Kamen bezeichnen und die einen speziell determinierende Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle und die anderen allgemein determinierende Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle nennen.\nEach den Protokollen von STcawran spielen auch Spannungsempfindungen, die nicht in den Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen stecken, eine Bolle im Willensgeschehen, und zwar auf indirektem Wege.\nSpannungsempfindungen, die nicht in den Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen stecken, wirken einmal so, da\u00df die allgemeine Erregbarkeit gesteigert wird und sodann stellen sie bei starker Entwicklung eine derivative Hemmung f\u00fcr die w\u00e4hlenden Funktionen dar. \u2014\nWir wenden uns jetzt der Behandlung der Entscheidung auf Grund unserer experimentellen Untersuchungen zu.\nIn der Entscheidung steckt ein Urteil und ein Gef\u00fchlszustand. Das Urteil ist ein Vorzugs-urteil bez\u00fcglich derjenigen Wahlm\u00f6glichkeit, f\u00fcr welche die Entscheidung ausf\u00e4llt. Der Gef\u00fchlszustand, der sich in der Entscheidung findet, ist ein Lustgef\u00fchl, und zwar ein aktives Lustgef\u00fchl, ein Aktivit\u00e4tsgef\u00fchl.\nDie Entscheidung stellt eine Art des Wollen s dar, denn das Aktivit\u00e4tsgef\u00fchl, welches in derselben steckt, dr\u00e4ngt zur Bealisierung der Bet\u00e4tigung, welche im Vorzugsurteil gemeint ist.\nIch gebe einige F\u00e4lle.\nVersuchsperson B. III, 4: ,,An den dritten Zug kn\u00fcpften sich Lustgef\u00fchle, wenn ich an die Handlung dachte. Ich f\u00fchlte mich zur Billigung dieses Zuges gedr\u00e4ngt. Dann trat ein aktives Gef\u00fchl auf, Knacksempfindungen in der Kehle, Spannungsempfindungen in der Brust. Das aktive Gef\u00fchl f\u00fchrt unmittelbar zum Zug1).\u201d\nDas Vorzugsurteil ist hier in der Billigung gegeben. An dieses Urteil schlie\u00dfen sich Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle an, welche unmittelbar zum Zug f\u00fchren.\nx) Skawran: 1. c. S. 156.","page":1428},{"file":"p1429.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1429\nDas aktive Lustgef\u00fchl ist hier zu scheiden von dem Lustgef\u00fchl, welches sich an den Gedanken des Zuges III anschlo\u00df. Das aktive Lustgef\u00fchl schlie\u00dft sich erst an das Urteil an, welches die Beziehung zwischen dem Gedanken an den Zug III zu dem auftretenden Lustgef\u00fchl zum Gegenstand der Betrachtung macht. Ich bezeichne deshalb das aktive Lustgef\u00fchl als ein superponiertes, und zwar spreche ich hier von einer einfachen Superposition1).\nDas Yorzugsurteil ist nicht zu verwechseln etwa mit einem Urteil : ich will von den ins Auge gefa\u00dften diese bestimmte Bet\u00e4tigung vollziehen. Dieser Entscheidungswille ist erst gegeben in beiden Faktoren zusammen: dem Yorzugsurteil und dem Aktivit\u00e4tsgef\u00fchl, nicht etwa in Yorzugsurteil + Aktivit\u00e4tsgef\u00fchl, sondern in dem Yorzugsurteil und dem in eigenartiger (soeben angegebener) Weise auf das Objekt des Yorzugsurteils bezogenen Aktivit\u00e4tsgef\u00fchl. Dieses Erlebnis findet in dem Urteil ,,ich will von den ins Auge gefa\u00dften M\u00f6glichkeiten die und die vollziehen\u201d eine K o n-statierung.\nIch gebe noch einen Fall.\nZur Wahl stehen drei Dynamographenz\u00fcge und eine Tasterreaktion.\n,,0 wird abgewiesen. Bei I unbestimmtes Erleben, keine Freude . . . Bei II Gedanke: da mu\u00df ich st\u00e4rker ziehen. Bei III Gedanke: das ist anstrengend, unangenehm. II gefiel mir am besten. Willst du II oder III % Wenn III auch mit Unlust verbunden ist, das macht nichts, dann gerade. Ausgepr\u00e4gter Willensimpuls, starke motorische Tendenz. (Zu ,,das macht nichts\u201d wird die zus\u00e4tzliche Bemerkung gemacht : Da kann man am meisten mitleisten, erleben.) Maximales Lustgef\u00fchl. Lust trat auf mit vorhandenen Spannungen, aber die Spannungen wurden gesteigert. Bet\u00e4tigung\u201d 2).\nHier steckt das Yorzugsurteil, wie man leicht erkennt, in der Feststellung ,,da kann man am meisten mitleisten, erleben\u201d. Der sich an das Urteil anschlie\u00dfende \u201eausgepr\u00e4gte Willensimpuls\u201d findet dann eine Analyse in der Angabe \u201emaximales Lustgef\u00fchl\u201d mit \u201eSp annungen\u201d, durch welche vorhandene Spannungen gesteigert werden.\nIn einzelnen F\u00e4llen finden sich in den Spannungsempfindungen des Aktivit\u00e4tsgef\u00fchles motorische Faktoren, welche der\nx) Diese Schrift. S. 1370.\n2) Siehe Arbeit yon E. Jancke.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n93","page":1429},{"file":"p1430.txt","language":"de","ocr_de":"1430\nGr. St\u00f6rring\nW i 11 e n s e n t s c h e i d u n g die Nuancen einer Zustimmung geben, so wie in dem znerst hier angezogenen Fall einer Innervation in der Kehle, welche znm Eindruck des Knackens der Kehle f\u00fchrt, in anderen F\u00e4llen eine Tendenz znm Kicken des Kopfes.\nBeim Lesen vieler anderer Protokolle mn\u00df man beachten, da\u00df das Yorzngsnrteil meist nicht in Worte gefa\u00dft ist, ein Urteil ohne Worte ist. Die Stelle desselben ergibt sich aber unschwer. Sodann mn\u00df man beachten, da\u00df nnsere Yersnchspersonen nie zn einer Analyse der Entscheidung anfgefordert worden sind ! In vielen F\u00e4llen fehlt die Entscheidung in den Willensbet\u00e4tigungen.\nIn einem der von uns zitierten F\u00e4lle h\u00f6rten wir von der Versuchsperson, da\u00df zwar eine Entscheidung stattfand, da\u00df sie aber nicht n\u00f6tig gewesen w\u00e4re f\u00fcr den Ablauf des Willensgeschehens: der Gedanke einer der Wahlm\u00f6glichkeiten dr\u00e4ngte sich nach Yentilierung der anderen M\u00f6glichkeiten auf Grund von sehr starken Lustgef\u00fchlen, die sich an den Gedanken der betreffenden Bet\u00e4tigungen anschlossen, so scharf im Bewu\u00dftsein vor, da\u00df die Prozesse mit Entwicklung von Aktivit\u00e4tsgef\u00fchlen und dadurch bedingter Ausf\u00fchrung ihr Ende fanden.\nEine andere unserer Versuchspersonen sagte ja auch in den angef\u00fchrten Protokollen, sie habe den Eindruck, da\u00df die Entscheidung um so k\u00fcrzer ausfiele, je st\u00e4rker die an den betreffenden Gedanken der Bet\u00e4tigung sich anschlie\u00dfenden Lustgef\u00fchle seien.\nIch sagte \u00fcbrigens gelegentlich, da\u00df in Wahlhandlungen der Entscheidung, wo sie stattfindet, schon einfaches Wollen vorausgeht. Es ist offenbar bei Yentilierung der einzelnen M\u00f6glichkeiten gegeben, wo sich an den Gedanken einer bestimmten Wahlm\u00f6glichkeit nicht nur ein Lustgef\u00fchl, sondern auch ein dadurch bedingter motorischer Drang, Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle, anschlie\u00dft.\nDie Realisierung der gedachten Bet\u00e4tigung wird dann gehemmt im allgemeinen durch ein Unlustgef\u00fchl, welches sich an den Gedanken der Bet\u00e4tigung anschlie\u00dft. Schon in meinen Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie habe ich auf die Funktion dieses hemmenden Unlustgef\u00fchles1) hingewiesen. Es entsteht durch Erfahrung von Unlustfolgen von Ausf\u00fchrung gedachter Bet\u00e4tigung ohne Yentilierung der verschiedenen M\u00f6glichkeiten2).\n1)\tSt\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie und ihre Bedeutung f\u00fcr die normale Psychologie. 1900, S. 447 ff.\n2)\tSt\u00f6rring: Psychologie. S. 227 und 228.","page":1430},{"file":"p1431.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1431\n4. Kapitel.\nDie Bedeutung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr das Bewu\u00dftsein der Freiheit\ndes Willens.\nI. Allgemeine Bestimmungen \u00fcber das Erleben von Freiheit und Unfreiheit.\nIn einer gro\u00dfen Grnppe von F\u00e4llen sehen wir das Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens anftreten bei einem aktiven Eingreifen des Ichbewu\u00dftseins und des Ichs, d. h. der im Ichbewu\u00dftsein gemeinten Faktoren, in die Wahlprozesse. Es gibt ein W\u00e4hlen und Entschlie\u00dfen, ohne da\u00df dabei das Ichbewu\u00dftsein eine Bolle spielt. Aber wo das Ichbewu\u00dftsein im Entschlu\u00df auf-tritt, findet sich nicht immer ein Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens.\nAls weitere Bedingung f\u00fcr das Auftreten des Bewu\u00dftseins der Freiheit in diesen Wahlprozessen ergab sich das Urteil, da\u00df die in dieser emotionellen Stellungnahme g e-gebenen Willensantriebe (von den Versuchspersonen meist ,,Motive\u201d genannt) nicht absolut zwingend seien.\nGrundlage der ganzen hier in Frage kommenden Prozesse ist also eine emotionelle Stellungnahme zu den einzelnen Wahlm\u00f6glichkeiten, welche noch nicht bis zum Entschlu\u00df entwickelt ist. Diese emotionelle Stellungnahme wird sodann zum Gegenstand der Betrachtung gemacht und l\u00f6st ein aktives Eingreifen des Ichs und des Ichbewu\u00dftseins aus, im allgemeinen, indem die vollzogene n\u00e4her bestimmte emotionelle Stellungnahme zu den einzelnen Wahlm\u00f6glichkeiten vom w\u00e4hlenden Subjekt zum Gegenstand der Betrachtung gemacht ist und dabei das Urteil gef\u00e4llt ist: ,,Diese Willensantriebe sind nicht absolut zwingend\u201d. Wenn dann dieses Urteil, da\u00df diese Willensantriebe nicht absolut zwingend sind, ein Eingreifen des Ichs und des Ichbewu\u00dftseins ausl\u00f6st, so verbindet sich das aktive Eingreifen im allgemeinen mit dem Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens.\nWenn sich auch fast immer dies Urteil vor dem aktiven Eingreifen des Ichs in den einzelnen Prozessen nach weis en l\u00e4\u00dft, so darf man doch nicht behaupten, da\u00df das Auftreten dieses Urteils vor dem aktiven Eingreifen des Ichs und des Ichbewu\u00dftseins conditio sine qua non des Auftretens des Bewu\u00dftseins der Freiheit des Willens sei: Bei Gleichwertigkeit der Willensantriebe und Feststellung der Gleichwertigkeit kann eine Ichentscheidung f\u00fcr eine M\u00f6glichkeit stattfinden, und wenn erst darnach die Unabh\u00e4ngigkeit der Ichentscheidung von dem Drang der ,,peripheren\u201d Willensantriebe konstatiert wird, so wird sich auch im allgemeinen\n93*","page":1431},{"file":"p1432.txt","language":"de","ocr_de":"1432\nG. St\u00f6rring\n(N\u00e4heres sp\u00e4ter !) ein Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens entwickeln.\nBez\u00fcglich des aktiven Eingreifens des Ichs und des Ichbewu\u00dftseins sind verschiedene Arten zu unterscheiden. Dieses aktive Eingreifen kann sich vollziehen nach Konstatierung der Gleichwertigkeit der verschiedenen Wahlm\u00f6glichkeiten als ein aktives Hinzngeben eines Etwas zu einer der M\u00f6glichkeiten oder nach Konstatierung des Vorhandenseins eines starken Dranges zur Realisierung einer der Wahlm\u00f6glichkeiten, als ein aktives Sichentgegensetzen des Ichs gegen den Zwang eines Willensantriebes oder nach Konstatierung einer Differenz zwischen den Willensantrieben als ein aktives Nachgeben gegen\u00fcber einem der Willensantriebe.\nWir wollen diese verschiedenen Arten des aktiven Eingreifens des Ichs und des Ichbewu\u00dftseins durch Darbietung einiger Versuche aus der Arbeit von Gies demonstrieren.\nVersuchsperson M. 16. ,,Ich habe die Wahl zwischen zwei M., die sich mir beide mit starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden (Lustgef\u00fchlen) aufdr\u00e4ngen (M. 1 intellektuelle Lustgef\u00fchle, M. 2 gemischte Gef\u00fchle, etwas Mystisches), die beide gleichm\u00e4\u00dfig nach mir langen, und ich tue das, was ich will, um eine L\u00f6sung herbeizuf\u00fchren. Das kommt eigentlich aus meiner Pers\u00f6nlichkeit, das Bewu\u00dftsein ist da, da\u00df ich es bin, der hier frei handelt, der \u00fcber den objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nden steht, wenn sie auch zu seelischen Tatbest\u00e4nden werden. Das liegt alles in dem ,Ich will\u2019, und zwar auch bewu\u00dft. Hier habe ich mich frei entschlossen 1).\u201d\nHier betrifft die Wahl zwei M\u00f6glichkeiten, die sich mit starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden verbinden. Sie werden als gleichm\u00e4\u00dfig dr\u00e4ngend beurteilt. Diese ,,objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nde\u201d ziehen also das w\u00e4hlende Subjekt, f\u00fcr sich genommen, nicht nach einer bestimmten Richtung hin. Vielmehr wird die Entscheidung herbeigef\u00fchrt durch das Ich, die Pers\u00f6nlichkeit, die \u00fcber den objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nden steht und deshalb als frei handelnd aufgefa\u00dft wird.\nEine andere Art der Bet\u00e4tigung des entscheidenden Ichs liegt in folgendem Versuch vor:\nVersuchsperson L. 14: ,,Ich \u00fcberlege, stelle mir die beiden M. vor Augen. Die Gr\u00fcnde f\u00fcr das eine wie f\u00fcr das andere sind: Der Ergographenzug ist jetzt etwas Neues, hat deshalb ein bestimmtes\nb Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S'. 3.","page":1432},{"file":"p1433.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1433\nInteresse; den Kullschieber zu w\u00e4hlen, hatte nnr negatives Interesse = das gerade Gegenteil zu tnn von dem, was zur Bealisierung dr\u00e4ngt. Kun gehe ich mir das Kommando : W\u00e4hle ! Ich stellte mir wieder die beiden M. mit der vorher angegebenen Begr\u00fcndung vor. Dann sagte ich mir, ich will den Kulischieber ziehen und begr\u00fcndete mir diese Entscheidung, weil die lichtaus-f\u00fchrung dieses Zuges am Ergographen eine \u00dcberwindung kostet und ich eine Freude daran habe, da\u00df es mir m\u00f6glich ist, gerade das Gegenteil zu tun. Jetzt gebe ich mir den Befehl, den Kulischieber zu ziehen, und f\u00fchre den auch aus. Ich freute mich \u00fcber die Freiheit meines Entschlusses noch w\u00e4hrend der Ausf\u00fchrung 1).\u201d\nHier ist also die emotionelle Stellungnahme zu den verschiedenen Wahlm\u00f6glichkeiten vor der Entscheidung so, da\u00df ein Willensantrieb dem anderen gegen\u00fcber pr\u00e4valiert. Versuchsperson macht diesen Tatbestand zum Gegenstand ihrer Betrachtung und entwickelt den Gedanken, da\u00df es ihr m\u00f6glich sei, gerade das Gegenteil zu tun, da\u00df sie nicht gebunden ist an die objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nde. Der Gedanke, das gerade Gegenteil zu tun, verbindet sich mit Freude. In diesem Entschlu\u00df und Handeln gegen die dr\u00e4ngendsten ,,Motive\u20195 wird sie sich der Freiheit ihres Entschlusses ganz besonders kr\u00e4ftig und mit Freude bewu\u00dft.\nIn einer noch anderen Klasse von F\u00e4llen kommt das Freiheitsbewu\u00dftsein zur Entwicklung bei einem \u201eKachgeben\u201d gegen\u00fcber einem der dr\u00e4ngenden Willensantriebe.\nVersuchsperson L. 29. \u201eIch konstatiere, da\u00df beide M. einander \u00e4hnlich sind, geben sich mir aber qualitativ verschieden. Den Vorzug hat sofort die zweite M., und zwar, weil hier noch ein freiheitliches Moment mit der Ausf\u00fchrung verbunden ist, weil ich einen beliebigen Zug w\u00e4hlen kann. Diese zweite M. dr\u00e4ngte wegen dieses Plus zur Ausf\u00fchrung, l\u00f6st Motive aus, die zur Ausf\u00fchrung dr\u00e4ngen: Ich bin sofort bereit, diesen dr\u00e4ngenden Motiven nachzugeben: Bein sachliches \u00dcberlegen und Lustempfinden wiegt \u00fcber. I c h bin aber bereit, nachzugeben und mich f\u00fcr diese M. zu entscheiden. Ein direktes Erei-heitsgef\u00fchl, ist dabei, als ich bereit bin, diesem Motiv nachzugeben, weil ich mir klar, voll bewu\u00dft bin, ich k\u00f6nnte mich auch zu dem anderen entschlie\u00dfen. Ich hatte es vollst\u00e4ndig in der Hand, diesem Motiv nachzugeben oder nicht2).\u201d\nx) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 60.\n2) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 57*","page":1433},{"file":"p1434.txt","language":"de","ocr_de":"1434\nG-. St\u00f6rring\nHier ist der objektiv gegebene Tatbestand, dem das entscheidende Ich gegen\u00fcbertritt, so, da\u00df ein Motiv, ein Willensantrieb pr\u00e4valiert, dessen Wahl sich anch dem entscheidenden Ich als rationell darstellt. Das w\u00e4hlende Ich entscheidet sich f\u00fcr diese M., vollzieht ein \u201eRachgeben\u201d, wendet sich also nach derselben Richtung, nach welcher schon der objektiv gegebene Tatbestand gewandt ist. Das w\u00e4hlende Subjekt bleibt sich aber trotz dieser \u00dcbereinstimmung bewu\u00dft, da\u00df hier ein Entschlu\u00df aus dem eigenen Ich, ein freier Entschlu\u00df, wie in den obigen F\u00e4llen der Entschlie\u00dfung, vorliegt. Die Freiheit dieser Entschlie\u00dfung bringt sie so zum Ausdruck, da\u00df sie sagt: ,,Ich hatte es vollst\u00e4ndig in der Hand, diesem Motiv nachzugeben oder nicht.\u201d\nBevor ich diese verschiedenen Arten genauer bespreche, will ich den Freiheitserlebnissen die Erlebnisse der Unfreiheit, die in den Versuchen unter den angegebenen Versuchsbedingungen auftreten, charakterisieren.\nVersuchsperson J. 7: ,,Die Wahl war furchtbar schwer. Die M. unterschieden sich von vornherein f\u00fcr mich in ihrem Wertgehalt so wesentlich, da\u00df ich \u00fcber eine Wahl gar nicht im Zweifel sein konnte. M. 2 dr\u00e4ngte sich sofort auf, weil etwas Interessanteres. Unangenehm, da\u00df Wertunterschied so gro\u00df. Wenn ich die andere gew\u00e4hlt h\u00e4tte, h\u00e4tte ich das aus Trotz getan, erschien etwas kindlich, w\u00e4hrend es mir aber unangenehm war, da\u00df ich das andere w\u00e4hlen mu\u00dfte, stand doch nicht frei gegen\u00fcber. Gewi\u00df, man ist ja von niemand gezwungen. Man verbindet mit dem Begriff W\u00e4hlen immer so etwas, als wenn es ein freies W\u00e4hlen w\u00e4re, wobei einem dann die Freiheit deutlicher zum Bewu\u00dftsein kommt, wenn hin und her geschwankt wird, wenn man nicht recht wei\u00df. Hier war Tendenz zu M. 2 zu stark \u00fc\u201d\nHier dr\u00e4ngt ein starker Willensantrieb zur Entscheidung. Es macht sich zwar eine Tendenz zum Entgegenstellen geltend, dieselbe kommt aber nicht zur Auswirkung, da ein solches Verhalten als kindlich von Versuchsperson charakterisiert wird.\nVersuchsperson Q. 10: ,,Aber dieses erste Sicherheitsgef\u00fchl ist st\u00e4rker, weil es sich um einen schon markierten Punkt handelt. Das Sicherheitsgef\u00fchl bei M. 1 dominierte. Ich brauchte jetzt keinen besonderen Entschlu\u00df zu fassen. Es stand f\u00fcr mich fest, diese erste zu nehmen. Ich f\u00fchlte mich regelrecht daran gebunden. Dieses Gebundensein habe ich in Form eines Gef\u00fchles. Ich merke, wie ich hingezogen werde * 2).\u201d\nVersuchsperson X. 25: \u201eDie erste Aufgabe trat mit ihrem eigenartigen Reiz in den Vordergrund, ich\nb Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S'. 36 und 37.\n2) Arch. f. d. ges. Psychol. 74.. S. 52.","page":1434},{"file":"p1435.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1435\nf\u00fchlte mich aber sofort abh\u00e4ngig bei dem Gedanken, jenem nachzugeben, also nicht frei in der Wahl1).\u201d\nYersnchsperson M. 10: ,,Ich habe nicht das Bewu\u00dftsein gehabt, da\u00df das eine freie Wahl war, habe mich von den M. bestimmen lassen. Sympathie f\u00fcr die Aufgabe lag in der Art der Aufgabe. In diesem Sinne kann man nicht von einer Freiheit sprechen.\u201d\nW\u00e4hrend in dem zuerst dargebotenen Fall von Erleben des Gezwungenseins wenigstens noch ein Ansatz zu einer Reaktion der Pers\u00f6nlichkeit vorhanden war, dessen Entwicklung dann aber gehemmt wurde, finden wir hier ein reines Bestimmt werden durch das, was fr\u00fcher eine der Versuchspersonen objektiv gegebene Tatbest\u00e4nde im Gegensatz zur freien Bet\u00e4tigung des diese objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nde zum Gegenstand der Betrachtung machenden Ich willens nannte \u2014 was man besser peripherbedingte emotionelle Stellungnahme nennen k\u00f6nnte2).\nHier ist der emotionelle Drang zur Realisierung einer bestimmten Wahlm\u00f6glichkeit so stark, da\u00df eine zentrale Ichbetrach-tung und -bet\u00e4tigung dagegen nicht aufkommt,\nWir geben noch einen Versuch, in welchem nicht der Drang zur Realisierung einer bestimmten Wahlm\u00f6glichkeit zu stark ist, sondern wo der allgemeine Drang, etwas zu tun, die zentrale Stellungnahme gegen\u00fcber der peripheren nicht aufkommen l\u00e4\u00dft.\nVersuchsperson A. 14: ,,Ieh \u00fcberdachte beide M. und fand, da\u00df sie gleichwertig waren in bezug auf Interessantes, also stand ich klar vor der Wahl zwischen gleichwertigen Bewegungen. Dieses hatte zur Folge, da\u00df ich im Moment nicht wu\u00dfte, was ich tun sollte. Dieses Dilemma kam mir als toter Punkt vor, und der Drang, etwas zu tun bzw. der Wunsch, aus dem konfusen Gedankengewirr herauszukommen, lie\u00df mich zur Ausf\u00fchrung des ersten Befehles kommen, der sich mir gewaltsam als Geh\u00f6rtes und Erl\u00f6sendes auf dr\u00e4ngte. Ich kann also von einem unbedingten Willen nicht sprechen 3).\u201d\nBevor ich zur genaueren Behandlung der verschiedenen Arten der Bet\u00e4tigung des freien Ichwillens \u00fcbergehe, will ich noch eine Bestimmung \u00fcber A b h \u00e4 n g i g k eit der verschiedenen Klarheit des Bewu\u00dftseins der Freiheit des Willens machen.\nEine Verst\u00e4rkung des Dr\u00e4ngens der ,,Motive\u201d, d. h. der peripher bedingten Willensantriebe f\u00fchrt eine Steigerung der Aus-\nx) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 52.\n2)\tArch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 53.\n3)\tArch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 51.\t.... ;","page":1435},{"file":"p1436.txt","language":"de","ocr_de":"1436\nGr. St\u00f6rring\npr\u00e4gung des Bewu\u00dftseins der Freiheit des Willens herbei, wenn die Steigerung des Dr\u00e4ngens per Kontrast steigernd wirkt auf die Intensit\u00e4t des Sichentgegensetzens von seiten des Ichwillens zur Entschlie\u00dfung !\nII. N\u00e4here Untersuchung der verschiedenen Arten des mit Freiheitsbewu\u00dftsein sich verbindenden Ichwillens zur Entscheidung.\n1. Freiheitsbewu\u00dftsein bei dem auf Gleichwertigkeit der Wahlm\u00f6glichkeiten sich gr\u00fcndenden Ichwillen zur Entscheidung.\nWir referierten bereits \u00fcber einen Versuch, in welchem zun\u00e4chst eine Konstatierung der Gleichwertigkeit der Wahlm\u00f6glichkeiten stattfand, wo sich also die Auffassung entwickelte, da\u00df die peripher bedingten Wertsch\u00e4tzungen nicht zur Entscheidung nach einer bestimmten Richtung eine Tendenz setzten, da\u00df vielmehr die Entscheidung durch die eigene Pers\u00f6nlichkeit herbeigef\u00fchrt werde, die \u00fcber den objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nden stehe. Damit verband sich das Bewu\u00dftsein freier Entscheidung und sich anschlie\u00dfenden freien Handelns, wobei der Begriff der freien Entscheidung und des freien Handelns im gew\u00f6hnlichen indeterministischen Sinn genommen ist.\nIch will hier noch einen \u00e4hnlichen Versuch geben.\nVersuchsperson L. 27 : ,,Es ist schwer, zu einer Wahl zu kommen, da mir keine Anhaltspunkte gegeben sind. Es steht mir frei, mich f\u00fcr eine M. zu entscheiden, ich bin nicht determiniert durch bestimmte dr\u00e4ngende Motive. Jetzt stellten sich mir diese M. so dar, als wenn jede M. in einer Waagschale w\u00e4re und beide Schalen st\u00e4nden gleich. Ich m\u00fc\u00dfte nun in eine Schale ein \u00dcbergewicht hineinlegen. Diese M. h\u00e4tte ich dann gew\u00e4hlt. Die Wahl ist erst dann vollzogen, wenn ich noch etwas Bestimmtes dazugebe, kann das auch zu der anderen M. geben. Wenn ich gesagt habe, ich habe gew\u00e4hlt, k\u00f6nnte ich noch die Sache wieder umwerfen, das w\u00fcrde aber meinen Grunds\u00e4tzen nicht entsprechen. Ich k\u00f6nnte es aber. Jetzt nehme ich nur die beiden M. nochmal vor, f\u00fcr die beide ein Interesse da ist. Vielleicht finde ich doch etwas Verschiedenes. Bei M. 1 habe ich den Wert eigentlich wenig gemerkt, das k\u00f6nnte ein Grund sein, M. 1 nicht auszuf\u00fchren. Das schied ich aber aus, ich nehme an, ich w\u00fcrde sie richtig treffen. Dann ist sie aber etwas schwieriger. Jetzt stehe ich aber gerade bei dieser M. 1 und sage mir, jetzt habe ich ja eigentlich diese M. 1 herausgegriffen und gew\u00e4hlt. Ich kann jetzt diese w\u00e4hlen, aber nur, wenn ich will.","page":1436},{"file":"p1437.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1437\nDieses Dazngeben des Willens ist das, was ich vorhin mit \u00dcbergewicht bezeichnete. Bo will ich jetzt diese sich mir darbietende M. w\u00e4hlen. Ich bin \u00fcberzengt, ich k\u00f6nnte anch die andere w\u00e4hlen 1).\u201d\t\u2022\nHier erscheinen wieder die Wahlm\u00f6glichkeiten gleichwertig, ,,beide Schalen sind gleich\u201d. Versuchsperson sagt deshalby da\u00df sie nicht durch bestimmte dr\u00e4ngende \u201eMotive\u201d determiniert ist. Es ist hier ein besonderer Antrieb n\u00f6tig, um die Wahl zu vollziehen. So entsteht der Ich wille zur Entscheidung, in welchem etwas Bestimmtes zu einer der Wahlm\u00f6glichkeiten dazu gegeben wird. Dieser Antrieb wird de facto gesetzt durch die Einstellung zu w\u00e4hlen und sich zu entscheiden. Die Versuchsperson beachtet aber diese Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung nicht, deshalb erscheint ihr dieser Antrieb frei, vom Ich gesetzt. In den objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nden liegt keine Tendenz zur Beaktion nach einer bestimmten Seite hin; da tritt nun das Ich selbst\u00e4ndig, frei eingreifend, auf und vollzieht ein \u201eDazugeben\u201d eines Etwas, zu einer der M\u00f6glichkeiten.\nDieses \u201eDazugeben hat zwei verschiedene Seiten: E s handelt sich dabei um einen vom Ich ausgehend gedachten freien Impuls \u2014 frei im v\u00f6llig indeterministischen Sinn, aber der in diesem Impuls vorhandene Gef\u00fchlszustand wirkt seinerseits kausal auf das Geschehen ein: In einem \u00e4hnlichen Versuch wird gesagt, da\u00df das -\u201eDazugeben\u201d die eine der Wahlm\u00f6glichkeiten \u201eschwerer macht, um sie auszuf\u00fchren\u201d. Der in diesem Impuls liegende Gef\u00fchlszustand wird also einerseits als frei vom Ich gesetzt gedacht \u2014 und zwar nach der ganzen Ausdrucksweise frei im indeterministischen Sinne \u2014, andrerseits als die Entscheidung und Ausf\u00fchrung mit kausaler Notwendigkeit bestimmend!\nIch habe oben gesagt, da\u00df unter den hier angegebenen Bedingungen im allgemeinen ein Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens im eigentlichsten Sinne, im indeterministischen, auftritt.\nAber in einigen F\u00e4llen tritt unter diesen Bedingungen ein deterministisches Ereiheitsbewu\u00dftsein auf: Das Bewu\u00dftsein, da\u00df die eigene Pers\u00f6nlichkeit und nicht die peripher bedingten Willensantriebe in der Entscheidung bestimmend wirken, da\u00df die eigene Pers\u00f6nlichke it mit kausaler Notwendigkeit einen Impuls\nx) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 30.\t< f. <","page":1437},{"file":"p1438.txt","language":"de","ocr_de":"1438\nGr. St\u00f6rring\nsetzt, der dann auch kausal weiterwirkt. Die Beaktion der eigenen Pers\u00f6nlichkeit wird dann als frei bezeichnet, weil sie nn abh\u00e4ngig ist von peripher bedingten Willensantrieben.\nDas scheint mir vorznliegen im folgenden Versuch:\n\u201eVersuchsperson Jf. 16: \u201eIch habe die Wahl zwischen zwei M\u201e die sich mir beide mit starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden (Lustgef\u00fchlen) auf dr\u00e4ngen . . ., die beide gleichm\u00e4\u00dfig nach mir langen, und ich tue das, was ich will, um eine L\u00f6sung herbeizuf\u00fchren. Das kommt eigentlich aus meiner Pers\u00f6nlichkeit, das Bewu\u00dftsein ist da, da\u00df ich es bin, der hier frei handelt, der \u00fcber den objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nden steht, wenn sie auch zu seelischen Tatbest\u00e4nden werden. Das liegt alles in dem ,Ich will\u2019, und zwar auch bewu\u00dft. Hier habe ich mich frei entschlossen.\u201d\nVersuchsperson sagt, da\u00df sie den Eindruck hat, frei zu handeln, weil die Entscheidung nicht aus den objektiven Tatbest\u00e4nden, sondern aus ihrer eigenen Pers\u00f6nlichkeit stammt, weil sie \u00fcber den objektiv gegebenen Tatbest\u00e4nden steht !\nAm Ende der ganzen Versuche ergab eine Exploration darnach, welche theoretische Einstellung Versuchsperson zu der Frage des Determinismus und Indeterminismus einnahm, da\u00df sie dem Determinismus zustimmt. Das schlie\u00dft nat\u00fcrlich ein Erleben nicht aus, welches f\u00fcr den Indeterminismus zu sprechen scheint1).\n\u00c4hnlich steht es z. B. auch in folgendem Versuch:\nVersuchsperson A. 30: \u201eDie Kommandos waren mir beide interessant, stellte visuell vor (Armbewegungen) : das erste Viertel, dann die H\u00e4lfte, das zweite, die H\u00e4lfte, dann Anfang. Jetzt trat der Gedanke an die Wahl auf. Ich fa\u00dfte den Willen zur Wahl impulsiv aus dem Drange, etwas Interessant es zu erleben. Beide M. waren mit Lustgef\u00fchlen verbunden und in dieser Hinsicht gleich. Es war v\u00f6llig unentschieden, und zwar konnte ich mich frei aus mir entschlie\u00dfen, hatte ein Interesse und Lustempfinden f\u00fcr beide in gleicher Weise. Dieses Interesse weckte den Gedanken an den leichten von mir fixierten Zug, das war der zweite. Ich entschlo\u00df mich zu diesem Zuge mit dem Gedanken, in Worte gekleidet: \u201eDiesen Zug willst du nehmen, den f\u00fchrst du aus.\u201d I ch f\u00fchlte mich souver\u00e4n in dieser Entscheidung und der kommenden T\u00e4tigkeit gegen\u00fcber.\nVersuchsperson f\u00fchlt sich souver\u00e4n in der Entscheidung. Der Wille zur Entscheidung wird dabei nicht als\n1) St\u00f6rring : Die sittlichen Forderungen und die Frage ihrer G-\u00fcltigkeit. S. 125 ff.","page":1438},{"file":"p1439.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1439\nindeterministisch frei gedacht, sondern als \u201eimpulsiv aus dem Drang, etwas Interessantes zu erleben\u201d, entstanden.\nAuch diese Versuchsperson erwies sich bei der am Schl\u00fcsse der Versuche angestellten Exploration als deterministisch eingestellt.\nDie in dem zu vorletzt besprochenen Versuch sich bet\u00e4tigende Versuchsperson M. sagt in einem anderen Versuch: \u201eDie Entscheidung will ich aus dem Innersten treffen, aus tiefster Erw\u00e4gung, nicht sinnlos. Es kommt aus meinem Geistigen, sich noch \u00fcber dem Ganzen stehend f\u00fchlen1).\u201d\nBei den anderen Arten des mit Ereiheitsbewu\u00dftsein sich verbindenden Ich willens zur Entscheidung, beim \u201eEntgegensetzen\u201d und \u201eUachgeben\u201d, wird sich uns auch der Unterschied zwischen einem indeterministischen und deterministischen Freiheitsbewu\u00dftsein zeigen.\nDen Umstand, da\u00df wir bei den Versuchen, wo indeterministisches Freiheitsbewu\u00dftsein auf tritt, auch zuweilen sagen h\u00f6ren: \u201ees steht mir frei die eine oder die andere M\u00f6glichkeit zu w\u00e4hlen\u201d, wollen wir sp\u00e4ter n\u00e4her besprechen.\n2. Freiheitsbewu\u00dftsein bei dem auf ein Sichentgegensetzen gegen peripher bedingten Drang beruhenden Willen zur Entscheidung.\nFr\u00fcher2) habe ich \u00fcber einen Versuch referiert, in welchem die Versuchsperson eine Beaktion vollzog, die ihr \u00dcberwindung kostete, weil es ihr Freude machte, da\u00df sie es vermag, gerade das Gegenteil von dem zu tun, wohin der peripher bedingte Drang wies. Sie freut sich \u00fcber die Freiheit dieses sich dem peripher bedingten Drang widersetzenden Entschlusses noch w\u00e4hrend der Ausf\u00fchrung,\nDie Aussagen des Versuches waren so, da\u00df es sich um ein deterministisches Bewu\u00dftsein der Freiheit des Entschlusses zu handeln schien, also um ein durch das Entgegensetzen gegen die dr\u00e4ngenden \u201eMotive\u201d sich entwickelndes Bewu\u00dftsein der absoluten offensichtlichen Unabh\u00e4ngigkeit des Ichentschlusses von dem Drang der peripher bedingten Willensantriebe.\nDie betreffende Versuchsperson (Versuchsperson L.) erwies sich nach Abschlu\u00df der Versuche als urspr\u00fcnglich in deterministisch eingestellt. Im Laufe der Versuche aber hat sie ihre Stellungnahme zur Frage der Freiheit des Willens ge\u00e4ndert, ist Determinist geworden.\t\u2022\n1)\tArch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 71\n2)\tDiese Schrift. S. 1432.","page":1439},{"file":"p1440.txt","language":"de","ocr_de":"1440\nG. St\u00f6rring\nVon derselben Versuchsperson wollen wir einen Versuch geben, in welchem sich bei dem \u201eSichentgegensetzen\u201d ein deutlich indeterministisches Freiheitsbewu\u00dftsein entwickelte.\nVersuchsperson L. 25. ,,Xch sp\u00fcre, es sind Gef\u00fchle, die mich dr\u00e4ngen zur T\u00e4tigkeit I. Das konstatiere ich auch. Dann dem entgegen kommt ein gewisses Entgegenarbeiten gegen das, wozu das Gef\u00fchl mich treibt\u2019. Ich fragte mich nach dem Grund, wieso ich jetzt dem entgegen arbeiten will. Grund ist der, da\u00df ich eine gewisse Freude daran habe, gerade den Gef\u00fchlen und Stimmungen entgegenhandeln zu k\u00f6nnen, wenn ich das will. Es macht mir Spa\u00df, mit den Gef\u00fchlen zu spielen. Es wird hier besonders stark hervorgerufen das Gef\u00fchl, frei handeln zu k\u00f6nnen. Irgendwelche Motive bestimmen einen, man hat\u2019s vollst\u00e4ndig in der Hand, diesen Motiven nachzngehen oder nicht nachzngehen. Dieses Bewu\u00dftsein st\u00fctzt sich auf die vorliegenden Tatbest\u00e4nde. Motive, Gef\u00fchle treiben hier bei der einen M., bei der anderen fehlen dieselben (Versuchsperson vergleicht das mit Schwimmen im Wasser, wo sie sich vom Strom treiben lassen kann oder gegen den Strom schwimmen). Ich habe selbstverst\u00e4ndlich die physische und psychische Kraft, jede der M. gleich gut ansznf\u00fchren.\nFerner erlebe ich, da\u00df zu der Wahl zwischen der zweiten M. in vorliegendem Falle zu der einen M. etwas ganz Spezifisches zngelegt werden mu\u00df, was sie schwerer macht, um sie ansznf\u00fchren. Ich habe es vollkommen in der Hand, dieses Etwas zu eins oder zwei hinzuzulegen\u201c1).\nEs tritt hier hervor ein peripher bedingter Gef\u00fchlszustand des * Dranges, eine bestimmte Wahlm\u00f6glichkeit zu realisieren. Das wird dann konstatiert (Transzendenzfunktion). Dann entwickelt sich der Gedanke der M\u00f6glichkeit, da\u00df die eigene Pers\u00f6nlichkeit sich diesem Drang widersetzt. Es bleibt hier offenbar nicht bei dem blo\u00dfen Gedanken dieser M\u00f6glichkeit, sondern es tritt sehr wahrscheinlich auch das Urteil auf, da\u00df das Ich sich diesem Drang widersetzen kann. Bliebe es bei dem blo\u00dfen Gedanken der M\u00f6glichkeit, so k\u00f6nnte auch dadurch bei Anschlu\u00df eines starken Gef\u00fchles der Freude (hier stellen wir uns in Gegensatz zu der Behauptung Herbarts, da\u00df conditio sine qua non von Willensakten Urteile bez\u00fcglich der Bealisierbarkeit eines gedachten Wollens sind), ein Willensvorgang, der Ichwille, zum Entschlu\u00df ausgel\u00f6st werden: Bei Auftreten eines starken Gef\u00fchles der Freude im Anschlu\u00df an diesen Gedanken einer\nx) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 31.","page":1440},{"file":"p1441.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1441\nBet\u00e4tigung w\u00fcrde sich ein Willensgef\u00fc\u00fcl entwickeln, welches auf Realisierung dieser gedachten Bet\u00e4tigung hindr\u00e4ngt; durch ein starkes Gef\u00fchl der Freude k\u00f6nnte sogar die hemmende Wirkung eines leichten Zweifels an der M\u00f6glichkeit der Realisierung \u00fcberwunden werden.\nDas Urteil aber, da\u00df das Ich sich diesem Drang widersetzen kann, w\u00fcrde sich dann auf fr\u00fchere Erfahrung \u00fcber die Leistungsf\u00e4higkeit des Ichwillens in F\u00e4llen der Bet\u00e4tigung dieser Art oder \u00e4hnlicher Art gr\u00fcnden.\nEs entwickelt sich also auf die eine oder andere Weise \u2014 wahrscheinlich hier unter dem Anschlu\u00df an das Urteil der M\u00f6glichkeit solchen Entgegensetzens \u2014 der Ich wille zum Sichwidersetzen gegen den peripher bedingten Drang. Dies gegens\u00e4tzliche Verhalten l\u00e4\u00dft die \u00dcberzeugung sehr ausgepr\u00e4gt werden, da\u00df dieses Eingreifen des Ichwillens frei ist gegen\u00fcber dem peripher bedingten Gef\u00fchlsdrang. Die Behauptung der Freiheit gegen\u00fcber diesem \u201eobjektiven\u201d Gef \u00fchls-drang l\u00e4\u00dft nun aber noch eine deterministische Ausdeutung sowohl wie eine indeterministische zu!\nDer erste Teil des Referates lautet so, da\u00df man dabei eine deterministische Auffassung des Freiheitsbewu\u00dftseins wahrscheinlich finden wird. Aber die weiteren Entwicklungen weisen deutlich auf ein indeterministisches Freiheitsbewu\u00dftsein hin, so da\u00df wir Abstand nehmen m\u00fcssen, die ersten Angaben \u00fcber das Freiheitsbewu\u00dftsein im Sinne der deterministischen Freiheit aufzufassen, wenn wir nicht annehmen wollten, da\u00df im Verlauf des Versuches sich zwei verschiedene Gestaltungen des Freiheitsbewu\u00dftseins entwickelt haben. Sicher ist, da\u00df hier zum mindesten auch ein indeterministisches Freiheitsbewu\u00dftsein auf tritt.\nDie indeterministische Ausdeutung der Behauptung der Freiheit des Ichs gegen\u00fcber dem peripher bedingten Gef\u00fchlsdrang liegt nicht nur dem Indeterministen nahe, sondern auch dem Deterministen, da derselbe als naives Individuum auch i n d e t e r m i n i s t i s c h denkt, so da\u00df dann meist die theoretischwissenschaftliche Betrachtungsweise bei dem Erleben des Einzelfalles hinten nachhinkt!\nBei unserer Versuchsperson dokumentiert sich der indeterministische Charakter des Freiheitsbewu\u00dftseins sehr deutlich in der Behauptung, da\u00df sie die betreffende Wahlm\u00f6glichkeit realisieren k\u00f6nne oder auch nicht realisieren k\u00f6nne. Hier haben wir es mit einer Konsequenz der indeterministischen Freiheit zu tun,","page":1441},{"file":"p1442.txt","language":"de","ocr_de":"1442\nG. St\u00f6rring\nderen Feststellung die f\u00fcr das gew\u00f6hnliche Denken bequemste Bezeichnung der indeterministischen Freiheit ist. Darauf kommen wir noch sp\u00e4ter n\u00e4her zu sprechen.\nWir haben sodann noch hervorzuheben, da\u00df unsere Versuchsperson erlebt, da\u00df sie bei ihrer Ichentscheidung etwas Spezifisches der einen Wahlm\u00f6glichkeit hinzulegt, und da\u00df dieses Hinzugelegte die Ausf\u00fchrung eindeutig bestimmt.\nEtwas bleibt aber immer noch nicht an diesem Versuch klargelegt. Versuchsperson sagt, da\u00df sie Freude daran hat, das Gegenteil zu tun von dem, wohin der peripher bedingte Gef\u00fchls -drang weist. Wird nun diese Kausalbeziehung der Freude zur Realisierung der Ichentscheidung als solche aufgefa\u00dft, so kann Versuchsperson nicht sagen, da\u00df sie frei handelte im indeterministischen Sinne. Letzteres tut sie aber.\nDie Schwierigkeit wird beseitigt, wenn man die Freude nicht die Beteiligung des Xchwillens zur Entscheidung kausal ausl\u00f6sen l\u00e4\u00dft, sondern wenn man die Freude auffa\u00dft als eine Bet\u00e4tigung des von vornherein als frei gedachten Ichs ausl\u00f6send.\nSo kommen wir zu derselben Auffassung, die wir bei Behandlung der F\u00e4lle von Gleichwertigkeit entwickelten, wonach der vom Ichwillen gesetzte Gef\u00fchl simpuls als indeterministisch frei aufgefa\u00dft wird, w\u00e4hrend aus dem so Hinzugegebenen alles andere sich kausalnotwendig ableitet.\nIch will zum Schlu\u00df der Besprechung des Ichbewu\u00dftseins bei der Ichbeteiligung im Sichentgegensetzen noch einen Versuch geben, bei dem das Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens deterministischen Charakter tr\u00e4gt.\nVersuchsperson A. 11: ,,Das Kommando war abweichend von den fr\u00fcheren, da die Wahl, die ich zu vollziehen hatte, eigentlich vom Versuchsleiter durch ,Aber bitte, genau treffen!\u2019, beeinflu\u00dft und sozusagen schon gel\u00f6st wurde. Es herrschte wenigstens eine Tendenz, das letzte Kommando (mit dem Zusatz zu w\u00e4hlen). Jetzt habe ich mich willentlich und wissentlich emanzipiert. Ich wollte freie Wahl, durch nichts beeinflu\u00dft, vollziehen 1).\u201d\nEine freie Wahl wird hier nach der Versuchsperson dadurch zustande gebracht, da\u00df sie sich wissentlich und willentlich von dem \u00e4u\u00dferen Gef\u00fchlsdrang \u201eemanzipiert\u201d, daf\u00fcr sorgt, da\u00df sie durch nichts \u00c4u\u00dferes beeinflu\u00dft ist.\nDie betreffende Versuchsperson, Versuchsperson A., geh\u00f6rt nach der sp\u00e4teren Exploration zu den deterministisch Eingestellten.\nx) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 60.","page":1442},{"file":"p1443.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1443\n3. Freiheitsbewu\u00dftsein bei dem in einem \u201eNachgeben\u201d sich vollziehenden Ichwillen zur Entscheidung oder bei dem Bewu\u00dftsein, ' sowohl nachgeben als sich entgegensetzen zu Tc\u00f6nnen. Zwei Formen des indeterministischen Freiheitsbewu\u00dftseins.\na. Wir haben fr\u00fcher schon \u00fcber einen Yersnch kurz referiert, in welchem ein freies \u201eNachgeben\u201d statthatte. Die Sache lag dabei so, da\u00df im objektiv gegebenen Tatbestand eine Wahlm\u00f6glichkeit durch ein Gef\u00fchls dr\u00e4ngen vor der anderen ansgezeichnet nnd da\u00df diese Pr\u00e4valenz des Gef\u00fchlsdranges konstatiert war. Dem eingreifenden Ich stellte sich nnn die Wahl der durch den Gef\u00fchlsdrang ausgezeichneten Wahlm\u00f6glichkeit als rationell dar, sie vollzog deshalb ein \u201eNachgeben\u201d. Dabei blieb Versuchsperson trotz dieser \u00dcbereinstimmung sich bewu\u00dft, da\u00df der Entschlu\u00df nicht durch die peripher bedingten Antriebe bedingt, sondern aus der eigenen Pers\u00f6nlichkeit erfolgt war, und deshalb den Charakter eines freien Entschlusses hatte.\nIch gebe nun zun\u00e4chst noch einen \u00e4hnlichen Fall.\nVersuchspersonen. 14: \u201eMir dr\u00e4ngte sich die erste M. eben als sympathisch auf wegen der Dreiteilung eines gegebenen Winkels, w\u00e4hrend bei M. 2 der Winkel nicht erst gegeben ist. Da dr\u00e4ngte sich mir das Urteil auf, das ist der Zug, der f\u00fcr dich in Frage kommt. Ich sah den Entschlu\u00df bildhaft geschrieben in einem Haufen von Buchstaben vor mir: ,Den mu\u00dft du tun\u2019. Anschlie\u00dfend der Gedanke: ,Diesen Zug will ich ausf\u00fchren\u2019. Das wurde einfach auf mich bezogen dieses ,du mu\u00dft\u2019. Dieses ,mu\u00df\u2019 klang etwas von au\u00dfen an mich herangekommen. Dieses,du mu\u00dft\u2019 wird, wenn es auf mich bezogen ist, zu dem,ich will\u2019. Jedoch wird diese Wirkung noch als ,f r ei empfunden\u2019, weil dieses ,du mu\u00dft\u2019 sich umkehren l\u00e4\u00dft in,ich will\u2019 und auch spontan umgekehrt wurde. Ich empfand keinen Zwang, nichts von au\u00dfen, sondern einen inneren, aus ganz freier Wahl hervorgegangenen Antrieb1).\u201d\nVon der Versuchsperson wurde zun\u00e4chst konstatiert, da\u00df f\u00fcr eine der Wahlm\u00f6glichkeiten ein Gef\u00fchls drang ausgeht, der bei der anderen in \u00e4hnlicher Intensit\u00e4t nicht vorhanden ist. Es macht sich nun diesem Tatbestand gegen\u00fcber der Ichwille zur Entscheidung geltend und dieser bevorzugt die durch den Gef\u00fchlsdrang ausgezeichnete M\u00f6glichkeit, weist also nach derselben Bichtung wie der peripher bedingte emotionelle Tatbestand. Dabei wird nun aus dem \u201edu mu\u00dft\u201d ein \u201eich will\u201d. \u201eWeil es sich umkehren l\u00e4\u00dft in ein \u201eich will\u201d, deshalb wird die Wirkung noch als\nb Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 32 und 33.","page":1443},{"file":"p1444.txt","language":"de","ocr_de":"1444\nG-. St\u00f6rring\nfrei empfunden. In diesem \u201eich will\u201d kommt der Versuchsperson zum Ausdruck, da\u00df sie keinen Zwang durch den peripher bedingten Gef\u00fchlsdrang bei der Entscheidung empfand, \u201enichts von au\u00dfen\u201d, sondern nur einen \u201einneren\u201d Antrieb, der deshalb als \u201eaus freier Wahl\u201d hervorgegangen aufgefa\u00dft wurde. Die Entscheidung war durch die eigene Pers\u00f6nlichkeit herbeigef\u00fchrt und erschien deshalb frei im Gegensatz zu einem von au\u00dfen, peripher bedingten Gezwungenwerden.\nHier liegt offenbar ein Ereiheitsbewu\u00dftsein vor, das sich als deterministisches Freiheitsbewu\u00dftsein charakterisieren l\u00e4\u00dft. Die Freiheit der Wahl besteht hier in der Unabh\u00e4ngigkeit der Ichentscheidung von \u00e4u\u00dferen zwingenden Faktoren.\nEs handelt sich hier \u00fcbrigens um eine der Versuchspersonen, bei der wir auch bei dem Freiheitsbewu\u00dftsein im \u201eEntgegensetzen\u201d ein deterministisches Freiheitsbewu\u00dftsein konstatieren konnten. Sie ist auch deterministisch eingestellt.\nWir wollen diesem Versuch einen solchen mit indeterministischem Freiheitsbewu\u00dftsein gegen\u00fcberstellen.\nVersuchsperson L. 19: \u201eDann \u00fcberlegte ich beide M. noch einmal. Bei der zweiten M. war zun\u00e4chst eine gewisse Unsicherheit \u00fcber die Eichtigkeit der Auffassung. \u00dcber die erste war ich vollkommen klar . . . Dann \u00fcberlegte ich mir die zweite. Ich wu\u00dfte, da\u00df sie viel k\u00fcrzer war als die erste, infolgedessen wohl leichter zu behalten; sonst war mir das Bild dieser zweiten unklar. Dann dr\u00e4ngte sich mir ein Unlustgef\u00fchl auf der Unsicherheit gegen\u00fcber, das mich dazu trieb, die erste M. zu w\u00e4hlen. Ich war mir dieser Situation voll bewu\u00dft. Jetzt beschlo\u00df ich, diesem Unlustgef\u00fchl nachzugehen. Dabei war ich \u00fcberzeugt, da\u00df ich auch das Gegenteil tun k\u00f6nnte, gab aber aus mir heraus nach 1).\u201d\nIn dem peripher bedingten emotionellen Tatbestand verbindet sich der Gedanke der einen M. mit einem Unlustgef\u00fchl, weil eine gewisse Unsicherheit \u00fcber die Eichtigkeit der Auffassung vorliegt. Bei dem Eingreifen des Ichwillens zur Entscheidung wird diesem Unlustgef\u00fchl \u201enachgegeben\u201d, d. h. die auch durch das Unlustgef\u00fchl im Kampf der \u201eMotive\u201d benachteiligte M. verworfen. Diese Entscheidung war unabh\u00e4ngig von der \u201eobjektiv\u201d gegebenen Sachlage erfolgt. Das entstehende Ereiheitsbewu\u00dftsein wird von Versuchsperson dahin charakterisiert: sie sei \u00fcberzeugt gewesen, da\u00df sie \u201eauch das Gegenteil\u201d tun k\u00f6nne, ich gab \u201eaber aus mir selbst nach\u201d. Dieses Freiheitsbewu\u00dftsein ist also sicher ein indeterministisches.\n1) Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S\u2019. 58.","page":1444},{"file":"p1445.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1445\nb) Eine besonders starke Anspr\u00e4gung erf\u00e4hrt das Freiheitserlebnis bei dem Bewu\u00dftsein, sowohl nachgeben als auch sich entgegensetzen zu k\u00f6nnen.\nIch gebe hierf\u00fcr einen sch\u00f6nen Versuch.\nVersuchsperson L. 301): \u201eDa ich heute abend ziemlich erm\u00fcdet bin und die Ausf\u00fchrung von M. 2 einfacher ist, macht sich ein gewisser Drang bemerkbar, diese M. 2 auch zu w\u00e4hlen. Diesem Drang nun, den ich direkt hin dr\u00e4ngend sp\u00fcre, dem will ich mich entgegensetzen, und zwar nur deswegen, weil ich das Bewu\u00dftsein habe, da\u00df ich das auch tats\u00e4chlich kann, wenn ich das frei will. Die Kraft, die mich zu M. 2 hinzieht, ist ziemlich gro\u00df, aber ich bin mir v\u00f6llig klar, da\u00df ich mich dieser Kraft entgegensetzen kann, wenn ich das will. Das liegt unmittelbar vor mir. Ich hab e in diesem Moment ein unbedingtes Freiheitsgef\u00fchl, das Gef\u00fchl, diesem Drange nachgeben zu k\u00f6nnen oder mich entgegenzusetzen. Die M. 1 auszuf\u00fchren, ist mehr freiheitsbetont als das zweite, deshalb, weil eben der Trieb vorhanden ist, M. 2 zu nehmen. Deshalb beschlie\u00dfe ich, M. 1 zu w\u00e4hlen. Ich bin mir klar, entweder dem Dr\u00e4ngen nachzugehen oder nicht nachzugehen. Geschieht das Mach g eben bewu\u00dft, so w\u00e4re mein Freiheitsgef\u00fchl auch betont, st\u00e4rker aber, wenn ich mich dem Dr\u00e4ngen entgegensetze. Besser gesagt, weil ich daran Freude habe, deshalb will ich das w\u00e4hlen, was st\u00e4rker dieses Freiheitsgef\u00fchl betont. Es ist zwar nicht der Grund, dieses Freiheitsgef\u00fchl zu betonen, sondern um dieses Freiheitsgef\u00fchl mehr auswirken zu lassen, deshalb will ich M. 1 w\u00e4hlen und w\u00e4hle sie auch. Diese Kraft des Freiheit sgef\u00fchls leite ich aus mir selbst her, aus dem Ichbewu\u00dftsein.\u201d\nKonstatiert wird hier zun\u00e4chst ein gewisser Drang, eine bestimmte M. zu realisieren. Es entwickelt sich daraufhin die \u00dcberzeugung, ein Entgegensetzen des Ich willens realisieren zu k\u00f6nnen. Dabei bleibt es aber nicht. Es tritt die \u00dcberzeugung hinzu, auch ein \u201eKachgeben\u201d realisieren zu k\u00f6nnen. Damit steigert sich das ,,Freiheitsgef\u00fchl\u201d. Versuchsperson sagt: \u201eIch habe in diesem Moment ein unbedingtes Freiheitsgef\u00fchl, das Gef\u00fchl, diesem Drange nachgeben zu k\u00f6nnen oder mich entgegenzusetze n.\u201d Versuchsperson sieht sich diesem Entweder-oder gegen\u00fcberstehen und sagt sich, da\u00df bei Bealisierung des Entgegensetzens das Freiheits-\nb Arch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 63.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II. 94","page":1445},{"file":"p1446.txt","language":"de","ocr_de":"1446\nG-. St\u00f6rring\ngef\u00fchl sich st\u00e4rker anspr\u00e4ge. Sie w\u00e4hle dieses Entgegensetzen, weil sie daran Erende habe. ,,Aber es ist nicht der G-rund, dieses Freiheitsgef\u00fchl zn betonen, sondern nm dieses Freiheitsgef\u00fchl mehr ans wirken zn lassen, deshalb w\u00e4hle ich M. I\u201c1). Also die Frende ist nicht letzter Zweck der Wahl, sondern die st\u00e4rkere Ausgestaltung des Freiheitsgef\u00fchles, die Frende ist aber eine der Mitnrsachen.\nDie Frende spielt hier dieselbe Folie, wie wir das schon fr\u00fcher einmal sahen : sie l\u00f6st die Bet\u00e4tigung des von vornherein als frei gedachten Ichs ans. Das eingreifende Ich setzt frei ans sich heraus einen Impuls, der sich dann kausal notwendig ans wir kt.\nEs treten uns hier zwei verschiedene Formen des indeterministischen Ichbewu\u00dftseins entgegen. Das eine entwickelt sich dadurch, da\u00df hier eine Bet\u00e4tigung des von. vornherein als indeterministisch frei gedachten Ichs ansgel\u00f6st wird.\nDie andere Form des indeterministischen Ichbewu\u00dftseins besteht in dem Bewu\u00dftsein, das eine oder das andere (hier das Entgegensetzen oder das Bachgeben) w\u00e4hlen zu k\u00f6nnen.\nDie zweite Form des indeterministischem Freiheitsbewu\u00dftseins ist uns bei den verschiedenen Arten des Eingreifens des Ichwillens entgegengetreten, sowohl bei Gleichwertigkeit der Willensantriebe als beim Entgegensetzen und beim Bachgeben (f\u00fcr sich allein).\nWo z. B. ein Entgegensetzen mit indeterministischem Freiheitsbewu\u00dftsein erfolgte, da trat meist nicht nur das Bewu\u00dftsein auf, da\u00df das Eingreifen des Ichs von der Pers\u00f6nlichkeit indeterministisch gesetzt werde, sondern auch das Bewu\u00dftsein, da\u00df auch etwas anderes als das Entgegensetzen h\u00e4tte gew\u00e4hlt werden k\u00f6nnen.\nDiese zweite Form des indeterministischen Freiheitsbewu\u00dftseins ist im Falle unseres Versuches eigenartig bedingt. Gew\u00f6hnlich tritt diese Form des Freiheitsbewu\u00dftseins auf Grund von fr\u00fcher vollzogenen B\u00fcckblicken auf eine im Leben getroffene wichtige Entscheidung auf. Solche B\u00fcckblicke f\u00fchren das Individuum illusion\u00e4r2) zu der Auffassung, da\u00df es auch eine andere Wahlm\u00f6glichkeit h\u00e4tte realisieren k\u00f6nnen.\nHier in unserem Versuch handelt es sich aber offenbar nicht um ein blo\u00dfes ,,W issen\u201d um die indeterministische Freiheit, welches sich auf fr\u00fchere B\u00fcckblicke u. dgl. st\u00fctzt, hier spricht die Versuchsperson nicht umsonst anstatt von Freiheitsbewu\u00dftsein\n1)\tArch. f. d. ges. Psychol. 74. S. 63.\n2)\tSt\u00f6rring : Die sittlichen Forderungen und die Frage ihrer G\u00fcltigkeit. S. 126 ff.","page":1446},{"file":"p1447.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1447\nvom \u201eFreiheitsgef\u00fchl\u201d. Hier glaubt das Individuum, die indeterministische Freiheit wirklich zu erleben! Die Sache liegt folgenderma\u00dfen:\nDas w\u00e4hlende Individuum operiert hier nach Erzeugung des Ich willens zur Entscheidung mit den einzelnen M\u00f6glichkeiten des I c h-w illens. Das w\u00e4hlende Individuum experimentiert hier mit sich selbst:, es verh\u00e4lt sich so, als ob es ein Entgegensetzen wolle \u2014 und erlebt dabei, da\u00df es das kann; es verh\u00e4lt sich sodann so, als ob es ein Nachgeben wolle \u2014 und erlebt dabei, da\u00df es das auch kann!\nIch mu\u00df annehmen, da\u00df hier unsere Yersuchsperson ein solches Experimentieren mit sich selbst vollzogen hat; nur deshalb kann sie von der Behauptung der M\u00f6glichkeit des Entgegensetzens als von etwas unmittelbar jetzt Erlebten sprechen: Sie sagt: \u201eDas liegt unmittelbar vor mir\u201d. Und nur so versteht man, wenn sie sagt : \u201eIch habe in diesem Moment ( !) ein unbedingtes ( !) Freiheits-g e f \u00fc h 1 ( !), das Gef\u00fchl, diesem Drange nachgeben zu k\u00f6nnen oder mich entgegenzusetzen\u201d, und dann sp\u00e4ter: \u201eDiese Kraft des Freiheitsgef\u00fchls (das ist etwas anderes wie das ,W i s s e n\u2019 um die indeterministische Freiheit !) leite ich aus mir selbst her, aus dem Ichbewu\u00dftsein.\u201d\nIn vielen anderen F\u00e4llen, wo die indeterministische Form des Freiheitsbewu\u00dftseins auftrat, hand\u00ealt es sich um ein billiges, blo\u00dfes \u201eW issen\u201d um die Freiheit.\nIII. Was leisten bei dem Bewu\u00dftsein der Freiheit\ndie G e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e %\nIn unseren Entwicklungen \u00fcber das Freiheitsbewu\u00dftsein war in einem fort von der Wirkung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden die Bede. Deshalb ist es am Platze, zusammenfassend die Bedeutung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr das Zustandekommen des Bewu\u00dftseins der Freiheit des Willens anzugeben.\n1. Gef\u00fchlszust\u00e4nde spielen zun\u00e4chst eine ausschlaggebende Bolle in der Herstellung dessen, was man Einstellung zum Wahlproze\u00df nennt. Unter Einstellung zum Wahlproze\u00df ist zu verstehen ein Wille zur Wahl, der in den Hintergrund des Bewu\u00dftseins getreten ist, der aber qualitativ so wirkt auf den Ablauf der psychischen Prozesse, als ob er im Vordergrund des Bewu\u00dftseins st\u00fcnde.\nDer Wille zur Wahl aber enth\u00e4lt als treibendes Moment einen Gef\u00fchlszustand: bei diesem Willen haben wir es zu tun mit einem Gedanken an die so und so zu vollziehende Wahl, der sich\n94*","page":1447},{"file":"p1448.txt","language":"de","ocr_de":"1448\nG. St\u00f6rring\nmit einem Gef\u00fchlszustand der Lust verbindet; dadurch, da\u00df sich hier an den Gedanken einer Bet\u00e4tigung Lust anschlie\u00dft, ist eine Tendenz zur Realisierung der Bet\u00e4tigung gesetzt. Biese kommt zur Erscheinung in einem ,,W illensimpuls\u201d, welcher sich auf Realisierung der gedachten Wahl richtet. Dieser ,,Willensimpuls\u201d oder dieses ,,'Willensgef\u00fchl\u201d ist eine Verschmelzung von Spannungsempfindungen, welche von einer initialen Ausf\u00fchrung der gedachten Bet\u00e4tigung herr\u00fchren und dem vorhandenen Gef\u00fchlszustand der Lust. Dieses Wollen kann sich mit Urteilsprozessen verschiedener Art verbinden, besonders mit einem Urteil, in welchem die hier vorliegende kausale Beziehung als solche aufgefa\u00dft wird. Dieses Wollen bestimmt nun, auch wenn es in den Hintergrund des Bewu\u00dftseins getreten ist, den Ablauf der Wahlprozesse. Der treibende Faktor ist hier der Gef\u00fchlszustand, welcher sich an den Gedanken der zu vollziehenden Wahl anschlie\u00dft, zusammen mit den durch diesen Gef\u00fchlszustand in seiner Kombination mit dem Gedanken der Bet\u00e4tigung ausgel\u00f6sten Spannungsempfindungen.\n2. und 3. In dem Proze\u00df des W\u00e4hlens haben wir es mit der Vergegenw\u00e4rtigung verschiedener Wahlm\u00f6glichkeiten zu tun: Es wird dabei zun\u00e4chst die eine Wahlm\u00f6glichkeit vergegenw\u00e4rtigt ; an den Gedanken dieser Wahlm\u00f6glichkeiten schlie\u00dfen sich Gef\u00fchlszust\u00e4nde an, welche, wenn sie Lustcharakter tragen, auf Realisierung der betreffenden* Wahlm\u00f6glichkeit tendieren. Wenn nun die Vergegenw\u00e4rtigung einer anderen Wahlm\u00f6glichkeit als der gerade gedachten zustande kommen soll, mu\u00df auf irgendeine Weise eine Hemmung f\u00fcr die Realisierung der gedachten ersten Wahlm\u00f6glichkeit eintret e n, v o n der wir annehmen, da\u00df ihre Vergegenw\u00e4rtigung sich mit einem lustartigen Gef\u00fchlszustand verband. Diese vorl\u00e4ufige Hemmung wird aber zustande gebracht durch Unlustgef\u00fchle. Sie sind also conditio sine qua non der Wahl zwischen Wahlm\u00f6glichkeiten, deren Vergegenw\u00e4rtigung sich mit Lust verbindet. Diese Unlustgef\u00fchle schlie\u00dfen sich auf Grund von Erfahrungen \u00fcber Unlustfolgen an den Gedanken einer vorzeitigen Realisierung gedachten Wolfens an.\nSo sieht man, wie in Wahlprozessen Gef\u00fchlszust\u00e4nde nicht blo\u00df dadurch eine dominierende Rolle spielen, da\u00df die Wahl eine emotionelle Stellungnahme darstellt, sondern auch","page":1448},{"file":"p1449.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1449\nzur Herstellung der f\u00fcr Wahlprozesse notwendigen vorl\u00e4ufigen Hemmung.\nOhne Wahlprozesse gibt es aber nat\u00fcrlich kein Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens in der Form: ich kann (konnte) die eine M\u00f6glichkeit gerade so gut w\u00e4hlen wie die andere.\n4.\tEs ist weiter zu beachten, da\u00df bei Entwicklung des I c h-w illens zur Entscheidung durch [Richtung der Aufmerksamkeit auf die emotionellen Tatbest\u00e4nde der peripher bedingten Wertsch\u00e4tzungen diese emotionellen Tatbest\u00e4nde im allgemeinen eine Intensit\u00e4tsver\u00e4nderung erfahren, besonders aber, da\u00df das mit dem Ich willen zur Entscheidung sich verbindende Lustgef\u00fchl (von dem ein Willensimpuls abh\u00e4ngt) in seiner Wirkung \u00fcbersehen wird, zuletzt aber, da\u00df in wichtigen Entscheidungen mit dem Ichbewu\u00dftsein Summationszentren von Gef\u00fchlszust\u00e4nden in Funktion treten, welche einen starken Einflu\u00df auf den Verlauf der Prozesse haben k\u00f6nnen, ohne da\u00df das eine Individuum in der Lage ist, ihre Mitwirkung einzusch\u00e4tzen.\n5.\tEs spielen sodann die Gef\u00fchlszust\u00e4nde noch folgende Bolle bei der Entstehung des Bewu\u00dftseins der Freiheit des Willens. Wenn bei dem Wahlproze\u00df der Gedanke einer Wahlm\u00f6glichkeit sich mit Unlust verbindet, so f\u00e4llt diese M\u00f6glichkeit dadurch in der Konkurrenz aus; die Ursache f\u00fcr diesen Ausfall wird aber von dem W\u00e4hlenden im allgemeinen nicht erkannt. Das tr\u00e4gt dazu bei, das Willensgeschehen als ein kausal nicht ableitbares zubetrachten.\n6.\tF\u00fcr die Entstehung des Bewu\u00dftseins der Freiheit des Willens spielt eine gro\u00dfe Bolle nach vollzogener Wahl der B\u00fcck-blick auf den Verlauf des Wahlprozesses, auf die emotionelle Stellungnahme, welche den einzelnen M\u00f6glichkeiten gegen\u00fcber eingenommen wurde und den Kampf der \u201eMotive^ in der Entscheidung f\u00fcr eine der M\u00f6glichkeiten. Bei diesem Blickblick gewinnt der W\u00e4hlende die \u00dcberzeugung, er h\u00e4tte auch anders handeln k\u00f6nnen. Er erinnert sich, da\u00df er die verschiedenen Wahlm\u00f6glichkeiten hat Bevue passieren lassen und bei diesem Proze\u00df haben sich die nicht-gew\u00e4hlten M\u00f6glichkeiten, die sich mit Lustgef\u00fchlen verbanden, g\u00fcnstiger dargestellt als im Moment des endg\u00fcltigen Sieges eines der Willensantriebe \u2014, und zwar deshalb, weil bei der Vergegenw\u00e4rtigung der einzelnen M\u00f6glichkeiten eine Konzentration auf diese\nstattfand : diese Konzentration lie\u00df die Wert-\n/\nSch\u00e4tzung in st\u00e4rkerer Weise sich auspr\u00e4gen, als das beim endg\u00fcltigen Kampf der Willens-","page":1449},{"file":"p1450.txt","language":"de","ocr_de":"1450\nG. St\u00f6rring\nantriebe bei einem nochmaligen \u00dcberblicken der M\u00f6glichkeiten der Fall sein konnte.\nDazu kommt, da\u00df beim R\u00fcckblick anf die fr\u00fcher vollzogene emotionelle Stellungnahme den einzelnen M\u00f6glichkeiten gegen\u00fcber in der Reproduktion der Gef\u00fchlszust\u00e4nde die Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde sich h\u00e4ufig verschieben. Dadurch stellt sich auch die Kausalbetrachtung als undurchf\u00fchrbar dar. Die Hauptsache ist aber bei dem R\u00fcckblick jedenfalls, da\u00df eine einzelne nicht gew\u00e4hlte M\u00f6glichkeit, die eine relativ starke positive Wertsch\u00e4tzung erfuhr, sich beim R\u00fcckblick in ihrer Intensit\u00e4t illusion\u00e4r g\u00fcnstiger darstellt, einmal wegen der im Wahlproze\u00df vollzogenen Konzentration auf dieselbe und sodann deshalb, weil beim R\u00fcckblick nicht einfach nur diese fr\u00fcheren Wertsch\u00e4tzungen reproduziert werden, sondern weil im R\u00fcckblick wieder eine selbst\u00e4ndige Wertsch\u00e4tzung der betreffenden M\u00f6glichkeit mit neuer Konzentration auf diese M\u00f6glichkeit stattfindet. Diese neue selbst\u00e4ndige Wertsch\u00e4tzung wird von der fr\u00fcher vollzogenen nicht scharf getrennt.\nEs ist nicht blo\u00df der Ablauf der Gef\u00fchlszust\u00e4nde, von dem das Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens abh\u00e4ngt; nach derselben Richtung wirken auch gewisse Bahnungsprozesse, welche die Willensvorg\u00e4nge kausal f\u00fcr das naive Individuum un\u00fcberblickbar machen.\n7. Auch ohne das Mitwirken von Bahnungen w\u00fcrde das Bewu\u00dftsein der Freiheit des Willens entstehen auf Grund des Wirkens der oben herangezogenen Gef\u00fchlsfaktoren, besonders infolge des \u00dcbersehens der Wirkung der Gef\u00fchlsfaktoren von seiten des naiven Individuums: das Willensgeschehen kann deshalb nicht den Eindruck eines kausal geschlossenen Geschehens machen. Da aber das Bewu\u00dftsein der Aktivit\u00e4t des Ichs bei diesem Willensgeschehen deutlich hervortritt, so kommt das Rieht erkennen von Wirkungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde der Entwicklung des Gedankens einer indeterministisch freien Ichbet\u00e4tigung zugute.\nIII. ABSCHNITT.\nDie Selbstbeobachtungsmethode der Gef\u00fchlspsychologie\nund ihre Handhabung.\n1. Kapitel.\nDas Gefiihlsged\u00e4chtnis.\n1. Von einem Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis kann man, wie sich uns zeigen wird, in verschiedenem Sinne sprechen. Von einem Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis spricht man da, wo wir uns an eine Situation erinnern, in der wir fr\u00fcher einen st\u00e4rkeren Zornaffekt entwickelten, und","page":1450},{"file":"p1451.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1451\nwo an die Vergegenw\u00e4rtigung dieser Situation sich ein Zornaffekt anschlie\u00dft, ohne da\u00df die gedachte Situation jetzt noch aktuelle Bedeutung hat \u2014 oder wo wir uns eine Situation lebhaft vor Augen f\u00fchren, in der wir in einen starken Angstzustand gerieten, und wo jetzt auf Grund der Vergegenw\u00e4rtigung dieser fr\u00fcheren Situation, obgleich sie jetzt keine aktuelle Bedeutung mehr hat, wieder ein Angstzustand in uns zur Entwicklung kommt \u2014 oder unter einfachen experimentellen Bedingungen: wo uns eine Geschmacksl\u00f6sung appliziert wurde, welche starke Unlustgef\u00fchle ausl\u00f6ste, und wo kurze Zeit nach Ablauf dieser Geschmacksreizung die Versuchsperson veranla\u00dft wird, sich die Situation zu vergegenw\u00e4rtigen, in die sie durch Applikation der Geschmacks-l\u00f6sung versetzt wurde.\nIn all diesen F\u00e4llen stehen die entwickelten Gef\u00fchlszust\u00e4nde unter der Nachwirkung urspr\u00fcnglich erlebter Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Man kann diese Gef\u00fchlszust\u00e4nde als abgeleitete oder wiedererlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde bezeichnen. Weniger zweckm\u00e4\u00dfig ist es, wie sich uns sp\u00e4ter zeigen wird, hier von reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nden zu sprechen.\nIn anderen F\u00e4llen macht sich das Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis in der Weise geltend, da\u00df wir eine Vorstellung oder Erinnerung an fr\u00fchere Gef\u00fchlszust\u00e4nde entwickeln, ohne da\u00df dabei wiedererlebte Gef\u00fchle auftreten ; ich meine die F\u00e4lle, wo ein blo\u00dfes Wissen um fr\u00fcher erlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde auftritt.\nRibot hat in diesem Gebiet Untersuchungen angestellt, wobei er die Fragebogenmethode zu Hilfe genommen hat. Er hat die Gefragten ersucht, sich den besonderen Fall einer besonderen Gem\u00fctsbewegung (Furcht, Zorn, Liebe usw.) ins Ged\u00e4chtnis zu rufen1).\u201d Ribot hat auf diesem Wege ein gro\u00dfes Aussagematerial gewonnen. Er glaubt, auf Grund desselben berechtigt zu sein, zwischen zwei Arten des Gef\u00fchlsged\u00e4chtnisses zu unterscheiden zwischen einem unechten, abstrakten Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis und einem echten, konkreten2) Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis.\n\u00dcber das unechte, abstrakte Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis sagt Ribot folgendes :\n,,Das unechte oder abstrakte Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis besteht in der Vorstellung eines Ereignisses und einem Gef \u00fchlsmerkmal, ich sage nicht einem Gef\u00fchls zustande. Es ist sicher am h\u00e4ufigsten. Was bleibt von den kleinen Unf\u00e4llen einer langen Beihe in unserem Bewu\u00dftsein \u00fcbrig1? Die Erinnerung an die Orte, wo\nx) Bibot: Psychologie der Gef\u00fchle \u00fcbersetzt von Ufer, 1. c. S. 191.\n2) Bibot: 1. c. S. 200.","page":1451},{"file":"p1452.txt","language":"de","ocr_de":"1452\nG. St\u00f6rring\nsie sich zugetragen haben, an die Einzelheiten und au\u00dferdem daran, da\u00df dies unangenehm gewesen ist. Was bleibt von einer erloschenen Liebe anderes \u00fcbrig als die Vorstellung einer Person, von dem h\u00e4ufigen Zusammensein mit ihr, von Abenteuern und \u00fcberdies davon, da\u00df dies Freude gemacht hat % Was bleibt dem Erwachsenen von der Erinnerung an die Spiele seiner Kindheit ? Was bleibt dem, der v\u00f6llig gleichg\u00fcltig geworden ist, von den ehemaligen politischen oder religi\u00f6sen \u00dcberzeugungen ? In allen derartigen F\u00e4llen, die \u00fcberaus zahlreich sind, wird das ins Ged\u00e4chtnis zur\u00fcckgerufene Gef\u00fchlsmerkmal gewu\u00dft, aber nicht gef\u00fchlt oder empfunden: es ist nur ein intellektuelles Merkmal mehr 1).\u201d\nDies abstrakte Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis wird dann weiter von Ribot noch in folgender Weise n\u00e4her charakterisiert : Er sagt, wir sprechen auf intellektuellem Gebiet von einem abstrakten Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis, indem wir etwa von der menschlichen Gestalt oder von dem Bellen der Hunde oder dem Quacken der Fr\u00f6sche uns eine ,,Gattungs-vorstellung\u201d bilden. Sie haben sich gebildet durch ,.Anh\u00e4ufung oberfl\u00e4chlicher \u00c4hnlichkeiten und Ausscheidung der Unterschiede\u201d. Bez\u00fcglich der Gef\u00fchlszust\u00e4nde soll sich nun auch ein ,,Gattungsbild\u201d entwickeln. ,,Ebenso\u201d, sagt Ribot, ,,macht der, welcher mehrmals Zahnweh, Leibschmerz oder Migr\u00e4ne, Anwandlungen von Zorn oder Furcht, von Ha\u00df oder Liebe gehabt hat, durch dasselbe Verfahren von den verschiedenen Zust\u00e4nden ein Gattungsbild. Die gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfigen Zust\u00e4nde sind der Abstraktion und Verallgemeinerung ebenso zug\u00e4nglich wie die intellektuellen2).\u201d\nHier sind von Ribot also die unechten, abstrakten Gef\u00fchlszust\u00e4nde zuerst charakterisiert als intellektuelle Tatbest\u00e4nde, sodann als Abstraktionen und Verallgemeinerung ,,gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfiger Zust\u00e4nde\u201d.\nMir stellen sich in Gef\u00fchlsexperimenten die Analoga zu den Vulg\u00e4rbegriffen auf dem Gebiet des Gef\u00fchlslebens ganz anders dar. Ich habe Versuchspersonen, wie wir fr\u00fcher sahen, emotionelle Beizworte, wie Ehrfurcht, Zorn, Wiedersehen usw., gegeben mit der Anweisung, entsprechende emotionelle Erlebnisse in sich zu erzeugen, an Hand von konkreten Tatbest\u00e4nden. Dabei gelang der einzelnen Versuchsperson nicht immer die Herbeischaffung konkreter Tatbest\u00e4nde, aber trotzdem trat h\u00e4ufig ein Erleben der entsprechenden emotionellen Erlebnisse ein \u2014 nat\u00fcrlich in schw\u00e4cherer Form als bei Entwicklung konkreter intellektueller Unterlagen.\nHier schlie\u00dft sich also an die Auffassung der Bedeutung dieser emotionellen Beiz-\n\u00ab' 1) Ribot: 1. c. S. 200 und 201.\n2) Ribot: 1. c. S. 201.","page":1452},{"file":"p1453.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\t1453\nworte \u2014 eine Auffassung, welche sich, wohlgemerkt, ohne Definition vollzog \u2014 ein Gef\u00fchl szust a nd der betreffenden Art an, ohne da\u00df eine konkrete Situation vergegenw\u00e4rtigt wurde, in welcher ein \u00e4hnlicher Gef\u00fchlszustand sich fr\u00fcher entwickelt hatte. Der entwickelte Gef\u00fchlszustand war offenbar dadurch bedingt, da\u00df sich im fr\u00fcheren Leben h\u00e4ufig an Auffassung dieser Bedeutung ein mehr oder weniger starker Gef\u00fchlszustand bestimmter Art angeschlossen hatte. Aus den verschiedenen emotionellen Zust\u00e4nden hatte sich ein ,,Gattungsbild\u20195 entwickelt, ganz in Analogie mit den von JEibot herangezogenen Gattungsbildern f\u00fcr intellektuelle Tatbest\u00e4nde, bei denen er von einer ,,Anh\u00e4ufung oberfl\u00e4chlicher \u00c4hnlichkeiten und Ausscheidung der Unterschiede\u201d sprach.\nWenn Ribot also von abstrakten Gef\u00fchlszust\u00e4nden sagt, die gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfigen Zust\u00e4nde sind der Abstraktion und Verallgemeinerung ebenso zug\u00e4nglich wie die intellektuellen, so darf er von diesen Tatbest\u00e4nden nicht sagen, da\u00df sie einem ,,unechten\u201d Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis angeh\u00f6ren.\nDie Produkte des ,,unechten\u201d Gef\u00fchlsged\u00e4chtnisses sind uns ein blo\u00dfes Wissen am fr\u00fcher erlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nAlfred Lehmann spricht anstatt von unechtem, abstraktem Gef\u00fchlsged\u00e4chtnis und echtem, konkretem, von wie d e r-erlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nden und vorgestellten. Er sagt, ,,es kommt neben den wiedererlebten Gef\u00fchlen eine andere Form der affektiven Beproduktion vor, die wir als vorgestellte Gef\u00fchle bezeichnen k\u00f6nnen. In diesem Zustande ist eigentlich nur der Yorstellungsinhalt des Gef\u00fchles- reproduziert, und nebenbei besteht das Wissen, da\u00df der Zustand fr\u00fcher lust- und unlustvoll gewesen ist, von der Gef\u00fchlsbetonung ist aber nur eine zweifelhafte Spur gegenw\u00e4rtig 1).\u201d\n,,Da ein Gef\u00fchls element nie allein, sondern nur in Verbindung mit intellektuellen Elementen entsteht, m\u00fcssen eben diese letzteren mit einer gewissen St\u00e4rke und Klarheit hervortreten, damit das Gef\u00fchl zustande komme. Je st\u00e4rker und klarer die Empfindung reproduziert wird, um so st\u00e4rker wird auch die Lust oder Unlust sich geltend machen k\u00f6nnen. Wenn es aber gar nicht gelingt, ein Erinnerungsbild hervorzurnfen, wird man sich allerdings wohl entsinnen k\u00f6nnen, da\u00df man in Verbindung mit der betreffenden Empfindung Lust oder Unlust gef\u00fchlt hat, der Zustand wird aber nicht wiedererlebt, nur vorgestellt1).\u201d\n*) A. Lehmann: 1. c. S. 222.","page":1453},{"file":"p1454.txt","language":"de","ocr_de":"1454\nG. St\u00f6rring\nEine noch n\u00e4here Ausgestaltung der Auffassung Lehmanns \u00fcber vorgestellte Gef\u00fchlszust\u00e4nde findet man in folgender Stelle:\n\u201eRecht h\u00e4ufig kommt es vor, da\u00df die Vorstellung einer Situation entsteht, in der ich fr\u00fcher eine Gem\u00fctsbewegung erlebt habe. Ich sehe die ganze Situation, die sich beteiligenden Personen und die \u00e4u\u00dferen Umst\u00e4nde sehr deutlich, und ich wei\u00df, da\u00df ich dabei emotionell stark erregt war. Dieses Wissen tritt h\u00e4ufig in der Form auf, da\u00df ich mich selber genau wie eine der anderen Personen sehe, und dieses vorgestellte Ich zeigt zweifellose Affekt\u00e4u\u00dferungen. Von dieser emotionellen Erregung f\u00fchle ich aber nur eine Spur; die ganze Angelegenheit geht mich nicht viel mehr an, als wenn sie eine mir unbekannte Person betr\u00e4fe. Ich kann mitunter, wenn Scham, Zorn oder \u00e4hnliche Affekte vorgestellt werden, eine geringe Erw\u00e4rmung der Gesichtshaut sp\u00fcren, sonst sehe ich mir aber die ganze Szenerie v\u00f6llig kalten Blutes an. Es handelt sich also hier, wie leicht ersichtlich, um einen wesentlich intellektuellen Zustand, eine Vorstellung wie jede andere, die nur von einem schwachen Gef\u00fchlston begleitet ist.\u201d x)\nDie Begriffsbestimmung der \u201evorgestellten Gef\u00fchle\u201d finde ich bei Lehmann insofern unzweckm\u00e4\u00dfig, als dabei neben dem Wissen um die Gef\u00fchle noch blasse wirkliche Gef\u00fchle, also blasse wiedererlebte Gef\u00fchle angenommen werden. Ich spreche da, wo auch nur blasse wiedererlebte Gef\u00fchle auftrete n, eben von wiedererlebten Gef\u00fchlen und grenze davon diejenige F\u00e4lle ab, wo ein blo\u00dfes Wissen um Gef\u00fchlszust\u00e4nde auftritt. Das Vorkommen eines solchen blo\u00dfen Wissens um Gef\u00fchlszust\u00e4nde bestimmter Art habe ich unter den soeben angegebenen experimentellen Bedingungen h\u00e4ufig konstatieren k\u00f6nnen, und zwar ganz im Anfang der Bearbeitung des emotionellen Reizwortes von der Versuchsperson. Sp\u00e4ter entwickelten sich dann gew\u00f6hnlich wiedererlebte Gef\u00fchls-zust\u00e4nde.\n2. Wir fragen uns nun weiter, wie es mit dem Intensit\u00e4tsunterschied der urspr\u00fcnglichen und der wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nde steh t.\nWenn man einer Versuchsperson eine unangenehm schmeckende L\u00f6sung appliziert und so eine Geschmacksunlust erzeugt, so verbindet sich dieselbe mit k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen in Puls, Atem usw. Wenn man nach diesem Versuch diese Versuchsperson uuffordert, sich zu vergegenw\u00e4rtigen, in welcher Situation sie sich\n1) A. Lehmann: 1. c. S. 224 und 225.","page":1454},{"file":"p1455.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1455\nnach Applikation jener Geschmacksl\u00f6snng befand, so wird wieder ein Unlnstgef\u00fchl entstehen; es werden sich ebenso k\u00f6rperliche Begleiterscheinungen in Pnls, Atem nsw. nachweisen lassen. Das zuerst entstandene Unlustgefiihl nennen wir urspr\u00fcngliches, das zu zweit entstandene abgeleitetes oder wiedererlebtes Unlustgef\u00fchl ; man nennt es auch, allerdings mi\u00dfverst\u00e4ndlich, reproduziertes. Dieses Unlustgef\u00fchl gr\u00fcndet sich auf das urspr\u00fcngliche Unlustgef\u00fchl, welches sich an Geschmacks-empfindungen anschlo\u00df. Das abgeleitete Unlustgef\u00fchl schlie\u00dft sich an Vorstellungen an.\nDie Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse von urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchlszust\u00e4nden zu abgeleiteten sind andere als die von Empfindungen zu Vorstellungen. W\u00e4hrend eine Vorstellung oder besser ihr physiologisches Korrelat im allgemeinen von verschwindender Intensit\u00e4t ist gegen\u00fcber einer Empfindung bzw. dem physiologischen Korrelat derselben (die Intensit\u00e4t des Ger\u00e4usches einer zum Boden fallenden Nadel ist weit st\u00e4rker als die Intensit\u00e4t der Vorstellung des lautesten Donners), so ist die Intensit\u00e4t eines abgeleiteten Gef\u00fchles nicht von verschwindender Intensit\u00e4t gegen\u00fcber einem urspr\u00fcnglichen ; es ist von schw\u00e4cherer Intensit\u00e4t als das entsprechende urspr\u00fcngliche, aber im allgemeinen von st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t als mancher andere urspr\u00fcngliche Gef\u00fchlszustand.\nDiese Differenz ist dadurch bedingt, da\u00df auch in den abgeleiteten Gef\u00fchlszust\u00e4nden Organempfindungen stecken, wie in den urspr\u00fcnglichen; sie weisen ja auch k\u00f6rperliche Begleiterscheinungen auf. So macht sich von unserer Gef\u00fchlstheorie aus dieser Tatbestand leicht verst\u00e4ndlich !\n3. Fragt man nun weiter nach der Bolle, welche der Gegensatz zwischen Empfindungen und Vorstellungen als intellektuelle Unterlagen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr die Differenz zwischen urspr\u00fcnglichen und abgeleiteten Gef\u00fchlszust\u00e4nden spielt, so liegt die Auffassung nahe, da\u00df die urspr\u00fcnglichen sich eben auf Empfindungen, die abgeleiteten auf Vorstellungen st\u00fctzen. Diese Auffassung ist die gew\u00f6hnliche.\nVon dieser Auffassung weicht Lehmann etwas ab, indem er zeigt, da\u00df auch bei urspr\u00fcnglichen Affekten Vorstellungen eine gewisse Bolle spielen, wenn auch nicht eine so gro\u00dfe, wie bei wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nden. Lehmann sagt: ,,Jeder normale Mensch kann durch eine geeignete Mitteilung, sagen wir z. B. ,,N. N. ist gestorben\u201d, in Affekt kommen. Es sei der betreffende N. N. eine g\u00e4nzlich unbekannte Privatperson, die indes in ihrem engen Kreise sehr beliebt war. Die gro\u00dfe Mehrzahl der Menschheit wird dann von dieser Mitteilung unber\u00fchrt bleiben, und nur die","page":1455},{"file":"p1456.txt","language":"de","ocr_de":"1456\nGr. St\u00f6rring\nrelativ Wenigen, die die Person kannten nnd lieb batten, werden den Toten betrauern. Der einfache Schallreiz : ,,bT. bT. ist gestorben\u201d, gen\u00fcgt mithin nicht, nm den Affekt Traner hervorznrnfen ; die Gem\u00fctsbewegung entsteht nur bei den Individuen, wo die Worte gef\u00fchlsbetonte Vorstellungen von der Person nnd den pers\u00f6nlichen Eigenschaften des bT. bi., ferner von bestimmten Situationen nsw. reproduzieren. Und indem solche fr\u00fcher erlebte Situationen, in denen bl. bT. eine wesentliche Polle spielte, ohne die Gegenwart dieser Person vorgestellt werden, resultiert die allgemeine Vorstellung von einem Verluste, den man durch ihr Hinscheiden erlitten hat.\u201d Weiter wird von der Bewunderung eines Menschen gesagt: ,,Die Bewunderung wird nm so gr\u00f6\u00dfer, je mehr die Leistungen des betreffenden Individuums diejenigen der anderen \u00fcberragen; sie setzt also als notwendige Bedingung voraus, da\u00df man einen Ma\u00dfstab f\u00fcr die zu beurteilenden Leistungen hat und dieselben als etwas Wertvolles ansieht. Mit anderen Worten hei\u00dft dies nur, da\u00df Bewunderung ohne reproduzierte Lustgef\u00fchle nicht m\u00f6glich ist . . .\u201d ,,Die wiedererlebte Gem\u00fctsbewegung steht augenscheinlich dem wirklichen Erlebnis so nahe, da\u00df eigentlich die Veranlassung, im ersteren Palle gewisse Erinnerungen, im letzteren dagegen \u00e4u\u00dfere Eeize, den Unterschied bildet1).\u201d\nbT a c h A. Lehmann ist also der Unterschied zwischen urspr\u00fcnglichen und wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nden dadurch bedingt, da\u00df bei den wiederer1ebten der ganze Proze\u00df durch Erinnerungen veranla\u00dft ist, bei urspr\u00fcnglichen durch \u00e4u\u00dfere Peize.\nDagegen ist zun\u00e4chst zu sagen, da\u00df im Moment der Entwicklung urspr\u00fcnglicher Gef\u00fchlszust\u00e4nde \u00e4u\u00dfere Peize gar nicht vorzuliegen brauchen: Jemand hat eine briefliche Mitteilung erhalten (\u00e4u\u00dferer Peiz), deren Beziehung zu seinen Lebensinteressen ihm zun\u00e4chst nicht erkenntlich wird. Erst nach einiger Zeit, als der \u00e4u\u00dfere Peiz gar nicht mehr da ist, f\u00fchren ihn relativ komplizierte \u00dcberlegungen zu der Erkenntnis, da\u00df die ihm mitgeteilten Tatsachen mit gro\u00dfer Wahrscheinlichkeit eine Situation schaffen, welche seinen Lebensinteressen in der empfindlichsten Weise zuwiderlaufen. Hier entwickelt sich ein urspr\u00fcnglicher Gef\u00fchlszustand, obgleich derselbe durch ,,Erinnerung\u201d und nicht durch \u00e4u\u00dfere Peize veranla\u00dft ist.\nWir m\u00fcssen also sagen, der Gegensatz der urspr\u00fcnglichen und wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nde ist nicht an den Gegensatz von\nx) A. Lehmann: 1. c. S. 226 und 227.","page":1456},{"file":"p1457.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1457\nEmpfindungsgef\u00fchlen und Vorstellungsgef\u00fchlen gebunden, auch nicht an den Gegensatz der durch \u00e4u\u00dfere Beize und durch \u201eErinnerungen\u201d ver-anla\u00dften Gef\u00fchle.\n4. Es mu\u00df sodann betont werden, da\u00df neben der Intensit\u00e4tsdifferenz zwischen urspr\u00fcnglichen und abgeleiteten Gef\u00fchlszust\u00e4nden ein Unterschied besteht, der viel wichtiger als dieser ist f\u00fcr die Entwicklung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden: der Unterschied zwischen als g\u00fcltig oder urteilsm\u00e4\u00dfig als real gesetzten Tatbest\u00e4nde und von uns vor gestellten und gedachten!\nIm Fall der starken emotionellen Wirkung der Mitteilung: ,,N. 1ST. ist gestorben\u201d, spielen in Wirklichkeit nicht nur gef\u00fchlsbetonte Vorstellungen eine Eolle und ebenso allgemein bei der besprochenen Bewunderung eines Menschen, sondern Eealit\u00e4ts-urteile \u00fcber seine Pers\u00f6nlichkeit !\nWie kommt es da, da\u00df jeder normale Mensch ohne \u00e4u\u00dfere Eeize, ohne Empfindungen und Wahrnehmungen starke Gef\u00fchlszust\u00e4nde, Affekte, wie wir sahen, entwickeln kann? In dem fr\u00fcher herangezogenen Beispiel erfuhr eine briefliche Mitteilung erst sp\u00e4ter, als der \u00e4u\u00dfere Eeiz nicht mehr da war, eine gedankliche Verarbeitung, indem wahrscheinliche Konsequenzen aus der neu geschaffenen Situation gezogen wurden. Woher die starken Gef\u00fchlszust\u00e4nde trotz fehlender \u00e4u\u00dferer Eeize ? Es sind daf\u00fcr offenbar von uns vollzogene Eealit\u00e4ts-Setzungen verantwortlich zu machen ! Eine Eealit\u00e4ts-Setzung hat f\u00fcr uns ganz anderes Interesse als eine blo\u00dfe Vorstellung oder ein blo\u00dfer Gedanke (Beziehungsgedanke) ohne Eealit\u00e4ts-bewu\u00dftsein und ohne G\u00fcltigkeitsbewu\u00dftsein.\nAuch Urteile, die keine Eealurteile sind, Idealurteile, k\u00f6nnen sich mit starken Gef\u00fchlen verbinden; diese stammen dann, wenn keine \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden oder gef\u00fchlsstarke Nebengedanken vorliegen, von der intellektuellen Bet\u00e4tigung her. Diesen T\u00e4tigkeitsgef\u00fchlen stehen bei den Eealit\u00e4tsurteilen Gegenstandsgef\u00fchle gegen\u00fcber.\nDie Eealit\u00e4tssetzungen k\u00f6nnen nun nat\u00fcrlich sehr differente Gef\u00fchlszust\u00e4nde aus-l\u00f6sen, einmal je nachdem intimere oder mehr periphere menschliche.Le.bensinteressen be-","page":1457},{"file":"p1458.txt","language":"de","ocr_de":"1458\nG. St\u00f6rring\ntroffen sind, sodann je nachdem nnsere eigenen Lebensinteressen in Frage kommen oder die anderer Menschen nnd im letzten Falle, je nachdem die Sympathie mit den Lebensinteressen anderer Menschen eine st\u00e4rkere oder schw\u00e4chere ist.\nEs stellen sich in all diesen F\u00e4llen die Gef\u00fchlszust\u00e4nde nat\u00fcrlich ihrer Intensit\u00e4t nach different dar, je nachdem die Realit\u00e4ts-setznngen sich anf jetzt gegebene Tatbest\u00e4nde beziehen oder auf als in Zukunft oder in der Vergangenheit als real gesetzte.\nDamit ergibt sich also eine F\u00fclle von qualitativen nnd quantitativen Differenzen der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde bei vollzogenen Realit\u00e4tssetzungen.\nZuletzt ist noch der eigentlichen Realit\u00e4tssetzung die \u00e4sthetische Realit\u00e4tssetznng gegen\u00fcberzustellen, welche nicht durch Urteilsprozesse, sondern, wie sich uns sp\u00e4ter zeigen wird, durch fixierende Wirkung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden bedingt ist.\nSolche Realit\u00e4t s Setzungen ziehen also zum Teil sehr starke Gef\u00fchlszust\u00e4nde nach sich. Der Wirkung dieser intellektuellen Tatbest\u00e4nde auf das Gef\u00fchlsleben steht die matte Wirkung blo\u00dfer Vorstellungen und Gedanken (Beziehungsgedanken ohne G\u00fcltigkeitsbewu\u00dftsein) gegen\u00fcber.\nWie steht es nun mit der Erinnerung?\nHier liegen f\u00fcr die Entwicklung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse vor wie bei Realit\u00e4tsurteilen, welche sich auf fr\u00fchere Tatbest\u00e4nde beziehen. Die Erinnerungen sind nat\u00fcrlich nicht solche Urteile, aber sie sind mit diesen Urteilen verwandt. In den Erinnerungen findet sich wie in Urteilen ein \u00dcberzeugungs-bewu\u00dftsein, die \u00dcberzeugung, da\u00df wir es mit fr\u00fcher Erlebtem zu tun haben. Bei n\u00e4herer experimenteller Untersuchung der Erinnerung1) hat sich mir gezeigt, da\u00df dieses \u00dcberzeugungsbewu\u00dftsein nur ein reproduziertes G\u00fcltigkeitsbewu\u00dftsein ist, kein G\u00fcltigkeitsbewu\u00dftsein, welches sich auf die unmittelbar vorausgegangene Operation st\u00fctzt.\nAber es handelt sich wenigstens bei der Erinnerung um einen Tatbestand, welcher dem bei Realit\u00e4tsurteilen, die sich auf fr\u00fchere Tatbest\u00e4nde beziehen, \u00e4hnlich ist. Und deshalb ist auch die Gef\u00fchlswirkung dieser intellektuellen Unterlage \u00e4hnlich.\nDie Realit\u00e4tsurteile, welche sich auf fr\u00fchere Tatbest\u00e4nde beziehen, tangieren nat\u00fcrlich unsere Lebensinteressen, ceteris paribus nicht so intensiv wie diejenigen, welche gegenw\u00e4rtige\n\u00df St\u00f6rring: Psychologie. S. 310.","page":1458},{"file":"p1459.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1459\nTatbest\u00e4nde betreffen nnd im allgemeinen anch nicht so stark wie die anf zuk\u00fcnftige Tatbest\u00e4nde gerichteten Bealit\u00e4tsurteile.\n5. Wir m\u00fcssen uns noch dar\u00fcber Klarheit verschaffen, wie es mit den individuellen Differenzen anf diesem Gebiet steht.\nKach Ribot spielen hier die individuellen Differenzen eine ganz enorme Bolle und man mu\u00df beachten, da\u00df Ribot diese seine Behauptungen auf ein ausgedehntes Fragebogenmaterial1) st\u00fctzt. Ich hob fr\u00fcher hervor, da\u00df dieses Material dadurch gewonnen wurde, da\u00df er ihm geeignet erscheinende Personen ersuchte, ,,da\u00df man sich den besonderen Fall einer Gem\u00fctsbewegung (Freude, Zorn, Liebe usw.) ins Ged\u00e4chtnis rufe\u201d. Die Antworten geben Ribot Veranlassung, die angefragten Personen in drei Klassen einzuteilen.\nEr sagt: ,,Die meisten Personen erinnern sich nur der Bedingungen, Umst\u00e4nde und Nebenerscheinungen der Gem\u00fctsbewegungen; sie haben nur ein intellektuelles Ged\u00e4chtnis 1).\u201d\n,,D i e anderen Personen (die viel weniger zahlreich sind) erinnern sich der Umst\u00e4nde und au\u00dferdem des Gef\u00fchlszustandes selbst, der wieder lebendig wird1).\u201d\n,,Es bleibt nun noch eine dritte Gruppe von Antworten \u00fcbrig, von der mir nur vier F\u00e4lle vorliegen .... Die betreffenden Personen stellen sich die Gem\u00fctsbewegung objektiv vor, indem sie dieselbe in einen anderen verlegen 2).\u201d\nNach Ribot haben also die bei weitem gr\u00f6\u00dfte Zahl der befragten Personen \u00fcberhaupt keine wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nde!\nDiesem Besultat mu\u00df ich mi\u00dftrauen. Jeder normale Mensch entwickelt wiedererlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde, wenn er sich an die Situation erinnert, in welchem er vor kurzem einen st\u00e4rkeren Zornaffekt hatte oder an die Situation, in welcher er vor kurzem einen ausgepr\u00e4gten Angstzustand erlebte. Ribots Besultate setzen sich also zun\u00e4chst in Gegensatz zur Erfahrung des gew\u00f6hnlichen Lebens. Sie setzen sich aber sodann, was von ganz anderem Gewicht ist, zu Feststellungen in Gegensatz, welche ich bei Verwendung emotioneller Beizworte an Versuchspersonen machen konnte, denen ich die Anweisung gab, wom\u00f6glich eine emotionelle Stellungnahme an Hand konkreter Tatbest\u00e4nde zu vollziehen. Ich habe hier bei allen Versuchspersonen wiedererlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausgepr\u00e4gter Art nachgewiesen.\n1)\tBibot: 1. c. S. 191.\n2)\tBibot: 1. c. 195.","page":1459},{"file":"p1460.txt","language":"de","ocr_de":"1460\nG. St\u00f6rring\nDann habe ich nur noch die Frage zu beantworten, wie wir uns die abweichenden Resultate Ribots v e r-st\u00e4ndlich machen. Er hat sich doch an die erhaltenen Aussagen gehalten.\nMan hat zun\u00e4chst keine Garantie daf\u00fcr, da\u00df die von Ribot befragten Personen, welche keine wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nde angegeben haben, zu psychologischer Beobachtung bef\u00e4higt waren. Und wenn es sich zum Teil um Personen gehandelt hat, die zur Selbstbeobachtung im allgemeinen bef\u00e4higt waren, so fehlte ihnen doch die \u00dc bung in dieser Art von Selbstbeobachtung.\nWas solche \u00dcbung ausmacht, hat sich mir besonders an Versuchen mit Augenbewegungen gezeigt. Es wurde ein Lichtpunkt im Dunkelzimmer bewegt, die Bewegungen wurden miteinander verglichen. Die ersten Sch\u00e4tzungen waren bei allen Versuchspersonen, verglichen mit den nach Ein\u00fcbung vollzogenen, sehr schlecht. Zuweilen hatten die Versuchspersonen sogar den Eindruck, als ob der Punkt sich gar nicht bewegt habe. Das trat dann ein, wenn die Versuchsperson sehr starke Aufmerksamkeitsspannungen entwickelte, welche mit Spannungen in der Augenmuskulatur verbunden waren: obgleich das Auge der ausgiebigen Bewegung des Lichtpunktes folgte, wurden durch die Spannungsempfindungen die durch die Augenbewegungen entstandenen Bewegungsempfindungen v\u00f6llig \u00fcberdeckt1).\u201d\nDie Ungenauigkeit der ersten Sch\u00e4tzungen erwies sich als durch partielles \u00dcberdecktwerden der Bewegungsempfindungen durch Spannungsempf in d\u00fcngen bedingt.\nkun ist es f\u00fcr jeden, der l\u00e4ngere Zeit mit Gef\u00fchlszust\u00e4nden experimentiert hat, eine bekannte Tatsache, da\u00df durch Spannungen auch Gef\u00fchlszust\u00e4nde leicht verdeckt werden. Das hat Alfred Lehmann in seinen Berichten \u00fcber Gef\u00fchlsexperimente h\u00e4ufig zum Ausdruck gebracht, und das habe ich ebenfalls in einwandfreier Weise konstatieren k\u00f6nnen. Es tritt auch in einer unter meiner Leitung gemachten Gef\u00fchlsarbeit deutlich hervor ).\nRun ist es aber klar, da\u00df die Fragestellung, welche Ribot an seine Beobachter gerichtet hatte, Erwartungsspannung ausl\u00f6sen mu\u00dfte. Sie sollten ja doch dar\u00fcber Auskunft geben, ob bei der Erinnerung an fr\u00fchere Gem\u00fctsbewegungen sich Gef\u00fchls-zust\u00e4nde entwickelten.\nDa erzeugten die Beobachter dann willk\u00fcrlich eine Reproduktion der intellektuellen Unterlage des fr\u00fcheren Gef\u00fchlszustandes und eventuell eine Erinnerung daran, und je vollst\u00e4ndiger die\nb St\u00f6rring: Psychologie. S. 75.\n2) Ernst St\u00f6rring: Experimentelle pnenmographische Gef\u00fchlsversnche. Arch, f. d. ges. Psych. Bd. 55.","page":1460},{"file":"p1461.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1461\nReproduktion der einzelnen Teilvorstellungen wurde, um so st\u00e4rker machte sich die Erwartungsspannung auf das Wiedererleben der fr\u00fcher bei den entsprechenden intellektuellen Unterlagen entstandenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde geltend. Wenn unter solcher Spannung wiedererweckte Gef\u00fchlszust\u00e4nde verdeckt wurden, so ahnten die Beobachter nat\u00fcrlich nichts davon, welches Spiel ihre eigene Erwartung mit ihnen trieb !\nMan versteht so, wie Ribot zu dem Resultat kommen konnte, da\u00df wiedererlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde sich nur bei relativ wenig Menschen finden, w\u00e4hrend sie in Wirklichkeit bei jedem normalen Menschen zur Entwicklung kommen. Wo das nicht der Fall ist, haben wir es mit einem schweren Defektzustand zu tun, der in dem Mangel an sittlichen und \u00e4sthetischen Gef\u00fchlen zum Ausdruck kommt. Wo die wiedererlebten Gef\u00fchlszust\u00e4nde fehlen, kommen keine Sympathiegef\u00fchle zur Entwicklung, keine \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden und man hat das Bild einer moral insanity vor sich.\nNat\u00fcrlich mu\u00df man individuelle Differenzen bez\u00fcglich der Entwicklung wiedererlebter Gef\u00fchlszust\u00e4nde anerkennen. Dieselben h\u00e4ngen zum Teil von intellektuellen Differenzen ab : von Differenzen in bezug auf die Ausgestaltung der intellektuellen Unterlagen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Die intellektuellen Unterlagen haben nicht nur verschiedene Intensit\u00e4t, sie haben auch bei verschiedenen Menschen einen verschiedenen Grad konkreter Ausgestaltung und stellen sich im Bewu\u00dftsein in verschiedenen Klarheitsgraden dar. F\u00fcr die Entwicklung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ist sodann eine verschiedene emotionelle Anspruchsf\u00e4higkeit bei verschiedenen Individuen vorhanden.\n2. Kapitel.\nVerschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden.\nDie Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden weist sehr verschiedene Grade auf und kommt durch verschiedene Ursachen zustande. Da die verschiedenen Grade der Verschmelzung einen allm\u00e4hlichen \u00dcbergang von niederen zu h\u00f6heren Graden aufweisen, so interessiert uns die Unterscheidung verschiedener Grade der Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden viel weniger als die Auf Weisung der verschiedenen Ursachen, durch welche die Verschmelzung zustande kommt.\nIch m\u00f6chte zun\u00e4chst zwei Gruppen von Verschmelzungen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden unterscheiden. Bei der einen Gruppe wird die Verschmelzung herbeigef\u00fchrt durch eine Verkn\u00fcpfung der Gef\u00fchlszust\u00e4ncLe\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t95","page":1461},{"file":"p1462.txt","language":"de","ocr_de":"1462\nG. St\u00f6rring\nin den intellektuellen Unterlagen derselben. Bei einer zweiten Gruppe ist die Verkn\u00fcpfung der Ge-f\u00fchlszust\u00e4nde durch diese selbst bedingt.\nI. Wir fassen zun\u00e4chst die erste Gruppe ins Auge, bei der die Verkn\u00fcpfung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch die intellektuellen Unterlagen bedingt ist.\nDie Verkn\u00fcpfung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch die intellektuellen Unterlagen kommt einmal so zustande, da\u00df dieselbe intellektuelle Unterlage verschiedene Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6st oder so, da\u00df verschiedene intellektuelle Unterlagen, welche in inniger assoziativer oder in partieller Identit\u00e4tsbeziehung zueinander stehen, verschiedene Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6sen.\n1. Wo dieselbe intellektuelle Unterlage verschiedene Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6st, geschieht das einmal so, da\u00df urspr\u00fcngliche Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch verschiedene Eigenschaften der intellektuellen Unterlage unmittelbar ausgel\u00f6st werden oder so, da\u00df urspr\u00fcngliche Gef\u00fchlszust\u00e4nde einer und derselben intellektuellen Unterlage mit reproduzierten Gef\u00fchls -zust\u00e4nden verschmelzen.\nDie Verschmelzung von verschiedenen urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchls-zust\u00e4nden, welche von derselben intellektuellen Unterlage herr\u00fchren, ist z. B. in einfacher Weise da gegeben, wo wir es mit einem polychromen Ornament zu tun haben. Da l\u00f6sen einmal die Formen des Ornamentes Gef\u00fchlszust\u00e4nde aus und sodann l\u00f6sen die Farben und Farbenzusammenstellungen Gef\u00fchlszust\u00e4nde aus, und diese verschmelzen miteinander.\nDa die intellektuelle Unterlage des polychromen Ornamentes mit seiner Verbindung von Formen und Farben eine Einheit bildet, so gehen auch die ausgel\u00f6sten Gef \u00fchl s z us t \u00e4 n d e eine nahe Verbindung ein. \u2014\nFassen wir sodann die F\u00e4lle ins Auge, wo urspr\u00fcngliche Gef\u00fchlszust\u00e4nde einer und derselben intellektuellen Unterlage mit reproduzierten und die reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nde untereinanderverschmelzen. Diese F\u00e4lle sind nicht so schnell zu erledigen.\nHierher geh\u00f6rt die \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden bei einem intellektuellen Tatbestand, der schon prim\u00e4r mit ausgepr\u00e4gtem Gef\u00fchlszustand sich verband. Ich habe etwa in einem sch\u00f6n gelegenen Schweizerdorf wiederholt interessante wissenschaftliche Gespr\u00e4che mit einem Freunde gehabt. Wenn ich sp\u00e4ter den Ort wieder erblicke, so mag ich etwa nicht sogleich an diese Gespr\u00e4che denken; die Sch\u00f6nheit des Ortes hat f\u00fcr mich aber eine besondere F\u00e4rbung erhalten, gewisserma\u00dfen","page":1462},{"file":"p1463.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1463\neine geistige F\u00e4rbung, welche anf das Konto jener Gespr\u00e4che mit dem Frennde kommt.\nEin besonderer komplexer Fall der \u00dcbertragung von Gef\u00fchls-znst\u00e4nden liegt da vor, wo ich von Summationszentren von Gef\u00fchlsznst\u00e4nden spreche. Um gewisse Wahrnehmungen, Vorstellungen, Gedanken, Urteilsprozesse k\u00f6nnen sich Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch \u00dcbertragung gruppieren, die aus verschiedenen Perioden des Lebens stammen. So ist es bei Vorstellung oder Wahrnehmung des Vaters, der Mutter, der Lebensgef\u00e4hrtin, des Freundes, bei einem religi\u00f6sen Menschen beim Gedanken an Gott; so ist es bei einem sittlich h\u00f6her entwickelten Menschen bei dem in konkreter Situation gef\u00e4llten Urteil, ,,das ist f\u00fcr mich hier sittlich geboten\u201d, ,,das ist f\u00fcr mich hier sittlich verboten\u201d.\nSolche intellektuelle Zentren k\u00f6nnen gewaltige Gef\u00fchlsmassen ausl\u00f6sen, wobei \u00fcber die Genesis der einzelnen in diese Gef\u00fchlsmasse eingegangenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde im allgemeinen nichts mehr festzustellen ist.\nAn solchen Gef\u00fchlsmassen, welche durch Summationszentren von Gef\u00fchlszust\u00e4nden ausgel\u00f6st werden, ist zu beachten das ,,ver-schiedene Alter\u201d der Gef\u00fchlsdispositionen. Wie man auf intellektuellem Gebiet auf Grund experimenteller Befunde von verschiedenem,, Alter\u201d der Disposition zu Vorstellungsreproduktionen spricht1), wobei man betont, da\u00df die \u00e4lteren Dispositionen fester haften, so kann hier auf emotionellem Gebiet in gleichem Sinne von einem verschiedenen Alter von Gef\u00fchlsdispositionen gesprochen werden.\nHier kommt hinzu, da\u00df die \u00e4lteren Gef\u00fchlsdispositionen an Festigkeit und Wirkungskr\u00e4ftigkeit dadurch im allgemeinen stark gewonnen haben, da\u00df sie in verschiedenenZeit-punkten immer wieder neu angeregt sind.\nVon diesen Gef\u00fchlszust\u00e4nden gilt sodann, da sie aus verschiedenen Perioden des Lebens des Individuums stammen, da\u00df sie einen relativ gro\u00dfen Reichtum emotioneller Komponenten darbieten, welche zu verschiedenen Erlebnisperioden des Individuums geh\u00f6ren. Man hat hier von verschiedenen ,,Schichten\u201d des Bewu\u00dftseins gesprochen.\nSodann ist hier ganz besonders hervorzuheben, da\u00df diese Gef\u00fchlszust\u00e4nde im allgemeinen eine nahe Beziehung zu objektiven Werten haben und damit zu den Grunds\u00e4tzen des Individuums in naher Beziehung stehen.\nx) St\u00f6rring : Psychologie. S. 151.\n95*","page":1463},{"file":"p1464.txt","language":"de","ocr_de":"1464\nGr. St\u00f6rring\nZuletzt darf nicht unbeachtet bleiben, da\u00df diese Gef\u00fchls-zust\u00e4nde auch zu der singul\u00e4ren Gestaltung der Erlebnisse dieser Pers\u00f6nlichkeit in naher Beziehung stehen.\nBei den Summationszentren von Gefiihlszust\u00e4nden spielen die Verschmelzungen reproduzierter Gef\u00fchlszust\u00e4nde mit urspr\u00fcnglichen eine geringere Bolle als die Verschmelzung reproduzierter Gef\u00fchlszust\u00e4nde untereinander.\nZu den Verschmelzungen urspr\u00fcnglicher Gef\u00fchlszust\u00e4nde mit reproduzierten bei derselben intellektuellen Unterlage geh\u00f6rt auch die Verschmelzung des Fechner sehen direkten und indirekten Faktors im \u00e4sthetischen Genu\u00df.\nHier liegen allerdings die Verh\u00e4ltnisse doch nicht ganz so wie bei der Verschmelzung von urspr\u00fcnglichen und reproduzierten Gef\u00fchlszust\u00e4nden bei Gef\u00fchls\u00fcbertragung. Wo die Gef\u00fchls\u00fcbertragung sich allm\u00e4hlich ausbildet, tritt die Vorstellung, von der aus die \u00dcbertragung statt findet, allm\u00e4hlich immer mehr im Bewu\u00dftsein zur\u00fcck, wird immer mehr dunkelbewu\u00dft, bis sie zuletzt nicht mehr im Bewu\u00dftsein nachweisbar ist. Fassen wir aber den indirekten \u00e4sthetischen Faktor ins Auge und scheiden wir denselben (mehr als das von Fechner selbst geschehen ist) von einem gef\u00fchlsstarken au\u00dfer\u00e4sthetischen Faktor, so unterscheidet er sich von ihm dadurch, da\u00df hier eine V erschmelzung vorliegt zwischen dem betrachteten \u00e4sthetischen Objekt und dem intellektuellen Faktor, welcher in dieser gef\u00fchlsstarken Vorstellung oder dem gef\u00fchlsstarken Gedanken steckt, also eine Verschmelzung mit dieser Vorstellung bzw. mit diesem Gedanken.\n2. Wir haben nun weiter diejenigen F\u00e4lle zu behandeln, wo verschiedene im Bewu\u00dftsein gegebene intellektuelle Unterlagen verschiedene Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6sen und wo zugleich die intellektuellen Unterlagen entweder partiell identisch sind, oder in naher assoziativer Beziehung stehen oder einen komplexen gegebenen Tatbestand zur Auffassung bringen.\na) Wir machen jetzt solche F\u00e4lle zun\u00e4chst zum Gegenstand der Betrachtung, wo die verschiedenen intellektuellen Unterlagen partiell identisch sind.\nDas ist z. B. der Fall bei dem Ehrfurchtsgef\u00fchl. In demselben sind die Komponenten Furcht und Achtung enthalten. Nehmen wir den Fall der Beziehung des Z\u00f6glings zum Erzieher. Der Erzieher fl\u00f6\u00dft dem Z\u00f6gling Furcht ein, sofern er als Strafen verh\u00e4ngend aufgefa\u00dft wird, Achtung, sofern er auf-","page":1464},{"file":"p1465.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1465\ngefa\u00dft wird als mit bestimmten, von dem Z\u00f6gling hochgesch\u00e4tzten Eigenschaften behaftet. Die Gef\u00fchlszust\u00e4nde der Furcht und Achtung verschmelzen miteinander: Es besteht partielle Identit\u00e4t der intellektuellen Unterlagen (eine gewisse Differenz ist ja doch vorhanden, indem das betreffende Individuum von verschiedenen Seiten aus betrachtet wird).\nEine partielle Identit\u00e4t ist uns fr\u00fcher im experimentellen Teil in Superpositionsgef\u00fchlen hervorgetreten.\nb)\tWir wollen jetzt diejenige Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden ins Auge fassen, wo verschiedene intellektuelle Unterlagen vorliegen, welche in inniger assoziativer Beziehung zueinander stehen.\nSolch ein Fall ist z. B. da gegeben, wo ein Freund mir ein, auch f\u00fcr sich genommen, wertvolles Andenken schenkt, ein Objekt etwa, dessen Betrachtung f\u00fcr sich genommen, \u00e4sthetische Gef\u00fchle ausl\u00f6st und welches zugleich den Gedanken an den Freund im Bewu\u00dftsein auftreten l\u00e4\u00dft, wobei dieser Gedanke sich dann mit einem Gef\u00fchlszustand freundschaftlicher Zuneigung verbindet. Obgleich hier der Gedanke an den Freund als ein besonderer intellektueller Tatbestand sich von der Betrachtung des Objektes abhebt, wird doch der durch das \u00e4sthetische Objekt ausgel\u00f6ste \u00e4sthetische Gef\u00fchlszustand eine gewisse Verkn\u00fcpfung mit dem Gef\u00fchlszustand eingehen, welche sich an den Gedanken an den Freund anschlie\u00dft. Diese Verkn\u00fcpfung wird dann am deutlichsten hervortreten, wenn der Gedanke an das Objekt im Vordergrund des Bewu\u00dftseins steht ! Dann wird der \u00e4sthetische Gef\u00fchlszustand eine F\u00e4rbung von dem Gef\u00fchlszustand freundschaftlicher Zuneigung annehmen.\nc)\tWir haben jetzt solche F\u00e4lle von Verschmelzung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu untersuchen, wo verschiedene intellektuelle Unterlagen vorhanden sind, die einen gegebenen komplexen Tatbestand zur Auffassung bringen.\nIn der in Bede stehenden Frage liegt eine Polemik von Rehmke gegen A. Lehmann vor, die sehr lehrreich ist.\nRehmke sagt: ,,Was zun\u00e4chst das Gef\u00fchl .... das als Gef\u00fchlsmischung aufzufassen sei, betrifft, so f\u00fchrt Lehmann als ein ,typisches Beispiel\u2019 solchen Gef\u00fchles folgendes an: ,Wenn bei einem festlichen Diner die zahlreichen abwechselnden Geschmacksempfindungen, pr\u00e4chtiger Tischger\u00e4te, Lichter, Blumen, Musik und heiteres Gespr\u00e4ch jedes f\u00fcr sich uns Lustgef\u00fchle zuf\u00fchren und das ihrige zur Erzeugung der festlichen Stimmung beitragen, solange die Aufmerksamkeit n\u00e4mlich auf keine der betonten Vorstellungen willk\u00fcrlich gerichtet wird, bilden alle vorhandenen Gef\u00fchle eine kompakte Masse, in welcher kein einzelnes Moment besonders hervortritt ; alle diese Gef\u00fchle aber stehen dennoch in einer rein","page":1465},{"file":"p1466.txt","language":"de","ocr_de":"1466\nG* St\u00f6rring\n\u00e4u\u00dferen zuf\u00e4lligen Beziehung zueinander, und sobald man die Aufmerksamkeit willk\u00fcrlich auf eine der betonten Vorstellungen richtet, treten alle anderen Gef\u00fchlsmomente in den Hintergrund und nur das besonders festgehaltene Gef\u00fchl steht im Bewu\u00dftsein klar da; man kann auf diese Weise jedes einzelne der zusammenwirkenden Lustmomente hervorziehen und f\u00fcr sieh genie\u00dfen\u2019 ....\n,, Wir m\u00fcssen erkl\u00e4ren, dieses typische Beispiel f\u00fcr ein besonderes Gef\u00fchl, das angeblich eine , Gef\u00fchlsmischung\u2019 sei, nicht anerkennen zu k\u00f6nnen. ... Es streitet gegen die klaren Tatsachen, wenn behauptet wird, da\u00df das eine Gef\u00fchl, das beim festlichen Diner\u2019 in dem Augenblick sich findet, in dem die Aufmerksamkeit z. B. auf die Blumen gerichtet ist, nun ausschlie\u00dflich auch nur durch die Blumen bedingt und da\u00df das besondere Gef\u00fchl demnach der an diese Blumenwahrnehmung ,gebundene Gef\u00fchlston\u2019 sei, der auf solche Weise hervorgezogen\u2019, und f\u00fcr sich genossen werde, so da\u00df demgegen\u00fcber alles andere Gegenst\u00e4ndliche des Bewu\u00dftseinsaugenblickes in gar keiner Weise f\u00fcr das Gef\u00fchl dieses Augenblickes mitbedingend sei. Man mache doch einmal den Versuch, dieselben Blumen aufmerksam zu betrachten, wenn der Lichterglanz etwa durch das einfache Tageslicht ersetzt wird, auch die Musik und die pr\u00e4chtige Tafelausschm\u00fcckung fehlt, ob man dann in der Tat wieder dasselbe Gef\u00fchl, wie bei jenem Diner, als man die Blumen aufmerksam betrachtete, habe ! Kach meiner Pr\u00fcfung findet sich nach solchem Wechsel des besonderen Gegenst\u00e4ndlichen keineswegs dann dasselbe Lustgef\u00fchl, wie in dem fr\u00fcheren Falle\u201d 1).\nZu dieser Entwicklung von Mehmke ist zu sagen, da\u00df allerdings der an einen Teilgegenstand (Blumen) sich anschlie\u00dfende Einzelgef\u00fchlszustand bei Pachtung der Aufmerksamkeit auf diesen Teilgegenstand durch den von dem Ganzen der \u00fcbrigen Gegenst\u00e4nde herr\u00fchrenden Gesamtgef\u00fchlszustand beeinflu\u00dft wird, so da\u00df dann dieser Einzelgef\u00fchlszustand nicht derselbe ist, als wenn dieser Teilgegenstand ohne das Ganze der \u00fcbrigen Gegenst\u00e4nde betrachtet wird und einen Einzelgef\u00fchlszustand ausl\u00f6st. Aber es mu\u00df gegen Mehmke betont werden, da\u00df durch den bezeichneten Gesamtgef\u00fchlszustand ein einem Teilgegenstand zugeh\u00f6riger Einzelgef\u00fchlszustand jedenfalls nicht so ver\u00e4ndert wird, da\u00df nicht eine Zuordnung eines Einzelgef\u00fchlszustandes zu dem isoliert entstandenen Einzelgef\u00fchlszustande mit Sicherheit zu vollziehen w\u00e4re \u2014 ebenso wie bei Analyse des Klanges ein von demselben isoliert gegebener Oberton des Klanges dem entsprechenden Oberton zugeordnet werden kann, obgleich der Oberton im Klange doch nicht derselbe ist wie der isolierte Oberton ! Wie wir bei\nx) Mehmke: Zur Lehre vom Gem\u00fct. 2. Aufl. S. 24 und 25.","page":1466},{"file":"p1467.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1467\ndieser Zuordnung von einer Heraushebung des betreffenden Obertones ans dem Klange sprechen, so sprechen wir mit demselben Kecht bei jener Zuordnung von einer Heraushebung des Einzelgef\u00fchlszustandes aus dem gegebenen Gesamtgef\u00fchlszustande. Es ist also v\u00f6llig unberechtigt, wenn Rehmke die Behauptung aufstellt, da\u00df nur von einer Heraushebung eines Teilgegenstandes und nicht von Heraushebung eines Einzelgef\u00fchlszustandes gesprochen werden k\u00f6nnte.\nJ Rehmke stellt auch dadurch die Situation seiner Gegner ung\u00fcnstiger dar als sie ist, indem er von einer Heraushebung eines an den Teilgegenstand \u201egebundenen Gef \u00fch.lstons\u201d spricht. Hier kommt nat\u00fcrlich nicht ein hieran ,,gebundener Gef\u00fchlston\u201d (!) in Betracht, sondern ein Einzelgef\u00fchls-zustand, was ja nach unseren Entwicklungen etwas total anderes ist !\nF\u00fcr Rehmke gibt es \u00fcberhaupt keinen Gesamtgef\u00fchlszustand, der aus Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden durch mehr oder minder starke Verschmelzung entstanden ist, sondern den Gesamtgegenst\u00e4nden unseres Beispiels, entspricht in einem gegebenen Bewu\u00dftseinsaugenblick merkw\u00fcrdigerweise nur ein \u201eeinfaches\u201d Gef\u00fchl1)!\nHier widerspricht Rehmkes Auffassung den klarsten Tatsachen. Wir erinnern auch daran, da\u00df sich uns bei experimentellen Untersuchungen des Gef\u00fchlslebens mit emotionellen Beizworten an Hand der sich darbietenden Tatbest\u00e4nde die Unterscheidung zwischen Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden und Gesamtgef\u00fchlszustand ergab !\nDie Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nde in einem Gesamtgef\u00fchlszustand der Ehrfurcht, der Wehmut nennt Relimke \u201efabelhafte Gef\u00fchlst\u00f6ne!\u201d Sie sind f\u00fcr ihn Kunstprodukte einer, ,f i k t i v-atomistischen\u201d Gef\u00fchlspsychologie !\nDie einfache abstraktive Heraushebung eines Einzelgef\u00fchlszustandes aus einem Gesamtgef\u00fchlszustand wird hier also \u201efiktiv- atomistische\u201d Gef\u00fchlspsychologie genannt.\n\u00ab\nDie Auffassung von Rehmke kann man sich so verst\u00e4ndlich machen, da\u00df er glaubt, die Gegner verwechselten miteinander das Erleben der Teilgegenst\u00e4nde mit dem Erleben von Einzelgef\u00fchls -zust\u00e4nden.\nAm besten scheint es mir zu sein, zuzusehen, wie der Autor die Wehmut charakterisiert.\nRehmke nimmt den Fall der Wehmut im Gedanken an einen teuren Verstorbenen. Er sagt: \u201eDa\u00df die Wehmut... nicht ein\n1) Rehmke: 1. c. S. 28.","page":1467},{"file":"p1468.txt","language":"de","ocr_de":"1468\nG. St\u00f6rring\nans Lnst nnd Unlust gemischtes Gef\u00fchl, sondern schlechtweg Unlustgef\u00fchl sei, kann der pr\u00fcfenden Selbstbeobachtung auf die Dauer gar nicht zweifelhaft bleiben und der Schein, da\u00df zu der anf\u00e4nglich wohl vorherrschenden Unlust doch auch Lust sich geselle, kann nur dadurch auf kommen, da\u00df die Vorstellung von der uns teuren Pers\u00f6nlichkeit als solcher, die etwa in einem besonderen Augenblick im Blickpunkt des gegenst\u00e4ndlichen Interesses steht und dann eben die ma\u00dfgebende Bedingung eines Gef\u00fchles, das eine Lust bedeutet, ist, tats\u00e4chlich in dieser zentralen Stellung ab wechselt mit der Vorstellung von jener Pers\u00f6nlichkeit als verlorener 1)\u201d.\nDie irrige gegens\u00e4tzliche Meinung wird nach dem Autor dadurch gef\u00f6rdert, da\u00df in dem ,,Seelenaugenblicke, der Wehmut d. i. Unlust als Gef\u00fchl auf weist, die Vorstellung der , teuren\u2019 Pers\u00f6nlichkeit, also auch eine Lust Vorstellung zu dem Gegenst\u00e4ndlichen dieses Bewu\u00dftseinsaugenblickes immer mitgeh\u00f6rt. . . . nur ist sie selber nicht Lust, sondern sie ist nichts als Lustvorstellung2)\u201d.\nDie Entstehung von Wehmut im Gedanken an einen teuren Verstorbenen setzt voraus, da\u00df der Gedanke an diese Pers\u00f6nlichkeit selbst sich mit Lust verbindet. Diese Lust ist notwendige Bedingung daf\u00fcr, da\u00df der Gedanke an den Verlust dieser Pers\u00f6nlichkeit sich mit Unlust verbindet. Nehmen wir nun auch an, da\u00df zwischen Ursache und Wirkung ein Differential von Zeit verflie\u00dft, so ist dann doch jedenfalls beim Entstehen der Unlust die Lust noch nicht aus dem Bewu\u00dftsein geschwunden ! Tats\u00e4chlich findet man sie auch beide gleichzeitig im Bewu\u00dftsein vor. Behmke leugnet das, wie er allgemein leugnet, da\u00df Lust und Unlust zu gleicher Zeit im Bewu\u00dftsein sind und sein k\u00f6nnen! Metaphysische Anschauungen \u00fcber die Seele spielen hier mit hinein, die Einheit der Seele soll bedingen, da\u00df sie in einem Moment nur mit einer bestimmten Lust oder einer bestimmten Unlust auf einen gedachten Tatbestand reagieren kann ! Bei experimenteller Untersuchung hat sich uns gezeigt, da\u00df tats\u00e4chlich Lust und Unlust h\u00e4ufig gleichzeitig sind.\nLehrreich ist auch, was BehmTce \u00fcber die Lust Vorstellung sagt: Neben der Unlust soll bei der Wehmut eine Lust Vorstellung gleichzeitig im Bewu\u00dftsein vorhanden sein, aber keine Lust. Hier ist auf folgendes hinzuweisen. Die Entstehung der Wehmut setzt voraus, da\u00df die positive Wertsch\u00e4tzung der Pers\u00f6nlichkeit zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird. Aber damit h\u00f6rt die betrachtete Lust nicht auf, Lust zu sein, sie wird dadurch nicht zur Lust Vorstellung!\nx) JRehmke: 1. c. S. 35.\n2) Behmlce: 1. c. S. 36.","page":1468},{"file":"p1469.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1469\nIch darf aber diese Materie nicht verlassen, ohne bemerkt zn haben, da\u00df RehmTce f\u00fcr seine Position sogar eine methodologische Betrachtungsweise ins Feld f\u00fchrt.\nRehmTce sagt: \u201eDie wissenschaftliche Forschung mu\u00df auf alle F\u00e4lle abweisen, da\u00df Hypothesen gemacht und gestellt werden, deren man als Erkl\u00e4rungsmittel vollst\u00e4ndig entraten kann, und eine Hypothese wird \u00fcberdies um so verd\u00e4chtiger, je mehr sie selber sich auf blo\u00dfe W\u00f6rter gestellt sieht. Gerade dies letzte m\u00f6chte ich den Verfechtern eines aus , Gef\u00fchlst\u00f6nen\u2019 angeblich bestehenden Gef\u00fchles, dem sie darum den Hamen , Gef\u00fchlsmischung\u2019 geben, zur Beachtung ans Herz legen, denn ich bin dessen gewi\u00df, da\u00df sie bei ihrer Behauptung gar nicht verschiedene einzelne Gef\u00fchle, sondern vielmehr nur das verschiedene einzelne Gegenst\u00e4ndliche, das eben in seiner Gesamtheit die besondere Bedingung des einen Gef\u00fchles, das nach ihrem Vorgeben trotzdem Gef\u00fchls mis chung sein soll, vorstellen1)\u201d.\nWir stimmen mit RehmTce vollst\u00e4ndig in der allgemeinen methodologischen Forderung \u00fcberein, aber gar nicht in ihrer Anwendung.\nWir sahen schon, da\u00df RehmTce sich irrt, wenn er den gegenst\u00e4ndlichen Gr\u00f6\u00dfen nur \u201eGef\u00fchlst\u00f6ne\u201d entsprechen l\u00e4\u00dft. Den einzelnen gegenst\u00e4ndlichen Faktoren entsprechen jedenfalls, man mag von Gef\u00fchlst\u00f6nen oder von Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden sprechen, differente emotionelle Tatbest\u00e4nde, die nicht als seiend gesetzt werden, ,,auf blo\u00dfe W\u00f6rter\u201d hin.\nWir wollen den f\u00fcr RehmTce am meisten vorteilhaften Fall setzen, da\u00df wir es mit einer maximalenVerschmelzung von Einzelgef\u00fchlszust\u00e4nden zu tun haben : dabei kann zun\u00e4chst der Eindruck entstehen, da\u00df eine einfache Gr\u00f6\u00dfe vorliege.\nWir w\u00fcrden auch in einem solchen Fall von verschiedenen Komponenten sprechen m\u00fcssen, n\u00e4mlich kausal-genetisch, indem wir eben eine Verschmelzung f\u00fcr Entstehung des qualitativ Heuen, anscheinend Einfachen annehmen. Dem Gegner gegen\u00fcber w\u00fcrden wir dann energisch geltend machen, da\u00df seine Art der Betrachtung unerkl\u00e4rt l\u00e4\u00dft, wie es kommt, da\u00df ein solcher resultierender Gef\u00fchlszustand mit den Gef\u00fchlszust\u00e4nden der Teilgegenst\u00e4nde \u00c4hnlichkeiten aufweist, so da\u00df eine Zuordnung zu ihnen in der Art wie bei allen Verschmelzungskomponenten m\u00f6glichist!\nAuch in diesem Fall k\u00f6nnte man uns sicherlich nicht \u201efiktiv-atomistische\u201d Betrachtungsweise zum Vorwurf\nl) RehmTce: 1. c. S. 28.","page":1469},{"file":"p1470.txt","language":"de","ocr_de":"1470\nG. St\u00f6rring\nmachen, vielmehr sind wir znr Annahme differenter emotioneller Gr\u00f6\u00dfen dnrch die Tatbest\u00e4nde gedr\u00e4ngt.\nII. In den ganzen bisher besprochenen F\u00e4llen war eine mehr oder minder starke Verschmelzung von verschiedenen Gef\u00fchls-zust\u00e4nden durch die intellektuelle Unterlage der Gef\u00fchlszust\u00e4nde bedingt. Wir fassen jetzt die F\u00e4lle von Gef\u00fchlsverschmelzung ins Auge, wo die Verkn\u00fcpfung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde durch diese selbst bedingt ist.\n1.\tDiese Verbindung kann einmal durch die \u00c4hnlichkeit der verschiedenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde bedingt sein.\nWir sahen in dem Beizwort Hoffnung, wo ein Sicheinf\u00fchlen in die Hoffnung der Mutter auf die Entwicklung ihres entfernt lebenden Sohnes stattfindet, ein Gef\u00fchl der Freude, auf etwas, was kommen soll, eine Vorfreude auf treten und dabei ein Vertrauensgef\u00fchl. Diese beiden Gef\u00fchle, gingen eine Verschmelzung st\u00e4rkeren Grades ein. Daneben war ein Gef\u00fchl der Furcht vorhanden. Dieses stand n i c h t in so naher Beziehung zu diesem Komplex als diese beiden Gef\u00fchle untereinander. Die Furcht bezieht sich auf die Entwicklung derselben Person wie die Vorfreude und das Vertrauen; der Unlustcharakter ist es aber wohl, welcher dieses Gef\u00fchl sich in einer gewissen Distanz halten'l\u00e4\u00dft von den beiden anderen Gef\u00fchlen.\nHier wird also die Verschmelzung der Gef\u00fchle durch U n-\u00e4hnlichkeit derselben gehemmt.\nDa\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die \u00e4hnlich sind im Sinne partieller Gleichheit, auf Grund dieser partiell gleichen Partien eine innigere Verbindung miteinander eingehe n, ist leicht verst\u00e4ndlich. Hier wirkt aber offenbar au\u00dferdem noch ein anderer Faktor: gleichzeitige, \u00e4hnliche Gef\u00fchlszust\u00e4nde erzeugen, wenn sie von st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t und von l\u00e4ngerer Dauer sind, eine gemeinsame Stimmungslage. Diese schlie\u00dft dann wieder die Gef\u00fchlszust\u00e4nde zusammen.\n2.\tEineVerschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden durch diese selbst findet weiter da statt, wo die betreffenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde unmittelbar kausal verkn\u00fcpft sind.\nEin solcher Fall ist gegeben im Wehmutsgef\u00fchl. Als wir gegen BehmTce polemisierten, erschien es zweckm\u00e4\u00dfig, \u00fcber die dort zur Diskussion stehende Art der Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden etwas herauszugreifen. Dort ist dann die in der Wehmut vorliegende kausale Beziehung der zur Verschmelzung gelangenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde n\u00e4her besprochen worden.","page":1470},{"file":"p1471.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1471\n3. Kapitel.\nDie sogenannten Kontrastgef\u00fchle.\nI. Yon Kontrastgef\u00fchlen spricht man gew\u00f6hnlich in demselben Sinne wie man von Helligkeitskontrast spricht. Man sagt sich beim Helligkeitskontrast, wo etwa ein St\u00fcckchen graues Papier auf einer wei\u00dfen Unterlage dunkler erscheint, \u201eals es ist\u201d, nnd anf einer schwarzen Unterlage heller: der Vergleich bringt es mit sich, da\u00df der Unterschied der betreffenden Empfindlingen gr\u00f6\u00dfer erscheint als er ist. So soll es auch auf dem Gebiet der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde anf das Konto des Vergleichs kommen, wenn der Unterschied zueinander in Beziehung gesetzter Gef\u00fchlszust\u00e4nde gr\u00f6\u00dfer erscheint, als er ist.\nDiese Auffassung von Kontrast der Gef\u00fchle sehen wir bei Fechner vertreten und, was neuere Autoren betrifft, von Alfred Lehmann in der ersten Auflage seiner \u201eHauptgesetze des menschlichen Gef\u00fchlslebens\u201d.\nGegen diese Annahme macht A. Lehmann in der zweiten Auflage seiner Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens folgende Einwendung :\n\u201eG\u00e4be es wirklich eine gemeinsame Ursache aller Kontraste, indem z. B. ein psychophysiologischer Vorgang einen gleichzeitigen oder unmittelbar darauffolgenden Vorgang derselben Art im Sinne des Kontrastgesetzes ver\u00e4nderte, so m\u00fc\u00dfte Kontrast wenigstens auf allen Sinnesgebieten nachzuweisen sein. Dies ist aber keineswegs der Fall. Schallempfindungen z. B. kontrastieren nie; im Gegenteil, man findet stets etwas dem Kontrast genau Entgegengesetztes. Ein kurzdauernder Schallreiz, der unmittelbar nach einem st\u00e4rkeren Beize derselben Art eintrifft, kann nichtsdestoweniger eine st\u00e4rkere Empfindung hervorrufen. Wenn sich hier ein Kontrast geltend machte, m\u00fc\u00dfte die zur Zeit eintretende Empfindung augenscheinlich bedeutend schw\u00e4cher sein als die erste. Auf dem Gebiete der Gewichts emp fin d\u00fcngen k\u00f6nnen wir sogar mittels derselben Gewichte durch kleine Ver\u00e4nderungen der Versuchsbedingungen nach Belieben ,Kontrast\u2019 oder, wie bei den Schallempfindungen, die entgegengesetzte Erscheinung hervorrufen. Hebt man ein Gewicht in bestimmtem Tempo, z. B. dreimal ruckweise, in die H\u00f6he und darauf, in demselben Tempo, ebenfalls ruckweise, ein etwas kleineres Gewicht, wird das letztere entschieden kleiner beurteilt. Wird der Versuch genau auf dieselbe Weise ausgef\u00fchrt, nur mit dem Unterschiede, da\u00df die Gewichte m\u00f6glichst gleichm\u00e4\u00dfig gehoben werden, indem man besonders auf die Spannungsempfindungen der Armmuskeln auf merkt, dann kann das kleinere Gewicht gr\u00f6\u00dfer als das vorhergehende gr\u00f6\u00dfere erscheinen1)\u201d.\nx) A. Lehmann: 1. c. S. 246 und 247.","page":1471},{"file":"p1472.txt","language":"de","ocr_de":"1472\nG-. St\u00f6rring\nGegen diese Auffassung von A. Lehmann mu\u00df ich geltend machen, da\u00df beim Vergleich von Gef\u00fchlen Tatbest\u00e4nde mit wirken, welche beim Vergleich von Empfindungen nicht vorliegen. Bei n\u00e4herer Untersnchnng der beim Vergleich von Gef\u00fchlsznst\u00e4nden vorhandenen Verh\u00e4ltnisse stellt sich heraus, da\u00df, wenn auch nicht durch das Vergleichen selbst, die Unterschiede sich gr\u00f6\u00dfer darstellen, als sie sind, doch durch die Gef\u00fchle, welche sich an das Vergleichsnrteil anschlie\u00dfen, die Unterschiede sich gr\u00f6\u00dfer darstellen, als sie sind.\nWir wollen die einzelnen F\u00e4lle solcher Vergleichungen Revue passieren lassen.\nEs kommen hier folgende F\u00e4lle von Gefiihlssnkzessionen in Betracht :\n1.\tstarkes Unlnstgef\u00fchl und darauf schwaches Unlustgef\u00fchl,\n2.\tschwaches Unlustgef\u00fchl und darauf starkes Unlustgef\u00fchl,\n3.\tschwaches Lustgef\u00fchl und darauf starkes Lustgef\u00fchl,\n4.\tstarkes Lustgef\u00fchl und darauf schwaches Lustgef\u00fchl, und sodann bei qualitativ entgegengesetzten Gef\u00fchlszust\u00e4nden:\n5.\tUnlustgef\u00fchl und darauf Lustgef\u00fchl,\n6.\tLustgef\u00fchl und darauf Unlustgef\u00fchl.\nFolgt im Falle 1 auf ein starkes Unlustgef\u00fchl ein schwaches Unlustgef\u00fchl, so wird bei relativ starker Differenz der Intensit\u00e4ten sich die Konstatierung der Tatsache, da\u00df die jetzige Unlust schw\u00e4cher ist als die fr\u00fchere Unlust, mit Lust verbinden; durch das hinzutretende Lustgef\u00fchl wird die Differenz dann vergr\u00f6\u00dfert. Im Fall 2 ist zu erwarten, da\u00df die auf die schwache Unlust folgende starke Unlust nicht nur als st\u00e4rker beurteilt wird als die schwache, sondern da\u00df dieses Urteil sich zugleich mit Unlust verbindet. Dann ist es verst\u00e4ndlich, da\u00df die so beurteilte starke Unlust als st\u00e4rker erscheint, als sie ist ; dadurch wird nat\u00fcrlich die Differenz vergr\u00f6\u00dfert.\nWenn weiter im 3. Fall auf ein schwaches Lustgef\u00fchl ein starkes Lustgef\u00fchl folgt und \u00fcber das letztere in Relation zum ersten eine Aussage gemacht wird, so wird dann, wenn die Qualit\u00e4t dieser Lustgef\u00fchle von dem Beurteiler hoch eingesch\u00e4tzt wird, die Konstatierung, da\u00df die Lust zugenommen hat, sich im allgemeinen mit Lust verbinden. Dadurch wird dann das starke Lustgef\u00fchl noch st\u00e4rker erscheinen, als es ist, und somit wird weiter der Unterschied gr\u00f6\u00dfer erscheinen, als er ist.\nWenn im 4. Fall auf ein starkes Lustgef\u00fchl ein schwaches folgt und die Differenz betr\u00e4chtlich ist, so ist zu erwarten, da\u00df bei h\u00f6herer Einsch\u00e4tzung der beiden Lustqualit\u00e4ten die Konstatierung, da\u00df die an zweiter Stelle stehende, gegenw\u00e4rtige Lust schw\u00e4cher ist als die vergangene erste, sich mit Unlust verbindet.","page":1472},{"file":"p1473.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1473\nDadurch wird die schwache Lust noch schw\u00e4cher, als sie ist, die Differenz also vergr\u00f6\u00dfert.\n\u00c4hnlich ist die Sache im Fall 5 und 6, wenn dabei ein Vergleich zur Mitwirkung kommt.\nEs wird sich sp\u00e4ter zeigen, da\u00df au\u00dfer diesen Vergleichsurteilen, wo sie stattfinden, noch andere Faktoren in einzelnen der F\u00e4lle \u2014 in welchen, werden wir entwickeln \u2014 in Betracht kommen.\nFechner sagt \u00fcber diese sogenannten Kontrastgef\u00fchle im einzelnen zun\u00e4chst: ,,Das Lustgebende gibt um so mehr Lust, je mehr es in Kontrast mit Unlustgebendem oder weniger Lustgebendem tritt, wozu ein entsprechender Satz f\u00fcr das Unlustgebende tritt. Und der empfundene und vorgestellte Gegensatz selbst besch\u00e4ftigt dabei die Seele in eigent\u00fcmlicher Weise.\u201d\n,, Jedes Kunstwerk gewinnt, wenn wir es mit minder vollendeten Kunstwerken derselben Art und Gattung vergleichen, und verliert, wenn wir es mit vollkommeneren vergleichen. Kenner, welche die Kunst in ihrer Entwicklung verfolgen, k\u00f6nnen gro\u00dfen Gefallen an sehr unvollkommenen Kunstwerken finden, indem sie den Fortschritt gegen den fr\u00fcheren unvollkommeneren in Betracht ziehen, indes Mchtkenner, denen die historische Entwicklung nicht gel\u00e4ufig ist, sie r\u00fccksichtslos darauf nach dem Vergleiche mit den jetzigen vollkommeneren Kunstwerken mi\u00dff\u00e4llig finden1)\u201d.\nGemeint sind hier also folgende F\u00e4lle:\n1.\tUnlustgef\u00fchl und darauf Lustgef\u00fchl.\n2.\tSchwaches Lustgef\u00fchl und darauf starkes Lustgef\u00fchl.\n3.\tLust und darauf Unlust.\n4.\tSchwache Unlust und darauf starke Unlust.\nAm einfachsten liegt die Sache bei Fall 4. Hier kommt nur der von uns schon hervorgehobene Faktor in Betracht, Wirkung des an die Konstatierung angeschlossenen Gef\u00fchlszustandes.\nEs liegt die Frage nahe, wie es kommt, da\u00df alle sechs F\u00e4lle darin \u00fcbereinstimmen, da\u00df die an die betreffende Konstatierung sich anschlie\u00dfenden Gef\u00fchle den Unterschied zwischen den Gef\u00fchlen vergr\u00f6\u00dfern. Darauf ist zu antworten: der Fortschritt erfolgt entweder in positiver oder in negativer Folge. Wo er sich in positiver Folge vollzieht, da ist unter gewissen Umst\u00e4nden die Konstatierung von Lust begleitet, dadurch wird dann die Distanz in der positiven Dichtung gr\u00f6\u00dfer.\nDas sind folgende F\u00e4lle:\n(1 + ) Starkes Unlustgef\u00fchl, darnach schwaches Unlustgef\u00fchl.\n(2 +) Schwaches Lustgef\u00fchl, darnach starkes Lustgef\u00fchl.\n(3 +) Unlustgef\u00fchl, darnach Lustgef\u00fchl.\n1) Fechner: Vorschule der \u00c4sthetik. 2. 232.","page":1473},{"file":"p1474.txt","language":"de","ocr_de":"1474\nGr. St\u00f6rring\nWo er sich in negativer Folge vollzieht, da entsteht \u2014 nnter gewissen Bedingungen \u2014 ein Unlustgef\u00fchl ; dadurch wird das zweite Glied nach der negativen Richtung weiter heraus ger\u00fcckt.\nDas sind folgende F\u00e4lle:\n(1 \u2014) Schwaches Unlustgef\u00fchl, darnach starkes Unlustgef\u00fchl.\n(2 \u2014) Starkes Lustgef\u00fchl, darnach schwaches Lustgef\u00fchl.\n(3 \u2014) Lustgef\u00fchl, darnach Unlustgef\u00fchl.\nIm Falle 2 wirkt au\u00dferdem folgender Umstand:\nWo auf ein schwaches Lustgef\u00fchl ein starkes Lustgef\u00fchl folgt, kann hinzukommen ein Sichhingeben an die zweite Situation.\nSchwieriger liegen die Verh\u00e4ltnisse in Fall 1 und in Fall 3. Hier m\u00fcssen wir weiter ausholen.\nIm Fall 1 folgt auf ein Unlustgef\u00fchl ein Lustgef\u00fchl. Hier kann sich ein starker Gef\u00fchlskontrast entwickeln. Wir wollen von einem konkreten Fall ausgehen. Ich habe abends einen langen, beschwerlichen Marsch bei str\u00f6mendem Regen und kaltem Wetter gemacht. Wenn ich nun nach Hause komme in das ersehnte warme, helle Zimmer, so l\u00f6st die neue Situation viel st\u00e4rkere Lustgef\u00fchle in mir aus, als wenn ich dasselbe Zimmer von einem anderen erw\u00e4rmten und erhellten Raum aus betreten h\u00e4tte. Es findet hier eben eine Steigerung der Lustgef\u00fchle, die sich an die zweite Situation anschlie\u00dft, per Kontrast statt. Eine Zeitlang werden, wenn ich mich in der zweiten Situation befinde, meine Gedanken auf die erste Situation zur\u00fcckgehen. Von dem Gedanken an die erste Situation aus wird mir durch die mit diesen Gedanken verbundenen Unlustgef\u00fchle der Gedanke der zweiten Situation aufgedr\u00e4ngt und die mit Betrachtung der zweiten Situation gegebene Lust wird so per Kontrast gesteigert.\nEs fragt sich nur, worauf diese Steigerung der Lust per Kontrast beruht. Ist das eine letzte Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit oder l\u00e4\u00dft sich diese Beziehung weiter ableiten? Eine letzte Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit werden wir nicht so ohne weiteres annehmen.\nFechner und A. Lehmann f\u00fchren diese Kontrastwirkung auf Vergleiche zur\u00fcck. Gegen diese Auffassung habe ich a. a. O. ausf\u00fchrlich polemisiert1).\nEs scheinen mir hier folgende Faktoren zu wirken.\nVon dem Gedanken an die unlustvolle erste Situation wird mir der Gedanke der zweiten lustvollen Situation auf gedr\u00e4ngt. Es findet so eine kr\u00e4ftige Konzentration auf die zweite Situation statt. Diese Konzentration verbindet sich selbst mit Lust. Und diese Konzentration hat zur Folge ein besseres Auswerten der lustbringenden Situation.\nx) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Aufl. J. 97 ff.","page":1474},{"file":"p1475.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1475\nDas Wichtigste ist aber der \u00dcbergang von der ersten Situation auf die zweite Situation. In diesem \u00dcbergang von der unlustvollen ersten Situation auf die lustvolle zweite, wobei uns der Gedanke der zweiten Situation aufgedr\u00e4ngt wird, vollzieht sich eine Entladung der \u00fcnlusten.ergien in der willensm\u00e4\u00dfigen Konzentration auf die zweite Situation.\nMit dieser Betonung des \u00dcberganges und des S i c h-hingebens an die zweite Situation stimmt es, wenn Fechner sagt, da\u00df bei dem Kontrast bei Sukzession nur das zweite Glied betroffen wird. Dazu pa\u00dft auch, da\u00df Lehmann sagt, das erste Gef\u00fchl d\u00fcrfe, wenn der Kontrast hier wirksam sein sollte, nicht von so gro\u00dfer Intensit\u00e4t sein, da\u00df das zweite Gef\u00fchl ,,sich neben dem ersten nicht geltend machen kann\u201d. Sonst kommt es \u2014 zwar zu einem Vergleich \u2014, aber nicht zu dem beschriebenen \u00dcbergang !\nIm Fall 3, wo auf Lust Unlust folgt, ist die sogenannte Kontrastwirkung in folgender Weise bedingt:\nHier scheint mir die Kontrastwirkung, wo sie eintritt, bedingt zu sein durch ein Weggezogenwerden von der Unlust auf die vorangegangene Lust. Durch dieses Weggezogenwerden ist aber eine weitere Inanspruchnahme des schon durch die Unlust \u00fcberm\u00e4\u00dfig in Anspruch genommenen Kr\u00e4ftevorrates der Bindenzentren gesetzt, und das bringt eine Steigerung der Unlust mit sich. Ein Vergleich scheint mir auch hier eine geringe Bolle zu spielen.\nBei Behandlung der sogenannten Kontrastgef\u00fchle von Fechner im einzelnen (s. S. 1473), wobei vier F\u00e4lle in Betracht kommen, fehlen folgende F\u00e4lle:\nstarke Unlust, darnach schwache Unlust und\nstarke Lust, darnach schwache Lust.\n\u00dcber diese beiden F\u00e4lle stellt Alfred Lehmann in der zweiten Auflage seiner Gef\u00fchlspsychologie folgende Behauptung auf:\n\u201eDas von einem gegebenen Beize erregte Gef\u00fchl ist auf die Weise von den vorhergehenden Verh\u00e4ltnissen abh\u00e4ngig, da\u00df das Gef\u00fchl entweder schw\u00e4cher wird oder in seinen Gegensatz umschl\u00e4gt, wenn ein st\u00e4rkeres Gef\u00fchl \u00e4hnlicher Art voraiisgegangen ist.\u201d\nDiese beiden F\u00e4lle machen wir uns in folgender Weise verst\u00e4ndlich. Wo auf starke Unlust schwache Unlust folgt, wirkt au\u00dfer der Gef\u00fchlswirkung, die sich mit der bezeichnet en Konstatierung verbindet \u2014 jedenfalls da, wo die Unlust von st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t ist und l\u00e4ngere Zeit andauert \u2014, eine Herabsetzung der Erregbarkeit der betreffenden Zentren der Hirnrinde, welche von einer experimentell nachgewiesenen Herabsetzung der Blutzufuhr zur Hirnrinde abh\u00e4ngt. Durch diese Herabsetzung der","page":1475},{"file":"p1476.txt","language":"de","ocr_de":"1476\nG-. St\u00f6rring\nErregbarkeit wird verst\u00e4ndlich, da\u00df ein sp\u00e4terer Unlustreiz eine schw\u00e4chere Unlust als in der Korm erzeugt. In gewissen F\u00e4llen tritt aber bei Herabsetzung einer sehr starken Unlust f\u00fcr kurze Zeit Lust auf, so wenn sehr starke Schmerzen, etwa Zahnschmerzen, pl\u00f6tzlich in ihrer Intensit\u00e4t stark vermindert werden. F\u00fcr solche F\u00e4lle kann offenbar die Herabsetzung der Erregbarkeit der bei Unlust funktionierenden Zentren nicht verantwortlich gemacht werden, sondern nur der Umstand, da\u00df sich mit der Konstatierung der starken Abnahme der Schmerzen Lust verbindet.\nWas sodann den weiteren Fall betrifft, da\u00df, wenn auf starke Lust schwache Lust folgt, so nehmen wir hierf\u00fcr keinen weiteren Faktor in Anspruch als den fr\u00fcher namhaft gemachten.\nII. Fach diesen Entwicklungen sind wir in der Lage, von den Fechnersehen Prinzipien der \u201e\u00e4sthetischen Folge\u201d und der \u201e\u00e4sthetischen Vers\u00f6hnung\u201d Eechenschaft zu geben. Es sind dies Prinzipien, welche Fechner im Hinblick auf \u00e4sthetische Tatbest\u00e4nde abgeleitet hat, die aber \u00fcber das \u00e4sthetische Gebiet hinaus f\u00fcr das Gef\u00fchlsleben \u00fcberhaupt Geltung beanspruchen k\u00f6nnen.\nDas Prinzip der \u00e4sthetischen Folge lautet :\n\u201eWenn z. B. eine E e ih e gleichartiger, entweder nur lusterregender oder nur unlusterregender Beize aufeinanderfolgen, erh\u00e4lt man das Maximum der Lust, bzw. das Minimum der Unlust, wenn die Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchle im gro\u00dfen und ganzen in positiver Bichtung vorgeht.\u201d\nDieses Prinzip betrifft die beiden F\u00e4lle, wo zuerst gegeben ist schwache Lust und darnach starke Lust und, wo zuerst gegeben ist\nstarke Unlust und darnach schwache Unlust.\nVon diesen F\u00e4llen ist nach unseren obigen Entwicklungen zu sagen, da\u00df hier nicht blo\u00df die Vergleichung wirkt, wie Fechner annimmt und die Vergleichung nicht so, da\u00df das Vergleichen die Differenz st\u00e4rker erscheinen l\u00e4\u00dft, als sie ist, sondern die auf das Vergleichen gegr\u00fcndete Konstatierung mit dem sie begleitenden Gef\u00fchlszustand.\nWir sagen, da\u00df, wo auf schwache Lust starke Lust folgt, au\u00dfer der Vergleichung noch ein Sichhingeben an die zweite Situation wirksam sein kann. In dem Fall sodann, wo auf starke Unlust schwache Unlust folgt, haben wir soeben einen zweiten Faktor als wirksam nachgewiesen.\nDas Fechnersche Prinzip der \u00e4sthetischen Vers\u00f6hnung lautet :\n\u201eWenn mehrere gleichartige Beize, die teils Lust, teils Unlust erregen, aufeinander-","page":1476},{"file":"p1477.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1477\nfolgen, wird das Maximum der Lust oder das Minimum der Unlust dadurch erreicht, da\u00df die Ver\u00e4nderung der Gef\u00fchle im gro\u00dfen und ganzen in positiver Dichtung vorgeht: \u00fcbrigens sind wahrscheinlich mehrere verschiedene Ordnungen mit demselben Erfolg m\u00f6glic h.\u201d\nHier kommen in Betracht folgende Gef\u00fchlssukzessionen:\nZuerst Unlust, darnach Lust und\nzuerst starke Unlust, darnach schwache Unlust.\nEs zeigte sich uns, da\u00df im ersten Fall die von Rechner daf\u00fcr allein herangezogene Vergleichung entweder gar nicht oder nur minimal in Betracht kam, da\u00df hier ein ganz andersartiger Proze\u00df, eine Entladung von Unlustenergien, vorliegt, die sich mit Lust verbindet.\nFechner gibt f\u00fcr diesen Fall folgendes Beispiel:\n\u201eFaktisch schlie\u00dfen Trauerspiele sowie viele Eomane statt mit einem lustvollen, vielmehr mit einem traurigen Ereignis ab; und doch k\u00f6nnen wir uns im ganzen dadurch befriedigt finden; aber es wird nur der Fall sein, wenn sie ein wirklich vers\u00f6hnendes Moment im Hinblick auf die g\u00f6ttliche Gerechtigkeit oder Gerechtigkeit der Weltordnung, welche Quellen der Unlust mit Strafen entgegentritt, enthalten; sonst wird die Lust, die wir immerhin an der Besch\u00e4ftigung mit den wechselvollen Ereignissen und dem Konflikt der Charaktere gefunden haben k\u00f6nnen, schlie\u00dflich einen unlustvollen Kachklang hinterlassen; und ein trauriger Abschlu\u00df ohne irgendein Moment der Vers\u00f6hnung bleibt \u00fcberhaupt gegen die Eegeln der Kunst.\u201d\nDer zweite Fall braucht hier nicht mehr besprochen zu werden.\nEs mu\u00df zum Schlu\u00df noch bez\u00fcglich aller F\u00e4lle von Steigerungen der Lust durch Kontrast bemerkt werden, da\u00df nicht jede Art von Lust einer sehr weitgehenden Steigerung per Kontrast f\u00e4hig ist. Eine Sonderstellung nimmt hier die Freude an der Macht des Guten ein, welche in Trag\u00f6dien eine gro\u00dfe Eolle spielt!\n4. Kapitel.\nDie Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Instinkten und Trieben und die Liebe zum\nanderen Geschlecht.\n1. In Instinkten und Trieben spielen Gef\u00fchlszust\u00e4nde eine bestimmende Bolle. Wir werden im folgenden klarzustellen suchen, welches diese ist.\nBei Affekten zeigt sich eine gro\u00dfe Differenz in bezug auf Grad der Komplexit\u00e4t. Die einfachsten Affekte sind Instinkt-\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t96","page":1477},{"file":"p1478.txt","language":"de","ocr_de":"1478\nG. St\u00f6rring\naff ekte. Wir wollen diese n\u00e4her charakterisieren nnd die Hanptarten derselben festznstellen snchen nnd sodann die Beziehung der \u00fcbrigen Affekte zn Instinktaffekten bestimmen.\nWir haben hier zun\u00e4chst den Begriff des Instinktes und Triebes zu definieren. Bei Psychologen und auch bei Zoologen findet man diese Begriffe nicht in einhelliger Weise definiert. Am zweckm\u00e4\u00dfigsten ist es wohl, von einem Trieb da zu sprechen, wo wie bei dem Hungertrieb ein Empfindungskomplex sich mit einem unlustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustand verbindet, welcher auf Grund von physiologischen Dispositionen eine Tendenz zu Bewegungen ausl\u00f6st, die geeignet sind zur Aufhebung des unlustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustandes. Diese Dispositionen k\u00f6nnen urspr\u00fcnglich oder erworben sein. Wo sie nicht erworben, sondern urspr\u00fcnglich sind, angeboren und s\u00e4mtlichen Individuen einer Art gemeinsam sind, nennen wir die Triebe Instinkte.\nAusgepr\u00e4gte Instinktbewegungen sind gegeben in dem Picken der H\u00fchnchen, dem Aufsperren des Schnabels bei den jungen V\u00f6geln, dem Saugen bei dem Kinde, dem Fliegen der Y\u00f6gel, dem Br\u00fcten der Eier bei Y\u00f6geln u. dgl.\nDie Instinktbewegungen sind von manchen Autoren als komplizierte Reflexe aufgefa\u00dft worden. So von Spencer1). Gegen diese Auffassung ist in sehr geschickter Weise von Lloyd Morgan polemisiert worden2). Morgan zeigt, da\u00df Instinktbewegungen durch Erfahrungen leicht modifiziert werden. Das geh\u00f6rt aber nat\u00fcrlich nicht zu dem Charakter der Reflexe. Sie sind ja dadurch charakterisiert, da\u00df sie Bewegungen darstellen, welche durch \u00e4u\u00dfere Reize ausgel\u00f6st werden und bei denen in dem ganzen Kausalkomplex psychische Faktoren oder ihre Korrelate keine Rolle spielen. Morgan zieht hier unter anderem das Verhalten von jungen H\u00fchnchen heran. ,,Ein zwei Tage altes H\u00fchnchen hatte schon gelernt, St\u00fcckchen Eidotter aus ihrem Gemisch mit Eiwei\u00df-St\u00fcckchen herauszulesen. lun schnitt ich kleine St\u00fcckchen Orangeschale in genau derselben Gr\u00f6\u00dfe wie die Eidotterbrocken und mischte sie statt der letzteren unter das Eiwei\u00df. Eines davon wurde sofort ergriffen, aber kopfsch\u00fcttelnd von dem H\u00fchnchen wieder fortgeschleudert. Koch einmal nahm es eines der Orangest\u00fccke auf, hielt es einen Augenblick im Schnabel, lie\u00df es fallen und kratzte sich dann nachdenklich am Schnabelansatz. Das gen\u00fcgte. Auf keine\nx) Spencer: Principles of psychology. 1. 432 (1870).\n2) Lloyd Morgan: Instinkt nnd Gewohnheit. 1909.","page":1478},{"file":"p1479.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1479\nWeise konnte es nunmehr bewogen werden, ein St\u00fcckchen Orangeschale aufzunehmen.\u201d \u201eDas H\u00fchnchen pickt . . . anfangs mit der gr\u00f6\u00dften Unparteilichkeit anf alle m\u00f6glichen Dinge geeigneter Gr\u00f6\u00dfe los. K\u00f6rner, Steinchen, Brotkrumen, zerschnittene Wachsz\u00fcndh\u00f6lzchen, Johannisbeeren, Papierschnitzel, Kn\u00f6pfe, Glasperlen, Zigarettenasche oder Stnmmel, Maden, Zwirnf\u00e4dchen, Fleckchen anf den Dielen, die Angen ihrer Kameraden, ihre eigenen Zehen nnd die ihrer Gef\u00e4hrten \u2014 knrz alles nnd jedes, was nnr einigerma\u00dfen entsprechende Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse anfweist, wird an- nnd wom\u00f6glich anf gepickt nnd mit dem Schnabel gepr\u00fcft.\u201d Aber schon nach einigen Tagen sucht das H\u00fchnchen das ihm Bek\u00f6mmliche ans den ihm dargebotenen Objekten heraus.\nDiese Tatsache l\u00e4\u00dft sich nicht verst\u00e4ndlich machen unter der Annahme, da\u00df wir es hier bei Instinkten mit komplizierten Beflexen zu tun haben, da Reflexe sehr schwer zn hemmen sind. Jedenfalls bliebe es so v\u00f6llig unverst\u00e4ndlich, wie ein zwei Tage altes H\u00fchnchen die dargebotenen Orangest\u00fcckchen, welche dem Eidotter glichen, nach zweimaligem Aufpicken sp\u00e4ter v\u00f6llig unber\u00fchrt lassen konnte.\nDas ist dagegen ohne weiteres verst\u00e4ndlich, wenn man die Instinkte in dem oben charakterisierten Sinne anffa\u00dft.\nDas Picken wird ansgel\u00f6st durch nnlnstgef\u00e4rbte Hungerempfindung nnd die Wahrnehmung von Objekten gewisser Gr\u00f6\u00dfe. Das H\u00fchnchen hat zweimal Orangest\u00fccke anfgepickt nnd dann kopfsch\u00fcttelnd fortgeschlendert. An das Anfpicken der Orangest\u00fcckchen, so sagen wir, haben sich nnlnstgef\u00e4rbte Geschmacksempfindungen angeschlossen; durch diese Unlustgef\u00fchle ist das Fortschlendern derselben bedingt gewesen. Zwei Erfahrungen dieser Art haben gen\u00fcgt, um sp\u00e4ter bei Wahrnehmung von Orangest\u00fcckchen Unlustgef\u00fchle zn reproduzieren, die sich fr\u00fcher mit den entsprechenden Geschmacksempfindungen verbanden. Diese Unlustgef\u00fchle wirkten hemmend auf das weitere Picken von Orangest\u00fcckchen, indem sie sich an die Vorstellung des Pickens von Orangest\u00fcckchen anschlossen.\nLloyd Morgan kam auf Grund seiner Beobachtungen zu der Schlu\u00dffolgerung, \u201eda\u00df nur bei der allerersten Aus\u00fcbung einer instinktiven T\u00e4tigkeit die dabei zutage tretende Koordination automatisch ist und nicht unter Leitung des Bewu\u00dftseins steht; da\u00df hingegen die Ausf\u00fchrung jener T\u00e4tigkeit selbst Anhaltspunkte f\u00fcr das Bewu\u00dftsein abgibt, unter deren Einwirkung die sp\u00e4teren Aus\u00fcbungen derselben Handlung weiter ausgebildet, modifiziert oder gehemmt werden k\u00f6nnen1).\u201d\nBeim Menschen tritt der Kahrungsinstinkt in ganz primitiver Weise hervor beim Saugen des Keugeborenen. Das Saugen\nx) Lloyd Morgan: 1. c. S. 152.\n96*","page":1479},{"file":"p1480.txt","language":"de","ocr_de":"1480\nGr. St\u00f6rring\ncharakterisiert sich in deutlichster Weise als eine angeborene Triebbewegung, also eine Instinktbewegung. Sie ist offenbar abh\u00e4ngig einmal von dem, was wir gew\u00f6hnlich ein Hungergef\u00fchl nennen, also von einer Hnngerempfindnng, die sich mit einem mehr oder minder starken nnlnstartigen Gef\u00fchlszustand eng verbindet, wie wir das bei uns selbst erleben. Dieser Unlustzustand tendiert dazu, sich in motorische Zentren zu entladen. Es findet auch eine initiale Entladung statt, die sich im Bewu\u00dftsein als motorische Unruhe, als Gef\u00fchl des Dranges geltend macht, welches von derselben Katur ist wie das Willensgef\u00fchl, also ein Verschmelzungsprodukt aus Spannungsempfindungen und Gef\u00fchlen.\nDie Instinktbewegung des Saugens ist au\u00dfer von dem Hungergef\u00fchl abh\u00e4ngig von der Empfindung eines warmen, glatten K\u00f6rpers am Munde. Wie durch die Mutterbrust, so kann das Saugen auch bekanntlich durch Darbietung eines Fingers am Munde aus-gel\u00f6st werden. Dadurch wird die Entladung der Unlustgef\u00fchle, die sich mit der Hungerempfindung verbinden, aus einer diffusen initialen zu einer bestimmt gerichteten endg\u00fcltigen Entladung. Angeboren ist hierbei also die erleichterte Anspruchsf\u00e4higkeit der diese Saugbewegungen ausl\u00f6senden Zentren von den Zentren aus, welche erregt sind bei Auftreten der Hungerempfindung, und den mit ihr eng verbundenen Unlustgef\u00fchlen einerseits'und der Empfindung eines warmen, glatten K\u00f6rpers am Munde andrerseits.\nMit einem angeborenen Trieb haben wir es bei den Fluchtbewegungen der Tiere, die mit Furcht verbunden sind und ebenso bei dem Angriffstrieb, der mit Zorn verbunden ist, zu tun.\nDie Fluchtbewegungen und Furcht werden im allgemeinen ausgel\u00f6st durch Wahrnehmungen\\ welche sich mit Unlustgef\u00fchlen verbinden; weil sie den Gedanken einer Gefahr wachrufen. Aber bei primitiven Eluchtbewegungen und also bei primitiver Furcht scheint der Gedanke der Gefahr nicht vorhanden zu sein. Preyer1) sagt: \u201eW\u00e4hrend der ersten Gehversuche ist die Furcht zu fallen ebenso merkw\u00fcrdig, wie die Furcht vor den Tieren.\u201d Sein Sohn war bei den ersten Gehversuchen voller Angst, obgleich er das Fallen nicht aus Erfahrung kannte. Bibot nimmt bez\u00fcglich der primitiven Furcht an, da\u00df gewisse Sinnesempfindungen einen schmerzhaften Sto\u00df hervorbringen, der die organischen, motorischen und vasomotorischen Beaktionen wachruft, welche die Gem\u00fctserregung ausmacht2). Primitive Furcht\nx) Brey er: Die Seele des Kindes. Kapitel 7.\n2) Bibot: Psychologie der Gef\u00fchle, deutsch nach Ufer. S. 272.","page":1480},{"file":"p1481.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1481\nscheint sich aber unmittelbar an pl\u00f6tzliche, starke Sinneseindr\u00fccke anznschlie\u00dfen. Von der primitiven Furcht ist dann also scharf abzntrennen die anf Erfahrung von Unlus t-folgen beruhende Furcht.\nLloyd Morgan hat interessante Beobachtungen \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehnngen der Fluchtbewegungen bei K\u00fchen und Remitieren, die sehr furchtsame Tiere sind, gemacht. Diese Tiere fl\u00fcchten fast nie sofort, wenn sie einen Menschen sehen, der keine Bewegung ansf\u00fchrt und sie sich auf der Windseite befinden, so da\u00df sie nichts riechen k\u00f6nnen. Zun\u00e4chst spitzen sie nur die Ohren und heben die K\u00f6pfe. Aber bei dem geringsten Laut oder der geringsten Bewegung des Menschen ergreifen sie die Flucht. Dies Verhalten ist dahin gedeutet worden, da\u00df die erste Wahrnehmung nur eine Unruhe errege, welche die Ausl\u00f6sung der Fluchtbewegungen durch einen feineren Beiz erm\u00f6gliche; es seien wahrscheinlich f\u00fcr jeden Instinkt mehrere Beize n\u00f6tig, um ihn in Funktion zu setzen. Ich m\u00f6chte dies Verhalten in anderer Weise deuten. Es handelt sich hier um furchtsame Tiere. Da liegt die Annahme doch sehr nahe, da\u00df ein erster Beiz deshalb noch keine bestimmt gerichteten Fluchtbewegungen ausl\u00f6st, weil die durch den ersten Beiz ausgel\u00f6sten schockartig auftretenden Unlustgef\u00fchle so stark sind, da\u00df durch derivative Hemmung die Auffassung der intellektuellen Unterlagen dieses Gef\u00fchlszustandes beeintr\u00e4chtigt ist, so da\u00df es nicht zu bestimmt gerichteten Fluchtbewegungen kommen kann, sondern nur zu ihrer Vorbereitung.\nA. Lehmann macht sehr interessante Entwicklungen \u00fcber die Beziehung der primitiven Furcht zu der auf Erfahrung gegr\u00fcndeten.\n,,Wenn ein kleines Kind, dem nie Gewalt angetan worden ist, beim Anblick eines seiner Br\u00fcder, der eine Maske tr\u00e4gt, schreiend davonl\u00e4uft und sein Gesicht in die Sch\u00fcrze der Mutter verbirgt, so bezweifelt wohl niemand, da\u00df das Kind sich f\u00fcrchtet. Irgendwelche bestimmte Vorstellungen von der Gefahr, vor der es sich zu f\u00fcrchten braucht, sind aber g\u00e4nzlich ausgeschlossen. Vom ganzen Affekt k\u00f6nnen somit nur die k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen, die instinktive Fluchtbewegung und die organischen Ver\u00e4nderungen vorhanden sein, w\u00e4hrend die , Gem\u00fctsbewegung\u2019 sich hier auf die unlustbetonte Wahrnehmung des maskierten Gesichtes beschr\u00e4nkt. Wenn dieses Kind aber 30 Jahre sp\u00e4ter abends sp\u00e4t auf der Landstra\u00dfe, weit von menschlichen Wohnungen entfernt, zwei verd\u00e4chtigen Personen begegnet, so wird die hierdurch erregte Gem\u00fctsbewegung einen ganz anderen Charakter haben. Zweifelsohne regt sich auch dann eine instinktive Neigung zur Flucht; der Gedanke aber, da\u00df ein \u00dcberfall um so wahrscheinlicher wird, je mehr man seine Furcht zeigt, f\u00fchrt sofort zur willk\u00fcrlichen Hemmung","page":1481},{"file":"p1482.txt","language":"de","ocr_de":"1482\nG-. St\u00f6rring\nder Bewegungen. Der psychische Zustand nnd die unvermeidlichen organischen Begleiterscheinungen werden aber dadurch nur um so intensiver und komplizierter. Eine ganze Beihe gef\u00fchlsbetonter Vorstellungen : Erinnerungen an \u00e4hnliche fr\u00fcher erlebte Situationen, die Folgen eines m\u00f6glichen \u00dcberfalles, die zweckm\u00e4\u00dfigste Weise, einen Angriff abzuwehren usw. jagen durch das Bewu\u00dftsein und konstituieren nebst den organischen Begleiterscheinungen den sehr komplexen Zustand: die Furcht. Und dieser Zustand wird eine Gem\u00fctsbewegung, weil der gesamte Bewu\u00dftseinsinhalt, auf das Ich bezogen, als eine bevorstehende Ver\u00e4nderung desselben aufgefa\u00dft wird.\nEs ist leicht ersichtlich, da\u00df die Furcht immer einen Gegenstand haben mu\u00df; man f\u00fcrchtet sich immer vor etwas. Wenn man daher in einem vorliegenden Falle nicht wei\u00df, da\u00df eine Gefahr vorhanden ist, wird auch keine Furcht entstehen. Irgendein Objekt wird also nur dann die Gem\u00fctsbewegung hervorrufen, wenn bestimmte Erfahrungen damit verbunden sind, was jedoch in den gew\u00f6hnlichen F\u00e4llen sehr leicht geschieht.\nDas Kind lernt z. B. schnell, da\u00df scharfe Z\u00e4hne h\u00f6chst unangenehm bei\u00dfen k\u00f6nnen; es hat Hunde gesehen, die ihr Futter verzehrten und vielleicht auch von den \u00fcblen Folgen eines Hundebisses geh\u00f6rt. Wird es nun gelegentlich von einem gro\u00dfen Hunde angebellt, werden die unlustbetonten Vorstellungen von dem Unheil, das ihm der Hund antun kann, erweckt: es f\u00fcrchtet sich vor dem Hunde. Gleichzeitig treten die instinktiven Fluchtbewegungen ein: das Kind l\u00e4uft schreiend davon. Wie in diesem Falle geht es in allen anderen ; im allgemeinen kann man sagen : die Gem\u00fctsbewegung Furcht ist die von instinktiven Fluchttendenzen begleitete unlustbetonte Vorstellung von einem \u00dcbel, das dem Ich droht. Mit wachsender Erfahrung von den \u00fcblen Folgen irgendeines Erlebnisses werden sowohl die Gem\u00fctsbewegung als die instinktive Beaktion gewi\u00df immer st\u00e4rker. Ist der kleine Knabe von einem gr\u00f6\u00dferen Stra\u00dfenjungen einige Male mi\u00dfhandelt worden, wird er oft besinnungslos die Flucht ergreifen, wenn er nur einen seinem Feinde \u00e4hnlichen Knaben in der Ferne sieht1)5\u2019.\nHach Lehmann ist also die primitive Furcht des Kindes kein Affekt. Von ihr unterscheidet sich der eigentliche Affekt der Furcht, welcher auf Erfahrung beruht, in zwei Punkten. Bei der eigentlichen Gem\u00fctsbewegung, dem Affekt der Furcht, mu\u00df immer nach Lehmann ein Gegenstand vorliegen, vor dem man sich f\u00fcrchtet, es mu\u00df der Gedanke einer Gefahr vorhanden sein. Und das setzt unlustartige Erlebnisse voraus und ihre Beproduktion oder Erinnerung. Sodann soll sich der eigentliche\n1) A. Lehmann: 1. c. S. 336 und 337.","page":1482},{"file":"p1483.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1483\nAffekt der Furcht von der primitiven Furcht dadurch unterscheiden, da\u00df bei der eigentlichen Furcht eine \u201eV orstellung von einer bevorstehenden Ver\u00e4nderung des Ichs\u201d vorliegt.\nEs ist merkw\u00fcrdig, da\u00df Lehmann behauptet, es gebe keine Furcht ohne einen Gegenstand, vor dem man sich f\u00fcrchtet. Dem Psychiater ist solche Furcht etwas Allt\u00e4gliches.\nUnd im Fall des Kindes, das vor einer Maske schreiend davonl\u00e4uft und sein Gesicht in die Sch\u00fcrze der Mutter verbirgt, fehlt ja nicht einmal ein Objekt, auf das der Gef\u00fchlszustand bezogen werden kann. Hier fehlt sicherlich nichts an dem Affektzustand. Wenn noch Vorstellungen fr\u00fcherer Gef\u00e4hrdungen und Erinnerungen an solche hinzukommen, so wird allerdings der Affekt in seiner Intensit\u00e4t verst\u00e4rkt. Das sieht man, wenn ein und dieselbe Vivisektion an einem Kaninchen und einem Hunde ausgef\u00fchrt wird. Der Hund leidet darunter weit mehr, weil bei ihm die Vorstellung der Gefahr eine viel gr\u00f6\u00dfere Bolle spielt. Aber die Qualit\u00e4t des Gef\u00fchlszustandes hat sich nicht ver\u00e4ndert, es ist doch das Verschmelzungsprodukt von Organempfindungen und Gef\u00fchlst\u00f6nen nicht qualitativ ver\u00e4ndert !\nZuletzt die \u201eVorstellung von einer bevorstehenden Ver\u00e4nderung des Ichs\u201d. Von einem Affekt soll man nach Lehmann nicht anders reden k\u00f6nnen als bei Vorstellung von einer bevorstehenden Ver\u00e4nderung des Ichs ! Bei jedem Zornaffekt, den ich entwickle, soll eine Vorstellung von einer bevorstehenden Ver\u00e4nderung des Ichs vorhanden sein ? Das ist ein reflexionspsychologischer Irrtum ! Bei jedem Zornaffekt und jedem Angstaffekt findet eine Ver\u00e4nderung des Ichs statt, aber sie braucht doch nicht als solche aufgefa\u00dft zu werden!\nZudem wird auch von Lehmann bei Charakterisierung des ,,Instinkt affektes\u201d gegen\u00fcber dem prim\u00e4ren Instinkt durchaus nicht immer diese Vorstellung von einer bevorstehenden Ver\u00e4nderung des Ichs in Anspruch genommen !\nDer primitive Instinkt der Heugier soll in den Affekt der Verwunderung \u00fcbergehen, \u201ewenn das Kind sich der Beuheit, der Ungew\u00f6hnlichkeit einer Wahrnehmung bewu\u00dft wird\u201d 1). Der primitive Schutz ins tinkt soll in den Affekt der Z\u00e4rtlichkeit \u00fcbergehen, \u201ewenn die Vorstellung von der Schutzbed\u00fcrftigkeit irgendeines Wesens und der Folgen des fehlenden Schutzes bei der Wahrnehmung entsteht\u201d. Der primitive Geschlechtsinstinkt soll in den Affekt des Sexualgef\u00fchls \u00fcbergehen, \u201ewenn die Wahrnehmung einer anderen Person gewisse lustbetonte Vorstellungen und Organempfindungen hervorruft\u201d. Wo ist in diesen F\u00e4llen die Vorstellung einer bevorstehenden Ver\u00e4nderung des Ichs ?\nx) A. Lehmann'. 1. c. S. 338.","page":1483},{"file":"p1484.txt","language":"de","ocr_de":"1484\nG-. St\u00f6rring\nWie den Trieb zu Fluchtbewegungen und die Furch t, so m\u00fcssen wir auch den Trieb zu Angriffsbewegungen nnd den Zorn als angeboren ansprechen. Hier kommen als Psychologen, mit denen wir nns anseinanderznsetzen haben, nur Ribot nnd A. Lehmann1) in Betracht. Der primitive Zorninstinkt wird nach Lehmann bei dem zehnmonatigen Kind ansgel\u00f6st, wenn das Kind bei seinem Spiel gest\u00f6rt wird; dann bei\u00dft es nnd kratzt es den Friedensst\u00f6rer. Der Instinktaffekt des Zornes soll aber dann entstehen, wenn die Vorstellung hinznkommt, \u201eda\u00df andere darauf abzielen, das Ich zu hemmen\u201d. Wir sprechen nach den obigen Entwicklungen schon bei dem primitiven Zorninstinkt von Zorn a f f e k t.\nRibot handelt ausf\u00fchrlich von dem Zornaffekt und macht eine interessante Bemerkung \u00fcber die Methode der Untersuchung des Zornes. Er sagt: \u201eAls innere, rein psychische Tatsache betrachtet, l\u00e4\u00dft sich der Zorn ebensowenig bestimmen wie jeder unaufl\u00f6sbare Zustand, und in seinen lebhaften Formen ist er der inneren Beobachtung nicht zug\u00e4nglich. Er l\u00e4\u00dft kaum eine zur\u00fcckblickende Untersuchung zu. Seine Psychologie besteht in seiner Entwicklungsgeschichte, die drei Hauptphasen umfa\u00dft1).\u201d\nAls entwicklungsgeschichtlich niedrigste Form des Zornaffektes charakterisiert er die \u201eanimale\u201d Form oder die Form des wirklichen Angriffes. Man sieht sie im reinen Zustande beim Tier. \u201eDie Ern\u00e4hrung verlangt ihre Beute, der Kampf ums Dasein in seiner unvers\u00f6hnlichen Form den Angriff, bei dem es sich darum handelt, zu vernichten oder vernichtet zu werden2).\u201d\nEine weitere Entwicklungsstufe des Zornaffektes bezeichnet Ribot als die eigentliche Gef\u00fchlsform des Zornes : \u201eWenn der Hund seinem Feinde begegnet, bleibt er stehen und knurrt, seine Haare str\u00e4uben sich und er weist alle Merkmale des Angriffes im werdenden Zustande auf. Der Mensch l\u00e4\u00dft es meistens bei einigerma\u00dfen heftigen Drohungen ohne Verrichtung bewenden\u201d3).\nRibot bezeichnet diese Form mit Recht als eigentliche Gef\u00fchlsform, denn hier hebt sich der Zornaffekt gegen\u00fcber den Zornbewegungen ab, welche auf der niedrigeren Stufe mit dem Zornaffekt zusammen auftreten.\nAuf dieser Stufe der Entwicklung tritt in dem Zornaffekt ein Lustmoment hervor.\nVon ihm sagt Bain, da\u00df es in dem V ergn\u00fcgen besteht, leiden zu sehen, w\u00e4hrend Ribot darin eine \u00c4u\u00dferung des,\nb A. Lehmann: 1. c. S. 337.\n2)\tRibot: 1. c. S. 283.\n3)\tRibot: 1. c. S. 284.","page":1484},{"file":"p1485.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1485\nInstinktes des Herrsckens sieht. Ich werde dazn sp\u00e4ter Stellung nehmen.\nEine dritte Entwicklnngsform des Zornaffektes bezeichnet Ribot als die \u201eintellektnalisierte Form\u201c oder die Form des anfgeschobenen Angriffes. Als Hauptvertreter dieser zivilisierten Form des Zornes sieht er an: Ha\u00df, Heid, Groll, Bachsucht usw.\nDie von Ribot vollzogene Heranziehung der entwick1ung s gesch i ch11 i c h en Methode zur Untersuchung des Zornaffektes finden wir sehr zweckm\u00e4\u00dfig. Ribot \u00fcbersch\u00e4tzt aber ihre relative Bedeutung, ihre Bedeutung in Delation zur Bedeutung anderer psychologischer Methoden. Es ist nicht richtig, wenn Ribot sagt, der Zorn sei in seinen lebhaften Formen der inneren Beobachtung nicht zug\u00e4nglich. Er lasse kaum eine r\u00fcckblickende Untersuchung zu. Von einer Beobachtung des Zornes w\u00e4hrend seines Ablaufes kann man allerdings nicht sprechen, aber unmittelbar nach seinem Ablauf l\u00e4\u00dft sich der Zorn beobachten. Das gilt f\u00fcr schwache, mittlere und starke Formen des Zornes ; allerdings nicht f\u00fcr die st\u00e4rksten. In die st\u00e4rksten Formen des Zornes gibt uns auch die entwicklungsgeschichtliche Untersuchung keinen Einblick, sondern nur die psychopathologische Untersuchung von Zornaffekten bei Epileptikern und Maniakalischen und auch diese nur in beschr\u00e4nktem Ma\u00dfe.\nF\u00fcr die st\u00e4rksten Formen des Zornaffektes zieht auch Ribot im Gegensatz zu jener allgemeinen Bemerkung \u00fcber die Methode zur Untersuchung st\u00e4rkerer Zornaffekte psychopathologische Tatsachen in Betracht. Er zitiert hier eine bekannte Entwicklung des alten Psychiaters Schule \u00fcber Zorn bei Epileptikern: \u201eDer Kranke st\u00fcrzt sich mit r\u00fccksichtsloser Wut, mit tierischer Baserei auf seine Umgebung; er spuckt, er schl\u00e4gt, bei\u00dft und zerbricht alles, was er erreichen kann; er schreit und tobt. Das Blut steigt ihm ins Gesicht, die Pupillen erscheinen bald verengt, bald, und fast noch h\u00e4ufiger, erweitert; die Bindehaut ist stark mit Blut unterlaufen, der Blick ist starr; es zeigen sich reichlicher Speichelflu\u00df, Klopfen der Schlagadern, Beschleunigung des Pulses.\u201d\nDoch auch damit ist f\u00fcr die psychische Charakteristik des Zornes nicht viel gewonnen. Das wichtigste f\u00fcr sie besteht darin, da\u00df diese st\u00e4rksten Formen des Zornaffektes die intellektuellen Prozesse ganz aus dem Bewu\u00dftsein verdr\u00e4ngen, so da\u00df das Verhalten ein ganz sinnloses ist und da\u00df an solches Verhalten nachher keine Erinnerung vorhanden ist. Die erstgenannte dieser psycho-pathologischen Tatsachen ist auf das Konto derivativer Hemmung der intellektuellen Prozesse durch den Zornaffekt","page":1485},{"file":"p1486.txt","language":"de","ocr_de":"1486\nG. St\u00f6rring\nzu setzen, der eben dann die in dem betreffenden Moment disponible psychophysische Energie ganz in Anspruch nimmt. Wie Meht es um die zweite dieser Tatsachen, die fehlende Erinnerung ?\nUm diese Tatsachen zu deuten, m\u00fcssen wir ber\u00fccksichtigen, da\u00df es keine Gef\u00fchlsreproduktionen im eigentlichsten Sinne gibt, da\u00df nur die intellektuellen Unterlagen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden reproduziert werden und an ihre Eeproduktion sich ein Wiedererleben fr\u00fcherer Gef\u00fchlszust\u00e4nde anschlie\u00dft. Uun fehlen hier aber intellektuelle Prozesse und deshalb k\u00f6nnen diese Zornaffekte auch nicht wiedererlebt und erinnert werden !\nZur psychologischen Charakterisierung des Zornes kann aber ohne Zweifel auch die Selbstbeobachtungsmethode Dienste leisten, besonders, wenn sie von einem experimentell und psychopathologisch geschulten Psychologen ge\u00fcbt wird.\nDie n\u00e4heren psychologischen Bestimmungen \u00fcber die zweite und dritte Entwicklungsstufe des Zornaffektes hat doch Ribot in der Hauptsache durch Selbstbeobachtungsmethoden gewonnen !\nGr\u00f6\u00dfere Dienste als die Selbstbeobachtungsmethoden kann hier sodann noch eine experimentelle Methode leisten, bei der man Versuchspersonen Eeiz-worte gibt, welche in ihnen Zornaffekte ausl\u00f6s e n.\nVon den Entwicklungen Ribots, die er als entwicklungsgeschichtlich bezeichnet, m\u00f6chten wir noch kritisch seine Bestimmungen \u00fcber die Lust in mittleren Graden des Zornes beleuchten. Ribot akzeptiert die Auffassung von Bain nicht, da\u00df diese Lust in dem Vergn\u00fcgen bestehe, andere leiden zu sehen. Als generelle Deutung dieser Lust ist diese Auffassung allerdings verfehlt, aber in einigen F\u00e4llen von Zorn tritt diese Art von Lust ohne Zweifel auf. Ebensowenig generell ist aber die im Zorn auftretende Lust mit Ribot als eine Lust des Herrschens zu charakterisieren. Allgemeine Bedeutung hat vielmehr f\u00fcr den Zorn die Lust, welche durch Entladung oder wenigstens initiale Entladung des Zornes entsteht. Ich habe in Versuchen \u00fcber den Einflu\u00df von Unlustgef\u00fchlen auf den motorischen Effekt von Willenshandlungen gezeigt, da\u00df bei der motorischen Entladung von Unlustgef\u00fchlen Lust auf tritt1).\nZur psychologischen Charakterisierung des Zornes ist sodann noch hervorzuheben, da\u00df bei starken Zornaffekten zwei verschiedene Stadien des Zornes zu unterscheiden sind, ein asthenisches und ein sthenisches Stadium. Im ersteren sind bei herabgesetzter Blutzufuhr zum Gehirn die motorischen Punktionen ge-\n]) St\u00f6rring: Exper. Beitr. z. Lehre y. Gef\u00fchl. Arch. f. d. ges. Psych. 1906.","page":1486},{"file":"p1487.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1487\nhemmt, im zweiten sind sie bei gesteigerter Blntznfuhr znm Gehirn nnd der willk\u00fcrlichen Mnsknlatnr gesteigert. \u2014\nZu den primitiven angeborenen Trieben geh\u00f6rt sodann der Geschlechtsinstinkt. Wenn die Geschlechtsorgane znr Beife gekommen sind, treten Organempfindnngen anf, die sich mit U n r n h e verbinden. Bei Wahrnehmung bestimmter Individuen des anderen Geschlechtes tendiert diese Unrnhe dazn, Bewegungen auszul\u00f6sen, durch die eine Ann\u00e4herung an das Individuum des anderen Geschlechtes zustande kommt. Solche Bewegungen k\u00f6nnen durch ethische oder soziale Gedanken gehemmt werden. Bealisieren sich diese Bewegungen, so kommt es zu Umarmungen und K\u00fcssen. Diese Tast- und W\u00e4rmeempfindungen ziehen Erregungen der Geschlechtsorgane nach sich, welche selbst wieder die Unruhe steigern, die zusammen mit der Wahrnehmung des betreffenden Individuums den ganzen Proze\u00df eingeleitet hat. So haben wir es hier mit einer Wirkung nach Art des Dynamoprinzips zu tun, die entweder durch soziale und ethische Gedanken mit den ihnen entsprechenden Gef\u00fchlsmassen, etwa durch Ablenkung, aufgehoben wird oder in der Begattung zum Abschlu\u00df kommt.\nDer Einflu\u00df der Sexualgef\u00fchle auf das ganze psychische Leben ist in der letzten Zeit von Freud und von manchen seiner Sch\u00fcler kolossal \u00fcbersch\u00e4tzt worden.\nDas tritt besonders in den Anschauungen hervor, die Freud \u00fcber die treibende Kraft des Traumlebens entwickelt. Alle Tr\u00e4ume sollen einen sexuellen Untergrund haben. Wie unnat\u00fcrlich das ist, erkennt man leicht, wenn man bedenkt, da\u00df Individuen, welche gegen Koffein sehr empfindlich sind, bei Genu\u00df von einigen Tassen starken Kaffees vor dem Schlafengehen, in der Herzgegend lokalisiert \u00e4ngstliche Empfindungen bekommen, die in der Nacht zu Angsttr\u00e4umen f\u00fchren. Was haben solche Tr\u00e4ume mit Sexualgef\u00fchlen zu tun ? Wenn man da noch sagt: wenn hier auch Sexualgedanken nicht ,,manifest\u201d seien, so k\u00f6nnten sie doch noch ,,latent\u201d eine Bolle spielen, so ist das eine willk\u00fcrliche Konstruktion, die sich zu wissenschaftlichen Feststellungen in scharfen Gegensatz setzt.\n2. Die Sexualgef\u00fchle bilden den Kern eines komplexen psychischen Gebildes, welches in manchen Erscheinungsformen die Beziehung zu diesen Gef\u00fchlen nur schwer erkennen l\u00e4\u00dft, der Liebe zu einem Individuum des anderen Geschlechtes. Es ist sehr wichtig und interessant, dieses komplexe Gebilde zu analysieren. Wir beginnen mit dem Bef erat der sehr beachtenswerten Analyse, welche Herbert Spencer von dieser Liebe gegeben hat. Er sagt dar\u00fcber folgendes: \u201eGew\u00f6hnlich,","page":1487},{"file":"p1488.txt","language":"de","ocr_de":"1488\nGr. St\u00f6rring\nobwohl mit Unrecht, redet man von der Leidenschaft, die die Geschlechter vereinigt, wie von einem einfachen Gef\u00fchl, w\u00e4hrend sie tats\u00e4chlich das am meisten zusammengesetzte nnd daher auch das m\u00e4chtigste nnter allen Gef\u00fchlen ist. Den rein k\u00f6rperlichen Elementen, die es in sich schlie\u00dft, mn\u00df man zun\u00e4chst noch jene sehr verwickelten Eindr\u00fccke hinznf\u00fcgen, die durch die pers\u00f6nliche K\u00f6rpersch\u00f6nheit einer Person hervorgerufen werden, um die sich ferner eine gro\u00dfe Zahl von angenehmen Ideen gruppiert, die zwar an sich nichts mit dem Gef\u00fchl der Liebe zu tun haben, aber zu diesem Gef\u00fchl in organisierteste Beziehung gekommen sind. Mit diesen vereinigt sich das komplizierte Gef\u00fchl, das wir Zuneigung nennen \u2014 ein Gef\u00fchl, das, weil es auch zwischen Wesen von gleichem Geschlecht stattfinden kann, als davon unabh\u00e4ngiges Gef\u00fchl betrachtet werden mu\u00df, das hier nur bedeutend gesteigert erscheint. Dazu kommt ferner das Gef\u00fchl der Bewunderung, der Achtung oder Ehrerbietung: an sich schon von erheblicher Gewalt, das aber in dieser Beziehung in hohem Grade wirksam wird. Kicht minder tritt dazu jenes Gef\u00fchl, das wir Liebe zum Beifall nennen k\u00f6nnen. Mehr als alles \u00fcbrige in der Welt geliebt zu sein, und zwar von jemand, den wir selbst vor allen Menschen bewundern, ist nichts anderes, als da\u00df unsere Liebe zum Beifall in einem Grade befriedigt wird, der jede fr\u00fchere Erfahrung weit \u00fcbersteigt, ganz besonders da auch die indirekte Befriedigung derselben hinzutritt, welche daraus entspringt, da\u00df diese Bevorzugung in Gegenwart von unbeteiligten Personen sich kundgibt. Ferner kommt auch die verwandte Emotion der Selbstachtung ins Spiel. Da\u00df es gelungen ist, eine derartige Anh\u00e4nglichkeit eines anderen und einen solchen Einflu\u00df \u00fcber den anderen zu gewinnen, ist ein Beweis einer Macht, die unm\u00f6glich anders als in angenehmer Weise die Eigenliebe erregen wird.\nAu\u00dferdem hat sogar das Eigentumsgef\u00fchl seinen Anteil an der allgemeinen T\u00e4tigkeit: es wird die Freude am Besitz empfunden \u2014 die beiden geh\u00f6ren einander an. Ferner gestattet dieses Verh\u00e4ltnis eine gr\u00f6\u00dfere Freiheit des Verhaltens. Anderen Personen gegen\u00fcber wird ein zur\u00fcckhaltendes Benehmen gefordert. Um jeden Menschen ist gewisserma\u00dfen eine unsichtbare Grenze gezogen, die man nicht \u00fcberschreiten kann \u2014 er besitzt eine Individualit\u00e4t, in die niemand eingreifen darf. In diesem Falle aber sind die Schranken niedergeworfen, und dadurch wird die Freude unbeschr\u00e4nkter T\u00e4tigkeit befriedigt. Endlich kommt dazu eine Steigerung des Mitgef\u00fchls. Egoistische Freuden jeder Art werden verdoppelt durch die mitf\u00fchlende Teilnahme eines anderen, und die Freuden des anderen kommen zu den egoistischen Freuden hinzu. So sammeln sich dann rings um das physische Gef\u00fchl, welches den Kern des Ganzen bildet, alle die Gef\u00fchle an, die durch k\u00f6rper-","page":1488},{"file":"p1489.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1489\nliehe Sch\u00f6nheit veranla\u00dft werden, diejenigen der einfachen Zuneigung, diejenigen der Achtung, der Freude am Beifall, der Selbstachtung, der Freude am Besitz, an der Freiheit und am Mitgef\u00fchl. Diese Gef\u00fchle, s\u00e4mtliche hoch gesteigert und s\u00e4mtliche darauf hinzielend, ihre Erregung von einem auf den anderen \u00fcberstrahlen zu lassen, vereinigen sich, um den geistigen Zustand zu bilden, den wir Liebe nennen. Und da jedes dieser Gef\u00fchle selbst eine gro\u00dfe Anzahl verschiedener Bewn\u00dftseinsznst\u00e4nde umfa\u00dft, so k\u00f6nnen wir wohl sagen, da\u00df diese Leidenschaft sich zu einem unerme\u00dflichen Aggregat verschmilzt, dessen elementare Erregungen wir alle zu empfinden f\u00e4hig sind, und da\u00df eben daraus ihre unwiderstehliche Gewalt entspringt1)\u201d.\nEs l\u00e4\u00dft sich nicht leugnen, da\u00df Herbert Spencer bei dieser Analyse in einer ganzen Beihe von Bestimmungen den Bagel auf den Kopf getroffen hat. Ich finde es aber gek\u00fcnstelt, wenn Spencer die Liebe znm Beifall heranzieht, wobei die ,,Bevorzugung in Gegenwart von unbeteiligten Personen\u201d betont wird. Das ist eine Betrachtungsweise, die auf dem Ballsaal eine Bolle spielen kann, aber keine generelle Bedeutung f\u00fcr die Liebe hat. Ich kann auch nicht als konstanten Faktor der Liebe die bezeichnete ,,Emotion der Selbstachtung\u201d, der Eigenliebe anerkennen. Gemeint ist damit doch, da\u00df der ,,Eigenliebe\u201d des Individuums geschmeichelt wird mit der Feststellung, da\u00df es ihm gelungen ist, einen solchen Einflu\u00df auf den anderen zu gewinnen. Ein solcher Gedanke mag in der ersten Zeit der Beziehung von Liebenden dann und wann auf-treten, er stellt aber doch sicherlich keinen bleibenden Faktor in den intellektuellen Unterlagen der Liebe dar !\nAndrerseits sind von Spencer wichtige Komponenten der Liebe nicht namhaft gemacht. Eine solche ist doch ohne Zweifel das Bewu\u00dftsein der \u00dcbereinstimmung in Grunds\u00e4tzen und anderen tiefgehenden Interessenkreisen. Dahin geh\u00f6rt auch die Freude \u00fcber Erwiderung der Liebe und das Vertrauen auf Bestand dieser Erwiderung. Wir nehmen zu den Komponenten der Liebe weiter das Sichversetzen auf den Standpunkt des anderen und in seinem Sinne wertsch\u00e4tzen und handeln mit Selbsthingabe.\nBei der Analyse der Liebe ist es methodologisch geraten, eine Analogiebetrachtung eine heuristische Bolle spielen zu lassen, n\u00e4mlich die Analogie mit der Liebe zu Gott. Bei letzterer treten die einzelnen Komponenten noch deutlicher heraus als bei der Liebe zu einem Individuum des anderen Geschlechtes. Und da\nx) Herbert Spencer: Principles of psychology. S. 715. \u00dcbersetzung von Vetter.","page":1489},{"file":"p1490.txt","language":"de","ocr_de":"1490\nG. St\u00f6rring\nfragt es sich, ob das \u201eSichgeborgenf\u00fchle n\u201d, welches sicherlich eine Komponente in der Liebe zu Gott ist, anch hier in Anspruch genommen werden kann. Man wird vielleicht geneigt sein zu sagen, da\u00df zwar die Liebe des Weibes znm Manne dieses Moment enthalte, aber nicht die Liebe des Mannes znm Weibe. Aber hier ist zn ber\u00fccksichtigen, da\u00df sich anch der Mann erg\u00e4nznngsbed\u00fcrftig f\u00fchlt nnd das Sichgeborgenf\u00fchlen anch ein Moment seiner Liebe ist, wenn anch nnter anderen Gesichtspunkten als bei der Liebe des Weibes.\nKach dieser kritischen W\u00fcrdigung der Analyse der Liebe, wie sie Spencer vollzogen hat, kommen wir also zn folgenden Bestimmungen \u00fcber die Komponenten der Liebe zn einem Individuum des anderen Geschlechtes.\nWie bei den Komponenten des Ichbewu\u00dftseins das Bewu\u00dftsein vom eigenen Leibe den Kern bildet, um den sich alles andere angegliedert hat und auch bei den h\u00f6chsten Formen des Ichbewu\u00dftseins diese Komponente nicht verloren geht \u2014 sie mag noch so sehr zur\u00fccktreten \u2014, so ist es auch mit der sinnlichen Komponente in der Liebe zu einem Individuum des anderen Geschlechtes. Man hat von platonischer Liebe zu einem Individuum des anderen Geschlechtes gesprochen, von der Liebe, bei der eine v\u00f6llige Abstraktion von dem sinnlichen Faktor der geschlechtlichen Liebe vollzogen ist, man hat dabei den begreiflichen Irrtum begangen, das, was im klaren Bewu\u00dftsein nicht vorhanden ist, als \u00fcberhaupt im Bewu\u00dftsein nicht gegeben zu betrachten: Faktoren der Begion des dunklen Bewu\u00dftseins k\u00f6nnen ja leicht \u00fcbersehen werden. Als weiteres Moment der Liebe betrachten wir den Eindruck der K\u00f6rpersch\u00f6nheit der geliebten Person. Eine weitere Komponente der Liebe sehen wir in einem Sichhingezogenf\u00fchlen zu der betreffenden Person. Das ist diejenige Komponente, welche das schon in den sinnlichen Faktoren gelegene Moment der Tendenz zur Ann\u00e4herung in geistiger Weise zur Geltung kommen l\u00e4\u00dft. Eine weitere Komponente der Liebe ist sodann offenbar in dem Bewu\u00dftsein der \u00dcbereinstimmung in Grunds\u00e4tzen und anderen tiefgehenden Interessenkreisen gegeben. Da bedarf es keiner n\u00e4heren Explikation und Begr\u00fcndung. Mit Spencer haben wir sodann zu betonen das Gef\u00fchl der Achtung vor der anderen Pers\u00f6nlichkeit. Sodann liegt in der Liebe als Komponente die Freude \u00fcber Erwiderung der Liebe. Dieser Faktor ist mit der ,,Emotion der Selbstachtung\u201d in der Liebe etwas verwandt .\nHiermit h\u00e4ngt zusammen ein Faktor, auf den man durch Analogiebetrachtung zur Liebe zu Gott geleitet werden kann. Die Beligionspsychologen haben in der Liebe zu Gott das Moment des","page":1490},{"file":"p1491.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\nt/\to\n1491\nVertrauens auf Gott stark betont. Hier kommt offenbar etwas. \u00c4hnliches in Betracht, n\u00e4mlich ein Vertrauen des Li ebenden auf den Bestand der Erwiderung der Liebe.\nSodann ist zu betonen das von Spencer hervorgehobene Moment des Bewu\u00dftseins der,,Freiheit des Verhaltens\u201d. Anderen Personen gegen\u00fcber wird ein zur\u00fcckhaltendes Wesen gefordert. Um jeden Menschen ist gewisserma\u00dfen eine unsichtbare Grenze gezogen, die man nicht \u00fcberschreiten kann \u2014 er besitzt eine Individualit\u00e4t, in die niemand eingreifen darf. Dem geliebten Individuum gegen\u00fcber f\u00fchlt der Liebende sich frei, einen befriedigenden Gef\u00fchlszustand der Entspannung ruft das hervor, im Gegensatz zu der auf die Dauer angreifenden Spannung in der Gesellschaft fremder Menschen.\nWenn Spencer weiter von einem Eigentums gef \u00fchl spricht, so kann das den Eindruck einer \u00e4u\u00dferlichen Betrachtungsweise machen; von Spencer ist aber etwas Biehtiges gemeint: die Freude an dem geistigen Besitz, dem Besitz einer wertvollen Pers\u00f6nlichkeit!\nIn der Liebe finden wir sodann ein Sichversetzen in die Situation des anderen und ein Wertsch\u00e4tzen und Handeln in seinem Sinne mit Selbsthingabe. Diese Selbsthingabe ist ein Faktor, der auch in der Liebe zu Gott eine starke Auspr\u00e4gung findet.\nMit dem religi\u00f6sen Verhalten \u00fcbereinstimmend ist das Liebes-gef\u00fchl sodann weiter in dem Sichgeborgenf\u00fchlen. Wir sahen, da\u00df wir diese Komponente nicht blo\u00df f\u00fcr die Liebe des Weibes zum Mann, sondern auch f\u00fcr die Liebe des Mannes zum Weibe in Anspruch zu nehmen haben \u2014 nur in anderen Beziehungen.\nEine sehr bedeutsame Komponente der Liebe ist sodann darin gegeben, da\u00df durch das Zusammenleben die geliebte Pers\u00f6nlichkeit f\u00fcr den Liebenden zu einem Summationszentrum von Gef\u00fchlen wird. Bei harmonischem Zusammenleben wird dieses Summationszentrum n\u00e4mlich positiven Charakter haben.\nWir haben noch einen Faktor ungenannt gelassen, der in der wahren Liebe den Liebenden als heterogener Faktor erscheint. Dahin geh\u00f6rt der materielle Besitz des geliebten Individuums und andere Eigenschaften desselben, welche das Leben mit ihm angenehm machen. Der wahrhaft Liebende wird die Mitwirkung dieses Faktors meist in Abrede stellen.\nAber wenn auch dieser Gedanke selbst sich in den weit zur\u00fcckliegenden Begionen des dunklen Bewu\u00dftseins befinden m\u00f6ge, so k\u00f6nnen deshalb doch die durch dieselben ausgel\u00f6sten Gef\u00fchle eine betr\u00e4chtliche Intensit\u00e4t haben \u2014 nur da\u00df sie nicht f\u00fcr sich","page":1491},{"file":"p1492.txt","language":"de","ocr_de":"1492\nG-. St\u00f6rring\ngesondert hervortreten, sondern mit anderen Gef\u00fchlen eine Verschmelzung eingehen, wodurch sie sich einer Kontrolle f\u00fcr den Liebenden entziehen.\nZuletzt haben wir noch einen Zusatz zu unserer Betonung des Eindruckes der Sch\u00f6nheit der geliebten Person zu machen. Mit dem Eindruck der Sch\u00f6nheit sind nicht nur \u00e4sthetische Faktoren, die allgemeiner positiver Wertsch\u00e4tzung zug\u00e4nglich sind, sondern nat\u00fcrlich auch ganz subjektive Faktoren gemeint. Diese sind zum Teil gelegen in einer Gestaltung der Physiognomie und des Verhaltens, welche dunkelbewu\u00dft Gedanken an Eigenschaften der geliebten Person aufdr\u00e4ngen, die wir oben begrifflich fixiert haben und diese dunkelbewu\u00dften Gedanken verfehlen nicht, Gef\u00fchlsmassen lebendig zu machen, welche in das Licht des klarsten Bewu\u00dftseins treten. So wird in der ,,Liebe auf den ersten Blick\u201d vieles vorweggenommen, was sp\u00e4ter auch im Bewu\u00dftsein des Liebenden selbst klarer hervortritt.\n5. Kapitel.\nDie Beziehungsaffekte Spinozas.\nF\u00fcr McDougall sind alle Affekte Instinktaffekte. Diese Definition hat zur Folge, da\u00df Dougall Freude, Kummer und \u00dcberraschung nicht als Affekte ansieht, und da\u00df er Affekten wie Wehmut, Sehnsucht, Hoffnung nicht gerecht werden kann. A. Lehmann stellt den Instinktaffekten ,,V orstellungsaff ekte\u201d gegen\u00fcber und au\u00dferdem formelle Affekte, welche durch St\u00e4rke und Zeitverh\u00e4ltnisse der Vorstellungen bedingt sind. Vorstellungsaffekte unterscheiden sich nach ihm dadurch von den Instinktaffekten, da\u00df *sie von keinen instinktiven Bewegungen konstant begleitet sind. Zu den Vorstellungsaffekten werden gerechnet Freude, Kummer, Erwartung, Hoffnung, Be\u00e4ngstigung, Furcht, Wehmut, Entt\u00e4uschung, Verzweiflung usw.\nBei dieser Terminologie kommen die Beziehungsgedanken und die Urteile zu schlecht weg. Wenn die Unterschiede von Freude und Kummer einerseits und Hoffnung und Furcht oder Liebe und Ha\u00df andrerseits entwickelt werden sollen, so ist jedenfalls festzustellen, da\u00df die intellektuellen Unterlagen von Hoffnung und Furcht sowie von Liebe und Ha\u00df gegen\u00fcber Freude und Kummer sich nicht dadurch unterscheiden, da\u00df die Vorstellungen verschieden sind, sondern dadurch, da\u00df in denselben Beziehungsgedanken neu hinzutreten, eventuell sich zu entsprechenden Urteilen entwickeln. .\nMan kann wohl sagen, da\u00df die Instinktaffekte sich im allgemeinen in Handlungen darstellen, die \u00fcbrigen Affekte dagegen nicht.","page":1492},{"file":"p1493.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1493\nDamit h\u00e4ngt es auch zusammen, da\u00df hei Lehmann die Furcht 2ii den Instinktaffekten und zu den Vorstellnngsaffekten gerechnet wird! Sie geh\u00f6rt zn den Instinktaffekten, sofern sie sich noch mit Fluchtbewegungen verbindet.\nWir stellen den Instinktaffekten Beziehnngsaffekte .Spinozas gegen\u00fcber als solche Affekte, deren differente Qualit\u00e4t von der Differenz der ihnen zugrunde liegenden Beziehungsgedanken abh\u00e4ngt.\nSpinoza lie\u00df aus befriedigten und unbefriedigten Begehrungen laetitia und tristitia hervorgehen. Man \u00fcbersetzt das gew\u00f6hnlich mit Freude und Kummer. Ob Freude und Kummer oder Lust und Unlust damit gemeint ist, ist f\u00fcr die weiteren Entwicklungen wenig von Belang. Aus laetitia und tristitia entwickeln sich nun Hoffnung und Furcht, wenn eine zeitliche Beziehung hinzutritt : wenn die laetitia als in Zukunft mit Wahrscheinlichkeit auftretend gesetzt wird bzw. wenn die tristitia als in Zukunft mit Wahrscheinlichkeit auftretend gesetzt wird. Eine positive Beziehung auf die Y ergangenheit und eine negative auf die Zukunft wird gesetzt in der Wehmut, wo angenehme Erlebnisse als vergangen, als abgelaufen und in Zukunft nicht mehr seiend aufgefa\u00dft werden. F\u00fcr den parallelen Fall, wo unangenehme Erlebnisse als abgelaufen und in Zukunft nicht mehr seiend gesetzt werden, und infolgedessen sich Freude entwickelt, gibt es in unserer Sprache keinen besonderen Kamen.\nAus laetitia und tristitia entwickeln sich Liebe und Ha\u00df, wenn eine Beziehung auf Objekte gesetzt sind, durch welche die laetitia und tristitia verursacht sind.\nWir wollen aus diesen Affekten die Hoffnung und die Furcht wegen ihrer eminenten Bedeutung im Leben besonders herausgreifen und n\u00e4her zu charakterisieren suchen.\nEin etwas einfacherer Zustand als die Hoffnung ist die Y o r-f r e u d e. Sie unterscheidet sich von der Hoffnung dadurch, da\u00df eine als zuk\u00fcnftig gesetzte Freude nicht als nur wahrscheinlich, sondern als sicher eintretend aufgefa\u00dft ist. Sie spielt im Leben eine gr\u00f6\u00dfere Bolle als man gew\u00f6hnlich denkt. Gibt man sich z. B. Bechenschaft von der Freude, die man bei Ausfl\u00fcgen hat, so findet man, da\u00df bei der Wanderung oder der Fahrt zum Ziel eine freudig erwartungsvolle Stimmung eine gro\u00dfe Bolle spielt. Diese ist bedingt durch wiederholt auftretende Gedanken an das angenehme Ziel, die sich mit Freude und mit einer von Willensimpulsen herr\u00fchrenden Spannung verbindet.\nEs kommt so zu einer freudigen Stimmung mit leicht erregter Spannung. Alle in diesem Zustand auf tretenden Gedanken haben den Yorzug, gewisserma\u00dfen eingetaucht zu sein in diese Stimmung !\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t97","page":1493},{"file":"p1494.txt","language":"de","ocr_de":"1494\nG. St\u00f6rring\nDieser Zustand wird sich besonders stark entwickeln bei vorangegangener anstrengender Arbeit.\nWas macht nun die Hoffnung zu einem so kraftvollen und reichen Affekt \u00fcber die einfache Freude des Augenblickes hinaus %\nBei der Hoffnung haben wir es einmal wie bei der Vorfreude mit der Erwartung einer Freude zu tun. Die Hoffnung setzt durch ihre intellektuellen Unterlagen die permanente M\u00f6glichkeit einer Freude f\u00fcr l\u00e4ngere Zeit. Von dieser permanenten M\u00f6glichkeit wird bei der Hoffnung im allgemeinen reichlich Gebrauch gemacht.\nBei der Hoffnung ist es sodann nahegelegt, die intellektuelle Unterlage der zuk\u00fcnftigen Freude im positiven Sinne illusion\u00e4r durch die Phantasie auszumalen.\nZuletzt wird die in der Hoffnung eingeschlossene Unsicherheit des Eintrittes des betreffenden Geschehens bei einem bestimmten Grade der Unsicherheit per Kontrast eine Steigerung der Freude herbeif\u00fchren.\n6. Kapitel.\nBas Abreagieren von starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden l\u00e4ngerer Dauer\nau\u00dferhalb der verdr\u00e4ngten Komplexe.\nGef\u00fchlszust\u00e4nde wirken nicht nur auf den. Vorstellungs- und Gedankenverlauf, sondern es besteht auch die umgekehrte Beziehung ; es finden R\u00fcckwirkungen des durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde bestimmten Vorstellungs- und Gedankenverlaufes auf die Gef\u00fchlszust\u00e4nde statt.\nAutoren, die so viele Ber\u00fchrungspunkte haben wie Wundt und Alfred Lehmann, \u00e4u\u00dfern sich hier\u00fcber verschieden. Alfred Lehmann sagt \u00fcber den Einflu\u00df des Gedankenverlaufes auf die Lustaffekte: ,,Die Hoffnung, ein erf\u00fcllter Wunsch oder eine erfreuliche \u00dcberraschung setzt die Phantasie in lebhafte T\u00e4tigkeit und ruft eine Menge von Vorstellungen hervor, die zu dem prim\u00e4ren Gef\u00fchl in n\u00e4herer oder fernerer Beziehung stehen und zu dessen Verst\u00e4rkung beitragen, indem sie mit Lust verbunden sind.\u201d\n\u00dcber die Unlustaffekte sagt er in dieser Beziehung: ,,Schmerz, get\u00e4uschte Erwartung, Zorn, Furcht und Schreck haben miteinander gemein, da\u00df der Vorstellungsverlauf gehemmt wird, so da\u00df nur der Inhalt des prim\u00e4ren Gef\u00fchls den Vorstellungs verlauf beherrscht; der Tr\u00e4umende und der Entt\u00e4uschte haben nur Gedanken f\u00fcr ihren Verlust, der Zornige sieht und h\u00f6rt nichts und wei\u00df manchmal gar nicht, was er unternimmt; w\u00e4hrend der Furcht.","page":1494},{"file":"p1495.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1495\nund des Schreckens kann das Denken so vollst\u00e4ndig ins Stocken geraten, da\u00df man kein Mattel findet, der Gefahr entgegenzuwirken.5\u2019\nIch nehme sodann ans den Entwicklungen von TEufidt iiher diese Beziehungen eine signifikante Stelle.\n,,Jedes heftige Gef\u00fchl f\u00fchrt zu einem Affekt, indem das zun\u00e4chst entstehende Anfangsgef\u00fchl in weiteren Gef\u00fchlen abklingt; und dieser Gef\u00fchlsverlauf ist nun verm\u00f6ge des engen Zusammenhanges unserer subjektiven und objektiven Bewu\u00dftseinsinhalte mit einem entsprechenden Vorstellungsverlauf verbunden. Diese Eigenschaften der Affekte bleiben im wesentlichen die gleichen, welches auch ihre Gef\u00fchlsinhalte sein m\u00f6gen.\nEine ihm eigene qualitative F\u00e4rbung hat daher der Affekt nicht; diese geh\u00f6rt ganz den Gef\u00fchlen an, die seinen Inhalt bilden. Hiermit h\u00e4ngt es wohl zusammen, da\u00df starke Affekte, namentlich in ihrem ersten Stadium, subjektiv einander sehr \u00e4hnlich zu sein pflegen. Schreck, Erstaunen, heftige Freude, Zorn stimmen zun\u00e4chst s\u00e4mtlich darin \u00fcberein, da\u00df alle anderen Vorstellungen vor der einen zur\u00fccktreten, die als Tr\u00e4gerin des Gef\u00fchls ganz und gar das Gem\u00fct ausf\u00fcllt. Erst in dem weiteren Verlauf trennen sich die einzelnen Zust\u00e4nde deutlicher. Entweder kann jene erste Hemmung einem pl\u00f6tzlichen Herandr\u00e4ngen einer gro\u00dfen Zahl von Vorstellungen Platz machen, die mit dem affekterzeugenden Eindruck verwandt sind. Oder es k\u00f6nnen diejenigen Vorstellungen im Bewu\u00dftsein beharren, aus denen von Anfang an der Affekt entsprang. Jene \u00fcberstr\u00f6menden Affekte sind haupts\u00e4chlich bei den freudigen Erregungen des Bewu\u00dftseins zu finden. Erf\u00fcllte Hoffnung oder unerwartetes Gl\u00fcck lassen uns in den mannigfaltigsten Phantasiebildern der Zukunft schwelgen, die, wenn der Affekt steigt, von allen Seiten sich zudr\u00e4ngen.\nBeim h\u00f6chsten Grade der freudigen Affekte, also namentlich im Beginn derselben, kann freilich dieser Zuflu\u00df wieder so m\u00e4chtig werden, da\u00df auch die Nachwirkung der Hemmung noch l\u00e4ngere Zeit fortdauert. Der gew\u00f6hnliche Verlauf einer heftigen Freude besteht daher in einer pl\u00f6tzlichen, dem Schreck verwandten Best\u00fcrzung, die dann allm\u00e4hlich dem raschen Wechsel heiterer Phantasiebilder weicht. In anderer Weise pflegt sich bei dem pl\u00f6tzlichen Unlustaffekt die erste hemmende Wirkung zu l\u00f6sen. Hier behalten die n\u00e4chsten affekterzeugenden Vorstellungen ihre Macht \u00fcber das Bewu\u00dftsein. Es folgt so ein Stadium, in welchem, dieses vollst\u00e4ndig von einer bestimmten Vorstellung und dem an dieselbe gebundenen Gef\u00fchle beherrscht wird. W\u00e4hrend daher der Affekt der Freude allm\u00e4hlich in dem raschen Wogen der Vorstellungen und Gef\u00fchle sich l\u00f6st, finden Schmerz, Wut, Zorn ihr Gleichgewicht in der energischen Selbsterhaltung des Bewu\u00dftseins gegen die Macht der Eindr\u00fccke. Mit beiden Vorg\u00e4ngen ist eine\n97*","page":1495},{"file":"p1496.txt","language":"de","ocr_de":"1496\nG-. St\u00f6rring\nVerminderung in der St\u00e4rke der Affekte verbunden, wodurch diese allm\u00e4hlich Stimmungen Platz machen, die als ihre Wirkungen eine l\u00e4ngere oder k\u00fcrzere Zeit noch bestehen bleiben1).55\nWundt spricht also bei lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszust\u00e4nden von einer Verminderung der Intensit\u00e4t des urspr\u00fcnglichen Gef\u00fchls -zustandes durch die reproduzierten gef\u00fchlsstarken Gedanken, A. Lehmann von einer V erst\u00e4rkung derselben. Aber vielleicht haben beide Pecht in verschiedener Beziehung.\nBei einem freudigen Erlebnis wird die Freude verst\u00e4rkt durch die Reproduktion solcher Gedanken, welche die Bedeutung des Erlebnisses in den verschiedensten Beziehungen betreffen. Diese Gedanken bezeichnen wir als Realit\u00e4tsgedanken und die entsprechenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde als Realit\u00e4t sgef\u00fchle. Wir k\u00f6nnen deshalb sagen, da\u00df die durch einen lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustand veranla\u00dften Realit\u00e4tsgef\u00fchle auf den prim\u00e4ren Gef\u00fchlszustand verst\u00e4rkend wirken.\nAnders ist es mit den reproduzierten gef\u00fchlsstarken Phantasiegedanken, wir wollen diese Gef\u00fchle Phantasiegef\u00fchle nennen. Von den Phantasiegef\u00fchlen sagt Wundt mit Recht, da\u00df sie die Intensit\u00e4t des lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustandes vermindern : Wundt spricht von ,,heiteren Phantasiebildern55, die den Affekt l\u00f6sen. Wie diese L\u00f6sung bedingt ist, wollen wir sp\u00e4ter untersuchen.\nDie Verminderung der Intensit\u00e4t des lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchls-zustandes h\u00e4ngt sodann davon ab, da\u00df Eindr\u00fccke der Au\u00dfenwelt und Bet\u00e4tigungen den Gef\u00fchlszustand von der intellektuellen Unterlage trennen: Wendet sich die Aufmerksamkeit von der intellektuellen Unterlage des lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustandes ab und anderen Objekten zu, entweder in einfacher Betrachtung von Objekten der Au\u00dfenwelt oder in eigenen Bet\u00e4tigungen, so entschwindet damit die intellektuelle Unterlage dem Bewu\u00dftsein, aber mit ihr nicht der Gef\u00fchlszustand. Es ist eine allgemeine Erfahrung schon des gew\u00f6hnlichen Lebens, da\u00df starke Gef\u00fchlszust\u00e4nde l\u00e4nger nachklingen als ihre intellektuellen Unterlagen: beim Schwinden der intellektuellen Unterlage eines Affektes bleibt der entsprechende Gef\u00fchlszustand noch eine Zeitlang bestehen. Wir nehmen deshalb an, da\u00df die Organempfindungen l\u00e4ngere Zeit zum Abklingen brauchen als andere Empfindungen.\nDurch die Abl\u00f6sung des Gef\u00fchlszustandes von seiner intellektuellen Unterlage wird der Gef\u00fchlszustand ganz oder zum Teil in Stimmung verwandelt ; so da\u00df dann alle im Bewu\u00dftsein jeweilig vorhandenen intellektuellen Tatbest\u00e4nde an diesem\n1) Wundt: Grundz\u00fcge der physiologischen Psychologie. 5. Aufl. 3. 211 ff.","page":1496},{"file":"p1497.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1497\nGef\u00fchlszustand teilhaben. Eine meiner Versuchspersonen sagte bei experimenteller Erzeugung einer Lnststimmnng : alle intellektuellen Tatbest\u00e4nde des jeweiligen Bewu\u00dftseinsmomentes seien gewisserma\u00dfen \u201eeingetaucht\u201d in die Stimmung.\nDie intellektuelle Unterlage des Gef\u00fchlszustandes wird dann in der Folge im allgemeinen noch h\u00e4ufig sich im Bewu\u00dftsein geltend machen und von einem \u00e4hnlichen Gef\u00fchlszustand begleitet sein, der dann bei Abl\u00f6sung von der intellektuellen Unterlage die etwa noch vorhandene Stimmung verst\u00e4rkt. Bei noch vorhandener Luststimmung wird der Gef\u00fchlszustand von noch st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t werden. Herabgesetzt wird die Intensit\u00e4t dieses Gef\u00fchlszustandes erst, nachdem die Gesamtheit der Bealbeziehungen der intellektuellen Unterlage sich im Bewu\u00dftsein geltend gemacht hat: dann werden zun\u00e4chst durch die wiederholt auftretenden Eealit\u00e4tsgedanken diese intellektuellen Unterlagen nicht mehr so konkret ausgedacht wie zu Anfang, wodurch die entsprechenden Bealit\u00e4tsgef\u00fchle an Intensit\u00e4t abnehmen, und auch der Hauptgedanke wird bei sehr h\u00e4ufiger Wiederholung allm\u00e4hlich weniger deutlich ausgedacht auftrete n.\nJe st\u00e4rker sich sodann die Stimmung entwickelt, desto mehr emotionelle Phantasiegedanken werden auftreten. Diese sind nat\u00fcrlich in ihrer Intensit\u00e4t geringer als die auf Entwicklung der Eealit\u00e4tsgedanken beruhenden Bealit\u00e4tsgef\u00fchle.\nDie Intervalle zwischen dem Auftreten der Hauptgedanken werden immer gr\u00f6\u00dfer.\nSo macht sich der prim\u00e4re Gef\u00fchlszustand im Bewu\u00dftsein allm\u00e4hlich immer weniger geltend. \u2014\nWie steht es nun in dieser Beziehung mit den starken u n-lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszust\u00e4nden? Wundt hat ganz recht, wenn er sagt, da\u00df sehr starke lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde mit starken unlustgef\u00e4rbten dies gemeinsam haben, da\u00df beide zun\u00e4chst den Charakter des Schocks haben.\nEs fragt sich nun, wie es sich nach Ablauf dieser ersten Phase mit der B\u00fcckwirkung der reproduzierten emotionellen Gedanken auf den unlustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustand verh\u00e4lt. Wie verhalten sich hier die Affektzust\u00e4nde, wie die des Zornes, der Verzweiflung, der Trauer % In der auf die Schockgefahr folgenden Phase tritt im allgemeinen eine Verst\u00e4rkung des Affektes durch die Bepr o duktion emotioneller Vorstellungen und Gedanken ein: es handelt sich eben hier um die Entwicklung gef\u00fchlsstarker Bealit\u00e4tsgedanken, die Entwicklung von Gedanken, welche die verschiedensten Beziehungen","page":1497},{"file":"p1498.txt","language":"de","ocr_de":"1498\nG-. St\u00f6rring\nbetreffen, in denen der mit der intellektuellen Unterlage gemeinte Tatbestand steht. Diese Beziehnngsgedanken stellen mit dem Hauptgedanken eine Einheit dar, so da\u00df von der Entwicklung dieser Gedanken nicht gesagt werden kann, da\u00df sie eine merkliche L\u00f6sung des Gef\u00fchlszustandes von der intellektuellen Unterlage mit sich bringen.\nEine V erminderung der Intensit\u00e4t des prim\u00e4ren unlustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustandes tritt nun zun\u00e4chst dadurch ein, da\u00df diese Unlustzust\u00e4nde im allgemeinen eine Anregung zu Willensbet\u00e4tigungen setzen, zu einfachen und komplexeren. Besonders die mit motorischen Faktoren behafteten Unlustzust\u00e4nde geben solche Anregungen. So ist beim Zorn der Gedanke an aggressive Bet\u00e4tigungen nahegelegt, und wenn von einem Unlustzustand, wie dem Zorn, aus der Gedanke einer Bet\u00e4tigung aufgedr\u00e4ngt wird, so ist damit auch schon ein Impuls zu aggressivem Verhalten gegeben, ohne da\u00df ein eigentlicher Willensentschlu\u00df vorliegt. Solche Willensbet\u00e4tigungen stellen eine Entladung der in dem prim\u00e4ren Unlustzustand gegebenen psychophysischen Energien dar, wie ich das an Hand von pathologischen Tatbest\u00e4nden und bei experimenteller Untersuchung der Willens Vorg\u00e4nge gezeigt habe. Diese Bet\u00e4tigungen selbst verbinden sich mit ausgepr\u00e4gten Lustgef\u00fchlen.\nEine Verminderung der Intensit\u00e4t des prim\u00e4ren unlustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustandes wird sodann durch eine Abl\u00f6sung des Gef\u00fchlszustandes von der intellektuellen Unterlage, wenigstens im weiteren Verlauf, zustande gebracht. Diese L\u00f6sung tritt bei Unlustzust\u00e4nden von nicht \u00fcbergro\u00dfer Intensit\u00e4t durch Eindr\u00fccke von Objekten der Au\u00dfenwelt ein und durch andere als die soeben geschilderten Willensbet\u00e4tigungen, Bet\u00e4tigungen, welche selbst mit dem Gef\u00fchlszustande nicht in kausaler Beziehung stehen. Damit wird die intellektuelle Unterlage des prim\u00e4ren Gef\u00fchlszustandes aus dem Bewu\u00dftsein gedr\u00e4ngt, der Gef\u00fchlszustand selbst \u00fcberdauert die intellektuelle Unterlage und nimmt Stimmungscharakter an. Hun wird zwar bei einem neuerlichen Auftreten des Hauptgedankens durch diese Unluststimmung der prim\u00e4re Affekt von noch st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t sein. A b e r f\u00fcr die Zeit des Verdr\u00e4ngtseins des Hauptgedankens ist durch Auffassung von Wahrnehmun g s Objekten und durch Bet\u00e4tigung eine derivative Hemmung f\u00fcr den Gef\u00fchlszustand gegeben, der \u00fcberdies durch Verteilung der emotionellen Energien auf die Gesamtheit der im Bewu\u00dftsein vorhandenen","page":1498},{"file":"p1499.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1499\nintellektuellen Tatbest\u00e4nde ertr\u00e4glicher zn werden scheint.\nBei h\u00e4nfiger Wiederholnng der Entwicklung des Hauptgedankens und der mit ihm zusammenh\u00e4ngenden Nebengedanken werden diese Gedanken immer weniger ausgedacht, so da\u00df dadurch ihre Ge f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 nd e stark an Intensit\u00e4t verlieren. So ist es z. B. bei dem Gedanken an einen zuerst tief ergreifenden Todesfall.\nVermindernd auf den prim\u00e4ren unlustartigen Gef\u00fchlszustand wirkt hier zuletzt ein Faktor, der von Wundt, wenn auch nicht genau bezeichnet, so doch angedeutet ist. Wundt sagt, da\u00df Schmerz, Wut und Zorn ,,ihr Gleichgewicht in der energischen Selbsterhaltung des Bewu\u00dftseins\u201d gegen die Macht der Eindr\u00fccke findet. Wundt meint hier wohl folgendes: Bei l\u00e4ngere Zeit hindurch sich geltend machenden Unlustaffekten, die von unserem Gedankengang abh\u00e4ngen und die sich auf einen Tatbestand beziehen, der eben g e g e b e n, von uns nicht ungeschehen zu machen ist, sagt das Individuum sich h\u00e4ufig: \u201eEg hat doch keinen Zweck, sich so kolossal aufzuregen, ich \u00e4ndere dadurch nichts, ich schade mir nur selbst\u201d. Hier macht sich also eine Opposition der Pers\u00f6nlichkeit gegen das eigene Verhalten geltend, ein Wille, der im Gegensatz zu den einfachen Willens Vorg\u00e4ngen ohne Ichbewu\u00dftsein ein Ich wille im eigentlichen Sinne des Wortes ist. Es handelt sich hier um den Gedanken, da\u00df die Interessen der eigenen Pers\u00f6nlichkeit auf dem Spiel sind. Dieser verbindet sich mit einem starken Gef\u00fchlszustand. Dieser selbst setzt schon eine derivative Hemmung f\u00fcr die Fortdauer des Unlustzustandes, und sodann kann die in diesem Ich willen repr\u00e4sentierte psychophysische Energie zu passenden Ma\u00dfnahmen gegen die Fortdauer des Unlustaffektesverwendetwerden.\nEine eigenartige Auffassung \u00fcber die Wirkung, B\u00fcckwirkung von Reproduktionen von gef\u00fchlsstarken Gedanken, die durch einen Unlustaffekt ausgel\u00f6st sind, auf diesen selbst, ist von M. Maier entwickelt.\n\u201eGanz besonders wird man nun aber zweifeln, ob bei Unlustaffekten die affektive Vorstellungst\u00e4tigkeit eine Herabminderung der Unlustgef\u00fchle zu bewirken verm\u00f6ge. Der Traurige, Niedergeschlagene, Sorgenvolle \u201ew\u00fchlt\u201d ja, wie wir sagten, indem er sich den affektiven Bildern hingibt, in seinem Schmerz, seinem Kummer, seiner Sorge. Das scheintauch nur der Tatsache zu entsprechen, da\u00df die affektiven Vorstellungen in allen diesen F\u00e4llen einen unlust-","page":1499},{"file":"p1500.txt","language":"de","ocr_de":"1500\nG-. St\u00f6rring\nbetonten Inhalt haben. Und gerade der schmerzlich ,,ber\u00fchrende\u201d^ tranrig stimmende Inhalt der Vorstellungen scheint die Unlust zu steigern. Allein auch in diesen F\u00e4llen ist, soweit wirklich eine Verst\u00e4rkung der Affektgef\u00fchle eintritt, nicht die affektive Vorstellungst\u00e4tigkeit die Ursache. Der wirkliche Grund liegt wieder teils darin, da\u00df die Affektgef\u00fchle es zu keiner wirksamen Entladung bringen k\u00f6nnen, da\u00df die in den Unlustgef\u00fchlen erlebten Zust\u00e4nde und die durch die herbeigef\u00fchrten Hemmungen des psychophysischen Lebens nicht weichen wollen \u2014 die affektiven Vorstellungen selbst sind dann wieder Symptome, nicht Ursache der fortdauernden und deshalb in ihrer Wirkung sich steigernden Hemmung; der Schein aber, als wirkten die Vorstellungen affektsteigernd, r\u00fchrt einerseits eben daher, da\u00df sie Symptome f\u00fcr das Beharren und Anwachsen der Hemmungen sind, andrerseits auch daher, da\u00df sie sich als ungen\u00fcgende Formen der Gef\u00fchlsentladung erweisen. Teils aber hat die Affektsteigerung, die sich an die affektiven Vorstellungen zu kn\u00fcpfen scheint, ihre Ursache darin, da\u00df die Phantasiet\u00e4tigkeit selbst in ihrem Verlauf sieh nicht ungehemmt entfalten kann. Das sind Situationen, die den Zust\u00e4nden, in denen die Aufmerksamkeit ganz auf die den Gef\u00fchlen zur Seite gehenden Vorstellungselemente fixiert ist, mehr oder weniger nahe kommen. So kommt es vor, da\u00df aus melancholischen Stimmungen wohl vereinzelte Affekt-Vorstellungen sich entwickeln. Aber die Hemmung ist derart, da\u00df auch dieser Verlauf nicht so vonstatten geht, da\u00df die der affektiven Vorstellungst\u00e4tigkeit entsprechende Entladung eintreten k\u00f6nnte. Am st\u00e4rksten macht sich das bei den Zwangsvorstellungen geltend. Dieselben sind, wie wir wissen, Affektvorstellungen, die aus Affektgef\u00fchlen hervorgegangen sind. Sie sind nun in allen F\u00e4llen etwas Peinliches, und sie scheinen auch \u00fcberall die vorhandenen Affekte zu steigern. So unlustvoll aber auch ihr Inhalt sein mag, so sind es doch, genau besehen, nirgends die Vorstellungsbilder, die als peinlich gef\u00fchlt werden, sondern das ist, wie oben schon bemerkt wurde, die Unm\u00f6glichkeit, von ihnen loszukommen. Die Vorstellungen sind durch die Affekte v\u00f6llig fixiert. Und die Hemmung ist so stark, da\u00df sie sich auch nicht in einem Flu\u00df affektiver Phantasieprozesse entladen kann1).\u201d\nIch gebe zu, da\u00df die sekund\u00e4ren Vorstellungsaffekte Symptome der mit den prim\u00e4ren Affekten gegebenen Situation sind, aber sie sind nicht nur Symptome, sondern wirken auch auf die prim\u00e4ren Affekte steigernd zur\u00fcck. Man mu\u00df dabei beachten, da\u00df diese sekund\u00e4ren Vorstellungsaffekte hier im allgemeinen Realit\u00e4ts-gef\u00fchle und keine Phantasiegef\u00fchle sind, die Realit\u00e4tsgedanken bilden aber mit der intellektuellen Unterlage des Prim\u00e4raffektes eine Einheit, so da\u00df die Gef\u00fchlszust\u00e4nde sich verst\u00e4rken m\u00fcssen.\n1) Heinr. Maier: Das emotionelle Denken. S. 429 nnd 430.","page":1500},{"file":"p1501.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1501\nPhantasiegef\u00fchle bilden bei st\u00e4rkeren Unlnstaffekten eine verschwindende Rolle. Wenn sodann die emotionellen Tatbest\u00e4nde bei Zwangsvorstellungen als Parallele hier herangezogen werden nnd gesagt wird, da\u00df es nirgends die Vorstellungsbilder seien, die als peinlich gef\u00fchlt werden, sondern die Unm\u00f6glichkeit, von ihnen loszu-k o m m e n, so mu\u00df ich sagen, da\u00df ich manche Kranke mit Zwangsvorstellungen gesehen habe, bei denen sehr wohl die Vorstellungsbilder als peinlich gef\u00fchlt werden1).\nDie Unm\u00f6glichkeit von den Zwangsgedanken loszukommen, ist allerdings meist mit noch st\u00e4rkeren Unlustgef\u00fchlen verbunden. Aber was die beim Traurigen, Sorgenvollen vorliegenden prim\u00e4ren und sekund\u00e4ren Gef\u00fchlszust\u00e4nde betrifft, die mit denen des Kranken mit Zwangsvorstellungen in Parallele gesetzt werden k\u00f6nnen, so klagt der Sorgenvolle doch im allgemeinen nicht so sehr dar\u00fcber, da\u00df er von seinen Sorgen nicht loskommen kann, als dar\u00fcber, da\u00df er diese bestimmten Sorgen hat ! \u2014\nEine Reihe von interessanten F\u00e4llen des Abreagierens gibt Bleuler in einem Aufsatz ,,\u00dcber psychische Gelegenheitsapparate und Abreagieren\u201d auch aus dem normalen Seelenleben. So den Fall einer hochstehenden und leistungsf\u00e4higen Frau, welche \u00fcber den Tod eines ihrer Kinder monatelang so trauert, da\u00df sie ihren Pflichten als Gattin und Mutter nicht mehr nachkommt. Aller Trost ist wirkungslos. Eines Tages macht der Mann ihr energische Vorstellungen dahin, da\u00df es doch unrecht sei, in der Klage \u00fcber ein totes Kind die lebenden zu vernachl\u00e4ssigen. Das schl\u00e4gt ein, sie rafft sich auf und wird wieder wie fr\u00fcher.\nDas Wirksame ist hier der Anschlu\u00df gef\u00fchlsstarker Gegenvorstellungen an den Gedanken des Verlustes. Gef\u00fchlsstarke Gegenvorstellungen geben hier den Anla\u00df zu einer Willensentschlie\u00dfung, welche eine Selbstbehauptung ihrer Pers\u00f6nlichkeit darstellt.\nEin anderer Fall Bleulers ist folgenderma\u00dfen gestaltet : Bleuler sagt: ,,Etwas schwieriger ist folgendes Beispiel: Ein von Jugend auf abstinenter, t\u00fcchtiger junger Kaufmann hat ein verfahrenes Gesch\u00e4ft wieder in den richtigen Gang zu bringen, erntet aber nur Undank und Ablehnung bei der Umgebung, die ihn isoliert. Er kann sich aus R\u00fccksicht auf die Auftraggeber nicht entschlie\u00dfen zu k\u00fcndigen, kun macht er Ferien, die er im Tessin verbringt. Auf der Heimreise kn\u00fcpft er mit einem M\u00e4dchen an, das ihm sagt, da\u00df es verlobt sei. In Bellinzona \u00fcberspringen die beiden einen Zug, sehen sich die Schl\u00f6sser an, trinken in einem Grotto eine Flasche Kostrano und fahren vergn\u00fcgt heim, wo der J\u00fcngling sofort dem\n1) St\u00f6rring : Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. S. 300.","page":1501},{"file":"p1502.txt","language":"de","ocr_de":"1502\nG. St\u00f6rring\nGesch\u00e4ft k\u00fcndigt und so munter ist, da\u00df die Familie meint, er sei beduselt. Er nimmt eine andere Stelle an und lebt wieder abstinent und in allen Beziehungen wie fr\u00fcher.\u201d\nHier handelt es sich auch um die Wirkung gef\u00fchlsstarker Erlebnisse, welche der bisherigen Stimmungslage entgegengesetzt gerichtet sind.\nDie bisherige Stimmungslage ist eine depressive, mit Einstellung zu starken Hemmungen mannigfacher Art. Gef\u00fchlsstarke Erlebnisse entgegengesetzter Gef\u00fchlsqualit\u00e4t erzeugen eine stark gehobene exaltierte Stimmungslage. Ein Blick auf das bisherige Verhalten l\u00e4\u00dft die Tendenz entstehen, sich auch von Hemmungen, die mit jener \u00f6den Stimmungslage verwandt sind, zu befreien. Bei Nachlassen der Exaltation wird dann ein Teil der fallengelassenen Hemmungen wieder akzeptiert (anti-alkoholistisches Verhalten); im \u00fcbrigen behauptet sich die ver\u00e4nderte, gehobene Stimmungslage und damit die ver\u00e4nderte Art der Beurteilung seiner wirtschaftlichen Situation.\n7. Kapitel.\nSympathiegef\u00fchle.\n1. Auf dem Gebiet der Sympathiegef\u00fchle hat David Hume eine klassische Leistung zu verzeichnen. Wir gehen deshalb von der Darstellung seiner Auffassung aus und vollziehen dann eine Weiterbildung.\nIch w\u00e4hle eine signifikante Stelle aus den Hume sehen Entwicklungen. Er sagt: ,,Die menschlichen Seelen sind alle in ihren Gef\u00fchlen einander gleich und es kann kein Mensch von irgendeiner Gem\u00fctsbewegung affiziert werden, f\u00fcr welche nicht alle die \u00fcbrigen in gewissem Grade auch empf\u00e4nglich sein sollten. Wie bei Saiten, die gleich gespannt sind, die Bewegung der einen den \u00fcbrigen sich mitteilt, so gehen alle Gem\u00fctsbewegungen sehr leicht von der einen Person auf die anderen \u00fcber und erzeugen in jedem Menschen \u00fcbereinstimmende Gem\u00fctsbewegungen. Wenn ich die Wirkungen der Gem\u00fctserregung in der Stimme und dem \u00e4u\u00dferen Ansehen einer Person wahrnehme, so geht das Bewu\u00dftsein unmittelbar von diesen Wirkungen zu ihren Ursachen \u00fcber und bildet eine lebhafte Vorstellung von der Gem\u00fctserregung, die sogleich in die Gem\u00fcts erregung selbst verwandelt wird. Ebenso, wenn ich die Ursachen einer Gem\u00fctserregung wahrnehme, so wird meine Seele zu den Wirkungen gef\u00fchrt und wird leicht auf eine gleiche Art bewegt.\u201d ,,W\u00e4re ich\u201d, sagt Hume, ,,bei einer chirurgischen Operation gegenw\u00e4rtig, so w\u00fcrde gewi\u00df, ehe sie anging, schon die Vorbereitung der Instrumente, das Zurechtlegen der Bandagen, das Hei\u00dfmachen der Eisen, nebst allen","page":1502},{"file":"p1503.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\t1503\nZeichen der Angst nnd Bek\u00fcmmernis des Patienten eine gro\u00dfe Wirkung auf meine Seele haben nnd die st\u00e4rksten Gef\u00fchle des Mitleidens erwecken. Keine Gem\u00fctserregnng eines anderen entdeckt sich der Seele unmittelbar. Wir k\u00f6nnen nur ihre U r-Sachen oder ihre Wirkungen wahrnehmen. Von diesen ans schlie\u00dfen wir auf die Gem\u00fctserregung1).\nWill man diese Entwicklungen von Hume recht w\u00fcrdigen, so mu\u00df man sie mit den Auffassungen von Schopenhauer \u00fcber das Mitleiden vergleichen. Derselbe nimmt an, da\u00df das Mitleiden mit einem Menschen darauf beruht, da\u00df wir die dunkle Erkenntnis entwickeln: ,,tat twam asi\u201d, \u201edieses bist du\u201d, da\u00df wir also erkennen, da\u00df wir im Grunde mit dem leidenden Mitmenschen eins sind, da\u00df wir alle Glieder eines und desselben unvern\u00fcnftigen Willens zum Leben sind!\nHier bei Hume haben wir psychogenetische Entwicklungen vor uns, die sich an Tatsachen halten. Hume sagt also : Die Gem\u00fctserregung eines anderen Menschen l\u00e4\u00dft sich nicht unmittelbar wahrnehmen. Wahrnehmen k\u00f6nnen wir nur ihre Ursachen und ihre Wirkungen und nur von da aus Vorstellungen \u00fcber die Gem\u00fctserregung selbst entwickeln. In beiden F\u00e4llen werden wir gef\u00fchrt zur Vorstellung von der Gem\u00fctserregung selbst. Dabei wird unterschieden die Vorstellung von der Gem\u00fctserregung von der Gem\u00fctserregung selbst. Darauf kommen wir sp\u00e4ter noch zu sprechen. Und sodann sucht Hume, was in dieser Stelle nicht hervortritt, noch Bechenschaft davon zu geben, wie die Ver-objektivierung des reproduzierten Leidens in die fremde Person stattfindet.\nDer Kern der Betrachtungsweise von Hume ist also der, da\u00df er Mitleiden und Mitfreude als Eeproduktionen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden auffa\u00dft ! Damit ist gegeben, da\u00df die Entwicklung von Sympathiegef\u00fchlen in uns zur Voraussetzung hat, da\u00df wir selbst Leiden und Freuden unter \u00e4hnlichen Umst\u00e4nden erlebt haben, wie sie bei einer zum Gegenstand unserer Betrachtung gemachten Person auftret e n.\n2. Kritisch haben wir zu diesen Entwicklungen von Hume zun\u00e4chst zu sagen, da\u00df nach der neueren Psychologie an die Stelle der V or Stellung der Gem\u00fctserregung, zu welcher reproduktiv der \u00dcbergang stattfindet, sowohl von der Wahrnehmung der Ursachen als auch von der Wahrnehmung der Wirkungen der Gem\u00fctserregung aus, eine reproduzierte Gem\u00fctserregung gesetzt werden mu\u00df. (Hume nimmt f\u00e4lschlicherweise an, da\u00df\nb Hume : Abhandlung \u00fcber die menschliche Natur. 2. 233 ff. \u00dcbersetzt von Jacob.","page":1503},{"file":"p1504.txt","language":"de","ocr_de":"1504\nG. St\u00f6rring\nzun\u00e4chst eine Vorstellung der Gem\u00fctserregung entsteht und diese durch Wirkung bestimmter Faktoren in eine Gem\u00fctserregung selbst verwandelt wird.)\nBei unserer Auffassung der Beziehung der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der Affekte zu den Affekten selbst w\u00fcrden wir anstatt von Wirkungen der Gem\u00fctserregung von k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen derselben sprechen und, was er \u201eUrsachen der Gem\u00fctserregung\u201d nennt, sind f\u00fcr uns au\u00dferleibliche Ursachen der Gem\u00fctserregung. Wichtiger ist folgender Tatbestand.\nManche k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden, auch von Affekten, werden von dem Erlebenden nicht wahrgenommen, so z. B. das Erblassen bei Angst. Wenn aber das Erblassen der Angst von dem Erlebenden nicht wahrgenommen wird, dann tritt es auch nicht in assoziative Beziehung zu dem Angstzustande; infolgedessen kann von der Wahrnehmung des Erblassens bei anderen, so scheint es, eine Beproduktion der fr\u00fcheren Angstzust\u00e4nde nicht stattfinden !\nManche k\u00f6rperliche Ver\u00e4nderungen und Gem\u00fctserregungen werden ohne Zweifel von dem Erlebenden auch wahrgenommen, so z. B. die \u00c4nderung in der Stimme bei Angst und die \u00c4nderung in der Haltung des K\u00f6rpers, n\u00e4mlich das Zittern der Glieder usw. Hier wird dann eine Assoziation mit der Gem\u00fctserregung geschaffen, so da\u00df dann sp\u00e4ter, wenn diese k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen bei anderen wahrgenommen werden, die gedachte Bepro-duktion eines Gef\u00fchlszustandes sich ergibt.\nDie hier entwickelte Auffassung, da\u00df wir es bei Mitleiden und Mitfreude mit Gef\u00fchlsreproduktionen zu tun haben, stimmt mit den durch pathopsychologische Methoden bei Behandlung der Moral insanity vonuns gemachten Folgerungen \u00fcberein. Sie gingen dahin, da\u00df bei Moral insanity die F\u00e4higkeit zu Gef\u00fchlsreproduktionen abnorm stark herabgesetzt oder aufgehoben ist. Hier sahen wir deutlich, da\u00df die F\u00e4higkeit zu Gef\u00fchlsreproduktionen conditio sine qua non der Entwicklung von Sympathiegef\u00fchlen ist. Sp\u00e4ter werden sich noch die Sympathiegef\u00fchle als Bedingungen sittlicher Wertsch\u00e4tzungen charakterisieren lassen.\nBez\u00fcglich des Erblassens bei der Angst und bez\u00fcglich \u00e4hnlich gelagerter Begleiterscheinungen einer Gem\u00fctserregung mu\u00df man nun folgendes beachten. Die Wahrnehmung des Erblassens bei anderen tritt in assoziative Beziehung zur Wahrnehmung der \u00c4nderung der Stimme und zu der Wahrnehmung der Tendenz zum Zittern. Deshalb kann sp\u00e4ter bei Wahrnehmung des Erblassens bei anderen die Beproduktion eines Angstzustandes durch das Mittelglied der Beproduktion der wahrgenommenen \u00c4nderung","page":1504},{"file":"p1505.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1505\nder Stimme oder der Reproduktion der wahrgenommenen Tendenz zum Zittern der Muskulatur eintreten.\nWir sahen schon, wenn wir es mit Mitleiden und Mitfreude zu tun haben sollen, so mu\u00df zu einer Gef\u00fchlsreproduktion noch eine Y erob j ektiyierung des entsprechenden Gef\u00fchls-zustandes in die betreffende Pers\u00f6nlichkeit hinzukommen. Rousseau sagt nicht ganz mit Unrecht : \u201eRieht in uns, sondern in dem Leidenden leiden wir.\u201d Anstatt von Verobjektivierung hat man hier fr\u00fcher von Projektion gesprochen. Die Sache steht aber nicht so, da\u00df beim Mitleiden ein reproduziertes Unlustgef\u00fchl zun\u00e4chst auf uns selbst bezogen und dann in den Leidenden hineinprojiziert wird, so da\u00df es nun auf diesen bezogen wird. Das reproduzierte Unlustgef\u00fchl kann uns gegeben sein, ohne da\u00df es auf uns bezogen wird: wenn wir uns der Betrachtung des leidenden Individuums hingeben, psychisch ganz durch die Betrachtung der Situation desselben besch\u00e4ftigt sind, dann tritt in dem betreffenden Moment kein Ichbewu\u00dftsein auf \u2014 ebensowenig, wie wenn wir uns ein mikroskopisches Pr\u00e4parat ansehen und dieser Betrachtung ganz hingegeben sind \u2014 dann kann das reproduzierte Unlustgef\u00fchl also nicht auf mich bezogen werden, dann wird es auf das Objekt bezogen, mit dem es innig im Bewu\u00dftsein zusammenh\u00e4ngt, man kann auch sagen : der reproduzierte Gef\u00fchlszustand schlie\u00dft sich dann an das uns ganz okkupierende Objekt an, er wird in das Objekt hineingedaeht. Da kann man nat\u00fcrlich nicht von Projektion sprechen, weil der entsprechende reproduzierte Gef\u00fchlszustand nicht aus uns heraus verlegt wird, er war ja gar nicht als in uns seiend aufgefa\u00dft. Wir sprechen deshalb hier von einem Verobjektivierungsproze\u00df.\nAnzumerken ist hier noch, da\u00df in F\u00e4llen, wo uns das betreffende Objekt in schw\u00e4cherer Weise besch\u00e4ftigt, der reproduzierte Gef\u00fchlszustand auf uns selbst bezogen wird und dann ein ihm \u00e4hnlicher Gef\u00fchlszustand als in dem Objekt au\u00dfer Betrachtung sich abspielend gedacht wird !\n3. Manche Autoren haben die Sympathiegef\u00fchle als angeboren angesprochen und deshalb von einem Sympathieinstinkt geredet. Wir haben eine Widerlegung dieser Auffassung in den vorangehenden Entwicklungen gegeben, indem wir die Sympathiegef\u00fchle von anderen psychischen Ph\u00e4nomenen ableiteten.\nMan hat das L\u00e4cheln des dreimonatigen S\u00e4ug-lings f\u00fcr die Behauptung des Angeborenseins der Sympathiegef\u00fchle ins Feld gef\u00fchrt. Aber aus dem L\u00e4cheln l\u00e4\u00dft sich nicht das Yorhandensein von entsprechenden Gef\u00fchlszust\u00e4nden erschlie\u00dfen.\nDas L\u00e4cheln des S\u00e4uglings l\u00e4\u00dft sich dadurch verst\u00e4ndlich machen, da\u00df der Anblick der Mutter in ihm die Vorstellung der","page":1505},{"file":"p1506.txt","language":"de","ocr_de":"1506\nG-. St\u00f6rring\nNahrungsaufnahme erweckt, welche sich mit Lustgef\u00fchlen verbindet. Alfred Lehmann macht sodann gegen jene Auffassung mit Becht noch folgendes geltend: \u201eDer S\u00e4ugling zeigt gewi\u00df nie die Spur von Unlust, wenn die Mutter ein solches Aussehen darbietet, und eben der Mutter gegen\u00fcber w\u00e4re die Sympathie doch am ehesten zu erwarten. Dagegen kann das strenge Gesicht eines Fremden sehr wohl das Schlie\u00dfen der Augen, das Wegwenden des Kopfes und das Schreien veranlassen, was aber einfach die charakteristischen \u00c4u\u00dferungen des Furchtinstinktes sind. Von Nachahmung kann man jedenfalls nicht sprechen, da die Geb\u00e4rden und Mienen des Kindes derjenigen der anderen Person gar nicht \u00e4hnlich sind\u201d 1).\nWenn man trotz der M\u00f6glichkeit solcher Deutung noch sympathische Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei dreimonatigen Kindern annimmt, so macht man sich eines methodologischen Versto\u00dfes schuldig !\n4. Merkw\u00fcrdig ist, da\u00df Lehmann f\u00fcr die Entwicklung ausgepr\u00e4gter Sympathiegef\u00fchle au\u00dferdem noch eine Beteiligung des Ichs, eine \u201eErweiterung des Ichs\u201d in Anspruch nimmt. Er sagt: \u201eNehme ich an einer mir ganz fremden Person z. B. den Ausdruck des Kummers wahr, so habe ich, mit dem Gesichtsbilde verbunden, eine gewisse Unlust, die ich aber v\u00f6llig dem Fremden zuschreibe, da ich im Augenblick mir keiner Ursache des Kummers bewu\u00dft bin. Ich sehe also eigentlich nur den Affekt, der mich \u00e4u\u00dferst wenig angeht, d. h., die Ichvorstellungen und ihre Ver\u00e4nderungen werden mir kaum bewu\u00dft, so da\u00df das sympathische Gef\u00fchl zun\u00e4chst nur ,vorgestellt \u2019 wird. Ganz anders liegt die Sache, wenn die betreffende Person mir nahe steht, d. h. wegen zahlreicher vorhergehender Beziehungen mit meinem Ich fest assoziiert ist, mithin einen mehr oder weniger zentralen Teil desselben bildet.\nDie Wahrnehmung dieser Person reproduziert sofort unsere gegenseitigen Beziehungen, wodurch auch mein k\u00f6rperliches Ich hervorgerufen wird; da aber die beobachteten Affekt\u00e4u\u00dferungen bei mir analoge k\u00f6rperliche Zust\u00e4nde herbeif\u00fchren, wird mein Ich eine merkliche Ver\u00e4nderung erleiden. Das sympathisch erregte Gef\u00fchl erh\u00e4lt mithin den Charakter der Gem\u00fctserregung, was noch st\u00e4rker hervortritt, wenn uns die Ursache des Kummers mitgeteilt wird2).\u201d \u201eEs geht hieraus hervor, da\u00df durch die Suggestion das Verst\u00e4ndnis der Emotion, durch die Erweiterung des Ichs der emotionelle Charakter bestimmt ist. Das Zusammenwirken dieser beiden Momente w\u00fcrde sich wohl am besten als Einf\u00fchlung bezeichnen lassen, wenn das Wort f\u00fcr eine \u00e4sthetische Theorie nicht schon in Anspruch genommen w\u00e4re. Wir vermeiden daher lieber das\nx) A. Lehmann: 1. c. S. 354.\n2) Lehmann: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Aufl. S. 358 und 359.","page":1506},{"file":"p1507.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1507\nWort und stellen nur fest:\u201c \u201eDie Innigkeit der sympathischen Emotionen ist von der Beziehung der wahrgenommenen Person zum beobachtenden Ich abh\u00e4ngig. Das durch Suggestion oder auf andere Weise entstandene sympathische Verst\u00e4ndnis erh\u00e4lt um so mehr den Charakter der Gem\u00fctsbewegung, je n\u00e4her die betreffende Person dem Zentrum des Ich steh t.\u201d\nDie Auffassung Lehmanns \u00fcber die Sympathiegef\u00fchle ist offenbar verwandt mit derjenigen Spinozas, welcher als Bedingung f\u00fcr die Entwicklung von Sympathiegef\u00fchlen Liebe zu der betrachteten Person ansieht.\nIch kann nicht zugeben, da\u00df bei der Wahrnehmung des Ausdruckes eines Affektzustandes bei einer ganz fremden Person sich nur ein \u201evorgestelltes55 Gef\u00fchl entwickelt, da\u00df nur, wenn eine leidende Person mir nahe steht, die Betrachtung derselben und ihrer Situation in mir ausgepr\u00e4gte Sympathiegef\u00fchle entwickeln k\u00f6nnen. Ich mu\u00df vielmehr behaupten, da\u00df auch bei Wahrnehmung des Ausdruckes eines Affektzustandes bei einer ganz fremden Person oder bei Wahrnehmung der Situation, in der sich bei einer fremden Person ein Affektzustand, etwa ein Zustand starken Leidens, entwickelt, Sympathiegef\u00fchle zur Entwicklung kommen k\u00f6nnen, die nicht blo\u00df vorgestellt sind., sondern sogar Sympathiegef\u00fchle mit Affektcharakter !\nEs ist nicht zu bezweifeln, da\u00df die Sympathiegef\u00fchle eine st\u00e4rkere Intensit\u00e4t haben, wenn es sich um eine Person handelt, die mir nahe steht, als bei einer mir ganz fremden Person, aber es l\u00e4\u00dft sich doch nicht leugnen, da\u00df ich z. B. als Zuschauer eines Ungl\u00fccksfalles, der einen ganz fremden Menschen trifft, in ausgepr\u00e4gten Sympathie a f f e k t geraten kann.\nAllerdings ist der von Lehmann bei Wahrnehmung des Ausdruckes eines Affektzustandes angenommene Mechanismus des psychischen Geschehens in dem Betrachter, wie wir fr\u00fcher sahen, ein solcher, der keine ausgepr\u00e4gten Sympathiegef\u00fchle, wirkliche wiedererlebte Gef\u00fchlszust\u00e4nde mit sich f\u00fchrt. Er vers\u00e4umt es, die Reproduktion der Vorstellung der Ursachen des Affektzustandes, auch wo die Wahrnehmung des Ausdruckes eines Affektzustandes eines anderen gegeben ist, f\u00fcr die Entwicklung der Sympathiegef\u00fchle heranzuziehen.\n5. Eine eigenartige Auffassung der Sympathie hat neuerdings Scheler entwickelt.\nEr polemisiert dagegen, da\u00df ich f\u00fcr die Sympathiegef\u00fchle einen Proze\u00df der Gef\u00fchlsreproduktion in Anspruch nehme. Wenn wir mit einem Menschen Mitleiden entwickeln, so sollen wir nach","page":1507},{"file":"p1508.txt","language":"de","ocr_de":"1508\nGr. St\u00f6rring\n\u00dfcheler die \u201efremden Gem\u00fctszust\u00e4nde in den Ausdrueksbewegungen origin\u00e4r erfassen\u201d 1). Nach \u00dfcheler wird beim Mitleiden in mystischer Weise der wunderbare Tatbestand realisiert, da\u00df wir bei Gem\u00fctsbewegungen anderer Menschen die fremden Gef\u00fchlszust\u00e4nde wahrnehmen, nicht blo\u00df die k\u00f6rperlichen Ver\u00e4nderungen in Miene, Sprache usw. !\nNach unseren obigen Entwicklungen ist der Eindruck, da\u00df wir dem leidenden Menschen sein Leiden a n s e h e n, durch Yerob j ektivierung einer Gef\u00fchlsreproduktion bedingt ; aber dieser Eindruck ist illusion\u00e4r! Und dieser illusion\u00e4re Eindruck tritt auch mir in einzelnen F\u00e4llen bei sehr intensiver Besch\u00e4ftigung mit der betrachteten Situation auf. Aber nach \u00dfcheler liegt hier keine Illusion vor, sondern es wird nicht blo\u00df das k\u00f6rperliche Verhalten des fremden Individuums, sondern auch sein emotionelles Verhalten unmittelbar wahrgenommen in seiner Miene, seiner Sprache usw. Diese Auflassung ist seiner Auffassung verwandt, da\u00df Farben, T\u00f6ne leibhaftig in der Au\u00dfenwelt existieren.\nDiese merkw\u00fcrdige Auffassung h\u00e4ngt offenbar mit dem Vertrauen zusammen, welches die Husserl-Sch\u00fcler in ihre ph\u00e4no-menalistische Schau setzen.\n\u00dfcheler macht nun gegen meine Auffassung, da\u00df wir es im Mitleiden und in der Mitfreude mit einer Gef\u00fchlsreproduktion zutun haben, zun\u00e4chst folgendes geltend: wenn man mit einem Menschen Mitleiden hat, so ist das doch etwas ganz anderes, als wenn man sich an \u00e4hnliches Leiden, das man selbst hatte, erinnert2). Selbstverst\u00e4ndlich, aber ich nehme doch beim Mitleiden keine E r-innerung an eigenes Erleben in Anspruch. Ich spreche doch immer nur von Eeproduktion von Gef\u00fchlszust\u00e4nden !\nWeiter wird von \u00dfcheler gegen meine Entwicklungen geltend gemacht, da\u00df auch die Eeproduktion von fr\u00fcheren Einzelf\u00e4llen das Mitf\u00fchlen beeintr\u00e4chtigen kann. Auch das gebe ich zu, aber ich werde davon nicht getroffen : ich spreche gar nicht von der Eeproduktion fr\u00fcheren Leidens mit gleichzeitiger Eeproduktion der konkreten intellektuellen Unterlagen des fr\u00fcheren Einzelfalles. Die gleichzeitige Eeproduktion der konkreten intellektuellen Unterlagen des Einzelfalles w\u00fcrden allerdings ablenkend wirken k\u00f6nnen. Hier kommt ja aber nicht ein einzelner Fall in Frage, sondern eine ganze Klasse von F\u00e4llen \u00e4hnlicher Art, bei denen f\u00fcr die Eeproduktion der konkreten intellektuellen Unterlagen xeproduktive Hemmung zur Mitwirkung kommt !\n\u00df Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. 2. Anfl. S. 51.\n2) Scheler: 1. c. S. 52.","page":1508},{"file":"p1509.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1509\nZuletzt hat Scheler gegen meine genetische Theorie noch eingewandt, da\u00df durch das Mitf\u00fchlen fremder Seelenzust\u00e4nde gro\u00dfer, etwa sittlich gro\u00dfer Pers\u00f6nlichkeiten unser Leben erweitert werde; das k\u00f6nne eine Eeproduktions theorie nicht verst\u00e4ndlich machen \u00ce Auch das gebe ich zu. Ich betone ja selbst die Bedeutung des Anschauens sittlicher Heroen. Aber da handelt es sich ja um etwas ganz anderes als um Sympathie : um den Proze\u00df des Sichhineinversetzens in eine Pers\u00f6nlichkeit, den wir fr\u00fcher schon als etwas ganz anderes kennengelernt haben als einfaches Mitf\u00fchlen1).\n6. Hiermit ist unsere Behandlung der Sympathiegef\u00fchle nicht entfernt als abgeschlossen zu betrachten. Wir werden bei Behandlung der Methode der Psychologie der ethischen Gef\u00fchle in dem Abschnitt \u00fcber spezielle Gef\u00fchle noch zweimal2) Veranlassung nehmen, diese Entwicklungen \u00fcber Sympathiegef\u00fchle weiterzuf\u00fchren. Hie eine der Fortsetzungen dieser Untersuchung wird sich vornehmlich nach der v \u00f6lkerpsychologischen Methode vollziehen.\n8. Kapitel.\nDie Bedeutung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr die Willensvorg\u00e4nge unter haupts\u00e4chlicher Verwertung der Selhstheobaehtungsmethode.\n1. Die Frage der Bedeutung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr das Zustandekommen der zustimmenden Entscheidung.\nEinige neuere Autoren treten der Auffassung entgegen, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde conditio sine qua non von Willensvorg\u00e4ngen seien. Am eingehendsten und geschicktesten geht hier Ernst Meumann vor.\nAls Meumann in seinem Buch ,,Intelligenz und Wille\u201d in der letzten von ihm selbst besorgten Auflage 1913 diese Entwicklungen machte, lagen noch keine Weiterbildungen der alten Beaktionsmethode vor. Bei der alten Beaktionsmethode wurde der Willens Vorgang selbst nicht experimentell erfa\u00dft : die Beaktionen vollzogen sich auf Grund eines Willensvorganges, der darin bestand, da\u00df die Versuchsperson mit dem Willen, auf gewisse Signale mit bestimmten Bewegungen zu reagieren, an die Versuche herantrat. Dieser Wille lag au\u00dferhalb der Versuche selbst. Erst in den letzten Jahren sind die Beaktionsversuche so modifiziert worden, da\u00df der Wille selbst experimentell erfa\u00dft wurde.\nx) Vgl. diese Schrift. S. 1384; St\u00f6rring: Psychologie. S. 465; Die Frage der geisteswissenschaftlichen nnd verstehenden Psychologie. S. 165 ff.\n2) Diese Schrift. S. 1609 ff. und 1629 ff.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n98","page":1509},{"file":"p1510.txt","language":"de","ocr_de":"1510\nG-. St\u00f6rring\nMethodologisch ist es sehr interessant zu sehen, wie von einem ganz hervorragenden Psychologen in der Situation von 1913 haupts\u00e4chlich mittels der Selbstbeobachtungsmethode die Frage behandelt wurde, welche Bedeutung Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr die Willensvorg\u00e4nge haben.\nMeumann polemisiert besonders gegen die ausgepr\u00e4gt emotionelle Willenstheorie von Lotze und Wundt. Er gibt ein charakteristisches Zitat aus dem zweiten Bande des Mikrokosmos1).\nMeumann beginnt seine Entwicklungen mit einer allgemeinen Betrachtung \u00fcber die Leistungsf\u00e4higkeit der Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Er sagt: ,,Es ist kein Zweifel, da\u00df Gef\u00fchle in der Handlung sehr h\u00e4ufig mitwirken; sie sind dann aber eben immer nur mit wirkende Momente und geh\u00f6ren zu den Ursachen, die unsere Zustimmung zu dem Ziel veranlassen oder welche die Entscheidung \u00fcber Beweggr\u00fcnde mit herbeif\u00fchren u. dgl. m. Yon den meisten Psychologen wird die Bedeutung der Gef\u00fchle f\u00fcr die Handlung \u00fcberhaupt \u00fcbersch\u00e4tzt. Ganz irrt\u00fcmlich ist die Ansicht, die lange Zeit in der Psychologie geherrscht hat, da\u00df sogar zum Zustandekommen einer Handlung Gef\u00fchle unerl\u00e4\u00dflich seien. Wir k\u00f6nnen uns absolut nicht denken, worin der Grund daf\u00fcr liegen soll. Woher soll denn \u00fcberhaupt ein Gef\u00fchl die F\u00e4higkeit haben, eine Handlung herbeizuf\u00fchren? Gef\u00fchle sind Lust oder Unlust. Lust und Unlust sind immer Erregungszust\u00e4nde, die unsere Vorstellungen begleiten, also z. B. auch die Ziel- und Zweckvorstellungen bei unseren Handlungen; aber da\u00df ihnen eine besondere Kraft zukomme, auf Grund deren man sagen kann, da\u00df sie es allein sind, welche die Handlungen herbeif\u00fchren, dar\u00fcber gibt uns jedenfalls das Wesen der Gef\u00fchle selbst gar keinen Anhaltspunkt. Sie k\u00f6nnen h\u00f6chstens durch die innere Erregung, die mit jedem Gef\u00fchl verbunden ist, die Wirksamkeit mancher Motive beg\u00fcnstigen oder sekund\u00e4r verst\u00e4rken\u201d 2).\nMeumann fragt: ,,'Woher soll dann \u00fcberhaupt ein Gef\u00fchl die F\u00e4higkeit haben, eine Handlung herbeizuf\u00fchren ? \u201d ,,Gef\u00fchle sind Lust und Unlust. Lust und Unlust sind innere Erregungszust\u00e4nde, die unsere Vorstellungen begleiten?\u201d Das w\u00e4re verst\u00e4ndlich, wenn es nur Gef\u00fchlst\u00f6ne der Lust und Unlust g\u00e4be. Sind aber Lust und Unlust, welche unsere gef\u00fchlsstarken Vorstellungen und Gedanken begleiten, Verschmelzungsprodukte aus Organempfindungen und Gef\u00fchlst\u00f6nen der Lust und Unlust \u2014 zu dieser Auf-\n1)\tMeumann1. c. S. 226.\n2)\tMeumann: 1. c. S. 224.,","page":1510},{"file":"p1511.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1511\nfassung glaubten wir doch durch die psychischen Tatsachen gedr\u00e4ngt zu sein \u2014 dann repr\u00e4sentieren eben die unsere Vorstellungen, Gedanken, Urteile und auch die Empfindungen begleitenden Gef\u00fchle der Lust und Unlust selbst\u00e4ndige psychophysischen Energien, denn in den physiologischen Korrelaten der betreffenden Organempfindungen sind jedenfalls ganz andere psychophysische Energien gegeben als in den physiologischen Korrelaten von Vorstellungen und von Gedanken, die in Urteile \u00ebingehen!\nUnd es l\u00e4\u00dft sich auch verst\u00e4ndlich machen, wie die Gef\u00fchlszust\u00e4nde der Lust und Unlust in den Willensvorg\u00e4ngen wirken, wir konnten zeigen, da\u00df die motorischen Effekte von Gef\u00fchlszust\u00e4nden dadurch verst\u00e4ndlich werden, da\u00df die in den Korrelaten der betreffenden Organempfindungen steckenden psychophysischen Energien sich entladen in gewisse motorische Gebiete der Hirnrinde, welche durch die physiologischen Korrelate des Gedankens einer bestimmten Bet\u00e4tigung gereizt sind1) !\nMeumann richtet also seine Polemik im speziellen gegen Lotze und Wundt. In der von ihm angezogenen Stelle von Lotzes Mikrokosmos wird nicht nur behauptet, da\u00df Gef\u00fchle conditio sine qua non von Willens Vorg\u00e4ngen sind, sondern zugleich, da\u00df in den Willensvorg\u00e4ngen Gef\u00fchle erstrebt werden. Lotze sagt, wir k\u00f6nnten nicht leugnen, ,,da\u00df das Trachten nach Eesthaltung und Wiedergewinn der Lust und Vermeidung des Wahns die einzigen Triebfedern aller praktischen Regsamkeit sind\u201d !\nIn diesem Punkte l\u00e4\u00dft sich die emotionelle Willenstheorie leicht verbessern. Denn es ist leicht festzustellen, da\u00df wir nicht nur in einem Willensakt nach Eesthaltung und Wiedergewinn von Lust streben k\u00f6nnen und nach Vermeidung von Unlust, sondern da\u00df unser Wille auch auf eine bestimmte Art von Bet\u00e4tigung, gerichtet sein kann, wobei dann der Gedanke dieser Bet\u00e4tigung sich mit Lust verbinden und diese Lust sich im Willensgeschehen wirksam erweisen kann, ohne da\u00df sie in die Zweckvorstellung des Willens aufgenommen ist2 3) !\nUnd eine \u00e4hnliche Feststellung l\u00e4\u00dft sich bez\u00fcglich der Unlust machen: Wir k\u00f6nnen durch Unlust zu einer Bet\u00e4tigung getrieben werden, ohne da\u00df wir die Absicht haben, die Unlust durch diese Bet\u00e4tigung zu beseitigen1).\nISTun aber zur Meumannschen n\u00e4heren Polemik. Meumann macht gegen Behauptungen der emotionellen Willenstheorie zun\u00e4chst geltend, da\u00df sich mehrere Arten von Willenshandlungen\n1)\tSt\u00f6rring : Psychologie. S. 219 ff.\n2)\tSt\u00f6rring: 1. c. S. 426 ff.\n3)\tSt\u00f6rringx Psychologie. S. 219.\n98*","page":1511},{"file":"p1512.txt","language":"de","ocr_de":"1512\nG. St\u00f6rring\nauf weisen lassen, in welchen jedenfalls die Gef\u00fchle keine Rolle spielen. Er sagt:\n\u201eDem kann man nun ohne weiteres die Erfahrung entgegenhalten, da\u00df es wenigstens drei Arten der Willenshandln n g gibt, bei denen die Gef\u00fchle keineswegs diese Rolle spielen, oder doch nicht zu spielen brauchen. Die einen bilden die uns schon bekannten Gewohnheitshandlungen, die durchaus ohne Beteiligung des Gef\u00fchles zu verlaufen pflegen. Nun k\u00f6nnte man ja sagen, da\u00df die Gewohnheitshandlungen durch \u00dcbung vereinfachte und zur\u00fcckgebildete Willenshandlungen seien, eben deshalb stellten sie nicht den Typus der eigentlichen Willenshandlungen dar.\nImmerhin w\u00e4re auch dann unser ganzes Leben mit zweckm\u00e4\u00dfigen Handlungen erf\u00fcllt, die \u2014auch in sehr verk\u00fcrzter Form \u2014 alle Merkmale der Willenshandlung tragen und doch nicht aus Gef\u00fchlen hervorgehen.\nEine zweite Art von Willenshandlungen, bei denen die Mitwirkung der Gef\u00fchle nichts zu bedeuten hat, sind die Handlungen, die wir auf Befehl oder unter irgendeinem Zwange verrichten. Eine uns befohlene Handlung k\u00f6nnen wir als v o 11-st\u00e4ndige Willenshandlung ausf\u00fchren, mit Zustimmung zu dem Ziele, ohne da\u00df sich unsere Gef\u00fchle dabei beteiligen. Ja, hier kann sogar der f\u00fcr das Verh\u00e4ltnis der Gef\u00fchle zum Wollen besonders lehrreiche Fall eintret en, da\u00df wir einer entschieden unlustbetonten Zielvorstellung unsere Zustimmung erteilen \u2014 ein Beweis daf\u00fcr, da\u00df die Zustimmung keineswegs erfordert, da\u00df das Ziel der Handlung uns lustvoll erscheint. Wenn ich mich verpflichtet f\u00fchle, einem Vorgesetzten in einem bestimmten Fall zu gehorchen, so kann der Inhalt seines Befehles mir sogar unter Umst\u00e4nden lebhafte Unlustgef\u00fchle erregen, trotzdem erteile ich ihm meine Zustimmung. Es kann auch keine Rede davon sein, da\u00df ein Lustgef\u00fchl in solchen F\u00e4llen die Handlung m\u00f6glich mache, das aus der Vorstellung des Pflicht Charakters der Handlung stammt. Ich finde bei mir in solchen F\u00e4llen h\u00e4ufig keine Spur von einem Lustgef\u00fchl.\nWir k\u00f6nnen eben auch gegen die gew\u00f6hnliche Tendenz unseres Willens handeln, die lustbetonte Ziele erstrebt, unlustbetonte vermeidet, d. h., wir k\u00f6nnen rein widerw\u00e4rtige Ziele wollen.\nDie dritte und bei weitem wichtigste Art des Wollens, die nicht durch das Gef\u00fchl bestimmt wird, ist die aus \u00dcberlegungen hervorgehende. Bei allen Handlungen, denen eine Reflexion \u00fcber Ziel und seinen Wert, seine Bedeutung, seine Zweckm\u00e4\u00dfigkeit oder Unzweckm\u00e4\u00dfigkeit die Zustimmung hervorbringt, ist die Einsicht in die Bedeutung des Zieles, das, was mich zum Wollen bestimmt. Die Einsicht darin, da\u00df ein bestimmtes Ziel \u00e4ugen-","page":1512},{"file":"p1513.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1513\nblicklich f\u00fcr mich das beste ist, kann dann ein Lustgef\u00fchl hervorbringen, aber es ist doch absolute Willk\u00fcr nun anzunehmen, da\u00df dieses neben der Einsicht hergehende Gef\u00fchl die wahre Ursache der Handlung sei und nicht jene \u00dcberlegung und die intellektuelle \u00dcberzeugung von demWertedesZieles. Das hei\u00dft das wirkliche Kausalverh\u00e4ltnis willk\u00fcrlich umkehren! Denn 1. diese Einsicht bringt mir den Wert des Zieles zum Bewu\u00dftsein, ganz gleichg\u00fcltig, ob dazu noch ein Gef\u00fchl kommt oder nicht, sie hat also eine selbst\u00e4ndige Bedeutung f\u00fcr die Zustimmung. 2. Die Einsicht geht dem Gef\u00fchl voraus, dieses ist erst die Wirkung jener und daher von ihr abh\u00e4ngig. 3. Die Einsicht in Wert und Bedeutung des Zieles bringt das Ziel in eine klare und bestimmte Beziehung zu meiner gesamten bisherigen Erfahrung, zu einem Wissen von der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit und Bedeutung des Zieles, zu meinen Grund-s\u00e4tzen und zu meinen allgemeinen Zielen, endlich zu dem Gesamtstreben meiner Pers\u00f6nlichkeit ; sie ist daher ein au\u00dferordentlich viel wichtigerer und f\u00fcr das Handeln bedeutsamerer Vorgang als der dunkle, unbestimmte Gef\u00fchlsreflex, der sie begleitet \u2014 mu\u00df sie nicht deshalb auch als die eigentliche Ursache der Zustimmung bezeichnet werden ?\u201d\nWas die Gewohnheitshandlungen betrifft, so mu\u00df der Vertreter einer emotionellen Willenstheorie Meumann darin Recht geben, da\u00df die Gewohnheitshandlungen, so wie sie sich unmittelbar darstellen, okne Gef\u00fchlszust\u00e4nde zustande kommen. Aber der Vertreter einer emotionellen Willenstheorie wird \u2014 was auch Meumann andeutet \u2014 behaupten, da\u00df die Gewohnheitshandlungen nicht ohne Mitwirkung von Gef\u00fchl s z u s t \u00e4 n d e n zustande gekommen sind!\nDer Vertreter einer emotionellen Willenstheorie wird nicht geneigt sein, die Gewohnheitshandlungen als eigentliche Willensvorg\u00e4nge gelten zu lassen oder er wird sagen, da\u00df diese Art des Handelns jedenfalls urspr\u00fcnglich auch durch Gef\u00fchle bedingt war!\nWas nun weiter diejenigen Handlungen betrifft, die wir ,,auf Befehl oder unter irgendeinem Zwang\u201d verrichten, so wird von Meumann besonders der Fall betont, da\u00df jemand einer entschieden unlustbetonten Zielvorstellung seine Zustimmung erteilt, etwa da, wo ein Befehl eines Vorgesetzten bei ihm lebhafte Unlust ausl\u00f6st und er der betreffenden Handlung doch seine Zustimmung erteilt.\nMeumann sagt, wo in \u00e4hnlichen F\u00e4llen bei ihm selbst eine Zustimmung zu einer gedachten Handlung auf Grund des Gedankens","page":1513},{"file":"p1514.txt","language":"de","ocr_de":"1514\nG. St\u00f6rring\nan den Pflichtcharakter der Handlung auftrete, k\u00f6nne er nicht immer Lustgef\u00fchle als wirksam hei sich konstatieren.\nMir scheint, wo eine Zustimmung zu einer nnlnstbetonten Zielvorstellung nicht durch sittliche, sondern auf Grund eud\u00e4mo-nistischer Zweckm\u00e4\u00dfigkeitsbetrachtung erfolgt, da werden sich an den Gedanken der Konsequenzen der Mchtbefolgung Unlustgef\u00fchle anschlie\u00dfen, und diese Unlustgef\u00fchle k\u00f6nnen dann den Gedanken an die Realisierung der betreffenden Handlung aufdr\u00e4ngen und dadurch die Realisierung herbeif\u00fchren.\nWo Pflichtgedanken bei Realisierung ,,unlustbetonter\u201d Zielvorstellungen zur Wirksamkeit kommen, wird ja im allgemeinen der Pflichtgedanke, wenn er wirksam ist, sich mit einem sittlichen Gef\u00fchlszustand verbinden. Aber die Bemerkung Meumanns in diesem Pall wird vom Standpunkt der emotionellen Willenstheorie aus verst\u00e4ndlich, wenn man folgendes ber\u00fccksichtigt : F\u00fcr den Vollzug von Handlungen, welche der sittlichen Pflicht entsprechen, sind um so st\u00e4rkere sittliche Gef\u00fchle n\u00f6tig, je st\u00e4rker die Widerst\u00e4nde sind. Bei einem sittlich wenig entwickelten Individuum sind deshalb, wenn es zur Realisierung einer bestimmten Handlung, die einer sittlichen Pflicht entspricht, kommen soll, relativ starke sittliche Gef\u00fchle n\u00f6tig. Je weiter die sittliche Entwicklung fortschreitet, desto st\u00e4rker werden die Beziehungen zwischen dem Gedanken einer bestimmten Pflicht und der Ausf\u00fchrung, so da\u00df bei einer h\u00f6heren sittlichen Entwicklung die Intensit\u00e4t der zur Realisierung gel\u00e4ufiger sittlicher Handlungsweisen erforderlichen Gef\u00fchle sich immer mehr auf ein Minimum reduziert1).\nAm st\u00e4rksten betont werden von Meumann begreiflicherweise die F\u00e4lle, wo man den Eindruck gewinnt, da\u00df die Willenshandlungen rein aus \u00dcberlegungen hervorgehen, aus Einsicht hervorgehen.\nWenn Meumann in seinen Entwicklungen \u00fcber die Bedeutung der Einsicht f\u00fcr das Willensgeschehen zu zweit sagt: ,,Die Einsicht geht dem Gef\u00fchl voraus; dieses ist erst die Wirkung jener und daher von ihr abh\u00e4ngig\u201d, so stimme ich ihm bei. Das streitet aber auch nicht gegen eine rationell gestaltete emotionelle Willenstheorie.\nWenn Meumann \u00fcber die Bedeutung der Einsicht f\u00fcr den Willensvorgang zu dritt sagt, da\u00df die Einsicht in Wert und Bedeutung des Zieles eine klare und bestimmte Beziehung des Zieles ,,zu meiner gesamten bisherigen Erfahrung, zu meinem Wissen von der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit und Bedeutung des Zieles, zu meinen Grunds\u00e4tzen und meinen allgemeinen Zielen, endlich zu dem\n1) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. AufL S. 105.","page":1514},{"file":"p1515.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1515\nOesamtstreben meiner Pers\u00f6nlichkeit\u201d gibt, so stimme ich darin Meumann ebenfalls vollst\u00e4ndig bei. Kur m\u00f6chte ich hinzuf\u00fcgen, da\u00df dieses Beziehungssetzen des Zieles zu meiner gesamten Pers\u00f6nlichkeit mit ihren Grunds\u00e4tzen sich da, wo nicht gel\u00e4ufige Willenshandlnngen vorliegen, wo ein \u201eKampf der Motive\u201d vorliegt, sich mit starken Gef\u00fchlszust\u00e4nden verbindet, welche einen bestimmenden Einflu\u00df auf die Entschlie\u00dfung und auf die Realisierung der betreffenden Handlung aus\u00fcben.\nDie Differenz der Auffassung Meumanns gegen\u00fcber einer emotionalen Willenstheorie kommt besonders in dem zuerst bez\u00fcglich der Bedeutung der Einsicht f\u00fcr das Willensgeschehen Behaupteten zur Geltung; Meumann sagt: \u201eDiese Einsicht bringt mir den Wert des Zieles zum Bewu\u00dftsein, ganz gleichg\u00fcltig, ob dazu noch ein Gef\u00fchl kommt oder nicht, sie hat also eine selbst\u00e4ndige Bedeutung f\u00fcr die Zustimmung.\u201d Ein Gef\u00fchl k\u00f6nne die Einsicht begleiten, aber es sei absolute Willk\u00fcr, anzunehmen, da\u00df dieses neben der Einsicht hergehende Gef\u00fchle die wahre Ursache der Handlung sei und nicht jene \u00dcberlegung und die intellektuelle \u00dcberzeugung von dem Werte des Zieles.\nIn diesem Protest Meumanns gegen die gew\u00f6hnliche Form der emotionellen Willenstheorie liegt ein berechtigter Kern. Die gew\u00f6hnliche Form der emotionellen Willenstheorie spricht nur von Ziel Vorstellung und dem sich damit verbindenden Gef\u00fchl und l\u00e4\u00dft nun das Gef\u00fchl das Wirksame sein. In dieser Auffassung, kommt das Intellektuelle nicht geh\u00f6rig zur Geltung! Die wirksamsten Einfl\u00fcsse auf das Willensgeschehen gehen nicht von der Ziel Vorstellung und dem sich daran anschlie\u00dfenden Gef\u00fchl,, sondern von der Gestaltung einer Einsicht in die Bedeutung und den Wert des Zieles mit den sich daran anschlie\u00dfenden, emotionellen Momenten aus. Ein Urteils proze\u00df, der sich auf Bedeutung und Wert des Zieles bezieht, hat eine ganz andere Wirksamkeit als eine blo\u00dfe Ziel Vorstellung!\nWoher das kommt, haben wir an anderer Stelle er\u00f6rtert.\nKun kann ich allerdings dieser Einsicht ohne den begleitenden Gef\u00fchlszustand nicht denselben Einflu\u00df auf den Willensablauf beimessen wie der Einsicht allein. Kehmen wir die Einsicht in den Wert des Zieles, so besteht also Einsicht offenbar nur in einem urteilenden Wissen von dem Wert. Das ist aber etwas ganz anderes als eine aktuelle, au f Grund von Gef\u00fchlszust\u00e4nden vollzogene Wertsch\u00e4tzung! Das Wissen von Gef\u00fchlen repr\u00e4sentiert eine weit schw\u00e4chere psychophysische Energie als das Erleben von Gef\u00fchlszust\u00e4nden und deshalb ist auch das Erleben von Gef\u00fchlszust\u00e4nden","page":1515},{"file":"p1516.txt","language":"de","ocr_de":"1516\nGr. St\u00f6rring\nviel wirksamer im Willensgeschehen als das blo\u00dfe urteilende Wissen nm Gef\u00fchlszust\u00e4nde nnd das Wissen von Werten.\nAber ohne die Einsicht h\u00e4tten diese Gef\u00fchlsznst\u00e4nde nicht mobil werden k\u00f6nnen.\nF\u00fcr die Psychologie der Methode des Denkens ist die Auffassung von Meumann sehr interessant, indem auf die Entstehung derselben zwei Faktoren einseitig wirken: die Korrektur des Fehlers der gew\u00f6hnlichen Form der emotionellen W i 11 e n s t h e o r i e f\u00fchrt die Tendenz mit sich, den mit Recht nun hervorgehobenen Faktor in seiner Bedeutung etwas zu \u00fcbersch\u00e4tzen. Unterst\u00fctzend wirkt auf eine einseitige Deutung der gegebenen Tatbest\u00e4nde die zu Anfang von dem Autor entwickelte allgemeine Auffassung \u00fcber Leistungs-f\u00e4higkeit von Gef\u00fchlen im psychischen Leben.\nDas gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Handeln nach Meumann. Der mit Einsicht vollzogenen Zustimmung zu einer bestimmten Art des Handelns setzt Meumann die gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfig bedingte Zustimmung gegen\u00fcber. Er sagt dar\u00fcber folgendes.\n,,Gewi\u00df, es kann auch die Zustimmung zum Handeln aus einem die Zielvorstellung oder die Absicht begleitenden Lustgef\u00fchl hervorgehen, das ist dann einer von den m\u00f6glichen F\u00e4llen, aber es ist v\u00f6llige Willk\u00fcr, diesen als den einzig m\u00f6glichen anzusehen und nun die Gef\u00fchle als die eigentlichen und einzigen Ursachen des Wollens zu betrachten. Vielmehr steht es so: Wenn die Zustimmung aus Gef\u00fchlen hervorgeht, so entsteht ein besonderer Fall des Wollens, den wir dasgef\u00fchlsm\u00e4\u00dfigeHandeln nennen und es fragt sich nun allein noch, ob diese einen h\u00f6heren oder niederen Typus des Wollens bezeichnet als das Wollen aus \u00dcberlegung und Einsicht. Es scheint mir nicht zweifelhaft zu sein, da\u00df das Handeln \u201eaus Einsicht\u201d (wie ich es kurz nennen will) den h\u00f6heren, das rein gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Handeln den niederen Typus darstellt. Denn beim Handeln aus Einsicht kommt mir Wert und Bedeutung des Zieles klar zum Bewu\u00dftsein und kann von dem ganzen Inhalt unserer Pers\u00f6nlichkeit aus beurteilt werden, bei dem gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfigen Handeln wird dieser Wert nur dunkel geahnt, oft sogar nur auf Grund der Gef\u00fchlswirkung des Zieles vermutet. Das gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Handeln finden wir deshalb auch \u00fcberall da vorherrschend, wo wir es mit unentwickelter oder niederer Intelligenz zu tun haben, oder einer gewissen Unzul\u00e4nglichkeit f\u00fcr \u00dcberlegung und Begr\u00fcndung, wie bei Kindern,. Ungebildeten, bei zahlreichen Frauen und beim primitiven Menschen. In allen diesen F\u00e4llen ist das Gef\u00fchl (das die Zielvorstellung","page":1516},{"file":"p1517.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1517\nbegleitende Lustgef\u00fchl beim znstimmenden Handeln) wahrscheinlich eine Art von Ersatz f\u00fcr die fehlende \u00dcberlegnng nnd Einsicht. Die faktische Zweckm\u00e4\u00dfigkeit nnd der tats\u00e4chliche Wert des Zieles bewirkt anf dem Wege einer dunkel vorgestellten Analogie mit fr\u00fcheren Erfahrungen des Individuums eine Lust-(Unlust-)Beaktion, die nun die Zustimmung (Verwerfung) des Zieles herbeif\u00fchrt. Weil aber Wert und Bedeutung des Zieles hierbei nicht klar vorgestellt werden, so kann sich das handelnde Individuum nun auch die Tragweite seiner Handlung nicht in dem Ma\u00dfe zum Bewu\u00dftsein bringen, wie beim \u00fcberlegenden Handeln, eben darum ist das gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Handeln\" ein niederer Typus der Willenshandlung1).\u201d\nWas versteht also Meumann unter gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfigem Handeln? Mir scheint, ein Handeln, bei dem die Zustimmung durch Gef\u00fchle, die sich an die Zielvorstellung anschlie\u00dfen, bestimmt ist und bei dem keine Beflexionen bez\u00fcglich des Wertes und der Folgen der Handlung mitwirken (denn es wird gesagt, da\u00df dabei die Tragweite der Handlung nicht in dem Ma\u00dfe zum Bewu\u00dftsein kommt wie beim \u00fcberlegenden Handeln).\nEs ist zuzugeben, da\u00df Meumann hier eine bestimmte Art des Wollens v\u00f6llig zutreffend charakterisiert hat, ein Wollen, bei dem die urteilsm\u00e4\u00dfige Verarbeitung der Tatbest\u00e4nde, welche f\u00fcr die Entscheidung von Belang sind, zu kurz kommt und auf die Entstehung der Entscheidung Gef\u00fchle eine irrationelle Bolle spielen.\nWir sind aber nach obigem nicht in der Lage, diesem Wollen, bei dem Gef\u00fchle eine irrationelle Bolle spielen, ein Wollen \u201eans Einsicht\u201d gegen\u00fcberzustellen, wir k\u00f6nnen da nur von einem Wollen \u201eauf Grund von Einsicht\u201d sprechen, da aus blo\u00dfer Einsicht ohne sich daran anschlie\u00dfende Gef\u00fchle keine Willenshandlungen entspringen.\n2. Die Frage einer anderweitigen Bedeutung der G e f \u00fc h 1 s z u s t \u00e4 n d e f\u00fcr d i e W i 11 e n s v o r g \u00e4 n g e f\u00fcr die Ausf\u00fchrung des Handelns.\na) Meumann sucht die Frage zu beantworten, welche Bolle die Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr die Ausf\u00fchrung eines Handelns spielen. Er fragt zun\u00e4chst, wie ein Entschlu\u00df dazu kommt, eine Handlung herbeizuf\u00fchren. Dabei hat er besonders den zeitlichvorausliegenden allgemeinen Entschlu\u00df und den zeitlich vorausliegenden Einzelentschlu\u00df im Auge. Er betont, da\u00df es sehr selten is-t, da\u00df auch ein im Moment des Beginnes der Handlung eintretender Entschlu\u00df nicht ausgef\u00fchrt wird.\n1) Meumann: 1. c. S. 229.","page":1517},{"file":"p1518.txt","language":"de","ocr_de":"1518\nG-. St\u00f6rring\nDie Herbeif\u00fchrung der Ausf\u00fchrung einer Handlung auf Grund eines Entschlusses ist nach Meumann Sache eines Reproduktionsprozesses.\nEr gibt daf\u00fcr folgendes Beispiel: \u201eEiner meiner Bekannten erz\u00e4hlte mir einmal, da\u00df er die Dauer seines Weges vom Hause bis zu seinem Bureau nach der Uhr feststellen wollte. Wiederholt \u00e4rgerte er sich dar\u00fcber, da\u00df er diesen Entschlu\u00df unterwegs verga\u00df; er griff nun zu folgendem einfachen Assoziationsprinzip: in dem Augenblick, als er die Haust\u00fcr verlie\u00df, zog er seine Taschenuhr heraus, blickte auf das Zifferblatt, stellte sich dann die Eingangst\u00fcr seines Bureaus mit m\u00f6glichster Klarheit vor und assoziierte mit dieser Vorstellung der Bureaut\u00fcr die Bewegung des Herausziehens der Taschenuhr. Auf dem ziemlich langen Wege bis zum Bureau wurde er zuf\u00e4llig von einem Kollegen in ein interessantes Gespr\u00e4ch verwickelt. An der T\u00fcr angelangt, greift er automatisch nach der Taschenuhr und war selbst \u00fcber die intensive Wirkung der vorher gebildeten Assoziation \u00fcberrascht1).\u201d\nEr verweist sodann auf die F\u00e4lle posthypnotischer Suggestionen, wo etwa die Suggestion gegeben wird, da\u00df, wenn die Turmuhr soundsoviel schl\u00e4gt, der Suggerierte die und die Handlung vollzieht und wo auf den \u00e4u\u00dferen Beiz des Uhrschlagens die betreffende Handlung im allgemeinen ausgef\u00fchrt wird.\nMeumann spricht hier von einer Assoziation zwischen dem Entschlu\u00df oder auch dem \u201eMotiv\u201d und der Handlung. Ich w\u00fcrde lieber sprechen von einer Assoziation zwischen dem Entschl\u00fcsse und einem Teil der Handlungssituation.\nEs wird sich zeigen, da\u00df die Entwicklungen Meumanns \u2014 man mag es anerkennen oder nicht, da\u00df hier nur ein Reproduktionsproze\u00df vorliegt \u2014 von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung sind f\u00fcr die Behandlung der eminent wichtigen Frage, wie ein zeitlich vorausgehender allgemeiner Entschlu\u00df und auch ein zeitlich vorausgehender Einzelentschlu\u00df dazu kommt, eine Handlung herbeizuf\u00fchren \u2014 und welche Rolle dabei Gef\u00fchlszust\u00e4nde spielen.\nEs steht ganz au\u00dfer Zweifel, da\u00df f\u00fcr au\u00dferordentlich viele Handlungen nur diese Assoziations- und Reproduktionsbeziehung zwischen Entschlu\u00df und Ausf\u00fchrungshandlung wirksam ist. (Da k\u00e4me es dann darauf an festzustellen, welche Rolle Gef\u00fchlszust\u00e4nde f\u00fcr Herstellung dieser Assoziation und Reproduktion spielen.)\nMeumann betont: Wenn man \u00fcber die geringe Wirksamkeit der allgemeinen Willensentschlie\u00dfungen der \u201eguten Vors\u00e4tze\u201d klagt, so ist das dadurch bedingt, da\u00df meist die geschaffenen Assoziationen nicht reichhaltig und kr\u00e4ftig genug sind2).\n1)\tMeumann: Intelligenz nnd Wille. 4. Anfl. S. 255.\n2)\tMeumann: 1. c. S. 253 nnd 254.","page":1518},{"file":"p1519.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1519:\nSoll die Assoziation zwischen Entschlu\u00df und ausf\u00fchrendem Handeln maximal kr\u00e4ftig gestaltet werden \u2014 und das ist n\u00f6tig besonders da, wo es sich nm die Beziehung zwischen einem nicht auf den einzelnen Fall zugeschnittenen, sondern einen allgemeinen Entschlu\u00df handelt \u2014 so mu\u00df zu der Kn\u00fcpfung der Assoziation durch das Prinzip der Gleichzeitigkeit noch die Wirkung von Aufmerksamkeit und von Gef\u00fchlszust\u00e4nden hinzukommen..\nHier kann man also die Gef\u00fchlszust\u00e4nde als verst\u00e4rkende Mitursachen der Assoziation charakterisieren. So kann ein lebhafter Gef\u00fchlszustand (ebenso wie eine intensive Spannung der Aufmerksamkeit) innerhalb bestimmter Grenzen die Wirkung'der.Wiederholung und \u00dc b u ng ersetzen.\t.\nAber dieser Ersatz ist kein vollst\u00e4ndiger, wie uns die Ged\u00e4chtnispsychologie lehrt : Die Gef\u00fchlserregung beg\u00fcnstigt wie die Aufmerksamkeit mehr das erstmalige A u s w e n d i g w i s s e n w ie das dauernde Behalten! Das dauernde Behalten ist nur durch Wiederholungen garantiert. Das leidet auch seine Anwendung auf das Gebiet der Willensvorg\u00e4nge :\n,,Handlungen, die uns auf Grund eines einmaligen Entschlusses unter dem Einflu\u00df einer lebhaften Gef\u00fchlserregung oder intensiven Spannung der Aufmerksamkeit sehr bald gelingen, tragen nicht selber in sich die B\u00fcrgschaft, da\u00df sie uns auch auf die Dauer gelingen werden, sie bed\u00fcrfen vielmehr fast immer einer nachtr\u00e4glichen Befestigung der Assoziationen zwischen Entschlu\u00df und Ausf\u00fchrung, welche nur durch \u00dcbung und Gew\u00f6hnung erlangt wird. Hieraus erkl\u00e4ren sich die bekannten Wirkungen der Beue und Bu\u00dfe bei Bekehrung.^ Die neuen Entschlie\u00dfungen, welche der Bekehrte fa\u00dft, sind n\u00e4mlich einerseits allgemeine Entscheidungen, die sich auf eine ganze Gruppe von Handlungen beziehen, und sie werden ferner bei manchen Bekehrungsvorg\u00e4ngen' von ganz au\u00dferordentlich heftigen Ersch\u00fctterungen des Gef\u00fchlslebens begleitet. Diese gewaltige Ersch\u00fctterung des Gef\u00fchls hat dann eine entsprechende gro\u00dfe Assoziationskraft und f\u00fchrt bisweilen \u2014 aber durchaus nicht immer mit einem Schlage eine neue Assoziation zwischen Entschlu\u00df und den ihm entsprechenden Handlungen herbei. Selten aber ist diese rein durch Gem\u00fctsersch\u00fctterungen herbeigef\u00fchrte Assoziation auch von nachhaltender Wirkung, sie bedarf in den meisten F\u00e4llen nachtr\u00e4glich der Gew\u00f6hnung und \u00dcbung, aber ihre Bedeutung besteht darin, da\u00df sie den ersten Anfang der Durchf\u00fchrung des neuen Entschlusses","page":1519},{"file":"p1520.txt","language":"de","ocr_de":"1520\nG. St\u00f6rring\nerleichtert und damit die Basis und den Ankn\u00fcpfungspunkt f\u00fcr eine andere Art des Handelns bildet1).\u201d\nEine Best\u00e4tigung seiner Auffassung \u00fcber die vor\u00fcbergehende Wirkung sehr starker Gem\u00fctsbewegungen sieht Meumann in den Anweisungen, welche die Heilsarmee, die Methodisten ihren Neu-bekehrten geben: sie \u00fcberwachen und regeln den ganzen \u00e4u\u00dferen Lebenswandel derselben und setzen sie damit in eine Situation, in der ,,Befestigung der neuerworbenen Assoziationen\u201d zwischen Entschlu\u00df und ausf\u00fchrender Handlung durch ein\u00fcbende Gew\u00f6hnung stattfindet.\nDie Kritik dieser letzten Entwicklungen wollen wir auf sp\u00e4ter verschieben.\nb) Spezielle Bestimmungen \u00fcber die Bedingungen der Wirksamkeit von zeitlich vorausliegenden Entschlie\u00dfungen, besonders von allgemeinen, auf die Ausf\u00fchrung gibt Meumann bei Behandlung der Frage : Warum k\u00f6nnen wir nicht immer, was wir wollen?\nDie Ursachen f\u00fcr das Versagen des Willens findet Meumann einmal in der Art der zeitlich vor der Handlung liegenden Entschlie\u00dfung, weiter in der nicht ausreichenden Intensit\u00e4t der assoziativen Verkn\u00fcpfung und zuletzt in den erst bei der Einzelhandlung auftretenden Hemmungen des allgemeinen Entschlusses.\nWas den ersten Punkt, die Art der zeitlich vor der Handlung liegenden Entschlie\u00dfung betrifft, so ist, um einen Erfolg zu erzielen, zu fordern, da\u00df 1. alles das zum Bewu\u00dftsein gebracht wird, was zu dem Inhalt der Entscheidung geh\u00f6rt und 2. da\u00df innerlich alles verneint wird, was dem Inhalt unseres Entschlusses widerstrebt. Die Entschlie\u00dfung mu\u00df also alle zu ihr geh\u00f6renden Momente einzeln f\u00fcr sich klar zum Bewu\u00dftsein bringen, sie mu\u00df vollst\u00e4ndig sein und sie mu\u00df exklusiv sein : sie mu\u00df alles ausschlie\u00dfen, was zu ihr in Widerspruch steht. Dabei sagt Meumann sehr sch\u00f6n: ,,Wir entscheiden uns z. B. im allgemeinen daf\u00fcr, wenn unsere Pflicht mit unserem Vergn\u00fcgen in Widerstreit ger\u00e4t, der Erf\u00fcllung der Pflicht zuzustimmen, das Vergn\u00fcgen abzulehnen. Dabei besteht die Entschiedenheit dieser Entschlie\u00dfung zum gr\u00f6\u00dften Teil darin, da\u00df wir uns die ganze Tragweite dessen klar zum Bewu\u00dftsein bringen, was wir unsere Pflicht nennen, und da\u00df wir die Negation auf jede Art von Vergn\u00fcgen erstrecken, das die Pflichterf\u00fcllung st\u00f6ren k\u00f6nnte. Diese Bedingungslosigkeit der Entscheidung ist also ihrem Hauptcharakter nach ein intellektueller\n1) Meumann: 1. c. S. 259.","page":1520},{"file":"p1521.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1521\nVorgang, denn sie beruht anf der Vollst\u00e4ndigkeit, mit der der ganze Inhalt der Entscheidung nnd der Negation, die sie in sieh schlie\u00dft, znm Bewu\u00dftsein gebracht wird. Hierbei kann dann eine au\u00dferordentlich vielseitige Assoziation zwischen Motiv und Handlung, Inhalt der Entschlie\u00dfung und zuk\u00fcnftiger Ausf\u00fchrung gestiftet werden, infolgedessen versagt die allgemeine Entschlie\u00dfung auch nicht so leicht unter den wechselnden konkreten Umst\u00e4nden der einzelnen Handlungen1).\u201d\nWir haben uns klar zu machen, ob hier Gef\u00fchlszust\u00e4nde eine Bolle spielen und welche.\nDoch vorher wollen wir noch den dritten Punkt nach Meumann er\u00f6rtern: die Hemmungen des allgemeinen Entschlusses im Einzelwollen und Ausf\u00fchren. Das eine wollen wir hier nur hervorheben, da\u00df hier Meumann von \u201eEntschiedenheit\u201d der positiven und negativen Seite des Entschlusses spricht.\nHier sind zwei F\u00e4lle zu unterscheiden: Der, wo wir bei der Einzelhandlung an den allgemeinen Entschlu\u00df denken, wo wir aber trotzdem durch die Umst\u00e4nde des Falles zu einem anderen Handeln bestimmt werden, und sodann der Fall, wo wir an den allgemeinen Entschlu\u00df bei dem Einzelpunkte \u00fcberhaupt nicht denken.\nUns interessiert besonders der erste Fall. Von ihm sagt Meumann, da\u00df dabei ein Versagen des allgemeinen Entschlusses auftritt, indem irgendwelche Umst\u00e4nde des Einzelfalles an ,,s u g-gestiver, den Willen bestimmender Kraft\u201d die suggestive Kraft des allgemeinen Entschlusses \u00fcbertreffen. Diese den Willen bestimmende Kraft nennt er auch \u201eaktuelle (oder suggestive) Valenz\u201d. Bei Betonung dieser Kraft deutet er z. B. das Verhalten des Temperenzlers, der v\u00f6llig abstinent zu sein sich entschlossen hat, aber in einer Gesellschaft von Freunden seinem Verhalten untreu wird, in einer die in Betracht kommenden Tatbest\u00e4nde geh\u00f6rig zur Geltung bringenden Weise1).\nWir werden auf die Betonung der aktuellen (suggestiven) Valenz zur\u00fcckzugreifen haben.\nDie erfolgreiche Wirkungsweise einer allgemeinen Entschlie\u00dfung (von der wir fr\u00fcher die erforderlichen Eigenschaften n\u00e4her bestimmt haben) besteht nun nach Meumann in folgendem: 1. der allgemeine Entschlu\u00df wird von dem Handelnden bei dem Einzelwollen und -handeln durch die Aufmerksamkeit im Bewu\u00dftsein fixiert und \u00fcbt seine determinierende Selektion auf die auf tretenden Gedanken aus. 2. Die Hemmungsenergie der Aufmerksamkeit l\u00e4\u00dft andere Motiv-\nx) Meumann: Intelligenz und Wille. 4. Aufl. S. 268.","page":1521},{"file":"p1522.txt","language":"de","ocr_de":"1522\nG. St\u00f6rring\nVorstellungen nicht aufkommen. 3. Die Motivvorstellnng des allgemeinen Entschlusses bleibt w\u00e4hrend der Stellungnahme zu der Einzelsituation im Bewu\u00dftsein \u201evorherrschend\u201d1). Dabei ist auch die Perseveration mitwirkend2).\nBez\u00fcglich der Mitwirkung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei diesen Vorg\u00e4ngen wird gesagt, da\u00df bei diesen Vorg\u00e4ngen Gef\u00fchle mit-wirken k\u00f6nnen, da\u00df sie aber dabei ,,nicht als treibende Kr\u00e4fte, sondern als Beflexe dessen, was die intellektuelle T\u00e4tigkeit erreicht, in unserem Gem\u00fctsleben\u201d erscheinen3).\nEs wird sodann gesagt, da\u00df auch bei diesen \u00dcberlegungen \u00fcber das K\u00f6nnen die Gef\u00fchle sich darstellen als ein \u201enebens\u00e4chlicher Begleitvorgang des W olle n s und Handeln s\u201d.\nDieser Auffassung der Bedeutung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde m\u00fcssen wir entgegentreten. Gerade die ausgezeichnete Charakterisierung, die Meumann von der Beziehung der allgemeinen Entschlie\u00dfung zum ausf\u00fchrenden Handeln von der intellektuellen Seite aus gibt3), macht es uns leicht, die Stellen zu bezeichnen, wo Gef\u00fchlsprozesse als selbst\u00e4ndige psychophysische Energien eingreifen !\nEs war f\u00fcr die allgemeine Entschlie\u00dfung positiv gefordert, da\u00df alle Momente, welche zur Entschlie\u00dfung geh\u00f6ren, klar zum Bewu\u00dftsein gebracht werden m\u00fcssen, wenn die Wirkungskr\u00e4ftigkeit eine maximale sein soll. Je mehr aber bei Entschlie\u00dfungen, die nicht gleichg\u00fcltig sind, die intellektuelle Erfassung des betreffenden Tatbestandes ins einzelne geht, ein desto st\u00e4rkerer Gef\u00fchlszustand wird erzeugt. Und was die negative Seite d^r allgemeinen Entschlie\u00dfung anlangt, so m\u00fc\u00dfte ja, um eine maximale Wirkung zu erzielen, innerlich alles das v e r m,e int werden, was dem Inhalt des allgemeinen Entschlusses widerstrebt \u2014 und diese Stellungnahme sollte den Charakter der \u201eEntschiedenheit\u201d tragen. Hier wird sich also ein ausgepr\u00e4gt imperativischer Gef\u00fchlszustand entwickeln, der jedenfalls betr\u00e4chtliche psychophysische Energien repr\u00e4sentiert, die als wirkungskr\u00e4ftig gedacht werden m\u00fcssen, wenn die Forderung der Entschiedenheit berechtigt sein soll.\nUm die Wirksamkeit des allgemeinen Entschlusses zu sichern, war sodann gefordert, da\u00df die \u201esuggestive, den Willen bestimmende\n1)\tMeumann: 1. c. S. 270; vgl. S. 264!\n2)\tMeumann: 1. c. S. 270.\n3)\tMeumann: 1. c. S. 271.","page":1522},{"file":"p1523.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1523\nKraft\u201d, die \u201eaktuelle\u201d (oder suggestive) \u201eValenz\u201d des allgemeinen Entschlusses st\u00e4rker sei als die der n\u00e4heren Umst\u00e4nde des Einzelfalles. Diese differenten Kr\u00e4fte, die den Willen bestimmen, k\u00f6nnen doch nicht anders als emotionell gedacht werden: in experimentellen Untersuchungen \u00fcber Wahlprozesse, die ich von Trouet und Slcawran, Gies habe anstellen lassen, tritt deutlich die Wirksamkeit der Gef\u00fchlsfaktoren bei der Entscheidung hervor; hier kommt die Einzelentscheidung in Betracht.\nIn solchen Untersuchungen zeigt sich auch, da\u00df der Gedanke einer Wahlm\u00f6glichkeit zu einem im Bewu\u00dftsein \u201evorherrschenden\u201d wird \u2014 das war ja von dem Gedanken des allgemeinen Entschlusses gefordert \u2014, eben durch den Gef\u00fchlszustand, der durch den Gedanken einer Wahlm\u00f6glichkeit ausgel\u00f6st ist.\nWas zuletzt die hier in Anspruch genommene Fixierung der Aufmerksamkeit betrifft, die Fixierung des Gedankens des allgemeinen Willensentschlusses, wodurch dann eine Heraushebung eines \u00e4hnlichen Gedankens aus der Betrachtung der gegebenen Einzelsituation bedingt ist, so kommt diese Fixierung wieder auf Konto eines Gef\u00fchlszustandes, wie sich uns das fr\u00fcher gezeigt hat1). Dieser Gef\u00fchlszustand w\u00fcrde dann also in Delation zu dem positiven und negativen Gef\u00fchlszustand, der sich mit dem Gedanken des allgemeinen Willensentschlusses entwickelt, als ein super-ponierter zu bezeichnen sein2).\nDie Wirkungskr\u00e4ftigkeit von allgemeinen Willensentschlie\u00dfungen in Einzelentschlie\u00dfungen und -handl ungen ist f\u00fcr das sittliche Leben3) und f\u00fcr alles systematische Streben der Menschen von eminenter Bedeutung.\nMeumann findet es psychologisch sehr interessant, da\u00df ein so wichtiger Tatbestand wie die allgemeinen Entschl\u00fcsse im praktischen Leben und in der sch\u00f6nen Literatur in Mi\u00dfkredit gekommen ist. Erfindet die Ursache daf\u00fcr mit Becht darin, da\u00df die Menschen in Wirklichkeit meist anstatt, eigentlicher allgemeiner Willensentschlie\u00dfungen nur ein allgemeines W\u00fcnschen entwickeln, das wenig wirkungskr\u00e4ftig ist.\nWir haben noch die Auffassung Meumanns kritisch zu behandeln, da\u00df die Herbeif\u00fchrung der Ausf\u00fchrung einer Handlung auf Grund eines Entschlusses Sache eines Reproduktionsprozesses sei. Wir sagten, da\u00df in sehr vielen F\u00e4llen offenbar nur ein Beproduktionsproze\u00df vorliege und gingen auf diese F\u00e4lle mit Meumann n\u00e4her ein.\nx) St\u00f6rring: Diese Schrift. S. 1109 ff.\n2)\tSt\u00f6rring: Psychologie. S. 238 ff. ; Dieses Buch. S. 1370.\n3)\tSt\u00f6rring : Die sittlichen Forderungen und die Frage ihrer G\u00fcltigkeit. S. 77.","page":1523},{"file":"p1524.txt","language":"de","ocr_de":"1524\nG-. St\u00f6rring\nEs hat sich uns nun aber gezeigt, da\u00df wir an einer Eeihe von Stellen bei der Gestaltung optimaler Bedingungen der Wirksamkeit von allgemeinen Entschl\u00fcssen auf das Einzelwollen und -handeln Gef\u00fchlszust\u00e4nde als wirksam einsetzen mu\u00dften, ohne da\u00df die Wirkung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in einer Verst\u00e4rkung einer Assoziation oder Beg\u00fcnstigung einer Reproduktion bestand1).\nDie experimentelle Untersuchung der Willensvorg\u00e4nge hat an mehreren Punkten gezeigt , da\u00df in vielen F\u00e4llen der ausf\u00fchrenden Handlung nicht nur ein Reproduktionsproze\u00df vorliegt.\nBei experimenteller Untersuchung der Wahlvorg\u00e4nge, die ich habe anstellen lassen, haben sich Aussagen der Versuchsperson geh\u00e4uft, die dahin gehen, da\u00df die Ausf\u00fchrung einer gedachten Wahlm\u00f6glichkeit aus dem Gef\u00fchlszustand hervorzugehen schien, der sich mit dem Gedanken an die Wahlm\u00f6glichkeit verband. Ich habe selbst als Versuchsperson unmittelbar bei solchen Versuchen die \u00dcberzeugung gewonnen, da\u00df ein starker Gef\u00fchlszustand, der sich mit dem Gedanken einer bestimmten Wahlm\u00f6glichkeit verband, f\u00fcr den Eintritt der Ausf\u00fchrung der betreffenden Bewegung, des betreffenden Dynamographenzuges verantwortlich zu machen sei.\nMan hat dabei den Eindruck, da\u00df die Gef\u00fchlsenergien zu motorischer Entladung kommen.\nDahin geh\u00f6rt sodann eine ganze andere Klasse von Versuchen : Versuche \u00fcber den Einflu\u00df der Unlustgef\u00fchle auf den motorischen Effekt der Willenshandlungen.\nWir sahen bei Besprechung dieser Versuche, da\u00df Unlustgef\u00fchle unter den gegebenen Versuchsbedingungen auf den motorischen Effekt von Willenshandlungen steigernd wirken.\nWir schalten diejenigen F\u00e4lle aus, in denen die Absicht auftrat, die Unlust durch bei starkem Zug auftretende Spannungsempfindungen herabzusetzen. Sodann schalteten wir solche F\u00e4lle aus, in welchen sich die Unlust mit Erregung nach subjektiver Angabe und objektiver Kontrolle der Pulsver\u00e4nderungen verband. Dann blieb nur noch die M\u00f6glichkeit \u00fcbrig, da\u00df die Steigerung des motorischen Effektes auf das Konto der Entladung der Unlustenergien zu setzen sei. Wir sprachen dann bestimmter von Entladung der in der Unlust steckenden Organempfindungen in die motorischen Gebiete der Hirnrinde.\nb Diese Untersuchung. S. 1522.","page":1524},{"file":"p1525.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslehens\n1525\nIn unseren F\u00e4llen sehen wir nns also gezwungen zu behaupten, da\u00df hier nicht blo\u00df Beproduktionsvorg\u00e4nge vorliegen, sondern die im Entschlu\u00df steckenden Gef \u00fchl s z ns t \u00e4 n de in der Ausf\u00fchrung der betreffenden Handlung eine Entladung finden.\nDiese Wirkung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde hat also mit Verst\u00e4rkung der Assoziation zwischen Entschlu\u00df und ausf\u00fchrender Handlung nichts zu tun.\nNehmen wir sodann den einfachen Fall des Trinkers. Wir k\u00f6nnen, wenn er nach einigem Bem\u00fchen, nicht mehr zum Alkohol zu greifen, doch der Versuchung erliegt, nicht von einem einfachen Beproduktionsproze\u00df sprechen. Die l\u00e4ngere Abstinenz erzeugt aus dem Zustande seines K\u00f6rpers heraus Unlustgef\u00fchle mit \u00e4ngstlichen Beklemmungen und dieser Unlustzustand dr\u00e4ngt ihn zur Beali-sierung der entsprechenden Handlung!\nWir erinnern an pathologischeF\u00e4lle, inweichen pathologisch starke Unlustgef\u00fchle zu Handlungen f\u00fchren.\nNach derselben Bichtung weisen k\u00fcrzlich gemachte Feststellungen von Lewin, die wir oben besprochen haben.\nAuch die Bekehrungsvorg\u00e4nge, die oben eine anderweitige Verwertung gefunden haben, scheinen uns nicht anders gedeutet werden zu k\u00f6nnen als unter Annahme einer Wirkung von Gef\u00fchlen als von selbst\u00e4ndigen psychophysischen Energien.\nUnter den BekehrungsVorg\u00e4ngen nehmen die von der Heilsarmee hervorgerufenen eine Sonderstellung ein, das zeigt die Starbuck sehe Sammlung1) von F\u00e4llen von Bekehrung. Tatsache ist, da\u00df durch Bekehrungsprozesse pl\u00f6tzlich eine \u00c4nderung der Menschen in sittlicher Beziehung eintritt, derart, da\u00df auch alteingewurzelte Gewohnheiten \u00fcberwunden werden, wie das sehr deutlich in der BekehrungvonTrinkernohneB\u00fcck-fall auftritt. Diese \u00c4nderung des sittlichen Verhaltens findet statt ohne assoziative Gew\u00f6hnung an ein anderes Verhalten, und das macht gerade diese F\u00e4lle psychologisch so hochinteressant!\nDie Theologen nehmen hier meist eine \u00fcbernat\u00fcrliche Einwirkung Gottes auf den Menschen an. Ich habe an anderem Orte2) die hier in Betracht kommenden Tatsachen und die zur psycho-\np Starbuck: The psychology of religion. 1901.\n2) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen G-ef\u00fchlslehens. 2. Anfl. S. 271 ff.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t99","page":1525},{"file":"p1526.txt","language":"de","ocr_de":"1526\nG. St\u00f6rring\nlogischen Erkl\u00e4rung aufgestellte Theorie besprochen. Ich habe dort, wie mir scheint, im engsten Anschlu\u00df an die Tatsachen die Theorie entwickelt, da\u00df die Bekehrung eine Erscheinung des Kontrastes der Gef\u00fchle sei, da\u00df dabei die Liebe zu Gott und Christus per Kontrast zum Bewu\u00dftsein der eigenen S\u00fcndhaftigkeit au\u00dferordentlich gesteigert wird, so da\u00df die G e-danken an Gott und Christus zu Summationszentren der Gef\u00fchlszust\u00e4nde von au\u00dferordentlicher Intensit\u00e4t werden, welche dann im Kampfe der Motive zur Mitwirkung gelangen\u00bb einen Sieg des Guten zustande zu bringen verm\u00f6gen.\nHier treten die Gef\u00fchlszust\u00e4nde also wieder als selbst\u00e4ndige psychophysische Energien wirkend auf!\n9. Kapitel.\nEinteilungen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nZur Beleuchtung der mannigfachen Beziehungen der Gef\u00fchls -zust\u00e4nde k\u00f6nnen Einteilungen derselben von verschiedenen Gesichtspunkten dienen.\nI.\tEine Einteilung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde haben wir schon im Beginn unserer Untersuchungen gegeben. Es war diejenige Einteilung, welche durch Korrektur der mehr vulg\u00e4rpsychologischen Einteilung in Affekte, Empf in dungs gef \u00fchle und Stimmungen zustande gekommen ist. Es zeigte sich uns, da\u00df wir mit den Stimmungen nicht Affekte auf eine Stufe stellen d\u00fcrften, sondern ihnen Organgef\u00fchle gegen\u00fcberstellen mu\u00dften, von denen die Affekte wieder eine bestimmte Klasse darstellen. Die dann noch \u00fcbrigbleibenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde sind nicht nur Empfindungsgef\u00fchle,, sondern auch an Vorstellungen sich anschlie\u00dfende Gef\u00fchle und sodann gewisse an Beziehungsgedanken sich anschlie\u00dfende Gef\u00fchlszust\u00e4nde, solche n\u00e4mlich, bei denen Organempfindungen nicht wie bei den Affekten in dem Verschmelzungsprodukt von Organempfindungen und Gef\u00fchlst\u00f6nen hervortreten, sondern bei denen die Organempfindungen in dem Verschmelzungsprodukt sich so verhalten wie bei Empfindungsgef\u00fchlen.\nII.\tDie Gef\u00fchlszust\u00e4nde lassen sich sodann einteilen in solche mit und ohne aktive Momente, also in aktive und passive Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nBei unserer experimentellen Untersuchung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde hat sich gezeigt, da\u00df die aktiven Gef\u00fchlszust\u00e4nde in zwei Gruppen zerfallen : in dynamische und statische Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Ihre intellektuellen Unterlagen verhalten sich zueinander","page":1526},{"file":"p1527.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1527\nwie die Muskelarbeit unter isotoniscbem Zuckungsregime zu der unter isometrischem. Bei isotonischem Regime bleibt bei einer Muskelreizung der Tonus des Muskels konstant, es \u00e4ndert sich die Hubh\u00f6he; bei isometrischem Regime bleibt die L\u00e4nge des Muskels konstant, es \u00e4ndert sich die Spannungsentwicklung.\nHie passiven Gef\u00fchlszust\u00e4nde sind entweder ichbezogene oder Ohneichbezogenheit. Die ichbezogenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde werden auch Zustandsgef\u00fchle genannt. So sind Mitleidsgef\u00fchle bei v\u00f6lliger Objektivierung ohne Ichbezogenheit; werden aber Mitleidsgef\u00fchle nicht v\u00f6llig verobjekti-viert, so werden sie auf das dieselben erlebende Ich bezogen, werden als Zust\u00e4nde dieses Ichs auf gef a\u00dftt\nDie Gef\u00fchlszust\u00e4nde ohne Ichbezogenheit sind entweder Gegenstandsgef\u00fchle oder Inhaltsgef\u00fchle. Als Gegenstandsgef\u00fchle bezeichnen wir solche Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche in etwas Gedachtem, einem gedachten Gegenstand, verobjektiviert, mit ihm verschmolzen sind. Inhaltsgef\u00fchle nennen wir solche, welche in derselben Beziehung zu nicht zum Gegenstand des Denkens gemachten psychischen Inhalten, Empfindungen und Vorstellungen, stehen.\nIII. Differenzen der Gef\u00fchlszust\u00e4nde auf Grund verschiedener Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t der intellektuellen Unterlagen.\n1. A. Lehmann hat die Gef\u00fchlszust\u00e4nde eingeteilt auf Grund der differenten Beziehung zum zentralen Ich oder zu mehr oder weniger peripheren Partien des Ichs.\nEr unterscheidet ein geistigeslch mit den Erinnerungen des Individuums an seine Erlebnisse, dem Bewu\u00dftsein seiner psychischen F\u00e4higkeiten und Leistungen, sowie dem Charakter von dem sozialen Ich und dem materiellen Ich. Diese verschiedenen Seiten des Ichs stellen zusammen das zentrale Ich dar. Run spricht Lehmann vom peripheren Ich mit gr\u00f6\u00dferem oder geringerem Abstand vom zentralen Ich. \u201eZum materiellen Ich geh\u00f6ren ferner (au\u00dfer dem K\u00f6rper) die Familie, Vater und Mutter, Weib und Kinder und die n\u00e4chsten Verwandten. Was ihnen widerf\u00e4hrt, hat fast dieselbe Wirkung, als ob es das eigene k\u00f6rperliche Ich betroffen h\u00e4tte. Hieran schlie\u00dfen sich ferner die Kleider und die Heimat, das Eigentum, jedes Ding, das mein genannt wird. Das materielle Ich kann sich \u00fcbrigens unter gewissen Umst\u00e4nden sehr erweitern, so da\u00df es nicht nur Verwandte und Freunde, sondern alle Landsleute, ja sogar alle Menschen einschlie\u00dfen kann 1).55\nEine erste Klasse von Gef\u00fchlszust\u00e4nden und Affekten ist dadurch charakterisiert, da\u00df sie zum zentralen pers\u00f6h-\n1) A. Lehmann-. 1. c. S. 303.\n99*","page":1527},{"file":"p1528.txt","language":"de","ocr_de":"1528\nGr. St\u00f6rring\nliehen Ich geh\u00f6rt. Hierzu werden die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle nnd Affekte in scharfem Gegensatz gesetzt. Bei ihnen ist das zentrale Ich nicht betroffen, sondern periphere Teile des Ichs. Lehmann sagt von den \u00e4sthetischen Affekten: \u201eDiese Affekt-\u00e4u\u00dferungen betreffen ... nicht mein zentrales Ich; ich wei\u00df ja sehr wohl, da\u00df ich mich in keiner gef\u00e4hrlichen nnd tranrigen Lage befinde, sondern einfach lese. . . Der Held, von dem ich lese, nnd der mein Interesse fesselt, bestimmte Erwartungen geweckt hat, ist aber hierdurch ein Teil meines Ichs geworden. Jede Gem\u00fctsbewegung dieser Person ist daher auch die meinige; da sie aber mein zentrales k\u00f6rperliches Ich nicht betrifft, wird sie nicht einfach erlebt, sondern liegt irgendwo zwischen dem wirklichen Erleben und der nun vorgestellten Gem\u00fctsbewegung1).\u201d Die sympathischen Gef\u00fchlsznst\u00e4nde nnd Affekte betreffen mehr-periphere Partien des Ichs, welche zwischen dem zentralen Ich nnd den peripheren Partien liegen, welche die \u00e4sthetischen Gef\u00fchle betreffen.\nDie Unterscheidung der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde je nach der N\u00e4he ihrer Beziehung znm zentralen Ich ist sehr mi\u00dflich. Es liegt dieser Betrachtung zwar der richtige Gedanke zugrunde, da\u00df die Gef\u00fchlsznst\u00e4nde in ihrer Intensit\u00e4t sehr stark davon abh\u00e4ngig sind, ob ein Geschehen als die Interessen des gegenw\u00e4rtigen Ichs betreffend anfgefa\u00dft wird oder nicht.\nYon peripheren Partien des Ichs wird hier offenbar in \u00fcbertragenem Sinne gesprochen; es ist aber unzweckm\u00e4\u00dfig, auf diese Weise die wirklichen Beziehungen ungekl\u00e4rt zu lassen.\n2.\tIch m\u00f6chte dem Fall, wo der Gef\u00fchlsznstand verst\u00e4rkt wird durch ein Realit\u00e4tsurteil, welches eine Beziehung des betreffenden Geschehens zu den Interessen des gegenw\u00e4rtigen Ichs setzt, folgende Arten der intellektuellen Unterlage mit schw\u00e4cherer Wirkung auf den Gef \u00fchlsznstand gegen\u00fcberstellen.\n1.\tYon den eigentlichen Gef\u00fchlsznst\u00e4nden sind die F\u00e4lle eines blo\u00dfen Wissens um Gef\u00fchle zu unterscheiden. In ihnen findet sich h\u00f6chstens eine Andeutung eines reproduzierten Gef\u00fchlszustandes.\n2.\tSt\u00e4rker entwickelt sind die Gef\u00fchlsznst\u00e4nde auf Grund ausgepr\u00e4gter reproduzierter Unterlagen.\n3.\tEine noch st\u00e4rkere Intensit\u00e4t nehmen Gef\u00fchlsznst\u00e4nde auf Grund intellektueller Unterlage mit Erinnerung an.\n4.\tEine weitere Steigerung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlsznst\u00e4nde ergibt sich da, wo Gef\u00fchlsznst\u00e4nde sich auf Grund\nb A. Lehmann: 1. c. S. 315.","page":1528},{"file":"p1529.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1529\n\u00e4sthetischer Realit\u00e4tsurteile (die wir sp\u00e4ter behandeln) entwickeln.\nVon Gef\u00fchlszust\u00e4nden auf Grund von eigentlichen Eealit\u00e4tsurteilen ist zu sagen, da\u00df entweder eine Beziehung zu den Interessen des Ichs vorliegt oder da\u00df ihnen eine solche Beziehung fehlt, wie das z. B. der Ball ist, wo Interessen von Mitmenschen betroffen sind. \u2014\nHier wirken verschiedene Qualit\u00e4ten der intellektuellen Unterlage auf Steigerung der Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nDer einfachere Fall ist der, da\u00df die verschiedene Intensit\u00e4t der Gef\u00fchlszust\u00e4nde von nichts anderem als einer blo\u00dfen Steigerung der Intensit\u00e4t der intellektuellen Unterlage abh\u00e4ngt \u2014 ich sage \u201evon nichts anderem als einer blo\u00dfen Steigerung der Intensit\u00e4t\u201d. Denn auch in den obigen F\u00e4llen bewirkt die \u00c4nderung der Qualit\u00e4t der intellektuellen Unterlage diese Steigerung der Intensit\u00e4t nicht unmittelbar, sondern, wie leicht zu sehen ist, teils durch \u00c4nderung der Intensit\u00e4t der intellektuellen Unterlagen, teils durch Bereicherung der gedachten Beziehungen (Realit\u00e4tsurteil).\nAnhang 1. Zur allgemeinen Gef\u00fchlslehre:\nUnsere Stellungnahme zur Gestaltspsychologie.\n1. Hier wollen wir noch anhangsweise zun\u00e4chst die Rolle charakterisieren, welche Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Kr\u00fcgers Ganzheits-psychologie spielen, und dann die ganzheitspsychologischen Entwicklungen von Lewin \u00fcber den Willen betrachten.\nKr\u00fcger bezieht sich f\u00fcr seine Anschauungen \u00fcber Ganzheit auf seine akustischen Untersuchungen und auf Arbeiten seiner Sch\u00fcler, welche in den von ihm herausgegebenen ,,Neuen psychologischen Studien\u201d ver\u00f6ffentlicht sind.\nVon der Ganzheit gilt nach Kr\u00fcger, da\u00df im Ganzen ,,ein jeder Teil, so wie er nur durch alle \u00fcbrigen da ist, auch als nur um der anderen willen existierend\u201d gedacht wird.\nDie Teile oder Seiten eines Erlebnisses sind ,,in ein Gesamtganzes eingebettet\u201d und ,,davon durchdrungen\u201d. ,,Die Erlebnisqualit\u00e4t dieses Gesamtganzen ist Gef\u00fchl1)\u201d. Alles jeweilig psychisch Gegebene ist in gleichzeitige Gef\u00fchle eingebettet. Solche Qualit\u00e4ten des Gesamtganzen sind \u201edie verschiedenen Arten der Lust \u2014 Unlust, Erregtheit, Spannung, Gel\u00f6stheit \u2014 als auch viele andere, mannigfache F\u00e4rbungen und Verlaufsformen des Gesamterlebens; sie lassen sich der Zahl nach nicht begrenzen, bis auf weiteres auch nicht vollst\u00e4ndig einteilen\u201d 2).\n1)\tKr\u00fcger: Das Wesen der Gef\u00fchle. S. 14.\n2)\tKr\u00fcger: 1. c. S. 16, 47.","page":1529},{"file":"p1530.txt","language":"de","ocr_de":"1530\nG. St\u00f6rring\nVon den Teilen oder Seiten eines Erlebnisses machen sich diejenigen besonders stark psychisch geltend, die ganzheitsbezogen sind. Die ganzheitsbezogenen Teile oder Seiten eines Erlebnisses werden mit Recht als \u201edominierende\u201d Teilbest\u00e4nde bezeichnet. Dahin geh\u00f6rt der Kontur, der Rhythmus, der \u201eGestaltscharakter\u201d, die ,, Gliederungsform\u2019 \u2019.\nNun wird weiter die Behauptung aufgestellt, da\u00df die Wirkung des Gesamtganzen auf die Teile st\u00e4rker ist als umgekehrt und da\u00df die Gef\u00fchle \u201ein allem Geschehen funktionell f\u00fchrend\u201d sind. Hier wird von \u201eDominanz des Ganzen\u201d gesprochen.\nDie letzten Behauptungen sind spezifisch ganzheitspsyeho-logische: Hier wird die Wirksamkeit des Gesamtganzen \u00fcbersch\u00e4tzt.\nRehmen wir zu diesen Positionen noch eine negativ e hinzu : Es soll verfehlt sein, wenn die Psychologie die Forderung aufstellt, alles psychische Geschehen, auch die Ganzheiten, auf letzte psychische Elemente zur\u00fcckzuf\u00fchren. Von diesen Gegnern wird sodann behauptet, da\u00df sie sich durch eine \u201esummenhaft atomisierende Betrachtungsweise\u201d charakterisieren.\nDie Ganzheitspsychologie unterscheidet sich nicht dadurch von der \u00fcbrigen Psychologie, da\u00df sie Ganzheiten anerkennt, w\u00e4hrend die Gegner sie leugnen. Auch Gegner der Ganzheitspsychologie erkennen Ganzheiten als psychische Realit\u00e4ten an, nur behaupten die Gegner, da\u00df nicht alles psychische Geschehen sich in Ganzheiten darstelle und die Gegner behaupten, da\u00df die Ganzheiten sich auf elementare psychische Tatbest\u00e4nde reduzieren lassen und da\u00df sie nicht solchen Einflu\u00df auf die entsprechenden Teile haben, wie das die Ganzheitspsychologie will.\nGanzheiten sind uns z. B. in allen Urteilsprozessen gegeben: Denn die Urteile lassen sich nicht in eine Summe von Teilen auf-l\u00f6sen, und z. B. das Ichbewu\u00dftsein weist zwar verschiedene Komponenten auf, aber verschiedene Faktoren wirken darauf hin, diese Komponenten zu einer Einheit zu verbinden1).\nAuch alle Schlu\u00dfprozesse stellen Ganzheiten dar, denn man kann nicht einen Teil von ihnen wegnehmen, ohne da\u00df der Schlu\u00df-proze\u00df aufh\u00f6rt zu sein, was er ist.\nx) St\u00f6rring: Psychologie. S. 299 und 300.","page":1530},{"file":"p1531.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1531\nGanzheiten traten uns anch hier anf dem Gebiet der Gef\u00fchls-psychologie mannigfach entgegen, so z. B. bei der Erscheinung, die wir ,,Superposition der Gef\u00fchle\u201d nannten1).\nGeht der Ganzheitspsychologe nnn etwa gar so weit, da\u00df er den nmgestaltenden Einflu\u00df der Pers\u00f6nlichkeit auf jedes einzelne Geschehen behauptet, so tritt durch solchen Einflu\u00df subjektiv differenter Faktoren bei verschiedenen Pers\u00f6nlichkeiten eine sehr weitgehende Verdeckung psychischer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten auf, welche zu einer weitgehenden Verziehtleistung auf kausale Betrachtungsweise, eine weitgehende Beschr\u00e4nkung auf blo\u00dfe Beschreibungen f\u00fchren w\u00fcrde.\nEs ist klar, da\u00df auch schon die Behauptung, da\u00df man bez\u00fcglich der Ganzheiten nicht den Anspruch erheben darf, eine kausale Beduktion auf elementare psychische Gr\u00f6\u00dfe zu vollziehen, ein Zur\u00fccktreten kausaler Betrachtungsweisen bei den Ganzheitspsychologen mit sich bringt. Das steigert sich nat\u00fcrlich dann, wenn man auch das Ganze der Pers\u00f6nlichkeit auf alles psychische Geschehen einen modifizierenden Einflu\u00df aus\u00fcben l\u00e4\u00dft.\nDagegen spricht nat\u00fcrlich sehr deutlich die M\u00f6glichkeit des Vollzuges richtiger Denkprozesse!\nSodann habe ich dagegen folgendes geltend gemacht: Die Aufgabestellung im psychologischen Experimentist in vielen F\u00e4llen so gestaltet, \u201eda\u00df die Versuchsperson durch die entsprechende Einstellung der Aufmerksamkeit in eine Situation versetzt wird, in welcher der Einflu\u00df des Ganzen der Pers\u00f6nlichkeit auf ein Minimum reduziert wird, so da\u00df die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten dann keine f\u00fcr unsere kausale Forschung gef\u00e4hrliche Verdeckung erfahren.\nIndem der Versuchsperson eine bestimmte Aufgabe gegeben ist, stellt sie ihre Aufmerksamkeit in ganz bestimmter Weise ein, und durch diese Einstellung wird innerhalb gewisser Grenzen eine Hemmung gesetzt f\u00fcr die Mitwirkung variabler Faktoren. Das ist nat\u00fcrlich ein eminent wichtiger Tatbestand, wodurch die Situation f\u00fcr. Erkennung kausaler Beziehungen i.m psychologischen Experiment (!) nach dieser Richtung hin g\u00fcnstiger gestaltet wird, als sie selbst f\u00fcr den Physiologen gegeben ist. Erstaunlicherweise wird in der Literatur immer behauptet, da\u00df f\u00fcr den.experimentellen Physiologen die Bedingungen zur Erkennung kausaler\n1) Diese Schrift. S. 1370 ff.","page":1531},{"file":"p1532.txt","language":"de","ocr_de":"1532\nGr. St\u00f6rring\nBeziehungen in jeder Beziehung g\u00fcnstiger gestaltet seien als f\u00fcr den experimentellen Psychologen 1).\u201d\n2. Von Lewin ist k\u00fcrzlich vom Standpunkte einer Gestaltspsychologie, welche von derjenigen Kr\u00fcgers ab weicht, der Wille experimentell untersucht worden.\nLewin beginnt seine Entwicklungen mit einer Polemik gegen die sogenannte \u201eElementenpsychologie\u201d, gegen die Psychologie, welche alles psychische Geschehen auf psychische Elemente und ihre Beziehungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sucht, wie das hier auch von uns geschehen ist.\nGegen dieselbe wird zun\u00e4chst geltend gemacht:\n,,Die Elementenforschung will wissen, welche selbst\u00e4ndigen Elemente es gibt, aus denen sich das Psychische zusammensetzt, also z. B. mit welchen Gef\u00fchlsmomenten man als Minimum auskommt, und ob der Willensakt ein besonderes, selbst\u00e4ndiges, nicht ,,zur\u00fcckf\u00fchrbares\u201d Element darstellt, ein Erlebnis sui generis 2).\u201d\nDer Terminus \u201eElementenpsychologie\u201d,,,Elementarforschung\u201d ist irref\u00fchrend, er ist dahin mi\u00dfverstanden worden, da\u00df diese Psychologie sich nur mit den Elementen des psychischen Lebens besch\u00e4ftige, nicht mit h\u00f6heren psychischen Erscheinungen, w\u00e4hrend damit diejenige Psychologie bezeichnet werden soll, welche das unmittelbar gegebene psychische Geschehen in beschreibender und kausaler Analyse auf letzte psychische Elemente zur\u00fcckf\u00fchrt und ihre gesetzm\u00e4\u00dfigen Beziehungen in komplexen psychischen Vorg\u00e4ngen zu bestimmen sucht.\nWir sind in unseren bisherigen Entwicklungen stets auf psychische Elemente zur\u00fcckgegangen und haben dabei doch recht komplexe psychische Tatbest\u00e4nde untersucht.\nDas Unternehmen, h\u00f6here psychische Erscheinungen auch in beschreibender und kausaler Weise auf letzte Elemente zur\u00fcckzuf\u00fchren, erweist sich jedenfalls als erfolgreich, wenn man nicht, wie es h\u00e4ufig geschehen ist, alles psychische Geschehen auf Empfindungen zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen den Anspruch macht oder auf Empfindungen und Gef\u00fchlst\u00f6ne. Wir f\u00fchren die psychischen Erscheinungen auf Empfindungen, Gef\u00fchlst\u00f6ne der Lust und Unlust und gewisse Beziehungsgedanken zur\u00fcck.\nEs ist nicht richtig, wenn behauptet wird, die sogenannte ,,Elementenforschung\u201d fasse diese Elemente als Gr\u00f6\u00dfen auf, welche sich selbst\u00e4ndig im psychischen Leben darstellen.\n1)\tSt\u00f6rring: 1. c. S. 146.\n2)\tLewin: Vorsatz, Wille und Bed\u00fcrfnis. 1926, S. 12.","page":1532},{"file":"p1533.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1533\nHat denn die bisherige experimentelle Psychologie, die nicht Gestaltspsychologie ist, die Gef\u00fchlst\u00f6ne als selbst\u00e4ndige psychische Gr\u00f6\u00dfen anfgefa\u00dft ? Man \u00fcbersieht dabei immer, da\u00df schon Wundt sehr stark betont hat, da\u00df im psychischen Geschehen die Empfindungen nicht f\u00fcr sich existieren, sondern mit Gef\u00fchlst\u00f6nen usw. innig verkn\u00fcpft sind. Oder soll der Vertreter der \u201eElementenforschung\u201d etwa behaupten, da\u00df Beziehungsgedanken f\u00fcr sich existieren ohne bezogene Gr\u00f6\u00dfen ?\nWenn die sogenannte \u201eElementenpsychologie\u201d die Frage diskutiert, ob der Wille ein rein elementares, nicht weiter zur\u00fcck -f\u00fchrbares Geschehen darstellt oder nicht, so ist sie dabei v\u00f6llig im Recht. Das ist doch jedenfalls f\u00fcr die wissenschaftliche Auffassung des Willensgeschehens von grundlegender Bedeutung. Uns stellten sich die W\u00fclensvorg\u00e4nge als komplexe psychische Tatbest\u00e4nde dar.\nGegen die sogenannte \u201eElementenforschung\u201d wird weiter von Lewin eingewandt:\n\u201eDas zweite Hauptcharakteristikum der Elementenforschung besteht in der isolierten, st\u00fcckhaften Behandlung dieser in m\u00f6glichster Reinheit und Selbst\u00e4ndigkeit darzustellenden Elemente. Wohl sieht man Zusammenh\u00e4nge. Aber man behandelt ihre Teile zu sehr als eine Und-Summe aus St\u00fccken, statt, wie es in der Regel ad\u00e4quat ist, als unselbst\u00e4ndige Elemente umfassender Ganzheiten, die als solche das Schicksal ihrer Quasiteile bestimmen 1).\u201d\nGegen diese Charakteristik der sogenannten \u201eElementforschung\u201d mu\u00df energisch protestiert werden. Hier wird mit Wertheimer2) von einer \u201eU nd-Summe aus St\u00fccken\u201d gesprochen. Das gilt ja doch nur von der allergr\u00f6bsten Assoziationspsychologie, aber nicht von der bisherigen experimentellen Psychologie und den sich um sie gruppierenden psychologischen Untersuchungsmethoden ! Mit diesem Argument wird ein schwerer met\u00e8odologischerFehler begangen: Man macht sich die Polemik gegen die Gegner zu leicht, indem man ihnen ung\u00fcnstigere Vorstellungsweisen zuschreibt, als sie in Wirklichkeit vertreten. Damit erreicht man aber sicherlich nichts.\nWenn dann positiv von dem Autor die Anschauung vertreten wird, da\u00df Ganzheiten das Schicksal der Teile bestimmen, so verweisen wir auf unsere kritischen Entwicklungen, die wir soeben \u00e4hnlichen Auffassungen von Kr\u00fcger gegen\u00fcber geltend machten3).\n1)\tLewin: 1. c. S. 13.\n2)\tWertheimer: Untersuchungen zur Lehre von der Gestalt. PsychoL Forsch. 1.\n3)\tDiese Schrift. S. 1531.","page":1533},{"file":"p1534.txt","language":"de","ocr_de":"1534\nGr. St\u00f6rring\nInteressant ist es, von dem Antor noch mehr im einzelnen zn h\u00f6ren, was die Ganzheitspsychologie im Gegensatz zur sogenannten \u201eElementenpsychologie\u201d leisten will.\nSie will zun\u00e4chst ,,die Struktur des gesamten \u00e4u\u00dferen Umfeldes\u201d beim psychischen Geschehen ber\u00fccksichtigen. Beim Streckenhalbieren ist also zu ber\u00fccksichtigen, ob noch weitere Strecken auf dem gleichen Blatt gegeben sind, wie sie zueinander und zum Blattrand liegen usw.\u201d \u2014 als 'ob die sogenannte \u201eElementen-psyehologie\u201d nicht die Komplikation eines psychischen Geschehens durch \u00e4u\u00dfere Umst\u00e4nde ber\u00fccksichtigt h\u00e4tte ! Wir haben das hier doch auf Schritt und Tritt getan !\nSodann soll von der Gestaltspsychologie ber\u00fccksichtigt werden das \u201einnere Umfel d\u201d. Es soll z. B. bei der Handlung des Schreibens unterschieden werden, ob ein Satz in Sch\u00f6nschrift abgeschrieben wird oder ob eine briefliche Mitteilung gemacht wird. \u201eKur im ersten Falle geht die Intention der Handlung auf das Schreiben selbst. Das Schreiben beim Briefschreiben ist dagegen gar kein Schreiben in diesem Sinne. Die motorische Komponente pflegt dabei ein durchaus unselbst\u00e4ndiges Moment darzustellen1).\u201d Als ob die sogenannte Elementenpsychologie etwas anderes behauptete, als ob sie solche psychische Vorg\u00e4nge identifizierte ! Tats\u00e4chlich spricht sie hier von ganz verschiedenen Willensvorg\u00e4ngen!\nWeiter will die Ganzheitspsychologie auf ,,zeitlich ausgedehnte Ganzheiten\u201d verweisen. Als ob die so-g e n a n n t e ,,E 1 e m e n t e n p s y c h o 1 o g i e\u201d diese Ganzheiten nicht auch kennte! Aber sie kennt dieselben als Ganzheiten, welche die wissenschaftliche Befriedigung darbieten, da\u00df sie sich auf psychische Elemente zur\u00fcckf\u00fchren lassen! Solche Ganzheiten sind uns z. B. entgegengetreten in experimentellen Wahlhandlungen.\nWenn von ,,Einleitungs- und Abschlu\u00dfvorg\u00e4ngen\u201d bei solchen Ganzheiten gesprochen wird, so pa\u00dft das vorz\u00fcglich zu Schlu\u00dfprozessen, von denen ich gezeigt habe, da\u00df sie sich \u2014 auch die komplexen \u2014 auf psychische Elemente zur\u00fcckf\u00fchren lassen2).\nWeiter soll die Gestaltpsychologie folgendes leisten: \u201eNicht minder wichtig wie die Gliederung im zeitlichen Nacheinander ist die Struktur der Handlungen als einer Ganzheit von Prozessen, die in verschiedener Tiefe und mit verschiedenem Gewicht gleichzeitig miteinander ablaufen 3).\u201d\nb 1. c. S. 14.\n2)\tSt\u00f6rring: Das urteilende und schlie\u00dfende Denken in kausaler Beziehung 1926.\n3)\t1. c. S. 15.","page":1534},{"file":"p1535.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1535\nAlso das soll wirklich ein Vorrecht der Gestaltpsychologie sein ? Wir haben hier mit den Mitteln der sogenannten Elementenp sy chologie den Unterschied zwischen peripheren Gef\u00fchlszust\u00e4nden nnd zentralen, die der Pers\u00f6nlichkeit entspringen, anfgewiesen.\nZuletzt wird bei Handlangen der ,,Zusammenhang mit b e-stimmten seelischen Energiequellen und bestimmten Spannungen55 betont. ,,Hat z. B. eine V ersuchsperson eine bestimmte Handlung, etwa das Abschreiben eines Wortes, bis zum \u00dcberdru\u00df wiederholt, so kann man unschwer erreichen, da\u00df sie sogleich dieselbe Handlung ohne irgendwelche Abneigung vollzieht, wenn man nur die Handlung anders einbettet. Man bittet z. B. die Versuchsperson, das eben geschriebene Wort auf der Biickseite des Blattes zur Kennzeichnung f\u00fcr den Versuchsleiter zu vermerken *)55.\nHier liegen f\u00fcr die sogenannte \u201eElementenpsy chologie5 5 wieder ganz verschiedene Willensakte vor. Die sogenannte \u201eElementen-psychologie'5 wei\u00df noch feineren Kuancen gerecht zu werden, wie sich uns das sp\u00e4ter bei Behandlung des Unterschiedes von Willensregungen zeigen wird, bei denen das eine Mal eine Lust gewollt wird, die sich mit den Gedanken einer T\u00e4tigkeit verbindet, und das andere Mal eine T\u00e4tigkeit, obgleich sich mit derselben zugleich Lust verbindet. \u2014-\nGehen wir jetzt zu den Einzeluntersuchungen von Lewin \u00fcber. Lewin polemisiert zun\u00e4chst in geschickter Weise gegen eine assoziationspsychologische Auffassung des Willensgeschehens, wonach bei l\u00e4ngeren Intervallen zwischen Entschlu\u00df und Ausf\u00fchrung die \u201eBezugsvorstellung55,, die mit ihr assoziierte \u201eZielvorstellung55 reproduziert und so das Handeln bedingt.\nDa\u00df hier nicht blo\u00dfe Assoziationen oder \u201eKoppelungen55 wirken, habe ich gleichzeitig bei Behandlung der in Schlu\u00dfprozessen steckenden Willensprozesse gezeigt. Das tritt dort an sehr vielen Stellen hervor, besonders zeigt dies das von mir auf-gestellte \u201eGesetz von der Wirkung derivativer Hemmung auf den Wechsel der Einstellung zum Schlie\u00df eu5 5 2).\nLewin bleibt leider seiner gestaltpsychologischen Eorschungs-weise entsprechend, in den willenspsychologischen Untersuchungen bei komplexen Begriffen, wie \u201eBed\u00fcrfnis\u201d, \u201eAufforderungscharakter der Objekte55 usw. stehen. H\u00e4tte er eine weitere Analyse im Sinne der sogenannten \u201eElementarpsychologie\u201d vollzogen, so w\u00fcrde er in der Analyse der Willensvorg\u00e4nge auf Gef\u00fchle gesto\u00dfen sein und Gelegenheit gehabt haben, die Gef\u00fchlspsychologie f\u00fcr die\nq 1. c. S. 15.\n2) St\u00f6rring: Das urteilende und schlie\u00dfende Denken in kausaler Beziehung. 1926. S. 27.","page":1535},{"file":"p1536.txt","language":"de","ocr_de":"1536\nG. St\u00f6rring\nwillenspsychologischen Erscheinnngen zn verwerten; die Entwicklungen h\u00e4tten dadurch mehr den Charakter kausaler Feststellungen angenommen.\nEs ist aber verst\u00e4ndlich, da\u00df die Ganzheit s psychologie dazu f\u00fchrt, die Feststellung kausaler Beziehungen gegen\u00fcber den blo\u00dfen Beschreibungen psychischer Tatbest\u00e4nde in den Hintergrund treten zu lassen.\nIch will zuletzt nicht unbemerkt lassen, da\u00df ich vom Standpunkte der sogenannten ,,Elementenpsychologie\u201d aus (Ganzheiten habe ich bereits vor 30 Jahren auf dem Gebiete der ethischen Wertsch\u00e4tzungen auf ge wiesen und dabei ihre ,,Dominierung\u201d nach bestimmter Bichtung hin hervorgehoben) betonte, da\u00df, wenn sie einmal zur Entwicklung gekommen sind, sie im allgemeinen nur als Ganzheiten wirken. Ich habe am Schl\u00fcsse meiner psychogenetischen Entwicklungen der ethischen Wertsch\u00e4tzungen1) folgende Feststellungen gemacht: ,,In unserer Entwicklung haben sich die psychischen Ph\u00e4nomene, welche die ethische Wertsch\u00e4tzung ausmachen, allm\u00e4hlich immer mehr kompliziert. Achtet man auf die Art und Weise, wie sich die Komplikationvollzog, so findet man, da\u00df, nachdem zwei psychische Faktoren zusammenwirkend eine neue Erscheinung hervorbrachten, dies letztere Ph\u00e4nomen als ein Ganzes mit einem anderen Faktor zusammenwirkt, eine h\u00f6here Funktion bedingt und da\u00df weiter auch diese wieder mit einem neuen Faktor nicht etwa so zusammen wirkt, da\u00df dieser Faktor zu einer Komponente der zuletzt bezeichneten h\u00f6heren Funktion in Beziehung trat, sondern zu dieser Funktion als Ganzes usw.\u201d\nEs wird aber von den Ganzheitspsychologen der Einflu\u00df des Ganzen auf die Teile \u00fcbersch\u00e4tzt, wenn gesagt wird, da\u00df das Ganze stets die Teile ver\u00e4ndere. Ich habe schon an anderem Orte2) dagegen geltend gemacht, da\u00df, wenn die Ganzheit des Schlu\u00dfprozesses ver\u00e4ndernd auf die als Teile in denselben eingehende Pr\u00e4misse wirkte, es keine g\u00fcltigen Schlu\u00dfprozesse g\u00e4be.\nIch habe dort auch auf eine andere deutliche Grenze der ganzheitspsychologischen Betrachtungsweise hingewiesen. Bei Untersuchung der verschiedenen Arten sittlicher Selbstachtung zeigt sich, da\u00df sie \u2014 wir werden darauf genauer sp\u00e4ter bei Behandlung der ethischen Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu sprechen kommen \u2014 durch Superposition \u00fcber einer einfachen ethischen Wertsch\u00e4tzung zustande kommen. Bei solcher Superposition bleibt der superponierte psychische Tatbestand unver\u00e4ndert.\nx) St\u00f6rring: MoralpMlosopMsclie Streitfragen. 1901. S. 151.\n2) St\u00f6rring: Die Frage der geisteswissenschaftlichen und verstehenden Psychologie. S. 148.","page":1536},{"file":"p1537.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1537\nAnhang 2. Zur allgemeinen Gef\u00fchlslehre:\nFortsetzung der Diskussion \u00fcber die Theorie der Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nI. Erg\u00e4nzung der f\u00fcr die Theorie in Betracht\nkommenden Tatsachen.\na) Die Sensibilit\u00e4t der inneren Organe.\nWir vollziehen hier eine Fortsetzung der Diskussion \u00fcber die Theorie der Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Zun\u00e4chst geben wir Erg\u00e4nzungen der f\u00fcr die Theorie in Betracht kommenden Tatsachen, um dann einige polemische Entwicklungen zu machen.\nDen bisher gegebenen Tatsachen haben wir noch hinzuzuf\u00fcgen Feststellungen \u00fcber die Sensibilit\u00e4t der inneren Organe und Entwicklungen \u00fcber physiologische Korrelate der Gef\u00fchlst\u00f6ne.\nDie Frage der Sensibilit\u00e4t der inneren Organe.\nF\u00fcr die Diskussion \u00fcber die Gef\u00fchlstheorien ist es wichtig, Bestimmungen \u00fcber die Sensibilit\u00e4t der inneren Organe zu machen, da diejenigen Gef\u00fchlstheorien, welche die Organempfindungen f\u00fcr die Entstehung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden in Anspruch nehmen, die Annahme der Sensibilit\u00e4t der inneren Organe machen m\u00fcssen.\n\u00dcber diese Frage hat man Feststellungen nach verschiedenen Methoden gemacht.\n1. Hier kommen zun\u00e4chst chirurgische Befunde in Betracht.\nLennander fand nach Er\u00f6ffnung der Bauchh\u00f6hle, unter Anwendung der Schleichschen Inf\u00fctrationsmethode mit Kokainl\u00f6sung, beim Darm, dem Magen, der Gallenblase, der Leber, der Harnblase, den Mieren, dem Pankreas, den Mesenterien und dem gro\u00dfen Metz keine Empfindlichkeit gegen Ber\u00fchrungsreize, Schmerzreize und Temperaturreize. Er fand nur das Peritoneum parietale empfindlich, und zwar schon bei leichten Ber\u00fchrungen, bei Dehnungen und Zerrungen. Zu beachten ist, da\u00df er, was sehr wichtig gewesen w\u00e4re, eine Untersuchung der Empfindlichkeit der Magen- und Darmschleimhaut auf chemische Beize nicht vorgenommen hat.\nBei Schmerzen im Magen- und im Darmkanal nimmt Lennander Zerrungen des Peritoneum parietale durch Adh\u00e4sionen an.\nDiese Auffassung von Lennander wurde von dem Chirurgen Bitter kritisch gepr\u00fcft. Bitter fand unter Vermeidung sekund\u00e4rer Beizung des Peritoneum parietale durch Zerrung unter Morphiumrausch beim Hunde weitgehende Sensibilit\u00e4t der Organe der Bauchh\u00f6hle1).\n*) Bitter: Zentralbl. f. Chir. Jg. 35. Nr. 20; Arch. f. Chir. 90. H. 2.","page":1537},{"file":"p1538.txt","language":"de","ocr_de":"1538\nG. St\u00f6rring\nEr sagt dar\u00fcber: \u201eIch unterbinde znn\u00e4chst das zentralw\u00e4rts nach der Bauchh\u00f6hle zn gelegene Gef\u00e4\u00df. Intensiver Schmerz ist die Folge. Jetzt unterbinde ich das peripherw\u00e4rts nach der Darmschlinge hin gelegene Gef\u00e4\u00df; es tritt nicht das Mindeste ein. Hier ist also offenbar die Nervenleitung unterbrochen. Umgekehrt st\u00f6hnt das Tier sofort auf, wenn ich das periphere Ende zuerst und schreit von neuem, wenn ich das zentrale zuletzt unterbinde. Hier ist der Ein wand, da\u00df ein Zug am Mesenterium eine Bolle bei der Entstehung des Unterbindungsschmerzes spielen kann, ausgeschlossen. Denn dann m\u00fc\u00dfte auch, wenn der periphere Knoten zuerst gekn\u00fcpft wird, Schmerz eintreten.\u201d\nBeim Fassen, Stechen, N\u00e4hen, Kneifen, Quetschen, Klopfen des Darmes und Magens trat beim Hunde stets eine Beaktion auf. Keine Empfindlichkeit konnte dagegen bei diesen Beizen nachgewiesen werden bei Leber, Milz, Pankreas, Netz. Bei Beizung mit dem faradischen Strom erwiesen sich alle Bauchorgane empfindlich, ebenso bei st\u00e4rkeren W\u00e4rmeenergien.\nErfahrungen Ritters bei Laparatomien unter Anwendung von Morphium zeigten, da\u00df die bezeichnete Feststellung auch f\u00fcr den Menschen gelten. \u00c4hnliche Erfahrungen macht Bier bei Laparotomie am nicht narkotisierten Menschen.\nDie differenten Befunde Lennanders macht sich Ritter verst\u00e4ndlich, indem er annimmt, da\u00df durch die Laparotomie selbst eine Abstumpfung der sensiblen Eingeweidenerven eingetreten sei, sowie eine zentrale sensorische L\u00e4hmung.\n2.\tEs kommen hier sodann experimentell - physiologische Befunde in Betracht. JE. H. Weber hat festgestellt, da\u00df kaltes und warmes Wasser, in den Darm eingef\u00fchrt, Temperaturempfindungen am Darm erzeugt. Bez\u00fcglich der Aufnahme von warmem und kaltem Wasser in den Magen stellt Weber fest, da\u00df dabei eine eigenartige, unbestimmte Empfindung ausgel\u00f6st wird, bei der man eine Lokalisation in die vordere Bauchwand vollzieht.\nSodann sind hier experimentelle Feststellungen von E. Meu-mann1) zu erw\u00e4hnen: Er fand bei Aufnahme von 1 g gemahlenem, wei\u00dfen Pfeffer in den Magen, bei Verwendung von Gelatinekapseln, keine Empfindung im Magen, erst in einigen Minuten unter erfolgter Applikation von weiteren 2 bis 3 g.\nBecher hat elektrische Beizung des Darmes per anum vorgenommen und fand dabei, da\u00df ganz deutliche Empfindungen entstehen2).\n3.\tDie in Bede stehende Frage hat man sodann durch Selbstbeobachtungsmethode zu entscheiden versucht. Helmholtz3) kon-\n0 M. Meumann: Arch. f. d. ges. Psychol. 14. S. 293.\n2)\tBecher: Zeitschr. f. Psychol. 49; Arch. f. d. ges. Psychol. 15.\n3)\tHelmholtz: \u00dcber Lokalisation der Empfindungen innerer Organe. Vortr\u00e4ge II. S. 387 ff.","page":1538},{"file":"p1539.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\t1539\nstatiert \u201eEmpfindungen der Baucheingeweide\u201d, sodann \u201eEmpfindungen f\u00fcr Zirkulationshemmnisse, Atmungs\u00fcemmnisse der Lunge* f\u00fchlbare \u00c4nderung des Herzschlages\u201d usw.\nGenaue Feststellungen nach der Selbstbeobachtungsmethode hat hier JE. Meumann gemacht. Er sagt: \u201eIch habe zwei Semester hindurch gelegentliche Notizen \u00fcber Empfindungen aus dem Innern meines Organismus gesammelt. Man mu\u00df hierbei geeignete Gelegenheiten abwarten, da viele derartige Empfindungen \u2014 aber durchaus nicht alle \u2014 nur bei leichten Verstimmungen der inneren Organe eintreten. Zur Erl\u00e4uterung der folgenden Beobachtung sei bemerkt, da\u00df ich nur \u00fcber schwache Verdauungst\u00e4tigkeit verf\u00fcge; Magen und Darm sind bei mir sehr empfindlich gegen Di\u00e4twechsel und ich habe eine schwache Neigung zu Herz-neurose, die als Folge einer fr\u00fcheren Periode der \u00dcberarbeitung geblieben ist. Aus meinen Notizen ersehe ich nun, da\u00df ich beinahe allw\u00f6chentlich, bei manchen Empfindungen sogar fast t\u00e4glich deren Vorhandensein angegeben habe. Die meisten inneren Empfindungen stammen aus dem Magen und aus dem Darm. Jede ungew\u00f6hnlich starke Mahlzeit, jeder Genu\u00df schwer verdaulicher Speisen verursacht eine charakteristische Empfindung von F\u00fclle und Druck im Magen, die eine halbe bis zwei Stunden nach der Mahlzeit anh\u00e4lt. Die Lokalisation derselben wird bestimmter, wenn ich die Magengegend abtaste. Empfindungen aus dem Darm werden notiert als station\u00e4re oder eigent\u00fcmlich wandernde Druckempfindungen, die im Innern der Bauchh\u00f6hle, stets aber an den vorderen Partien lokalisiert werden. Sie treten bei Verdauungsst\u00f6rungen aller Art auf. Fast niemals bin ich nach dem Essen von Verdauungsst\u00f6rungen frei. Beizmittel, wie Kaffee und Lik\u00f6r, steigern sie vor\u00fcbergehend. Die Hungerempfindung wird nicht nur im Munde und in den Schlundpartien, sondern ganz bestimmt auch im Magen lokalisiert. Durch Palpieren der Magengegend nimmt sie an Bestimmtheit zu, und das Abtasten wird als eine Kontrolle der Lokalisation empfunden. Mehrmals notierte ich bei Bl\u00e4hungen sehr intensive, periodisch auf- und abschwellende Schmerzen in der ganzen Gegend des D\u00fcnndarmes, die jedoch ebenfalls nur in der vorderen Partie der Bauchh\u00f6hle lokalisiert werden. In die B\u00fcckenpartien werden dagegen einige Male Empfindungen aus der Speiser\u00f6hre verlegt, die infolge zu lebhaften Schluckens fester oder fl\u00fcssiger Speisen auftraten. Es erh\u00f6ht sofort dabei die Bestimmtheit der Lokalisation, wenn man die Gegend der Empfindung mit dem Finger zu bezeichnen sucht. Nebenbei sei bemerkt, da\u00df ich keinen Tag seit Anstellung dieser Beobachtungen die Verdauung als ganz ohne Empfindungen ablaufend bezeichnen konnte.\nAu\u00dfer diesen Empfindungen aus den meisten Teilen des Tractus intestinus, zu dem noch die bekannten, von jedermann","page":1539},{"file":"p1540.txt","language":"de","ocr_de":"1540\nG. St\u00f6rring\nzugestandenen Empfindungen vor, w\u00e4hrend und nach der Entleerung des Rektums kommen, habe ich sehr charakteristische Empfindungen aus der Lunge und dem Herzen. Sowohl bei lange dauernder geb\u00fcckter Haltung des Oberk\u00f6rpers, als bei l\u00e4ngere Zeit k\u00fcnstlich angehaltenem Atem und bei Tiefatmen habe ich charakteristische Empfindungen, die ich unm\u00f6glich auf die ausgebreitete, beim Atmen beteiligte Muskulatur beziehen kann. Beim Valsalsaschen und beim JJis. M\u00fcllerschen Versuch sind diese Empfindungen in gesteigertem Ma\u00dfe vorhanden. Von einem im Beobachten ge\u00fcbten Emphysematiker wurde mir versichert, da\u00df ,seine asthmatischen Zust\u00e4nde unausgesetzt von charakteristischen, nnlustbetonten Empfindungen begleitet seien, die sich steigerten, wenn ihn das Leiden besonders bel\u00e4stigte. Da die T\u00e4tigkeit der Atemmuskeln beim Emphysem schwerlich eine sehr behinderte ist, jedenfalls nicht entsprechend den Atembeschwerden, so d\u00fcrften diese Empfindungen doch wohl aus der Lunge selbst stammen, also wohl aus den Alveolen.\nWas die Empfindungen aus dem Herzen betrifft, so treten .sie bei jeder namhaften Ver\u00e4nderung der Herzt\u00e4tigkeit auf. Die Wirkung des Kaffees, eines Antipyrinpulvers (1 g), einer schweren Zigarre, die des schnellen Laufens, des pl\u00f6tzlichen Erwachens nach einem erregenden (insbesondere schreckhaften) Traume, zahlreiche Affekte, am meisten das Erschrecken, aber auch gro\u00dfe M\u00fcdigkeit empfinde ich am Herzen in charakteristischen Empfindungen, die je nach den einzelnen Ursachen wieder qualitativ etwas verschieden sind. W\u00e4hrend der Zeit meiner Herzneurose empfand ich alles schnelle Gehen, alle M\u00fcdigkeitszust\u00e4nde und den Hunger in Form einer schmerzhaften, in der Herzgegend lokalisierten Empfindung. Each dem Erschrecken oder schnellem Aufstehen aus der Ruhelage, ebenso bei schnellem Laufen kann ich jede einzelne Herzkontraktion mit den inneren Empfindungen verfolgen und habe mich oft mittels Betastens des Herzens von der Koinzidenz des innerlich empfundenen und \u00e4u\u00dferlich getasteten Herzschlages \u00fcberzeugt.\nZu diesen Beobachtungen f\u00fcge ich noch in K\u00fcrze alle die weiteren hinzu, die wohl von jedermann zugestanden werden. Wir empfinden den Hunger, den Durst (wahrscheinlich bis in den Schlund hinab und auch im Magen), ferner die hochgradig gest\u00f6rte Verdauung, und jede au\u00dfergew\u00f6hnliche Belastung des Magens und Darmes mit Speisen oder Getr\u00e4nken als Empfindung der,,F\u00fclle\u201d ; vor dem Erbrechen haben wir starke Ekelempfindungen aus der Schlingmusknlatur und dem Magen, w\u00e4hrend desselben intensive Schmerzen im Magen; bei Kolik haben wir Schmerzen in der Bauchh\u00f6hle; das Bed\u00fcrfnis zur Entleerung des Rektums k\u00fcndigt sich in charakteristischen Druckempfindungen an, die","page":1540},{"file":"p1541.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1541\nvielleicht aus dem Sphincter ani und vesicae und Detrusor urinae stammen. Die Entleerung selbst und ihre Machwirkung sind gleichfalls von charakteristischen Empfindungen begleitet\u201d 1).\n\u00dcber die Empfindlichkeit der Lungen sagt dann Menmann noch des n\u00e4heren:\n\u201eMan kann nun wiederum mit gro\u00dfer Bestimmtheit und Genauigkeit durch direkte Beobachtung sehr wohl die Empfindungen unterscheiden, die aus der Atemmuskulatur stammen, von den ganz andersartigen, sehr charakteristischen Empfindungen, die in der Tiefe der Lunge lokalisiert werden. Ich habe selbst eine Zeitlang an asthmatischen Anf\u00e4llen gelitten, die im Zusammenhang mit der Herzneurose auftraten. Man kann in solchen Zust\u00e4nden den Brustkorb sehr gut durch respiratorische Bewegungen ausdehnen und zusammenziehen, also willk\u00fcrlich tief atmen. Dann beobachtet man, da\u00df die Atemmuskulatur in ausgiebiger Weise arbeitet, aber man sp\u00fcrt trotzdem in sehr lebhafter Weise eine \u2022eigenartige Empfindungsgruppe, die v\u00f6llig verschieden ist von der muskul\u00e4ren Empfindung des Atmens. W\u00e4hrend n\u00e4mlich die T\u00e4tigkeit der Atemmuskulatur als eine auf- und abwogende empfunden wird, bleibt diese in der Lunge lokalisierte Empfindung v\u00f6llig station\u00e4r, sie wird h\u00f6chstens in ihrer Intensit\u00e4t, nicht aber in ihrer Qualit\u00e4t durch das willk\u00fcrliche Atmen vor\u00fcbergehend' beeinflu\u00dft. Da\u00df die asthmatischen Empfindungen ausschlie\u00dflich aus der Atemmuskulatur stammen, ist schon deswegen unwahrscheinlich, weil der Atem nicht nur durch Selbststeuerung von dem niederen Atemzentrum aus reguliert wird, sondern zugleich unter der Herrschaft des Willens steht, und die reflektorische Beeinflussung 4er Atmung durch die chemische Zusammensetzung des Blutes l\u00e4\u00dft sich vor\u00fcbergehend durch willk\u00fcrliches Atmen \u00e4ndern\u201d 2).\nb) Physiologische Korrelate der Gef\u00fchlst\u00f6ne.\nWenn man Beflexionen \u00fcber die physiologischen Korrelate der Gef\u00fchlst\u00f6ne anstellen will, ist es zweckm\u00e4\u00dfig, im Auge zu behalten, da\u00df es biologisch sehr wahrscheinlich ist, da\u00df Lust gebunden ist an F\u00f6rderung der Lebensfunktionen, Unlust an Beeintr\u00e4chtigung derselben (Spencer, Lotze).\nHier hat man drei M\u00f6glichkeiten zu ber\u00fccksichtigen. Es kann einmal Lust gebunden sein an den Umsatz von potenzieller Energie in aktuelle in den Uervenzentren der Hirnrinde; zweitens ist die M\u00f6glichkeit zu erw\u00e4gen, da\u00df Lust an den Empfang von potenzieller Energie gebunden ist, und drittens k\u00f6nnte Lust bei <einem bestimmten Verh\u00e4ltnis von potenzieller zu aktueller Energie\np Arch. f. d. ges. Psychol. 9. S. 51 ff.\n2) Arch. f. d. ges. Psychol. 14. S. 297 und 298.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t100","page":1541},{"file":"p1542.txt","language":"de","ocr_de":"1542\nG-. St\u00f6rring\nauftreten. Die zweite und dritte M\u00f6glichkeit habe ich fr\u00fcher zu widerlegen gesucht1). Die dritte M\u00f6glichkeit war damals von Alfred Lehmann in der ersten Auflage seiner Psychologie des; menschlichen Gef\u00fchlslebens vertreten. Ich bin f\u00fcr die erste M\u00f6glichkeit eingetreten, habe diese Hypothese n\u00e4her ausgestaltet. Sp\u00e4ter hat A. Lehmann2) auch die Auffassung entwickelt, da\u00df Lust an den Umsatz von potenzieller in aktuelle Energie gebunden ist.\nMan mu\u00df hier nat\u00fcrlich eine gewisse Beschr\u00e4nkung machen und etwa sagen, Lust sei gebunden an den Umsatz von potenzieller in aktuelle Energie in den zentralen Nervenzellen innerhalb einer bestimmten Grenze. Was l\u00e4\u00dft sich nun \u00fcber diese Grenze sagen? Wenn man in der Skala der Beize, welche die zentralen Nervenzellen treffen, nach oben steigt, so kommt man nat\u00fcrlich an eine Grenze derart, da\u00df bei noch weiterer Steigerung der Intensit\u00e4t Unlust entsteht. Es ist offenbar f\u00fcr den Organismus zweckm\u00e4\u00dfig, da\u00df Beize so gro\u00dfer Intensit\u00e4t, da\u00df die durch sie ausgel\u00f6sten Dissimilationsprozesse nicht mehr durch Assimilationsprozesse ausgeglichen werden k\u00f6nnen, sich mit Unlust verbinden.\nIch habe sodann Muskelkurven verwertet, die ich selbst am kurarisierten Eroschmuskel bei steigender Beizintensit\u00e4t bis zu \u00fcbermaximaler Beizung unter isometrischem Beizungsregime angestellt habe. Bei \u00fcbermaximalen Beizen weisen diese Kurven gegen die anderen eine deutliche Modifikation auf. Die Kurve bei \u00fcbermaximaler Beizung zeigt sehr deutlich fr\u00fcheren und j\u00e4heren Abfall, sowie k\u00fcrzere Dauer der Spannungsentwicklung.\nEs ist also bei \u00fcbermaximaler Beizung eine eigent\u00fcmliche Modifikation der Zersetzungsprozessein der lebendigen Substanz zu konstatieren. Dieser eigent\u00fcmlichen Modifikation der Zersetzungsprozesse in der lebenden Substanz entsprechen bei \u00fcbermaximaler Beizung von zentralen Nervenzellen des Gehirns Unlustgef\u00fchle.\nDeshalb nehme ich an, da\u00df wir die in Bede s t e h e n d e G r e n z e in derWeise n \u00e4 h e r best immen k\u00f6nnen, da\u00df eine Beizung der zentralen sensorischen Nervenzellen sich mit Lust verbindet, solange ihre Intensit\u00e4t sich unter der Gr\u00f6\u00dfe h\u00e4lt, wo die in derselben ausgel\u00f6sten Dissimilations- und Assimilationsprozesse eine wesentliche Modifikation, eine St\u00f6rung erfahren. Diese Modifikation betrachte ich als einen Ausdruck\nx) St\u00f6rring: Vorlesungen \u00fcber Psychopathologie. 1900.\n2) A. Lehmann: Die k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der psychischen Zust\u00e4nde. II. Teil. 1901.","page":1542},{"file":"p1543.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1543\ndaf\u00fcr, da\u00df die in der Nervenzelle vorhandenen nnd dnrc\u00fc den intrazellul\u00e4ren Stoffwechsel znr Disposition stehenden Energien nicht mehr ansreichen, anf den durch die Dissimilationsprozesse gesetzten Eeiz znr Assimilation hin Assimilationsprozesse in normaler Weise ansznl\u00f6sen.\nBei unserer Hypothese wird auch gut verst\u00e4ndlich, da\u00df der Gef\u00fchlston einer Empfindung von der gesamten Stimmungslage abh\u00e4ngt. Die Versorgung des Gehirns mit Blut und deshalb auch die disponible Energie f\u00fcr Assimilationsprozesse ist bei gehobener Stimmungslage g\u00fcnstiger als bei indifferenter. Die Grenze f\u00fcr das Auftreten von Unlust mu\u00df deshalb bei gehobener Stimmungslage h\u00f6her liegen.\nA. Lehmann und Berger1) nehmen an, da\u00df bei Lust der Quotient der Summe der Assimilationsprozesse zu den Dissimilationsprozessen gleich ist. Ich habe mich von der Dichtigkeit dieser Annahme nicht \u00fcberzeugen k\u00f6nnen2).\nII. Polemische Entwicklungen zur Theorie\nder Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\na) Sherringtons Experimente zur Pr\u00fcfung der peripheren Gef\u00fchlstheorie.\nNach Vervollst\u00e4ndigung unserer Darstellung der Tatsachen, welche f\u00fcr die Theorie der Gef\u00fchlszust\u00e4nde in Betracht kommen, gehe ich zu polemischen Entwicklungen zur Gef\u00fchlstheorie, \u00fcber. Ich bespreche zun\u00e4chst eine Polemik von Sherrington, um dann Entwicklungen von Thalbitzer und Alfred Lehmann zur Gef\u00fchls -theorie kritisch zu behandeln.\nDer Physiologe Sherrington hat interessante Versuche zur Pr\u00fcfung der peripheren Gef\u00fchlstheorie angestellt. Es kam ihm darauf an, zuzusehen, wie ein Hund sich Affektreizen gegen\u00fcber verh\u00e4lt nach Durchschneidung der zentripetalen Bahnen, welche die Organempfindungen von der K\u00f6rperperipherie vermitteln. Er durchschnitt deshalb einem Hunde das B\u00fcckenmark zwischen Hals- und Brustteil. Sodann durchschnitt er l\u00e4ngere Zeit nach der B\u00fcckenmarksoperation den Vagus und Sympathikus auf der rechten Seite, unmittelbar hinter der Ursprungsstelle des Nv. phrenicus. Zuletzt wurde noch 28 Tage sp\u00e4ter der Vagus und Sympathikus linksseitig durchschnitten. Durch diese Eingriffe entstand Aufhebung der Empfindungen auf Beize von der Brust, den Bauch- und Beckeneingeweiden, von der Haut, der hinter den Schultern bis zum Ende des K\u00f6rpers liegenden Muskulatur, sodann der Empfindungen von Blutgef\u00e4\u00dfen des K\u00f6rpers, ausgenommen\n*) Berger: \u00dcber die k\u00f6rperlieben \u00c4u\u00dferungen psycbiscber Zust\u00e4nde. 1904.\n2) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Anfl. S. 62 ff.\n100*","page":1543},{"file":"p1544.txt","language":"de","ocr_de":"1544\nGr. St\u00f6rring\nvon Blutgef\u00e4\u00dfen des Kopfes. Ihre Sensibilit\u00e4t behielten nur Kopf, Hals, Schultern, Vorderbrust und die Beugemuskeln der Vorderbeine. Das Tier wurde in diesem Zustande, in dem \u00fcbrigens gro\u00dfe Atemnot bestand, noch 20 Tage am Leben gehalten.\nKach Sherrington zeigt der Hund, trotz des hier gesetzten Ausfalles von Organempfindungen, \u00e4hnliche Affekt\u00e4u\u00dferungen bei entsprechenden Beizen als in der Korm! Beim Anblick des W\u00e4rters treten Ausdrucksbewegungen der Freude auf, bei Herannahen einer Katze Ausdrucksbewegungen der Wut. Bei Darbietung von Hundefleisch trat abweisendes Verhalten auf: Ausdrucksbewegungen des Abscheus und Ekels.\nAn Hand dieser Experimente von Sherrington hat sich eine sehr lebhafte Diskussion entwickelt, besonders von franz\u00f6sischen Autoren1).\nIch beschr\u00e4nke mich hier darauf, anzugeben, welche Stellung ich zu diesen Versuchen unter Hinblick auf die periphere Gef\u00fchlstheorie eingenommen habe. ,,Zur Erkl\u00e4rung des Verhaltens der Sherringtonschen Hunde nehme ich ... zu den Feststellungen Bechterews u. a. \u00fcber die Beziehung der subkortikalen Zentren zu den Ausdrucksbewegungen, wie man sie bei Affekten auf treten sieht, noch folgendes hinzu: Die Hunde von Sherrington haben sich nach den operativen Eingriffen jedenfalls in einem Zustande gro\u00dfer Steigerung der Beizbarkeit der Hirnrinde (und des \u00fcbrigen Gehirns) befunden. Denn die Durchschneidung der Vagi f\u00fchrt jedenfalls eine gro\u00dfe Steigerung der Frequenz der Herzt\u00e4tigkeit und eine au\u00dferordentliche Verlangsamung und Vertiefung der Atmung mit sich, welche mit starken dyspnoeischen Erscheinungen verbunden ist. Au\u00dferdem zeigen die so operierten Tiere St\u00f6rungen in der Funktion des Magens, die zu starker Abmagerung f\u00fchren. In einem so abnormen Zustande ist nat\u00fcrlich das Auftreten einer abnormen Steigerung der Beizbarkeit der Gro\u00dfhirnrinde unausbleiblich. Ich brauche nicht einmal anzunehmen, da\u00df diese abnorme Steigerung der Beizbarkeit der Hirnrinde bei Gelegenheit der Wahrnehmung von Objekten, welche in der Korm Zorn oder Freude ausl\u00f6sen, die Beproduktionen fr\u00fcherer Organempfindungen ausl\u00f6ste und diese dann halluzinatorisch zu Organempfindungen gesteigert wurden, die sich dann mit Organgef\u00fchlen verbunden h\u00e4tten. Ich betone nur, da\u00df durch diese Steigerung der Beizbarkeit der Bindenzentren (und der subkortikalen Zentren) die Ausl\u00f6sung von Beizungen in den subkortikalen Zentren der Ausdrucksbewegungen sehr erleichtert wurde.\n1) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Anfl. S. 75 ff.","page":1544},{"file":"p1545.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1545\nDazu kommt noch folgendes : In der Norm wird die motorische Tendenz der Bewegungsvorstellungen durch die in Unlustzust\u00e4nden steckenden Organempfindungen gehemmt, in Unlustzust\u00e4nden, welche sich an die Vorstellung des betreffenden Handelns anschlie\u00dfen. Fallen solche hemmende Gef\u00fchlszust\u00e4nde fort, so haben die Bewegungsvorstellungen eine viel st\u00e4rkere motorische Tendenz als fr\u00fcher. Die durch fr\u00fchere \u00e4hnliche Willenshandlungen vollzogene Bahnung macht sich unter diesen Bedingungen viel st\u00e4rker als beim Erhaltensein von Unlustzust\u00e4nden geltend. So finde ich das Verhalten der Sherringtonschen Hunde durchaus begreiflich, ohne da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei ihnen vorhanden waren. Ich nehme aber nicht mit d'Allonnes an, da\u00df diese Hunde auch keine Lust und Unlust mehr empfunden haben. Nach der Modifikation der James-Langesehen Theorie, welche ich oben vollzogen habe, mu\u00df ich annehmen, da\u00df die Wahrnehmungen und Vorstellungen der Hunde sich noch wie in der Norm mit Gef\u00fchlst\u00f6nen der Lust und Unlust verbunden haben, mit Gef\u00fchlst\u00f6nen, die wir nie f\u00fcr sich erleben, da sie bei uns in Gef\u00fchls zust\u00e4nden stets mit Organempfindungen verschmelzend, das eine Mal mehr, das andere Mal weniger qualitative Modifikationen eingehen.\nIn dem Verhalten dem dargebotenen Hundefleisch gegen\u00fcber kann ich auch gar keinen merkw\u00fcrdigen Tatbestand sehen. Es handelt sich hier um eine instinktm\u00e4\u00dfige Beaktion auf einen bestimmten Geruchsreiz, ohne entsprechende Gef\u00fchlszust\u00e4nde, wobei also eine erleichterte Anspruchsf\u00e4higkeit bestimmter motorischer Zentren von diesem Geruchsreiz aus angeboren ist\u201d 1).\nb) Die Polemik von Thalbitzer.\nEin d\u00e4nischer Psychiater, TJialbitzer, hat in einem Aufsatz \u00fcber ,,die manisch-depressive Psychose\u201d2), zum Teil unter Verwertung pathologischer F\u00e4lle, eine eingehende Kritik der allgemeinen Gef\u00fchlstheorie von Alfred Lehmann gegeben. Da meine Gef\u00fchlstheorie in Hauptpunkten mit der sp\u00e4ter von Lehmann entwickelten \u00fcbereinstimmt, so werde ich von dieser Kritik zum Teil auch betroffen.\nThalbitzer nimmt f\u00fcr Gef\u00fchlszust\u00e4nde ein besonderes Zentrum an, welches im Okzipitalhirn gelegen sein soll und polemisiert gegen die Annahme, da\u00df die physiologischen Korrelate der Gef\u00fchlst\u00f6ne an dieselben Gehirnzentren gebunden sein sollen, wie die Empfindungen und Vorstellungen.\nBez\u00fcglich der physiologischen Korrelate der Gef\u00fchlst\u00f6ne der Lust macht er folgendes geltend: ,,Jeder kennt aus dem t\u00e4glichen\np St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. S. 79 und 80.\n2) Thalbitzer: Arch. f. Psychol. 43. H. 3, S. 49 ff.","page":1545},{"file":"p1546.txt","language":"de","ocr_de":"1546\nG-. St\u00f6rring\nLeben F\u00e4lle, in welchen steigende intellektuelle Arbeit durchaus nicht von steigender Lust begleitet ist, ja sogar h\u00e4ufig F\u00e4lle, wo steigende intellektuelle Arbeit mit abnehmender Lust (Unlust) begleitet ist, ohne da\u00df ein Grund ist anzunehmen, da\u00df diese Arbeit die Kr\u00e4fte des betreffenden Individuums \u00fcbersteigt. Andrerseits kennt jeder ebenso sichere F\u00e4lle, in denen abnehmende intellektuelle Arbeit bis zu vollst\u00e4ndiger geistiger K\u00fche von stets steigender Lust, die nicht selten in der vollkommenen geistigen K\u00fche kulminieren kann, begleitet ist.\u201d\nWas die zuerst ins Auge gefa\u00dften F\u00e4lle betrifft, wo mit steigender intellektueller Arbeit sich abnehmende Lust verbindet, ohne da\u00df man von einer die Kr\u00e4fte \u00fcbersteigenden Arbeit sprechen k\u00f6nnte, so handelt es sich in manchen solcher F\u00e4lle um einen latenten Erm\u00fcdung s zustand. Solche Erm\u00fcdungszust\u00e4nde werden leicht \u00fcbersehen, und wenn man sie \u00fcbersieht, kann man eine intellektuelle Arbeit, welche in der Korm den Kr\u00e4ftevorrat nicht \u00fcbersteigt, irrt\u00fcmlich als eine nicht \u00fcberm\u00e4\u00dfige auffassen. Sodann kann hier der Umstand st\u00f6rend wirken, da\u00df eine bestimmte intellektuelle Arbeit dem Interessekreis nicht entspricht und deshalb Unlust ausl\u00f6st.\nWas die zu zweit betrachteten F\u00e4lle angeht, wo abnehmende intellektuelle Arbeit bis zu vollst\u00e4ndiger K\u00fche mit stets steigender Lust begleitet ist, die in vollkommener K\u00fche maximal sein kann, so beweisen solche F\u00e4lle nichts, wenn man nicht einmal das Vorhandensein der beiden soeben genannten Faktoren und sodann die Absicht zur Erholung ausschlie\u00dft, wobei sich an den Gedanken der Erholung Lustgef\u00fchl durch \u00dcbertragung anschlie\u00dfen und der Willensakt ebenfalls komplizierend wirkt.\nSodann polemisiert Thalbitzer gegen die angenommenen physiologischen Korrelate von Gef\u00fchlst\u00f6nen der Unlust. Er sagt: \u201e\u00dcbrigens w\u00fcrde Unlust, jedenfalls diejenige, die auf einem gr\u00f6\u00dferen Verbrauch als Zuf\u00fchrung beruht und vermeintlich die h\u00e4ufigste sein sollte, nicht recht lange dauern k\u00f6nnen \u2014 eben nur so lange, bis der \u00dcberschu\u00df an Stoff der Zellen verbraucht w\u00e4re; von dem Augenblick an kann der Verbrauch die Zuf\u00fchrung nicht \u00fcbersteigen: wo nichts ist, hat .... Diese Schwierigkeit hat Lehmann durch die Annahme vermeiden wollen, da\u00df, wenn der \u00dcberschu\u00df der Zelle verbraucht w\u00e4re, es auf die Zelle selbst losginge. Man weigert sich jedoch zu glauben, da\u00df Lehmann im Ernst meinen sollte, da\u00df bei jedem l\u00e4nger dauernden Unlustzustande Gehirnzellen destruiert werden.\u201d\nDie einfachste Erwiderung gegen Thalbitzer, die er sich selbst eigentlich schon h\u00e4tte machen sollen, ist die, da\u00df der weitere \u00fcberm\u00e4\u00dfige Verbrauch von Energie gehemmt wird durch Kontraktion","page":1546},{"file":"p1547.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1547\nder Blutgef\u00e4\u00dfe und damit einhergehende Herabsetzung der Erregbarkeit !\nWie gestaltet sieb nun die positive Annahme eines \u25a0spezifischen Zentrums f\u00fcr die Gef\u00fchle?\n\u201eVorstellungst\u00e4tigkeit und Gef\u00fchl als wesensverschiedene, elementare Erscheinungen hinstellen und sie gleichzeitig zu Funktionen derselben Zellen machen zu wollen, ist in der Tat ein physiologischer Selbst Widerspruch.\u201d \u201eHiermit mu\u00df es als befriedigend bewiesen angesehen werden, da\u00df das Gef\u00fchl keine Funktion von Zellen sein kann, die im voraus eine andere Funktion haben; es steht uns dann als Ausweg nur die Annahme offen, da\u00df die Gef\u00fchle \u2022einer Funktion von Zellen, denen wir im voraus keine Endfunktion \u00c4uget eilt haben, entsprechen mu\u00df.\u201d\nUm die Lokalisation zu vollziehen, wird auf Gail in ausf\u00fchrlichen Entwicklungen zur\u00fcckgegriffen und dann das Okzipitalhirn als Zentrum der Gef\u00fchle in Anspruch genommen.\nSodann entwickelt Thalbitzer, da\u00df man durch gewisse psycho-pathologische \"F\u00e4lle zur Annahme eines besonderen Zentrums f\u00fcr die Gef\u00fchle gezwungen werde. Thalbitzer glaubt sich durch die psychopathologischen F\u00e4lle gedr\u00e4ngt, auf der Gehirnrinde drei verschiedene Zentren anzunehmen: ein Zentrum f\u00fcr die intellektuellen Funktionen, er sagt f\u00fcr die \u201eGedankent\u00e4tigkeit \u2014 im weitesten Sinne\u201d, sodann ein Zentrum f\u00fcr die Gef\u00fchlst\u00e4tigkeit und zuletzt ein Zentrum f\u00fcr die motorische Innervation, psychomotorische Zentren. Dabei betont er, \u201eda\u00df wir gewi\u00df nie eine dieser T\u00e4tigkeiten isoliert treffen, sondern da\u00df jedes psychische Produkt Elemente aller enth\u00e4lt, wenigstens in der Form eines Tonus, indem doch entweder das eine oder das andere oder das dritte dieser Elemente am st\u00e4rksten in den Vordergrund tritt\u201d 1).\nZu dieser Annahme sei man gezwungen auf Grund der Tatsachen des manisch-depressiven Irreseins.\nIn der Manie sei im allgemeinen die Stimmung gehoben, die motorische Innervation gesteigert, der Vorstellungsverlauf beschleunigt, w\u00e4hrend in der Melancholie im allgemeinen die Stimmung deprimiert, die motorische Innervation herabgesetzt, der Vorstellungsverlauf verlangsamt sei. Das ergibt folgendes Schema:\nMelancholie\ndeprimiert\nherabgesetzt\nverlangsamt\nManie\ngehoben\ngesteigert\nbeschleunigt\nStimmung Mot. Innervation V orstellungsverlauf\nSo sei es in der Mehrzahl der F\u00e4lle. JSTun finden sich aber tats\u00e4chlich alle m\u00f6glichen Kombinationen ; vor allem er-\nx) Thalbitzer: 1. c. S. 1118.","page":1547},{"file":"p1548.txt","language":"de","ocr_de":"1548\nG. St\u00f6rring\nweise sich die \u00c4nderung des Vorstellung s-Verlaufes als unabh\u00e4ngig von der Stimmung, so da\u00df man in gewissen F\u00e4llen von Manie bei gehobener Stimmung-eine Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes finde und bei deprimierter Stimmung eine Beschleunigung des Vorstellungs verlauf es.. Daf\u00fcr sucht dann Thalbitzer F\u00e4lle beizubringen.\nGegen die Annahme eines besonderen Gef\u00fchlszentrums von Thalbitzer hat nun A. Lehmann folgende Argumente geltend gemacht :\n1.\tWenn es ein besonderes Gef\u00fchlszentrum g\u00e4be, dann m\u00fc\u00dften die Gef\u00fchlst\u00f6ne eine me\u00dfbare Zeit von den Empfindungen der verschiedenen Sinnesgebiete getrennt sein, eine Zeit von \u00e4hnlicher Gr\u00f6\u00dfe, wie die Zeit f\u00fcr Reproduktionen von Vorstellungen. Das widerspricht aber den festgestellten Tatsachen.\n(Wir verweisen auf die Untersuchungen, die Nahashima bei Titchener ausgef\u00fchrt hat.)\n2.\tIm Gef\u00fchlszentrum m\u00fc\u00dften Nervenbahnen von allen Empfindungs- und Vorstellungszentren sich vereinigen. Diese Bahnen kennt man aber nicht.\n3.\tBei Verletzung des Zentrums oder einer Bahn zu diesem Zentrum m\u00fc\u00dften sich Empfindungen ohne Gef\u00fchlst\u00f6ne nachweisen lassen, w\u00e4hrend in Wirklichkeit alle Empfindungen mit Gef\u00fchlst\u00f6nen begleitet sind.\n4.\tWenn Thalbitzer die Lust als eine die Norm \u00fcberschreitende, Unlust als eine die Norm nicht erreichende Erregung charakterisiert, so kann er von der Tatsache nicht Rechenschaft geben, da\u00df Unlust im allgemeinen die st\u00e4rkere Erregung begleitet.\nWas die psychopathologischen Argumente von Thalbitzer anlangt, so meint A. Lehmann, darauf brauche er nicht einzugehen, da die Hypothese mit den Tatsachen des normalen Lebens nicht vereinbar sei. Er sagt: ,,Diese Hypothesen von einem besonderen Gef\u00fchlszentrum (er meint die Hypothese von Thalbitzer und die von Nie\u00dfl-Mayendorf [auf welche wir sp\u00e4ter zu sprechen kommen]) sind behauptet worden, um gewisse pathologische Verh\u00e4ltnisse zu erkl\u00e4ren. Hierauf brauchen wir indes nicht einzugehen, denn eine solche Hypothese mu\u00df in erster Linie den normalen Erscheinungen des Gef\u00fchlslebens gerecht werden, weil wir diese viel besser kennen als die pathologischen, die nur aus den oft recht d\u00fcrftigen Angaben der Patienten erschlossen werden k\u00f6nnen\u201d 1).\nWenn Lehmann sagt, da\u00df die psychopathologischen Auffassungen aus oft recht d\u00fcrftigen Angaben der Patienten erschlossen werden, so mu\u00df dagegen energisch Front gemacht werden. Manche Angaben von Patienten sind allerdings recht d\u00fcrftig, das ist richtige\n1) A. Lehmann: 1. c. S. 159.","page":1548},{"file":"p1549.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1549\nAber der Psychiater und der die pathologischen Tatsachen verwertende Psychologe hat gar nicht n\u00f6tig, sich anf ,,recht d\u00fcrftige\u201d Angaben von Patienten zn st\u00fctzen. Eine F\u00fclle von Tatsachen ergibt sich ans Angaben, welche derselbe Patient zn verschiedenen Zeiten in gleicher Weise macht, nnd welche man bei verschiedenen Patienten in gleicher Weise anftreten sieht. Sodann ist zn beachten, da\u00df in den F\u00e4llen, welche man ans den Erscheinnngen des pathologischen Seelenlebens als Experimente der Hatur answ\u00e4hlt, eine Komponente des Seelenlebens eine Ver\u00e4nderung in einer Intensit\u00e4t, die pathologisch ist, erf\u00e4hrt, wobei man dann die Wirkung der \u00c4nderung dieser Komponente im pathologischen Seelenleben wegen ihrer abnormen Intensit\u00e4t viel leichter erkennt als im normalen Seelenleben ! So sieht man eine ins Krankhafte gesteigerte melancholische Stimmung ihre Wirkung nach sich ziehen in den verschiedensten Partien des Seelenlebens: im Vorstellungsverlauf in quantitativer und qualitativer Hinsicht, in der Gestaltung der Wahrnehmungsprozesse, in den sich an Wahrnehmungen, Vorstellungen und Gedanken anschlie\u00dfenden Gef\u00fchlen, in den Willensprozessen und sogar in den Urteilsprozessen. Hie abnorm starke Intensit\u00e4t der psychischen Erscheinungen l\u00e4\u00dft uns in den pathologischen F\u00e4llen auch den umgekehrten Weg von der Wirkung zur Ursache leichter gehen, weil auch die einzelnen Faktoren des Ursachenkomplexes deutlicher heraustreten!\nEs sind \u00fcbrigens auch nicht immer ,,Angaben\u201d der Patienten, auf welche es dem Psychopathologen ankommt. In den F\u00e4llen, die hier gerade zur Diskussion stehen, kommen drei Momente in Frage: Stimmung des Patienten, die Funktion der psychomotorischen Zentren und die Schnelligkeit des Vorstellungs verlauf es, und es handelt sich besonders darum, ob eine maniakalische Stimmung sich nicht nur mit Beschleunigung, sondern auch mit Verlangsamung des Vorstellungs verlauf es verbinden kann und ob eine melancholische Stimmung auch mit beschleunigtem Vorstellungsverlauf einhergehen kann. Die Stimmung des Patienten wird aber nicht so sehr aus den Angaben der Patienten erkannt, vor allem nicht aus den Angaben derselben \u00fcber seinen psychischen Zustand, als aus seinem Verhalten, und die \u00c4nderung der Schnelligkeit des Vorstellungsverlaufes st\u00fctzt sich ebensowenig auf Angaben der Patienten, wie die Feststellung der \u00c4nderung der Funktion der psychomotorischen Zentren.\nWir m\u00fcssen also die Ablehnung der psychopathologischen Diskussion, wie sie bei Lehmann nicht nur hier auftritt, sondern leider bei ihm allgemein erfolgt, als einen bedenklichen Mangel","page":1549},{"file":"p1550.txt","language":"de","ocr_de":"1550\nG-. St\u00f6rring\nin der psychologischen Methodik bezeichnen. Ein Antor, welcher sieh so intensiv mit den Fragen der Psychologie des Gef\u00fchlslebens besch\u00e4ftigt hat, h\u00e4tte sich anch \u00fcber psychopathologische Tatbest\u00e4nde ein Urteil verschaffen m\u00fcssen. Dieser Mangel in der Methodik von Lehmann tritt bei Behandlung der Psychologie der h\u00f6heren Gef\u00fchle, bei der Psychologie der sittlichen, \u00e4sthetischen nnd religi\u00f6sen Gef\u00fchle, am empfindlichsten hervor.\nDamit soll aber keineswegs geleugnet werden, da\u00df Lehmann ganz hervorragende Leistungen auf dem Gebiete der Gef\u00fchls-psychologie aufzuweisen hat.\nJetzt zur\u00fcck zu Thalbitzer. Thalbitzer behauptet also, durch Tatsachen des manisch-depressiven Irreseins zeigen zu k\u00f6nnen, da\u00df es ein besonderes Gef\u00fchlszentrum gibt. Er zieht F\u00e4lle von Manie heran, in denen nicht wie gew\u00f6hnlich Beschleunigung, sondern Verlangsamung des Vorstellungs verlauf es vorliegt und F\u00e4lle von Melancholie mit Beschleunigung des Vorstellungsverlaufes.\nWas die F\u00e4lle von Manie mit verlangsamtem Vorstellungsverlauf anlangt, so ist \u00fcber die Mania improductiva agitata, also \u00fcber Verbindung von manischer Stimmung, verlangsamten Vorstellungsverlauf und psychomotorische Exzitation zu sagen, da\u00df diese F\u00e4lle nach der gedachten Beziehung nichts beweisen, weil hier die Hemmung des Vorstellungs verlauf es als durch die psychomotorische Exzitation bedingt aufgefa\u00dft werden kann. Eine psychomotorische Exzitation wirkt in doppeltem Sinne: f\u00fcr sich genommen zieht sie eine Erregung auch der Vorstellungszentren nach sich. Aber die motorische Unruhe erzeugt Komplexe von Bewegungs- und Spannungsempfindungen, welche bei st\u00e4rkerer Intensit\u00e4t eine betr\u00e4chtliche derivative Hemmung f\u00fcr den Vollzug aller intellektuellen Funktionen setzen.\nThalbitzer betont sodann F\u00e4lle von Mania passiva improductiva, also F\u00e4lle von manischer Stimmung, motorischer Hemmung und verlangsamtem Vorstellungs verlauf. Er selbst bringt unter seinen F\u00e4llen einen Fall dieser Art mit leichter motorischer Hemmung1). Ich kann aber nicht zugeben, da\u00df in dem beigebrachten Fall der Vorstellungs verlauf verlangsamt ist. Patientin ist wortkarg. Diese Wortkargheit l\u00e4\u00dft sich auf das Konto ihres \u201eabweisenden\u201d Verhaltens setzen. Es ist dabei die Bede von \u201eraffinierter Miene\u201d der Patientin, \u201ezornm\u00fctigem\u201d Wesen und \u201eabweisendem\u201d Verhalten. Diese Annahme wird noch dadurch unterst\u00fctzt, da\u00df gelegentlich eine Beaktion in \u201eschlagfertigem\u201d, \u201e zungengel\u00e4ufigem\u201d Ton auf tritt.\nx) Thalbitzer: 1. c. S. 1093.","page":1550},{"file":"p1551.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1551\nAber auch angenommen, man k\u00f6nnte einen Fall aufweisen, wo mit der manischen Stimmung sich eine Verlangsamung des Vorstellungs verlauf es verbindet, die sich nicht als sekund\u00e4r erweist. W\u00fcrde dadurch bewiesen, da\u00df es ein besonderes Gef\u00fchlszentrum gibt, da\u00df Empfindung und Gef\u00fchlston nicht auf das Funktionieren derselben Zellen zu beziehen ist ? Keineswegs.\nWenn eine manische Stimmung vorliegt, so haben wir es mit einer pathologisch gesteigerten, gehobenen Stimmung mit zornartigem Einschlag zu tun. Sehen wir von dem zornm\u00fctigen Einschlag ab, so liegt bei einer gehobenen Stimmung eine Verschmelzung von Organempfindungen mit Gef\u00fchlst\u00f6nen der Lust vor. Verbindet sich nun die gehobene Stimmung mit einer Verlangsamung des Vorstellungs verlauf es, so sage ich mir: eine gehobene Stimmung tendiert dazu, eine Beschleunigung des Vorstellungsverlaufes herbeizuf\u00fchren; da werden also irgendwelche sekund\u00e4re Faktoren diese Kombination zustande gebracht haben.\nLiegt aber einmal die Kombination einer gehobenen Stimmung mit Verlangsamung des Vorstellungsverlaufes vor, was will das f\u00fcr die aufgeworfene Frage sagen ? Ich gebe nat\u00fcrlich zu, da\u00df die gehobene Stimmung von dem Funktionieren von Zentren abh\u00e4ngt, die nicht die Vorstellungszentren sind. Damit ist also gar nichts gegen die Annahme beigebracht, da\u00df die Zentren der Empfindungen und Vorstellungen zugleich die Zentren der Gef\u00fchlst\u00f6ne sind!\nVon Thalbitzer ist offenbar gar nicht geh\u00f6rig geschieden zwischen Gef\u00fchlst\u00f6nen und Gef\u00fchlszust\u00e4nden: f\u00fcr gewisse Gef\u00fchlszust\u00e4nde, n\u00e4mlich Stimmungen, gibt es spezifische Zentren, aber nicht f\u00fcr Gef\u00fchlst\u00f6ne. Gef\u00fchlst\u00f6ne sind \u00fcberhaupt Abstraktionsprodukte, die im allgemeinen nicht f\u00fcr sich existieren, sondern nur in Verschmelzungsprodukten auftreten.\nVon den Zentren f\u00fcr Stimmungen l\u00e4\u00dft sich nat\u00fcrlich auch sagen, da\u00df sie bei allen anderen Gef\u00fchlszust\u00e4nden mit wirken. Sie kommen hier aber nicht allein in Betracht: wir haben ja fr\u00fcher zwischen prim\u00e4ren und sekund\u00e4ren Gef\u00fchlst\u00f6nen unterschieden !\nDie F\u00e4lle von melancholischer Stimmung mit beschleunigtem Vorstellungs verlauf brauchen wir jetzt gar nicht mehr zu besprechen. Da l\u00e4\u00dft sich ganz \u00e4hnliches sagen.\nc) Kritik der zentralen Gef\u00fchlstheorie von A. Lehmann.\nKach Lehmann spielen die Organempfindungen in den Gef\u00fchlszust\u00e4nden die Bolle, da\u00df mit den Organempfindungen die ,,I n n i g-","page":1551},{"file":"p1552.txt","language":"de","ocr_de":"1552\nGr. St\u00f6rring\nkeit des Affektes\u201d w\u00e4chst, das ,,Ergriffensein des Subjektes\u201d, ohne dem haben wir es nnr mit \u201evorgesteilten Gef\u00fchlen\u201d zu tun. Von \u201evorgestellten Gef\u00fchlen\u201d sagt aber Lehmann, da\u00df ,,eigentlich nnr der Vorstellungsinhalt des Gef\u00fchles reproduziert wird; nebenbei besteht das Wissen, da\u00df der Zustand fr\u00fcher lust-oder unlustvoll gewesen ist, von der Gef\u00fchlsbetonung ist aber nur eine zweifelhafte Spur gegenw\u00e4rtig\u201d 1). Bez\u00fcglich des letzten Punktes wird an einer anderen Stelle2) bei Besprechung eines vorgestellten Lustgef\u00fchles gesagt : \u201eEine schwache Lust mag wohl auch mit der Vorstellung verbunden gewesen sein\u201d. Und anderweitig3) wird gesagt : ,,Es handelt sich also hier, wie leicht ersichtlich, um einen wesentlich intellektuellen Zustand, eine Vorstellung, wie jede andere, die nur von einem schwachen Gef\u00fchlston begleitet ist\u201d.\nMit vorgestellten Gef\u00fchlen scheinen hier also intellektuelle Tatbest\u00e4nde gemeint zu sein, welche sich nur mit Gef\u00fchlst\u00f6nen verbinden.\nUach derselben Bichtung scheint zu weisen, da\u00df Gegens\u00e4tze der Lust- und Unlustgef\u00fchle, wie erregend \u2014 deprimierend, beruhigend \u2014 beunruhigend, heiter \u2014 ernst, erfrischend \u2014 bet\u00e4ubend\u201d, als von den begleitenden Organempfindungen herr\u00fchrend auf gef a\u00dft werden4).\nAber wenn Lehmann an der oben herangezogenen Stelle sagt, da\u00df die Organempfindungen die Bedeutung f\u00fcr die Entwicklung des Affektes haben, da\u00df sie seine \u201eInnigkeit\u201d verst\u00e4rken, so mu\u00df man doch annehmen, da\u00df ohne die Organempfindungen auch schon ein Affekt da ist5).\nWenn aber bei Entstehung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde ein Affekt schon vor der Einwirkung der Organempfindungen vorhanden ist, wie kommt es dann zu der Entstehung der qualitativen Eigent\u00fcmlichkeit der differenten Affekte ?\nDie Theorie, welche Lehmann seine Gef\u00fchlstheorie nennt, gibt doch nur Bechenschaft von der Entstehung des Gegensatzes zwischen Lustgef\u00fchlen und Unlustgef\u00fchlen, macht auch nicht verst\u00e4ndlich, da\u00df es lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde von verschiedener Qualit\u00e4t gibt und unlustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde von verschiedener Qualit\u00e4t.\nx) A. Lehmann: 1. c. S. 222. \u2014 2) A. Lehmann: 1. c. S. 224. -\u2014 3) A. Leh-\nmann: 1. c. S. 225. \u2014 4) A. Lehmann: 1. c. S. 393.\n5) Anmerkung. Nach derselben Richtung wiesen die Entwicklungen \u00fcber Umstimmung der Gef\u00fchle, wo die Theorie \u00fcber Gef\u00fchlst\u00f6ne die Umstimmung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde verst\u00e4ndlich machen soll.","page":1552},{"file":"p1553.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1553\nII. TEIL.\nSpezielle Gef\u00fchlslehre.\nEinleitung in die spezielle Gef\u00fchlslehre ; Wertgef\u00fchle, emotionelle Wertsch\u00e4tzungen und spezifische emotionelle\nWerturteile1).\nI. Begriffliche Bestimmungen.\nZun\u00e4chst vollziehe ich eine begriffliche Abgrenzung zwischen Wertgef\u00fchlen, emotionellen Wertsch\u00e4tzungen nnd spezifisch emotionellen Werturteilen.\nVon Wertgef\u00fchlen spreche ich da, wo eine Verschmelzung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden mit intellektuellen Unterlagen vorliegt, ohne da\u00df eine emotionelle Stellungnahme dabei stattfindet.\nEmotionelle Wertsch\u00e4tzungen nenne ich emotionelle Stellungnahmen ohne Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit.\nEmotionelle Stellungnahmen mitStellung-nahme zur Er age nach der Allgemeing\u00fcltigkeit nenne ich spezifische emotionelle Werturteile.\nEs ist leicht zu sehen, da\u00df hierbei emotionelle Wertsch\u00e4tzungen auch Urteile einschlie\u00dfen, w\u00e4hrend das bei Wertgef\u00fchlen nicht der Eall ist. In manchen F\u00e4llen treten an die Stelle von Urteilen die den Urteilen entsprechenden Beziehungsgedanken, also diejenigen Beziehungsgedanken, welche in Verbindung mit einem G\u00fcltigkeitsbewu\u00dftsein Urteile sein w\u00fcrden.\nVon den emotionellen Wertsch\u00e4tzungen sind intellektuelle Wertsch\u00e4tzungen zu unterscheiden. Emotionelle Wertsch\u00e4tzungen sind solche Wertsch\u00e4tzungen, welche sich auf Gef\u00fchlszust\u00e4nde unmittelbar gr\u00fcnden. Man mu\u00df aber beachten, da\u00df es auch ein blo\u00dfes Wissen um emotionelle Stellungnahmen gibt, wie es ein Wissen von Gef\u00fchlszust\u00e4nden gibt, ohne da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde pr\u00e4sent sind. Die intellektuellen Wertsch\u00e4tzungen gr\u00fcnden sich also zwar nicht unmittelbar, aber in letzter Linie auch auf Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nx) Anmerkung. Der Behandlung der verschiedenen Gebiete des h\u00f6heren Gef\u00fchlslebens schicke ich eine allgemeine Untersuchung \u00fcber Wertgef\u00fchle, emotionelle Wertsch\u00e4tzungen und spezifisch emotionelle Werturteile voraus.\nIn diesen Entwicklungen \u00fcber Wertgef\u00fchle, emotionelle Wertsch\u00e4tzungen und spezifische emotionelle Werturteile schlie\u00dfe ich mich in der Hauptsache an die Arbeit von G. E. St\u00f6rring (Experimentelle Untersuchung \u00fcber das Werterlebnis. Arch. f. d. ges. Psychol. 73. H. 1 und 2 [1929]) an, welche in meinem Institut entstanden ist \u2014 nur da\u00df ich die Beziehung der Wertgef\u00fchle, Wertsch\u00e4tzungen und Werturteile zu Werten n\u00e4her behandle.","page":1553},{"file":"p1554.txt","language":"de","ocr_de":"1554\nG. St\u00f6rring\nII. Emotionelle Wertsch\u00e4tzungen.\n1. Die Bedingungen des Vollzuges emotioneller Wertsch\u00e4tzungen.\nEine Bedingung des Vollzuges emotioneller Wertsch\u00e4tzungen haben wir soeben namhaft gemacht: sie gr\u00fcnden sich auf Gef\u00fchlszust\u00e4nde, und zwar auf Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche intellektuelle Unterlagen haben (es gibt ja doch auch Gef\u00fchlszust\u00e4nde ohne intellektuelle Unterlagen, so eine Angst, ohne da\u00df das Individuum wei\u00df, wovor es Angst hat) \u2014 es handelt sich hier ja doch um emotionelle Stellungnahmen zu etwas.\nEine weitere Bedingung f\u00fcr den Vollzug emotioneller Stellungnahme ist darin gegeben, da\u00df ein solcher Gef\u00fchlszustand mit seiner intellektuellen Unterlage zum Gegenstand der Betrachtung gemacht wird, da\u00df die Aufmerksamkeit sich auf diesen Tatbestand richtet. Diesen Vorgang bezeichnet man als Transszendenz1). Wir besitzen eben die F\u00e4higkeit, ein Erlebnis, das wir haben, selbst zum Gegenstand der Betrachtung zu machen.\nIch gebe daf\u00fcr folgenden Fall:\nL,\t68. Beizwort Trunksucht, Versuchsperson \u00fcb\n,,Ich habe mich an einen Fall erinnert, wo ein trunks\u00fcchtiger Vater seine Familie schwer gesch\u00e4digt hat, das Lebensgl\u00fcck einiger seiner Kinder zerst\u00f6rte. Das stellte ich mir vor: Zuletzt trat ein Gef\u00fchl der Bitterkeit in mir auf, das ich auffa\u00dfte als mein Gef\u00fchl gegen\u00fcber diesem Tatbest\u00e4nde. Ich sagte mir: Diese Wirkung kommt von der Trunksucht. Ich tat das, w\u00e4hrend ich das Gef\u00fchl der Bitterkeit hatte, welches ich auffa\u00dfte als mein Gef\u00fchl gegen\u00fcber dem Tatbestand. Die Bestimmung, welche ich machte, war gef\u00e4rbt durch das Gef\u00fchl der Bitterkeit. Ich erlebte dabei, wie die Bitterkeit dazu dr\u00e4ngte, zu sagen : Diese Wirkungen kommen von der Trunksucht. Diese emotionelle Stellungnahme m\u00f6chte ich als Wertsch\u00e4tzung bezeichnen2).\u201d\nHier wird das Gef\u00fchl der Bitterkeit, welches durch Betrachtung eines Falles von Trunksucht entsteht, zum Gegenstand der Betrachtung gemacht, denn Versuchsperson sagt, da\u00df sie dies Gef\u00fchl auffa\u00dfte als ihr Gef\u00fchl gegen\u00fcber dem Tatbest\u00e4nde.\nEine letzte Bedingung f\u00fcr die Entstehung von emotionellen Wertsch\u00e4tzungen ist darin gegeben, da\u00df auf Grund der Betrachtung der intellektuellen Unterlage mit seinem Gef\u00fchlszustande eine urteilsm\u00e4\u00dfige Feststellung gemacht wird, die wir sp\u00e4ter n\u00e4her charakterisieren werden.\nx) St\u00f6rring: Erkenntnistheorie. S. 111 und 112.\n2) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 157.","page":1554},{"file":"p1555.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1555\nSp\u00e4ter wird auch zugleich klar werden, weshalb man, wenn diese Bedingungen erf\u00fcllt sind, von Wertsch\u00e4tzung sprechen kann, was es mit den W er t gedanken auf sich hat.\nEmotionelle Wertsch\u00e4tzungen mit und ohne sprachliche Formulierung\nder Urteile.\nWenn man denkpsychologische Untersuchungen anstellt, so trifft man h\u00e4ufig auf den Tatbestand, da\u00df eine gute Versuchsperson sagt, es liege ein Urteil ohne Worte vor. Das macht sich auch hier geltend. In manchen F\u00e4llen findet die in der emotionellen Wertsch\u00e4tzung liegende Feststellung eine sprachliche Formulierung, in anderen wird die in der emotionellen Wertsch\u00e4tzung liegende urteilsm\u00e4\u00dfige Feststellung ohne Worte gemacht.\n2. Zwei Arten der emotionellen Wertsch\u00e4tzungen mit formalverschiedenen Wertgedanken.\nEs ist von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr die Wertpsychologie zu unterscheiden zwischen emotionellen Wertsch\u00e4tzungen, die sich auf Verobjektivierungvon Gef\u00fchlszust\u00e4nden in den intellektuellen Unterlagen gr\u00fcnden und solchen, bei denen keine Verobjektivierung in den intellektuellen Unterlagen stattfindet.\nIn diesen verschiedenen Wertsch\u00e4tzungen sind verschiedene primitive Wertgedanken gegeben bzw. f\u00fchren sie zu verschiedenen Wertgedanken.\nWir fassen zun\u00e4chst den Fall der emotionellen Wertsch\u00e4tzung ins Auge, wo sich die Wertsch\u00e4tzung auf Verobjektivierung des betreffenden G ef \u00fc hl s z u s t a n d e s st\u00fctzt. Dabei entsteht das, was hier Wert genannt wird, auf eine mechanische Weise, durch einfachen Verschmelzungsproze\u00df des Gef\u00fchlszustandes mit der intellektuellen Unterlage.\nIch gebe dazu ein Protokoll.\nReizwort V olkslied. Versuchsperson G. : TcT WeSt-\\- Wu*\n,,Das Wort wurde zun\u00e4chst akustisch aufgenommen, ich merkte gleich, da\u00df sich ein sympathisches Gef\u00fchl anschlo\u00df, und ich fragte mich : woher kommt das % Sagte mir, es ist mir etwas Liebes. Es kam die Vorstellung eines Liederbuches, neben dem Lied ,,Volkslied\u201d kleingedruckt. Es ist so, als sei das Wort lustvoll umwoben. Es kam dann der Gedanke an die liebliche Melodie: das Gef\u00fchlvolle und Innige trat hervor. Wanderschaft, Krieg (O Stra\u00dfburg), Heimatlieder, Liebeslieder. . . Das waren so","page":1555},{"file":"p1556.txt","language":"de","ocr_de":"1556\nGr. St\u00f6rring\neinzelne Beispiele. Es fielen mir einzelne Anf\u00e4nge ein: Am Brunnen vor dem Tore, O Stra\u00dfiburg usw. Fragte mich, ob das nun Volkslieder seien. Soll ich mich nun auf ein besonderes Lied besinnen ? . . . Es kam schlie\u00dflich die Erinnerung an ein russisches Volkslied, das einen tiefen Eindruck auf mich gemacht hatte. Es f\u00e4llt mir sonst kein bestimmtes ein. Schlie\u00dflich denke ich, es ist auch gar nicht zweckm\u00e4\u00dfig, ein bestimmtes vorzustellen. Dachte deshalb im allgemeinen an ,,Volkslied\u201d: Das Gefiihlsinnige zieht gerade am Volkslied so an, das ist das Charakteristische... Ich sagte mir, \u25a0es steckt etwas Inniges darin, durch den Gef\u00fchlszustand merkte ich, da\u00df etwas Wertvolles im Volkslied stecke. Wertbewu\u00dftsein, aber noch kein Werturteil. Schlie\u00dflich verallgemeinerte ich es. Bewu\u00dftsein, da\u00df es von jedem in der gleichen Lage als wertvoll erlebt w\u00fcrde: da erst f\u00e4llte ich das Werturteil: Volkslied ein St\u00fcck Volksgut, Erinnerung an die Aufforderung, ein Werturteil zu f\u00e4llen1).\u201d\nVom Volkslied ist hier gesagt: \u201eEs ist mir, als sei das Wort ,lustvoll umwoben\u2019. ,Es ist etwas mir Liebes.\u2019 Und dann weiter \u00e4hnlich: ,Das Gef\u00fchlsinnige zieht gerade am Volkslied so an, das ist das Charakteristische.\u2019 ,Ich sagte mir, es steckt etwas Inniges darin.\u2019 Durch den Gef\u00fchlszustand merkte ich, da\u00df etwas Wertvolles im Volkslied stecke; Wertbewu\u00dftsein, aber noch kein Werturteil. Schlie\u00dflich verallgemeinerte ich es . . .\u201d\nHier ist offenbar der Gef\u00fchlszustand des Innigen mit dem Gedanken an das Volkslied verschmolzen. Deshalb kann Versuchsperson sagen, da\u00df etwas Wertvolles in dem Volkslied stecke.\nIch gebe noch einen weiteren Fall:\nI, 51. Beizwort Bad, Versuchsperson B,, Werturteil gefordert.\n\u201eIch erinnerte mich an ein Bad im vorigen Jahre bei gro\u00dfer Hitze. Als ich aus dem Bade kam und in der Stadt umherlief, hatte ich eine stark lustbetonte, k\u00fchle Empfindung am ganzen K\u00f6rper. Diese K\u00fchleempfindung fa\u00dfte ich auf als Wirkung des Badens. Diese Vorstellung der K\u00fchleempfindung -f- Lust erschien mir auch als emotionelle Stellungnahme zum Bade. Dabei trat die Vorstellung der K\u00fchleempfindung + Lustgef\u00fchl deutlicher im Bewu\u00dftsein heraus und von ihr aus fand ein sehr leichter \u00dcbergang zum Gedanken des Badens statt. Dieser GedankedesBadens war ein getaucht in das Gef\u00fchl und die Vorstellung von Frische. Das schien mir eine emotionelle Stellungnahme zum Bade zu sein . . . Ich erinnerte mich nun, da\u00df\nx) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S'. 154.","page":1556},{"file":"p1557.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1557\nich, gest\u00fctzt auf den Gef\u00fchlszustand nach dem Baden, damals das Baden als wertvoll gesch\u00e4tzt habe1) ...\u201d\nEs hei\u00dft hier Dieser Gedanke des Bades war eingetancht in das Gef\u00fchl nnd die Vorstellung von Frisch e.\u201d ,,Das schien mir eine emotionelle Stellungnahme zn sein.\u201d\n\u00dcber diese emotionelle Stellungnahme, welche noch nicht den Charakter der Allgemeing\u00fcltigkeit tr\u00e4gt, geht Versuchsperson dann sp\u00e4ter hinaus: \u201eNun hatte ich die \u00dcberzeugung, das ist meistens so.\u201d Hier handelt es sich offenbar in der ersten Phase auch um eine emotionelle Wertsch\u00e4tzung, bei welcher der Gef\u00fchls -znstand mit der intellektuellen Unterlage verschmolzen ist.\nHier wird von der intellektuellen Unterlage, mit welcher der lnstgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszustand eine Verschmelzung eingegangen ist, in welchem der Gef\u00fchlsznstand objektiviert ist, gesagt, da\u00df er etwas Liebes sei, etwas Angenehmes, etwas Wertvolles nsw. Das \u201elnstvoll\u201d, mit dem Gef\u00fchlszustand des Innigen nmwobene Volkslied ist etwas Liebes, etwas Wertvolles. Das Volkslied wird lieb nnd wertvoll genannt, weil das Gef\u00fchl des Innigen mit ihm verschmolzen ist. Man sagt dann auch, es hat Wert.\nEs liegt hier also au\u00dfer der Verobjektiviernng der Gef\u00fchle in der intellektuellen Unterlage ein Urteil vor. Nicht etwa das Urteil, da\u00df es sich um eine Verobjektiviernng von Gef\u00fchlen handelt \u2014 das setzt ja Psychologie voraus \u2014, sondern das Urteil, da\u00df dem betreffenden Gegenstand lnstgef\u00e4rbte Gef\u00fchle anhaften, mit anderen Worten, da\u00df er angenehm, wertvoll sei.\nVon diesem Urteil ist aber zn beachten, da\u00df es mit nnd ohne Worte auf treten kann. Urteile ohne Worte werden leicht in der Selbstbeobachtung, auch in der unter experimentellen Bedingungen gestellten, \u00fcbersehen.\nIn F\u00e4llen also, wo bei einer emotionellen Wertsch\u00e4tzung der Gef\u00fchlszustand mit der intellektuellen Unterlage verschmolzen ist, wird die intellektuelle Unterlage als wertvoll erlebt, ist f\u00fcr die Versuchsperson ein Wert, ein primitiver Wert, weil es ein Etwas ist, dem lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchle anzuhaften scheinen. \u00c4hnliches gilt von unlustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszust\u00e4nden bei Unwerten.\nx) O. JE. St\u00f6rring: 1. c. S. 156.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n101","page":1557},{"file":"p1558.txt","language":"de","ocr_de":"1558\nGr\u00ab St\u00f6rring\nDamit ist die primitivste Form des Wert-gedankens gegeben. Man mn\u00df hier aber beachten, da\u00df die Wertsch\u00e4tzung eines Gegenstandes von verschiedenen Gesichtspunkten aus erfolgen kann. Das wird uns sp\u00e4ter bei gewissen Reizworten deutlich in Erscheinung treten, wobei dann zwischen der Wertsch\u00e4tzung einzelner Seiten einer Sache und der Wertsch\u00e4tzung des Ganzen unterschieden wird. \u2014\nWie steht es nun mit den emotionellen Wertsch\u00e4tzungen, wenn der Gef\u00fchlszustand keine Yerobjektivierung in der intellektuellen Unterlage findet?\nIch gebe zun\u00e4chst einige F\u00e4lle.\nIII, 68. Reizwort Zeitung. Versuchsperson J., emotionelle Verarbeitung gefordert.\n,,Unmittelbar war mir ,Zeitung\u2019 angenehm, f\u00e4llte das Urteil: Das ist mal etwas Interessantes, hat mehr mit dem realen Leben zu tun, man hat dauernd damit zu tun. Im Hintergrund wurde ich durch ein gemischtes Gef\u00fchl, etwas Unlust, darauf aufmerksam, da\u00df etwas daran nicht ganz sauber ist. Wurde absichtlich zur\u00fcckgestellt. Stellte fest, da\u00df es eine sehr angenehme Situation ist, wenn man morgens fr\u00fch Zigaretten raucht und Zeitung liest. Dies sehr angenehm. Fragte mich : Warum ? Ist es Ausdruck einer angenehmen Stimmung \u00fcberhaupt, wenn man das tut ? Man hat Zeit, Ruhe usw. und den Inhalt der Zeitung. Stellte fest, da\u00df mich neue Nachrichten verschiedenen Inhaltes interessieren. Sagte: Etwas sehr Sch\u00f6nes an der Zeitung ist, wenn man auf jede Nachricht gespannt ist. Krieg, Politik, au\u00dferdem stehen neue wissenschaftliche Dinge darin. Sagte mir: Die dauernde Spannung, in der man sich befindet, ist etwas sehr Sch\u00f6nes, etwas, wodurch man auf eine gewisse YAtalit\u00e4ts-stufe versetzt w\u00fcrd, die man gern erlebt . . . Erinnerte das Unlustgef\u00fchl von vorher, sagte mir: Die Journalisten sind schlechte Kerle. (Gustav Freytag), Journalistik verdirbt den Charakter, keine Wahrheitsliebe, schlechtes Deutsch . . . Sagte mir: Das ist mir ziemlich gleichg\u00fcltig, man braucht nicht darauf reinzufallen ; was passiert, ist doch sehr interessant, stellte ich fest. Zeitung ist f\u00fcr dich ein sehr angenehmes Erlebnis. Es ist dies ein Werturteil, das sich auf eine kausal behandelte Wertsch\u00e4tzung gr\u00fcndet1).\u201d\nDie Wertsch\u00e4tzung tritt hier sofort beim Y7erstehen des Wortes auf: Versuchsperson sagt: \u201eUnmittelbar war mir Zeitung sehr angenehm. F\u00e4llte das Urteil.\u201d Und zuletzt, nach l\u00e4ngerem Referat, sagte Versuchsperson, da\u00df hier eine kausale Wertsch\u00e4tzung vorliege.\nx) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 183.","page":1558},{"file":"p1559.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1559\nHier wird also eine kausale Beziehung nicht einfach konstatiert, indem festgestellt wird, \u201eZeitung\u201d bringt dir angenehme Erlebnisse hervor, sondern der Tatbestand wird subjektiv gewandt \u201eZeitung ist f\u00fcr dich ein angenehmes Erlebnis\u201d. Das ist die Betrachtungsweise des gew\u00f6hnlichen Lebens: da\u00df hier eine kausale Beziehung vorliegt, erscheint als selbstverst\u00e4ndlich und wird gar nicht besonders zum Ausdruck gebracht. Zum Ausdruck gebracht wird hier nur die emotionelle Stellungnahme und ihr subjektiver Charakter.\nWeiter ist an diesem Protokoll interessant, da\u00dfhier eine Reihe von Wertsch\u00e4tzungen sich an denselben Gegenstand anschlie\u00dfen, Wertsch\u00e4tzungen, die unter verschiedenen Gesichtspunkten vollzogen sind. Auf diese einzelnen Wertsch\u00e4tzungen gr\u00fcndet sich erst eine Wertsch\u00e4tzung des Ganzen.\nBei einem Protokoll mit dem Beizwort Zufriedenh eit1) liegt der Wertsch\u00e4tzung ebenfalls der Gedanke einer kausalen Beziehung zugrunde: \u201eDie gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige Beaktion ist ein Ausflu\u00df deiner Pers\u00f6nlichkeit\u201d. Das ist aber eine Feststellung, welche die Versuchsperson erst nachtr\u00e4glich macht. Es lag ihr n\u00e4her zu sagen : \u201eIch konstatierte auf Grund des noch vorhandenen Lustgef\u00fchles, da\u00df ich sie sch\u00e4tze.\u201d\nBei einem Protokoll mit dem Beiz wort Glockengel\u00e4ute2) lautet das Werturteil, das Glockengel\u00e4ute ist wohltuend., \u201eWohltuend\u201d, sagte ich mir, \u201eindem ich die Stimmung, in die ich hineingeraten war, beurteilte.\u201d\n\u201eIch habe es gern.\u201c Hier liegt offenbar auch der Gedanke; einer kausalen Beziehung vor, er wird aber nicht explicite zum Ausdruck gebracht.\nIn einem Protokoll mit dem Beiz wort \u201eSport\u201d schlie\u00dft Lust sich an den Gedanken sportlicher Bet\u00e4tigung an: \u201eDiese Lust geh\u00f6rt zum Mittun.\u201d Es wird gesagt, da\u00df die Beziehung der Lust zur intellektuellen Unterlage eine innigere ist, als das meist der Fall ist.\t' . \u25a0\nDagegen schlo\u00df sich speziell an den Gedanken einer Bei t\u00e4tigung in Fu\u00dfballspiel und Boxen ein Unlustgef\u00fchl an und eine negative Wertsch\u00e4tzung. Von dem Unlustgef\u00fchl wird gesagt, da\u00df es deutlich einen Zeitmoment sp\u00e4ter aufgetreten sei als der Gedanke der Bet\u00e4tigung, im Gegensatz zu dem Gedanken an andere sportliche Bet\u00e4tigung.\n*) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 161.\n2) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 158.\n101*","page":1559},{"file":"p1560.txt","language":"de","ocr_de":"1560\nG-. St\u00f6rring\nHier im Fall der Wertsch\u00e4tzung von Fu\u00dfballspiel und Boxen treten Unlustgef\u00fchle auf, welche eine \u00dcbertragung auf den Gedanken an Fu\u00dfballspiel und Boxen auf Grund fr\u00fcherer Erlebnisse und Beflexionen erfahren haben.\nNun wird von dem Wertenden nat\u00fcrlich aber nicht die \u00dcbertragung der Gef\u00fchle konstatiert, sondern es wird das Verkn\u00fcpf tsein des Gedankens an diese Gegenst\u00e4nde mit der Unlust festgestellt. Auf die Auffassung dieses Verkn\u00fcpftseins st\u00fctzt sich die negative Wertsch\u00e4tzung, die hier keine sprachliche Form annimmt, welcher offenbar die sprachliche Form entspricht: \u201eDas mi\u00dff\u00e4llt mir\u201d.\nFr\u00fcher haben wir die hier beim Beizwort Sport auftretenden Lustgef\u00fchle als T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle bezeichnet (sie sind mit dem Gedanken der T\u00e4tigkeit innig verkn\u00fcpft), die hier auf-tretenden Unlustgef\u00fchle, welche nicht unmittelbar mit dem Gedanken des betreffenden Objektes gegeben sind, sondern hier deutlich einen Zeitmoment sp\u00e4ter auftreten, sind als Gegenstandsgef\u00fchle zu charakterisieren.\nEs liegt auf der Hand, da\u00df die T'\u00e4tigkeits- oder Aktivit\u00e4tsgef\u00fchle in ihrer Beziehung zu ihrer intellektuellen Unterlage Anla\u00df zu Wertsch\u00e4tzungen der zuerst besprochenen Art geben k\u00f6nnen.\nIn den soeben beigebrachten F\u00e4llen von Wertsch\u00e4tzungen, in denen keine Verobjektivierung des Gef\u00fchlszustandes in die intellektuelle Unterlage stattfindet, sehen wir meist einen kausalen Beziehungsgedanken auftreten, wobei der Gef\u00fchlszustand als Wirkung der intellektuellen Unterlage oder des mit ihr Gemeinten aufgefa\u00dft wird.\nNeben der kausalen Beziehung sahen wir hier den Gedanken des Verkn\u00fcpftseins eines Gef\u00fchlszustandes mit der intellektuellen Unterlage auftreten und zur Unterlage einer Wertsch\u00e4tzung werden.\nIn noch anderen F\u00e4llen, f\u00fcr die ich bei Besprechung der spezifischen Werturteile Material beibringe, wird der Gef\u00fchlszustand als zur intellektuellen Unterlage g e h \u00f6 r i g aufgefa\u00dft, also auch als \u201espezifisch\u201d f\u00fcr die intellektuelle Unterlage.\nG. JE. St\u00f6rring hat festgestellt, da\u00df bei Wertsch\u00e4tzungen meist der Gef\u00fchlszustand auf die intellektuelle Unterlage oder das mit ihr Gemeinte ganz allgemein bezogen wird, ohne da\u00df eine spezielle Art der Beziehung hervortritt.\nWir sahen, da\u00df hier in den F\u00e4llen, wo ein Gedanke kausaler Beziehung zwischen dem Gef\u00fchlszustand und der intellektuellen Unterlage bei diesen Wertsch\u00e4tzungen zur Geltung kommt, derselbe meist keine sprachliche Formulierung findet, sondern eine subjektive Wendung auftritt, in","page":1560},{"file":"p1561.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1561\nwelcher allein die emotionelle Stellungnahme und ihr subjektiver Charakter zum Ausdruck gebracht wird. Wir haben uns verst\u00e4ndlich gemacht, wodurch das bedingt ist.\n\u00c4hnlich wie mit dem Gedanken der kausalen Beziehung verh\u00e4lt es sich mit dem Gedanken des durchg\u00e4ngigen Verkn\u00fcpft seins von Gef\u00fchlszustand und intellektueller Unterlage und mit dem Gedanken der Zugeh\u00f6rigkeit beider. Auch sie finden meist keine sprachliche Formulierung.\nJSTun finden wir zudem in einigen F\u00e4llen, da\u00df, wo die Feststellung gemacht wird, der Gedanke an ein bestimmtes Objekt verursachte einen solchen und solchen Gef\u00fchlszustand die Versuchspersonsagt, diese Feststellung der kausalen Beziehung zwischen intellektueller Unterlage und G e f \u00fc h 1 s z u s t a n d sei keine eigentliche Wertsch\u00e4tzung! Das ist offenbar ein merkw\u00fcrdiger Tatbestand, wo doch dieselben Versuchspersonen wieder sagen, da\u00df sich die Wertsch\u00e4tzung auf das (regelm\u00e4\u00dfige) Auftreten des Gef\u00fchlszustandes beim Gedanken an das betreffende Objekt gr\u00fcndet. Ich mache mir diesen Tatbestand so verst\u00e4ndlich, da\u00df die Feststellung der kausalen Beziehung zwischen dem Gedanken an ein Objekt und einem bestimmten Gef\u00fchlszustand der Versuchsperson zu sehr den Eindruck einer psychologischen Feststellung macht und nicht den einer Wertsch\u00e4tzung, wie sie auch der Michtpsychologe vollzieht. H\u00e4ufig schlie\u00dft sich an die Wertsch\u00e4tzung mit subjektiver Wendung bei einer Versuchsperson noch in einem psychologisch gestalteten B\u00fcckblick die Feststellung einer kausalen Beziehung an. Ungew\u00f6hnlich erscheint den Versuchspe r-sonen die sprachliche Formulierung des Gedankens der kausalen Beziehung in diesen F\u00e4llen.\nWir sahen fr\u00fcher, da\u00df bei emotionellen Wertsch\u00e4tzungen mit VerObjektivierung der Gef\u00fchle in dem mit der intellektuellen Unterlage Gemeinten von Wert gesprochen wurde als von einem Etwas, dem lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchle anzuhaften scheinen, und \u00e4hnlich von einem Unwert, wo unlustgef\u00e4rbte Gef\u00fchle einem Etwas anzuhaften scheinen. Wie steht es nun mit dem Wertgedanken bei emotionellen Wertsch\u00e4tzungen ohne Verobjekti-vierung von Gef\u00fchlen in der intellektuellen Unterlage?\nIn der \u00fcberwiegend gr\u00f6\u00dften Mehrzahl der F\u00e4lle von denjenigen, wo nicht blo\u00df ein allgemeiner Beziehungsgedanke vorhanden ist, liegt bei diesen Wertsch\u00e4tzungen ein kausaler Gedanke vor \u2014, sehr h\u00e4ufig nur angedeutet, wie wir sahen.","page":1561},{"file":"p1562.txt","language":"de","ocr_de":"1562\nG-. St\u00f6rring\nWo aber ein kausaler Gedanke bei diesen Wertsch\u00e4tzungen vorhanden ist, da ist mit \u201eWert\u201d, \u201ewertvolles Objekt\u201d ein Etwas gemeint, das unter den hier gegebenen individuellen Bedingungen einen 1 u s tgef\u00e4rbten Gef\u00fch 1szustand ausgel\u00f6st hat und dadurch Gegenstand einer positiven Wertsch\u00e4tzung geworden ist. Wir haben es hier nat\u00fcrlich immer noch mit einem primitiven Wert zu tun.\nIn den F\u00e4llen, wo bei diesen Wertsch\u00e4tzungen kein kausaler Gedanke vorliegt, sondern der Gedanke des Yerkn\u00fcpftseins der intellektuellen Unterlage mit einem Gef\u00fchlszustand oder der Gedanke, da\u00df beide zueinander geh\u00f6ren, da\u00df der Gef\u00fchlszustand spezifisch f\u00fcr die intellektuelle Unterlage ist, liegt es nicht ganz so nahe als bei kausalem Gedanken, aber entschieden auch nicht fern, von Wert zu sprechen im Sinne von einem Etwas, das unter bestimmten Bedingungen stets lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchle ausl\u00f6st und dadurch Gegenstand positiver Wertsch\u00e4tzung wird. Es mag auch Vorkommen, da\u00df von Wert etwa gesprochen wird im Sinne von einem Etwas, welches mit einem lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszustand verkn\u00fcpft ist oder zu dem ein lustgef\u00e4rbter Gef\u00fchlszustand als z u g e h \u00f6 r i g, d. h. als spezifisch f\u00fcr ihn erscheint.\nDie n\u00e4chsth\u00f6here Stufe der Entwicklung des Wertbegriffes ist da gegeben, wo mit Wert, wertvollem Objekt, ein Etwas gemeint ist, das unter den bei mir gegebenen Bedingungen stets lust gef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6st und dadurch Gegenstand positiver Wertsch\u00e4tzung wird. Doch davon erst sp\u00e4ter.\nEine h\u00f6here Entwicklungsstufe des Wertbegriffes wird sich uns darstellen in dem Begriff des Wertes als einem Etwas, welches ohne wissenschaftliche Rechtfertigung aufgefa\u00dft wird als allgemein lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6send und welches dadurch Gegenstand positiver Wertsch\u00e4tzung wird.\nDie h\u00f6chste Entwicklungsstufe des Wertbegriffes ist gegeben in dem Begriff des Wertes als einem Etwas, welches mit wissenschaftlicher Rechtfertigung auf gefa\u00dft wird als allgemein lust-gef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde bei einem h\u00f6her entwickelten Individuum ausl\u00f6send und welches dadurch Gegenstand positiver Wertsch\u00e4tzungwird. \u2014","page":1562},{"file":"p1563.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1563\nBevor wir zur Behandlung der spezifischen Werturteile \u00fcbergehen, haben wir noch von solchen emotionellenWert-\u00abch\u00e4tznngen zn sprechen, bei denen das Gewertete selbst schon ein e m o tioneller Tatbestandist.\nIn einem Protokoll mit dem Beiz wort \u201eZuversicht\u201d wird beim Gedanken an das Auftreten einer Wirkung unter bestimmten Bedingungen Zuversicht erlebt und gesagt: \u201eWenn das und das real ist, habe ich solche Zuversicht wie jetzt\u201d. Versuchsperson hebt hervor, da\u00df mit diesem Gef\u00fchlszustand noch keine Wertsch\u00e4tzung gegeben ist: \u201eEs fehlt daran noch etwas\u201d. \u201eEs war keine Beziehung gesetzt zu dem dargebotenen Wort ,Zuversicht\u2019.\u201d\nHier haben wir es also mit einem Gef\u00fchlszustande zu tun, der durch eine bestimmte intellektuelle Unterlage ausgel\u00f6st ist, aber von diesem Gef\u00fchlszustand wird gesagt, da\u00df er noch keine Wertung darstellt \u2014 gemeint ist: keine Wertung dieser Art von Gef\u00fchlszust\u00e4nden \u2014 und das ist ja nat\u00fcrlich.\nSoll eine Wertung vorliegen, so mu\u00df nat\u00fcrlich hier nicht nur der Gef\u00fchlszustand der Zuversicht entstehen, auf Grund einer intellektuellen Unterlage, sondern es mu\u00df dann zu der Zuversicht selbst noch wieder emotionell Stellung genommen werden.\n\u00c4hnlich ist es bei einem Protokoll mit dem Beizwort \u201eT reu e\u201d.\nTreue wird erlebt, und zwar Freundestreue auf Grund von Erinnerung. Daran schlo\u00df sich ein sympathisches Gef\u00fchl an. Versuchsperson sagt: \u201eEs hatte nat\u00fcrlich keinen Treuecharakter!\u201d Das sich anschlie\u00dfende sympathische Gef\u00fchl stellte, bezogen auf die erlebte Treue, die emotionelle Wertsch\u00e4tzung dar. Von diesem Gef\u00fchlszustand sagt Versuchsperson mit Becht, da\u00df er nat\u00fcrlich keinen Treuecharakter hat.\nBach einem Protokoll mit dem Beiz wort Zufriedenheit realisiert sich in Versuchsperson auf gewisse intellektuelle Unterlagen hin ein Zustand der Zufriedenheit. Es entsteht dann \u201estarkes Begl\u00fcckungsgef\u00fchl\u201d. Das Begl\u00fcckungsgef\u00fchl wurde von Versuchsperson nicht als zum Zustand der Zufriedenheit geh\u00f6rig aufgefa\u00dft: \u201ees war ein Wertgef\u00fchl\u201d.\nHier hebt sich bei einem Versuch mit dem Beiz wort Zufriedenheit ein Zufriedenheitsgef\u00fchl deutlich ab gegen\u00fcber der Wertsch\u00e4tzung.\nIn einem anderen Fall der Darbietung dieses Beizwortes entsteht eine doppelte Wertsch\u00e4tzung unter verschiedenen Gesichtspunkten: es entstehen unter diesen Gesichtspunkten Lust- und Unlustgef\u00fchle, von denen gesagt wird, da\u00df sie Gef\u00fchle sind, \u201edie","page":1563},{"file":"p1564.txt","language":"de","ocr_de":"1564\nGr. St\u00f6rring\nunter dem Gesichtspunkte der Wertung zustande gekommen sind.\u201d\nMan sieht hier einen Einschnitt in den Prozessen zwischen der Herstellung des in dem Reizwort bezeichnten emotionalen Zustandes und der emotionalen Stellungnahme zu dem gemeinten und in Versuchsperson realisierten Gef\u00fchlszustand auftreten. D i e Versuchspersonen berichten hier h\u00e4ufig, da\u00df es von dieser Situation aus nur dadurch zu einer Wertsch\u00e4tzung gekommen sei, da\u00df sich die in dem Aufgabebewu\u00dftsein gegebene Einstellung, eine Wertsch\u00e4tzung zu vollziehen, geltendgemachthabe.\n\u00c4hnlich ist es bei Darbietung des Reizwortes \u201eEntschlossenheit\u201d. Es tritt das Bild eines entschlossenen Mannes auf (Jlirg Jenatsch). Bei Betrachtung desselben entstehen in Versuchsperson Spannungen mit ausgepr\u00e4gten Lustgef\u00fchlen : \u201eIn der Lustbetontheit lag eine positive Wertsch\u00e4tzung.\u201d Versuchsperson sagt dabei, sie habe den Eindruck, da\u00df diese Wertsch\u00e4tzung \u201eabh\u00e4ngig von der Einstellung\u201d sei.\nIn einigen F\u00e4llen bedarf es noch st\u00e4rkerer Hilfen als der blo\u00dfen Einstellung, um zu einer Wertsch\u00e4tzung zu kommen. Es treten Reflexionen auf, in denen nach der Beziehung zu feststehenden Werten etwa mit kausaler Betrachtung gesucht wird.\nSo sagt eine Versuchsperson bei dem Reizwort \u201eHoffnung\u201d, als bei bestimmten intellektuellen Unterlagen sich Hoffnung entwickelt hat: Hoffnung sei kein Wertgef\u00fchl. In bezug hierauf k\u00f6nne man sich fragen: \u201eIst es ein Wert oder nicht ?\u201d\nBez\u00fcglich der Bewertung stellt Versuchsperson fest: Hoffnung ist keine Leistung; Versuchsperson ist geneigt zu sagen: \u201eHoffnung ist kein Wert\u201d, aber sie sagt dann: \u201eHoffnung ist ein Wert, insofern der Zustand der Hoffnung es der Pers\u00f6nlichkeit erleichtert, Handlungen zu realisieren, welche die Realisierung eines gew\u00fcnschtenWertvollenherbeif\u00fchre n.\u201d \u201eHoffnung ist ein Mittelwert.\u201d Wertgef\u00fchle entwickeln sich jetzt im Anschlu\u00df an dieses Urteil. \u201eDiese Wertgef\u00fchle haben eine Richtung auf etwas.\u201d\nDieses Protokoll ist nicht blo\u00df dadurch interessant, da\u00df hier zur Herbeif\u00fchrung einer Wirkung eine Reflexion angestrengt wird, in welcher mit kausaler Betrachtung nach Beziehung des Bezeichneten zu Werten gesucht wird.\nEs interessiert uns hier zweitens, da\u00df die Hoffnung als \u201eM ittelwert\u201d charakterisiert wird. Wir wollen sie als \u201ea b-geleiteten Wert\u201d bezeichnen. Damit ist eine neue Kategorie iii der Wertbetrachtung gegeben.","page":1564},{"file":"p1565.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1565-\nSp\u00e4ter, wenn wir von spezifischen Werturteilen sprechen^, werden wir n\u00e4hereBestimmungen \u00fcber abgeleitete Werte machen.\nDrittens ist hier zn beachten, da\u00df an die Feststellung, Hoffnungsei ein Wert, sofern der Zustand der Hoffnung es der Pers\u00f6nlichkeit erleichtert, Handlungen zu realisieren, welche ein gew\u00fcnschtes Wertvolles herbeif\u00fchren, ein Mittelwert, sich ein Gef\u00fchlszustand anschlie\u00dft, der als Wertgef\u00fchl von der Versuchsperson bezeichnet wird. Von diesem Wertgef\u00fchl wird gesagt, da\u00df es eine Dichtung auf etwas aufweist. \u00c4hnliche Aussagen findet man h\u00e4ufig.\nWodurch ist es bedingt, da\u00df Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche zu einer Wertsch\u00e4tzung geh\u00f6ren, zuweilen eine Dichtung auf Etwas zeigen?\nBei solchen abgeleiteten Werten, welche als Mittel zum Zweck der Dealisierung von Werten aufgefa\u00dft werden, ist die Dichtung-auf Etwas dadurch bedingt, da\u00df dieser Gef\u00fchlszustand sich anschlie\u00dft an den Gedanken, da\u00df ein gewollter Zweck durch ein bestimmtes Mittel realisiert wird: der sich so entwickelnde Gef\u00fchlszustand dr\u00e4ngt dann auf Dealisierung des gewollten Zweckes. Diesen Tatbestand kann man auch so ausdr\u00fccken, da\u00df der betreffende Gef\u00fchlszustand eine Dichtung auf Dealisierung des. gewollten Zweckes auf weise1).\nAnstatt von einem \u201eDr\u00e4ngen\u201d des entsprechenden Gef\u00fchlszustan.des auf Dealisierung eines Zweckes oder von einer \u201eDichtung\u201d desselben auf Dealisierung eines. Zweckes wird in solchen F\u00e4llen h\u00e4ufig gesprochen von einer \u201eaktiven Zustimmung\u201d, welche den Gedanken des Mittels zu dem Zweck begleitet, zuweilen auch von einer \u201efreudigen Zustimmung\u201d oder einem \u201eBefriedigungsgef\u00fchl\u201d oder einem \u201eB e j ahungs gef \u00fchl\u201d. Auch ein Befriedigungs- und Bejahungsgef\u00fchl ist verst\u00e4ndlich: wenn vom Standpunkt des gewollten Zweckes aus der Gedanke des Mittels zur Dealisierung des Zweckes auftritt, dann wird doch dieser Gedanke ein Befriedigungsoder Bejahungsgef\u00fchl ausl\u00f6sen k\u00f6nnen.\n*) Vgl. diese Schrift.. S. 1363 ff.","page":1565},{"file":"p1566.txt","language":"de","ocr_de":"1566\nG. St\u00f6rring\nIII. Spezifische emotionelle Werturteile.\nA. Spezifische emotionelle Werturteile mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit.\nI. Selbst\u00e4ndige, spezifische emotionelle Werturteile mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit.\n1. Als unmittelbar evident erscheinende selbst\u00e4ndige, spezifische emotionelle Werturteile\nmit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigheit.\nYon spezifischen emotionellen Werturteilen sprechen wir da, wo emotionelle Werturteile eine Stellungnahme zur Frage der Allgemeing\u00fcltigkeit einschlie\u00dfen.\nIn vielen der Protokolle f\u00fcr einfache emotionelle Wertsch\u00e4tzungen ist es uns begegnet, da\u00df die Versuchsperson nach Vollzug der emotionellen Wertsch\u00e4tzung \u00fcber diese hinausging und ein Werturteil f\u00e4llte, welches zur Frage der Allgemeing\u00fcltigkeit Stellung nahm.\nDiese Stellungnahme zur Frage nach der Allgemeing\u00fcltigkeit kann sich so vollziehen, da\u00df Allgemeing\u00fcltigkeit behauptet wird oder so, da\u00df auf die Frage nach der Allgemein-^\u00fcltigkeit nur eine beschr\u00e4nkte Art der G\u00fcltigkeit behauptet wird; wir . wollen da von subjektiven spezifisch-emotionellen Werturteilen sprechen.\nZun\u00e4chst haben wir es mit spezifisch-emotionellen Werturteilen zu tun, welche mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit auftret en.\nSolche Werturteile k\u00f6nnen neue selbst\u00e4ndige spezifische emotionelle Werturteile mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit sein (ihnen entsprechen selbst\u00e4ndige, als allgemeing\u00fcltig erscheinende Werte).\nOder sie sind solche, welche abgeleitet sind, andere spezifisch emotionelle Werte mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit voraussetzen (ihnen entsprechen abgeleitete, als allgemeing\u00fcltig erscheinende Werte).\nIch behandle zun\u00e4chst diejenigen Eigenschaften emotioneller Werturteile mit dem Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit, welche .selbst\u00e4ndig sind.\nUnter diesen gibt es solche, welche sich als durch Verallgemeinerung entstanden darstellen, und solche, welche ohne Verallgemeinerung entstanden zu sein scheinen, welche den Eindruck machen, unmittelbar evident zu sein.\nZuerst behandle ich die unmittelbar evident erscheinenden.\nBei den unmittelbar als evident erscheinenden vollzieht sich \u2022das Werturteil entweder an Hand einer vulg\u00e4r psycho-","page":1566},{"file":"p1567.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1567\nlogischen Auffassung des Bezeichneten oder an Hand einer wissenschaftlich-begrifflichen Beurteilung des Bezeichneten.\nSo gibt bei dem Beiz wort Treue eine Versuchsperson an, da\u00df sich an das H\u00f6ren und Auffassen des Wortes sogleich das Werturteil angeschlossen habe: ,,Treue ist eine absolut wertvolle Charaktereigenschaft\u201d. Genauer wird dann angegeben, da\u00df unmittelbar im Anschlu\u00df an das Verstehen des Wortes angenehme Gef\u00fchle aufgetreten seien; dann sofort das Werturteil ,,sehr sch\u00f6n\u201d. ,,Treue ist eine absolut wertvolle Charaktereigenschaft.\u201d\nHier liegt also der Tatbestand vor, da\u00df das Beiz wort ,, Treue\u201d angenehme, sittliche Gef\u00fchle ausl\u00f6st. Diese Gef\u00fchle zusammen mit dem Gedanken an Treue lassen in Versuchsperson die \u00dcberzeugung entstehen, da\u00df es sich um etwas sittlich W ertvolles handelt und dies stellt sich anscheinend u n-mittelbar als etwas absolut Wertvolles dar. Deshalb sagt Versuchsperson ,,sehr sch\u00f6n\u201d und ,,Treue ist eine absolut wertvolle Charaktereigenschaft\u201d.\n\u00c4hnlich steht es mit folgendem Fall:\nIII, 4. Beizwort Zufriedenheit, Versuchsperson Bo., emotionelle Verarbeitung gefordert.\n,,Ich bin hier nicht auf einen konkreten Fall gekommen. Ich konnte keinen meiner Bekannten finden, der zufrieden w\u00e4re. Bevor ich diese Durchmusterung vornahm, sagte ich mir : Das w\u00e4re sch\u00f6n, wenn du zufrieden w\u00e4rest; dabei verstand ich unter Zufriedenheit eine gro\u00dfe, heitere Seelenruhe. Dabei \u00fcberschwemmte mich ein hochwertiges Gl\u00fccksgef\u00fchl, ein Gef\u00fchl hohen geistigen Gl\u00fcckes. (Ich glaube, die Beobachtung gemacht zu haben, da\u00df die dazugeh\u00f6rigen Organempfindungen in oberen Partien des Brustkorbes lokalisiert sind). Es ging einher ein etwas freieres Atmen. Ich wunderte mich \u00fcber die St\u00e4rke des Gef\u00fchls und \u00fcber das Umfassende desselben. Es griff in den B\u00fccken hinein. Ich sagte mir: Es steht gar nicht im Verh\u00e4ltnis zur Unklarheit, mit welcher der Gegenstand bewu\u00dft ist. Kun habe ich hier kurz nach diesem Erlebnis mich gefragt, ob ich hier eine Kausalbeziehung zwischen dem Gef\u00fchl und dem Erlebnis hatte. Beim Betrachten des Denkgegenstandes merkte ich, wie das Gef\u00fchl mich durchdrang, ich habe ein Bewu\u00dftsein der Zusammengeh\u00f6rigkeit zwischen dem Denkgegenstand und dem Gef\u00fchl. Von der Beachtung der Qualit\u00e4t des Gef\u00fchles aus dr\u00e4ngte sich der Gedanke auf: die Zufriedenheit ist ein W e r t. Dies ist ein Werturteil (ich fasse dies Gef\u00fchl auf als begleitend die Vergegenw\u00e4rtigung der Zufriedenheit, es ist auch kein eingef\u00fchlter Zustand1). ...\u201d\n1) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 193.","page":1567},{"file":"p1568.txt","language":"de","ocr_de":"1568\nG-. St\u00f6rring\nBei Darbietung des Beizwortes \u201eZufriedenheit\u201d sagt sich also Versuchsperson: \u201eDas w\u00e4re sch\u00f6n, wenn du zufrieden w\u00e4rest\u201d. (Unter Zufriedenheit verstand sie dabei \u201eeine gro\u00dfe, heitere Seelenruhe\u201d.) Dabei \u00fcberschwemmte sie ein \u201ehochwertiges Gl\u00fccksgef\u00fch 1\u201d. Sie wundert sich \u00fcber die St\u00e4rke dieses Gef\u00fchls bei der \u201eUnklarheit, mit der der Gegenstand bewu\u00dft ist\u201d. Sie fragte sich, ob sie eine Kausalbeziehung zwischen dem Gef\u00fchl und dem Denkgegenstand festgestellt habe. Diese Frage wurde verneint. Die Beziehung ist vielmehr folgende: \u201eVon der Beachtung der Qualit\u00e4t dieses Gef\u00fchles aus dr\u00e4ngte sich der Gedanke auf: Zufriedenheit ist ein Wert.\u201d Sie hat dabei das Bewu\u00dftsein der Zusammengeh\u00f6rigkeit von Gef\u00fchl und Denkgegenstand. Was die Qualit\u00e4t dieses Gef\u00fchles betrifft, so ist es charakterisiert als Gef\u00fchl \u201ehohen geistigen\u201d Gl\u00fcckes. Die Auffassung der Qualit\u00e4t des Gef\u00fchles als ein hoher g e i s t i g e r Wert l\u00f6st bei dem Eindruck der Zusammengeh\u00f6rigkeit von \u201eDenkgegenstand\u201d und Gef\u00fchl u n-mittelbar das Urteil aus (Versuchsperson sagt: das Urteil dr\u00e4ngt sich auf): \u201eZufriedenheit ist ein Wert\u201d \u2014 gemeint ist allgemeing\u00fcltiger Wert.\nBei einem Protokoll mit dem Beizwort Forschung entwickeln sich au\u00dfer anderem Gef\u00fchle, welche sich unmittelbar mit der forschenden T\u00e4tigkeit verbinden. Diese Gef\u00fchle entstanden, als Versuchsperson sich innerlich \u201eforschend t\u00e4tig sah\u201d. Versuchsperson sagt: \u201eWenn die Forschung wertvoll ist, so mu\u00df sich das zum gr\u00f6\u00dften Teil auf diese formalen Gef\u00fchlszust\u00e4nde st\u00fctzen. u Kach dem Zusammenhang mu\u00df man annehmen, da\u00df dieses Urteil ein als unmittelbar evident erscheinendes, selbst\u00e4ndig-spezifisch-emotionelles Werturteil mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit ist.\nIn einem Protokoll mit dem Beizwort Gerechtigkeit finden wir Werturteile in Bede stehender Art, welche sich auf eine wissenschaftlich begriffliche Verarbeitung des Bezeichneten gr\u00fcnden.\nVersuchsperson macht die allgemeine Bestimmung: \u201ees handelt sich bei gerechtem Verhalten darum, nicht nach \u00e4u\u00dferen Ma\u00dfst\u00e4ben zu urteilen, sondern auf Grund eines Kacherlebens von Gef\u00fchlen anderer Personen\u201d. Besonders an den Gedanken, da\u00df nicht nach \u00e4u\u00dferen Ma\u00dfst\u00e4ben geurteilt wird, schlie\u00dft sich ein \u201eGef\u00fchl des objektiven Zwanges\u201d an und dieser dr\u00e4ngt das Werturteil auf.\nAuch hier schlie\u00dft sich das spezifisch emotionelle Werturteil anscheinend unmittelbar an den Gef\u00fchlszustand an, der mit dem Gedanken des nicht nach \u00e4u\u00dferen Ma\u00dfst\u00e4ben beurteilten Verhaltens einhergeht, indem dieser Tatbestand als ein s i 111 i c h wertvoller erlebt wird.","page":1568},{"file":"p1569.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1569\n\u00c4hnlich steht es mit folgendem Protokoll:\nReizwort Befreiung, Versuchsperson Ja., 52.\nGedanken an die ethische Seite. Dabei starker Gef\u00fchlszustand des Ergriffenseins. \u201eEs handelt sich um einen Wert, der nicht nur subjektiv bezogen ist, sondern besonders Gemeinschaftswert- war.\u201d \u201eEs war gedacht an Bet\u00e4tigung zusammen mit der Gemeinschaft f\u00fcr die Gemeinschaft. Das Gef\u00fchl war innig mit dem Gedanken an solche Bet\u00e4tigung verbunden. Es war eine emotionelle Stellungnahme zu dem Gemeinschaftshandeln. Es liegt hier ein Werturteil vor.\u201d\nHier schlie\u00dft sich das allgemeine Werturteil nicht an einem Vulg\u00e4rbegriff an, sondern an eine allgemeine begriffliche Bestimmung eines Wertes, \u201eder nicht nur subjektiv bezogen ist, sondern Gemeinschaftswert war.\u201d\nDer Wert ist anscheinend unmittelbar als berechtigt erlebt.\n2. Selbst\u00e4ndige, spezifisch emotionelle Werturteile mit Anspruch auf Allgemein-g\u00fcltigkeit auf Grund Verallgemeinerung eines vollzogenen Werturteils durch hausale\nBetrachtung.\nBisher haben wir nur solche F\u00e4lle selbst\u00e4ndiger spezifischemotioneller Werturteile mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit ins Auge gefa\u00dft, bei denen sich die Werturteile als unmittelbar evident darstellten.\nIn manchen F\u00e4llen glaubt die Versuchsperson zu allgemeing\u00fcltigen Werturteilen zu gelangen durch Verallgemeinerung der vollzogenen Werturteile, und zwar besonders durch Verallgemeinerung bez\u00fcglich des Wertenden. In diesen F\u00e4llen fa\u00dft die Versuchsperson das Werturteil zun\u00e4chst als subjektiv auf und fragt sich nun, ob dieses Werturteil auch von allen anderen Menschen vollzogen wird.\nDiese Verallgemeinerung wird sehr h\u00e4ufig zustande gebracht durch kausale Betrachtung.\nIch gebe zun\u00e4chst einen Fall.\nIII, 52. Reizwort Erfolg, Versuchsperson J., Werturteil gefordert.\n\u201ePech \u2014 dachte an meine Arbeit. Das ist noch nicht raus. Wahrscheinlich dabei kein Erfolg. Dabei hatte ich Unlust. Dann war ich drin ! Fragte mich : Wie kommst du zur Unlust ? Kein Erfolg \u2014 Unlust. Das hei\u00dft : Gedanke an Erfolg zieht Lust nach. Gedanke an Erfolg hast du oft gehabt. Erfolg ist, was jeder erprobt : Volles Gef\u00fchl der Allgemeing\u00fcltigkeit des Erfolges in bezug auf seinen Lustwert. Unumst\u00f6\u00dfliche Tatsache. Dabei war","page":1569},{"file":"p1570.txt","language":"de","ocr_de":"1570\nGr. St\u00f6rring\nbewu\u00dft, da\u00df ich Erfolg f\u00fcr sp\u00e4tere Arbeiten auch wertsch\u00e4tze. Es galt mir als unumst\u00f6\u00dflich sicher, da\u00df jeder Erfolg erstrebt. Dabei Bewu\u00dftsein der Allgemeing\u00fcltigkeit. Bei der Wertsch\u00e4tzung hatte ich Gef\u00fchle im Oberk\u00f6rper (Brust), die man hat, bevor man sich entschlie\u00dft, etwas zu tun, aber wo man auch wei\u00df, man wird sich dazu entschlie\u00dfen. Diese Spannungsempfindungen waren mit Lust verbunden und einer Tendenz, sich dem Begriff hinzuwenden, eine Art Bejahung, ein Hingezogensein.\n(Das Allgemeing\u00fcltige war wesentlich reproduziert. Es hob sich etwas ab gegen\u00fcber dem Subjektiven der Wertsch\u00e4tzung. Es waren wohl Wertsch\u00e4tzungen und Werturteile, die zusammenfielen 1).)\u201d\nVersuchsperson sagt sich bei diesem Reizwort: Der Gedanke an Erfolg zieht Lust nach sich. Sie denkt dann daran, da\u00df sie h\u00e4ufig den Gedanken an Erfolg gehabt hat. Der Gedanke hieran l\u00e4\u00dft starke Lustgef\u00fchle in ihr entstehen, es kommt zu einem ,,vollen Gef\u00fchl der Allgemeing\u00fcltigkeit in bezug auf den Lustwert\u201d. Es ist ihr eine unumst\u00f6\u00dfliche Tatsache, da\u00df der Gedanke an Erfolg bei jedem Lust ausl\u00f6st : Versuchsperson konstatierte bei sich selbst eine kraftvolle kausale Beziehung zwischen dem Gedanken des Erfolges und dem Auftreten ausgepr\u00e4gter Lust; nichts veranla\u00dft sie zur Annahme, da\u00df hier nur rein subjektive Eaktoren im Spiel sind, so dr\u00e4ngt sich ihr machtvoll die Behauptung auf, da\u00df der Gedanke an Erfolg bei jedem Lust ausl\u00f6st.\nDaneben ist hier noch ein Wissen um diese Beziehung wirksam.\nIch gebe noch einen hierher geh\u00f6renden Eall:\nI, 69. Beizwort Kirche, Versuchsperson Ro., Emotionelle Stellungnahme -j- Werturteil gefordert.\nZuerst lie\u00df mich das Wort ganz k\u00fchl. Es fielen mir zwei Bedeutungen ein: 1. Organisation, 2. Geb\u00e4ude; dabei blieb ich wegen der Anweisung auf Konkretes stehen. Ich stelle mir das \u00c4u\u00dfere und dann das Innere der Kirche vor. Da h\u00f6rte ich kirchliches Orgelspiel, und ich hatte dabei feierliche Stimmung, Ruhe. Ich vollzog Kehlkopfinnervationen, dann wurde die Vorstellung deutlicher. Da sagte ich mir: Das ist noch nicht alles. Da tauchte ein hell beleuchteter, goldglei\u00dfender Hochaltar vor meinen Augen auf. Das Orgelspiel hielt dabei an. Ich sp\u00fcrte, wie sich dabei Spannungen l\u00f6sten und Lustgef\u00fchle h\u00f6herer Art auftraten (bisher keine Wertsch\u00e4tzung). Von Zeit zu Zeit verschwand dieser Altar, dann mu\u00dfte ich ihn wieder reproduzieren. Da stellte ich fest: Der Bau dieser Kirche ist ganz anders, als die von fr\u00fcher bekannten. Es fiel mir ein, es geh\u00f6rt etwas D\u00e4mmerung dazu, und das Umschlossensein von diesem hohen Geb\u00e4ude geh\u00f6rte auch dazu. Nun fiel mir ein, da gibt es auch Weihrauch und schlechte Luft, blieb beim Weihrauch stehen, dachte dann an Blumenduft, ge\u00f6ffnete T\u00fcren, Maiandacht, Blumen-\n9 O. JE. St\u00f6rring: 1. c. S. 180.","page":1570},{"file":"p1571.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1571\ndnft. . . ., dann sah ich die Blnmen anf dem Maialtar, rot, wei\u00df nsw. Mit dem Geruch treten Gef\u00fchle der Sehnsucht anf, das in mir den Gedanken verursachter k\u00f6nntest da das noch einmal haben. . . . Ich sagte mir nun, du sollst eine emotionelle Stellungnahme vollziehen, und nun sagte ich mir, sie ist vollzogen dort, wo das Gef\u00fchl der Sehnsucht auftrat. Nun noch ein Werturteil lUmzueinemW ert-urteil zu kommen, fa\u00dfte ich die von mir vergege n-w\u00e4rtigten Gef\u00fchle auf als in der Wirklichkeit durch die Gegenwart der verschiedenen Wahrnehmung s-ohjekte ausgel\u00f6ste Gef\u00fchle. Ich dachte, da\u00df diese-Wahrnehmungsgegenst\u00e4nde solche Gef\u00fchle auszul\u00f6sen pflegen. (Einschr\u00e4nkng: nicht \u00fcberall.)\nVersuchsperson vollzieht zun\u00e4chst eine sehr ausgepr\u00e4gte aktuelle Wertsch\u00e4tzung und fragte sich dann, ob sich auch ein allgemein g\u00fcltiges Werturteil vollziehen lasse. Sie betrachtet die in ihr erzeugten Gef\u00fchleais durch die betreffenden Objekte kausal bedingt, erkennt aber, da\u00df sie von einer solchen kausalen Beziehung nur unter Voraussetzung bestimmter Eigenschaften in den Subjekten sprechen kann.\nII. Abgeleitete, spezifische emotionelle Werturteile mit Anspruch auf Allgemein-\ng\u00fcltigkeit.\nDen selbst\u00e4ndigen spezifischen emotionellen Werturteilen stehen die abgeleiteten gegen\u00fcber.\nAbgeleitet finden wir sie in verschiedener Weise: Durch kausale Beziehungsetzung, durch subjektiv-teleologische und durch Setzung einer logischen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehung.\n1. Fassen wir zun\u00e4chst die Ableitung durch kausale Beziehungsetzung ins Auge.\nWir sahen fr\u00fcher, da\u00df eine Versuchsperson bei Verarbeitung des Beizwortes ,,Hoffnung\u201d die interessante Bestimmung macht: ,,Hoffnung ist ein Wert, insofern der Zustand der Hoffnung es der Pers\u00f6nlichkeit erleichtert, Handlungen zu realisieren, welche die Bealisierung eines gew\u00fcnschten Wertvollen herbeif\u00fchren. Hoffnung ist ein Mittelwert.\u201d\nDie Versuchsperson sagt: \u201eHoffnung ist kein selbst\u00e4ndiger Wert, aber sie ist ein Mittelwert.\u201d Wenn sie die Hoffnung als Mittelwert bezeichnet, so hat sich die Versuchsperson etwas vergriffen : Hoffnung dient doch im allgemeinen nicht als Mittel zum Zweck der Bealisierung eines Wertvollen, sondern sie spielt die Bolle einer Mitursache zur Bealisierung eines Wertvollen. Hier liegt also keine teleologische, sondern eine kausale Ableitung vor.\nVon einer Versuchsperson wird bei dem Beiz wort \u201eUniversit\u00e4ts-bildung\u201d gesagt: Durch sie k\u00f6nnen alle geistigen Kr\u00e4fte ausgebildet werden, die intellektuellen, sittlichen und \u00e4sthetischen: es kann dadurch \u201eder ganze Mensch f\u00fcrs Leben t\u00fcchtig gemacht werden\u201d.\nHier erf\u00e4hrt die Universit\u00e4tsbildung eine als allgemeing\u00fcltig* aufgefa\u00dfte Wertung, indem sie aufgefa\u00dft wird als Ursache, welche die Bealisierung von absolut Wertvollem nach sich zieht.","page":1571},{"file":"p1572.txt","language":"de","ocr_de":"1572\nGr. St\u00f6rring\n\u00c4hnlich steht es in folgendem Protokoll:\n1.\t59. Beizwort \u201eLandhaus\u201d. Emotionelle Stellungnahme -f-Werturteil gefordert.\nZuerst ein sehr eingehendes Beferat \u00fcber emotionelle Wertsch\u00e4tzung: \u201eF\u00fcr mich ist ein Landhaus wertvoll und erstrebenswert\u201d.\n\u201eUm nun der Anweisung zu entsprechen, sagte ich mir, ich mu\u00df jetzt zusehen, inwiefern in solchem Landhaus \u00fcberhaupt im allgemeinen ein Wert ist. Denke an den Gegensatz zum Stadtget\u00f6se, Zusammensein mit der Natur, gesundheitliche Buhe, frische Lust, gute Erholung f\u00fcr geistige Arbeiter. Da sagte ich mir: ,,Das sind Gesichtspunkte, die allgemeinen Wert beanspruchen. Stellt -es f\u00fcr Leute einen Wert dar, die ein Landhaus nicht vermissen? Ich erkannte allgemeine soziale und gesundheitliche Werte im Landhaus auch f\u00fcr Leute, die es nicht zu sch\u00e4tzen wissen!\u201d\nBei Behandlung der Frage, ob ein Landhaus allgemein als wertvoll gelten k\u00f6nne, wird diese Auffassung der Allgemeing\u00fcltigkeit dadurch zu rechtfertigen gesucht, da\u00df auf die F\u00f6rderung der Bealisierung von \u201esozialen\u201d und \u201egesundheitlichen\u201d Werten h ingewiesen wird, die das Leben im Landhaus mit sich bringen kann.\n2.\tDie abgeleiteten spezifischen emotionellen Werturteile weisen sodann eine teleologische Ableitung auf, und zwar eine subjektiv-teleologische. Ich spreche von subjektivteleologischer Ableitung, wo nicht \u00fcber eine Zweckm\u00e4\u00dfigkeit in der Natur diskutiert wird, sondern wo Mittel - Zweck -Setzungen bei einer Ableitung vorliegen.\nDas stellt sich z. B. dar in einem Protokoll mit dem Beiz wort \u201eErholung\u201d, wo die Erholung als allgemeing\u00fcltiger Wert charakterisiert wird, sofern sie als Mittel zum Zweck der F\u00f6rderung geistiger Arbeit aufgefa\u00dft wird.\n3.\tMan findet sodann bei den abgeleiteten spezifisch-emotionellen Werturteilen auch noch eine logische Ableitung von Werturteilung aus allgemeinen Normen.\nIch gebe zun\u00e4chst einen Fall.\nII, 1. Beiz wort Tanz, Versuchsperson G. Emotionelle Stellungnahme -j- Werturteile gefordert.\n\u201eAkustische Aufnahme . . . Bedeutungserfassung . . . Denke an Gesellschaft und Tanzabend: Dabei zwiesp\u00e4ltiges Gef\u00fchl, lust-und unlustbetonte; die unlustbetonten Gef\u00fchle \u00fcberwogen. Die Unlust brachte die Tendenz des Ab Wendens mit sich . . . Jetzt dachte ich an Tanz, dachte mich als tanzend, die Bewegungen der Musik angepa\u00dft. Die Lust wurde st\u00e4rker, sie wurde bezogen auf die","page":1572},{"file":"p1573.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1573\nBewegungsempfindlingen. Denke an rhythmische Gymnastik, die ich mitgemacht habe. Es gab dann jeden Abend ein geschlossenes Musikst\u00fcck. An einen solchen Tanzabend dachte ich jetzt. Die Musik l\u00f6st lustbetonte Bewegungsempfindungen aus, und sie wurden als solche lustbetonte Empfindungen aufgefa\u00dft. Bei dieser Lust verweilte ich. Auch sonst in Gesellschaft tanze ich gern. Da dachte ich an das Unlustige beim Tanze. Warum ? . . . Eicht einwandfreie Musik und Gesellschaft. (Durch die Diskrepanz der Gef\u00fchle wurde ich aufmerksam auf verschiedene m\u00f6gliche Seiten des Tanzes.) Ich wollte nun den Begriff Tanz gegen das Vorherige abgrenzen, Zusehen, was dazu geh\u00f6rt. Ich habe Tanz im Sinne einer rhythmischen Bewegung sehr gern. (Frage: Wertsch\u00e4tzung st\u00fctzt sich ? ) Auf das vorherige Lustgef\u00fchl, Tanz in kleiner, geschlossener Gesellschaft habe ich sehr gern. Da sagte ich mir: ,,F\u00fcr mich habe ich es gern, das kommt von meiner Lust. Ist es nun berechtigt, da\u00df ich Tanz erkenne ?\u201d Antwort: ,, Ja, er bringt berechtigte Lust, und zwar ungef\u00e4hr allen Leuten, da Lust an Bewegungsempfindungen usw. allgemeine menschliche Reaktionen sind. Die Lust hielt bei mir immer noch an. Strebens-charakter . . . Tanz ein Wert ? fragte ich mich noch. Tanz bringt Freude und deshalb ein Wert. Einordnung in die Wertskala, wird als zu kompliziert abgelehnt1).\u201d\nVersuchsperson vollzieht bei Darbietung des Reizwortes zun\u00e4chst eine emotionelle Wertsch\u00e4tzung: ,,F\u00fcr mich habe ich es gern, das kommt von meiner Lust.\u201d Sie fragt nun nach der Berechtigung dieser Wertsch\u00e4tzung und antwortet: \u201eJa, er bringt berechtigte Lust, und zwar ungef\u00e4hr allen Leuten, da Lust an Bewegungsempfindungen usw. allgemein menschliche Reaktionen sin d.\u201d Die Lust wird also ethisch bewertet. Zu der kausalen Betrachtung wird also zum Zweck der Beantwortung der Frage nach der Allgemeing\u00fcltigkeit eine normative Betrachtung hinzugenommen. Diese normative Betrachtung lautet: Lust ist deshalb berechtigt, weil sie naturgem\u00e4\u00df ist!\nDer Versuchsperson ist bekannt eine Betrachtungsweise der philosophischen Ethik, welche sich im Anschlu\u00df an die Moralskeptiker des Altertums entwickelt hat: Die alten m o r a 1 s k e p t i s c h e n Argumente liefen auf die Betrachtung hinaus: Die sittlichen Forderungen sind nicht berechtigt, weil sie der\n1) O. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 181.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n102","page":1573},{"file":"p1574.txt","language":"de","ocr_de":"1574\nG-. St\u00f6rring\nNatur des Menschen widersprechen, wobei stillschweigende Voraussetzung jeder Skepsis der Gedanke war, da\u00df dasjenige berechtigt ist, was der menschlichen Natur entspricht, ein naturgem\u00e4\u00dfes Handeln (harmonische Entfaltung der menschlichen Kr\u00e4fte).\nDiese allgemeine normative Betrachtungsweise f\u00fchrt also Versuchsperson zur Auffassung dieser Lust als berechtigte Lust. So hat die Verwertung dieser normativen Betrachtungsweise einWerturteil herbeigef\u00fchrt, welches den Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit erhebt.\nAls berechtigt stellt sich diese Lust dar auf Grund einer Folgerung aus einer allgemeinen Norm.\nNachtrag zur psychologischen Behandlung der spezifischen emotionellen Werturteile mit Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit.\nAndeutung der Bedeutung dieser psychologischen Entwicklungen f\u00fcr\ndie philosophische Ethik.\n1. Beziehung der allgemeing\u00fcltigen Werte zu lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchls zust\u00e4nden.\nAuf Grund der besprochenen Versuche l\u00e4\u00dft sich sagen, da\u00df als allgemeing\u00fcltig erscheinende Werte Tatbest\u00e4nde sind, welche unter bestimmten Bedingungen allgemein lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6sen und dadurch als Tatbest\u00e4nde erscheinen, welche mit Becht Gegenstand positiver Werturteile werden.\nHier tritt die Beziehung der als allgemeing\u00fcltig aufgefa\u00dften Werte zu lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszust\u00e4nden deutlich hervor.\nDie Psychologie spricht nur von als allgemeing\u00fcltig aufgefa\u00dften Werten, erst die Philosophie eventuell von allgemeing\u00fcltigen Werten.\nAber die Philosophie bezeichnet jedenfalls manche von den als allgemeing\u00fcltig aufgefa\u00dften Werten als allgemeing\u00fcltige Werten so werden von der philosophischen Ethik manche als sittlich allgemeing\u00fcltig auf gef a\u00dft en Werte auch als allgemeing\u00fcltig charakterisiert.\nHaben also die als allgemeing\u00fcltig erscheinenden Werte die aufgewiesene nahe Beziehung zu lustgef\u00e4rbten Gef\u00fchlszust\u00e4nden, so haben jedenfalls einige der von der Philosophie als allgemeing\u00fcltig charakterisierten Werte auch diese Beziehung.","page":1574},{"file":"p1575.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1575\nSo kann es scheinen, als ob mit unserer psychologischen Bestimmung \u00fcber als all-gemeing\u00fcltig erscheinende Werte nnd der gleichzeitigen philosophischen Bestimmung der Anerkennung gewisser als allgemein g\u00fcltig erscheinender Werte als in Wirklichkeit allgemeing\u00fcltig f\u00fcr die philosophische Ethik der Eud\u00e4monismus unausweichlich sei.\nAber man mu\u00df beachten, da\u00df hier als allgemeing\u00fcltig erscheinende Werte nicht lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde darstellen, sondern gewisse Tatbest\u00e4nde, welche lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6sen! Also etwa bestimmte Arten von Lebensbet\u00e4tigung, deren Betrachtung lust gef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde ausl\u00f6st oder eine bestimmte Gestaltung der Pers\u00f6nlichkeit, deren Betrachtung lustgef\u00e4rbte Gef\u00fchlszust\u00e4nde nach sich zieht.\nSodann kann ich den nichteud\u00e4monistischen Ethiker damit beruhigen, da\u00df hier noch die Auffassung m\u00f6glich ist, da\u00df die Bangordnung der Werte nicht durch Gef\u00fchlszust\u00e4nde zu bestimmen ist... Zu einer Bangordnung der Werte kommt man nicht, indem man die Gef\u00fchlszust\u00e4nde, welche den einzelnen Werten entsprechen, miteinander vergleicht, sondern indem man an Hand des gegebenen sittlichen Tatbestandes eine abstrakte Bestimmung \u00fcber das Sittliche macht, die so beschaffen ist, da\u00df sich aus derselben unter Ber\u00fccksichtigung der jeweiligen Lebensbedingungen ethische Werturteile, die man gew\u00f6hnlich als Einzelnormen bezeichnet, ableiten lassen1) (,,Moralprinzip\u201d).\n2. ,,Objektive Werte.\u201d\nDer Streit um \u201eobjektive Werte\u201d spielt gegenw\u00e4rtig eine gro\u00dfe Bolle in der philosophischen Ethik, besonders in den phantastischen Eormen derselben. Man braucht dabei allerdings diesen Terminus im verschiedenen Sinne.\n1. In gewissem Sinne k\u00f6nnen wir auf Grund unserer wertpsychologischen Entwicklungen auch von objektivem Werte sprechen, aber nat\u00fcrlich nur in einem psychologischen Sinne.\nl) St\u00f6rring: Sittliche Forderungen und die Frage ihrer G\u00fcltigkeit.\n102*","page":1575},{"file":"p1576.txt","language":"de","ocr_de":"1576\nG. St\u00f6rring\nWir erinnern an das Protokoll \u00fcber das Beizwort \u201eLandhaus\u201d. Dabei glaubt die Versuchsperson das Landhaus allgemein-g\u00fcltig werten zu k\u00f6nnen, wegen der Beziehung desselben zu allgemeinen sozialen und gesundheitlichen Werten, obgleich es, wie sie sagte, Leute gibt, die es nicht zu sch\u00e4tzen wissen. Da der Wert als f\u00fcr alle g\u00fcltig aufgefa\u00dft wird, ohne da\u00df ihn alle zu sch\u00e4tzen wissen, so ist seine Bezeichnung als objektiver Wert berechtigt.\n2.\tSodann sind die Versuchspersonen geneigt, von objektiven Werten zu sprechen, wo die Wertsch\u00e4tzung keine aktuelle ist, wo sie zustande gekommen zu sein scheint, unabh\u00e4ngig von aktueller, emotioneller Wertsch\u00e4tzung \u00fcberhaupt, wo es sich um ein Wissen von Werten handelt, die tats\u00e4chlich auf Grund einer auch nicht mehr reproduktiv pr\u00e4senten Wertsch\u00e4tzung als Werte aufgefa\u00dft werden.\nDurch diesen Tatbestand k\u00f6nnen nicht nur Versuchspersonen in experimentellen Untersuchungen irregef\u00fchrt werden, sondern auch, wie die Literatur zeigt, Philosophen, welche behaupten, da\u00df Werte sich nicht auf emotionelle Wertsch\u00e4tzungen gr\u00fcnden!\nW\u00e4hrend wir im ersten Fall von \u201eanscheinend objektiven Werten\u201d sprechen, haben wir es hier mit \u201eillusion\u00e4ren objektiven Werten\u201d zu tun.\n3.\tIch will hier noch kurz angeben, wann ich von allgemeing\u00fcltigen objektiven Werten spreche, ohne Werte anzuerkennen, die sich nicht auf Wertsch\u00e4tzungen gr\u00fcnden:\nDie sittliche Pers\u00f6nlichkeit stellt einen objektiven Wert dar, einen Wert der unabh\u00e4ngig ist von einem hinzugedachten wertenden Betrachter. Dieser Wert ist aber nicht unabh\u00e4ngig vom wertenden Subjekt \u00fcberhaupt, indem diese Pers\u00f6nlichkeit zugleich das wertende Subjekt darstellt.\nB. Spezifisch-emotionelleWerturteile mit nur\nsubjektiver Geltung.\nWir sagten, da\u00df wir unter spezifisch-emotionellen Werturteilen solche emotionellen Werturteile verstehen, welche zur Frage der Allgemeing\u00fcltigkeit derselben Stellung nehmen.\nWir haben bis jetzt diejenigen F\u00e4lle ins Auge gefa\u00dft, wo das Besultat dieser Stellungnahme in der Behauptung der Allgemeing\u00fcltigkeit bestand. In vielen F\u00e4llen wird aber nat\u00fcrlich eine nur","page":1576},{"file":"p1577.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1577\nsubjektive G\u00fcltigkeit bei dieser Stellungnahme behauptet. Q. F. St\u00f6rring spricht dann von \u201esubjektiven Werturteilen\u201d.\nIch gebe einen Fall.\nI, 44. Beizwort \u201eBowl e\u201d, Versuchsperson J. Emotionelle Verarbeitung -J- Werturteil gefordert.\n\u201eVorstellung* des geschriebenen Wortes, Vorstellung des Bowlek\u00fcbels, unlustbetont und Unlustgef\u00fchl, da\u00df das Wort kam. Sagte mir: ,Das ist etwas so Gleichg\u00fcltiges, Minderwertiges, das ist mir ganz egal.\u2019 Dachte an Menschen, die das sehr sch\u00e4tzen, die sich dar\u00fcber sehr freuen . . . Dauernd ausgesprochene Unlust . . . Dachte an die Aufgabe bez\u00fcglich eines konkreten Falles. Es fielen mir konkrete F\u00e4lle ein, die teilweise etwas unlustbetont, teilweise etwas lustbetont, teilweise gleichzeitig waren. Nun fiel mir auf, es sei eine Beihe von Vorstellungen gewesen, verschieden gef\u00fchlsbetont. Wenn du ein Werturteil f\u00e4llen w\u00fcrdest, w\u00fcrdest du dennoch sagen: ,Es ist mir v\u00f6llig gleichg\u00fcltig!\u2019 Ich hatte verschiedene Vorstellungen. Trotzdem komme ich von dem Werturteil: ,es ist mir gleichg\u00fcltig\u2019 nicht ab, im Gegenteil: ich stimmte diesem negativen Werturteil noch zu. Sagte mir: ,Das ist ein Fall, wo der Gesamtbegriff unabh\u00e4ngig von verschiedenen Vorstellungen ein einheitliches Werturteil zul\u00e4\u00dft\u2019. (Worauf st\u00fctzen sie dieses Werturteil?) ,Auf die Unluststimmung\u20191).\u201d\nVersuchsperson vollzieht zun\u00e4chst eine emotionelle Wertsch\u00e4tzung bez\u00fcglich des Beiz Wortes Bowle. \u201eDas ist etwas so Gleichg\u00fcltiges, Minderwertiges, das ist mir ganz egal.\u201d Versuchsperson pr\u00fcft nun diese emotionelle Wertsch\u00e4tzung, die selbst schon in der ersten \u00c4u\u00dferung eine Einschr\u00e4nkung auf sich selbst erfahren hat, auf ihre Berechtigung. Sie denkt an Menschen, die das sehr sch\u00e4tzen, geht konkrete Erlebnisse durch, kann aber nicht umhin, bei der \u201enegativen\u201d Stellungnahme zu bleiben: \u201ees ist mir v\u00f6llig g 1 e i c h g \u00fc 11 i g\u201d.\nHier sind auch F\u00e4lle zu nennen, wo eine Wertsch\u00e4tzung von verschiedenen Gesichtspunkten aus zu qualitativ verschiedenen Ergebnissen f\u00fchrt und wo dann der Wertende f\u00fcr sich eine \u201eD urchschnittswertung\u201d vollzieht2).\nI. ABSCHNITT.\nMethoden der Psychologie der \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen\n1. Kapitel.\nExperimentelle \u00e4sthetische Methoden.\nAls Begr\u00fcnder der experimentellen Untersuchung in der \u00c4sthetik, ebenso wie als Begr\u00fcnder der experimentellen Psychologie ist Fechner anzusehen.\nx) G. JE. St\u00f6rring: 1. c. S. 183.\n2) G. E. St\u00f6rring: 1. c. S. 185.","page":1577},{"file":"p1578.txt","language":"de","ocr_de":"1578\nGr. St\u00f6rring\nFechner wurde zu seinen experimentell-\u00e4sthetischen Untersuchungen angeregt durch die Behauptung Zeisings, da\u00df das Verh\u00e4ltnis des goldenen Schnittes als das wohlgef\u00e4llige \u00e4sthetische Fundamentalverh\u00e4ltnis anzusehen sei. Fechner vollzog zun\u00e4chst eine Nachpr\u00fcfung dieser Behauptung an komplizierten Kunstwerken und fand daran diese Behauptung nicht best\u00e4tigt.\nDiese Situation brachte Fechner auf den gl\u00fccklichen Gedanken der Untersuchung der Verh\u00e4ltnisse bei einfachen wohlgef\u00e4lligen Figuren bei Linienteilungen, Rechtecken, Kreuzen usw. Damit ging Fechner auf sogenannte \u201ereine F\u00e4lle\u201d zur\u00fcck. Hierin war die Grundlegung der experimentellen \u00c4sthetik vollzogen.\nF\u00fcr die Untersuchung solcher reinen F\u00e4lle wandte Fechner drei Methoden an: die Methode der Wahl, die Methode der Herstellung und die der Verwendung.\nBei der Methode derWahl verfuhr er so, da\u00df er einen Beobachter aus Linien mit verschiedener Einteilung, Rechtecken mit verschiedenem Seitenverh\u00e4ltnis usw. die wohlgef\u00e4lligste Figur aus w\u00e4hlen lie\u00df.\nBei der Methode der Herstellung lie\u00df er einen der Beobachter selbst eine Figur so hersteilen, da\u00df sie ihm am wohlgef\u00e4lligsten erschien, so eine Linienteilung, die Kombination der Seiten eines Rechteckes usw.\nBei der Methode der Verwendung vollzog Fechner Ausmessungen an Vorgefundenen einfachen Formen, so an Kreuzen, Briefbogen, Schiefertafeln, B\u00fcchereinb\u00e4nden, Schnupftabakdosen usw.\nEine Weiterbildung der experimentellen \u00e4sthetischen Methoden Fechners hat sich nun nach verschiedenen Beziehungen vollzogen. Bei der Methode der einfachen Wahl, wie sie Fechner anwandte, wurde auf Grund der Verarbeitung eines relativ gro\u00dfen Beobachtungsmaterials nur ein \u00e4sthetisches Vorzugsurteil gewonnen. Tats\u00e4chlich interessiert aber \u00e4sthetisch nicht nur die wohlgef\u00e4lligste Form.\nEine der zum Teil von diesem Motiv geleiteten Modifikationen ist folgende. Man nimmt eine kontinuierliche Reihe oder eine kleinere Abstufungen aufweisende Reihe aus den zu pr\u00fcfenden Objekten und l\u00e4\u00dft den Beobachter angeben, welches Objekt am besten, am zweitbesten usw. gef\u00e4llt, so da\u00df eine Reihenbildung der Eindr\u00fccke nach dem Grade der Wohlgef\u00e4lligkeit zustande gebracht wird. Ziehen nennt diese Methode die ,,g r a-du eile und kontinuierliche Methode.\u201d\nBei Anwendung dieser Methode macht sich au\u00dfer anderem ein Erm\u00fcdungsfehler geltend.","page":1578},{"file":"p1579.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1579\nDerselbe wird vermieden bei der sogenannten \u201eMethode der paarweisen Vergleichen g\u201d. Hier wird jedes Glied mit jedem anderen verglichen, so da\u00df bei m-Gliedern\ni\u00ef\u00efb\n-\u2014 (m \u2014 1)-Vergleiche zum mindesten erforderlich sind.\n2\nW\u00e4hrend Fechner die ,,M ethode der Herstellung\u201d der Methode der Wahl nebenordnet, sieht Ziehen, und zwar mit Recht, die Methode der Herstellung als eine Form der Methode der Wahl an: bei Anwendung dieser Methode liegt ein fortw\u00e4hrendes ,,Hin-und-herprobieren\u201d vor und zwischen diesen zahlreichen M\u00f6glichkeiten vollzieht dann der Beobachter ohne Zweifel eine Wahl1).\nNeben den verschiedenen Modifikationen der Methode der Wahl kommt hier noch zur Anwendung ein Zensierverfahren, eine ,,M ethode der absoluten Pr\u00e4dikate\u201d [Ziehen). Dem Beobachter wird jedesmal nur ein Objekt dargeboten und er hat dann an Hand einer ihm vorgelegten numerierten Wertskala (etwa 1 = sehr wohlgef\u00e4llig, 2 = wohlgef\u00e4llig, 3 = gleichg\u00fcltig, 4 = mi\u00dff\u00e4llig, 5 = sehr mi\u00dff\u00e4llig) eine \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzung zu vollziehen. Es k\u00f6nnen dabei auch Zwischenstufen 1\u20142, 2\u20143 usw. zugelassen werden.\nDiese \u201eMethode der absoluten Pr\u00e4dikate\u201d hat gegen\u00fcber den verschiedenen Modifikationen der Methode der Wahl den Vorzug, da\u00df hier keine Vergleichung zwischen mehreren Empfindungsobjekten vorliegt.\nSodann kommt hier im Gegensatz zu den Modifikationen der Methode der Wahl der \u201eLustgrad\u201d voll zur Geltung.\nBei den Methoden der Wahl macht das Urteil, wonach die eine Gr\u00f6\u00dfe wohlgef\u00e4lliger oder mi\u00dff\u00e4lliger als die andere ist, doch offenbar keine n\u00e4here Bestimmung \u00fcber die Quantit\u00e4t der emotionellen Differenz.\nZur Illustration gebe ich ein au\u00dferordentlich instruktives Beispiel, welches Ziehen in seiner \u00c4sthetik entwickelt.\n\u201eEs handelt sich darum, festzustellen, welche \u00e4sthetische Gef\u00fchlswirkung den verschiedenen Rechtecken, d. h. Rechtecken von verschiedenen Seitenverh\u00e4ltnissen zukommt, und wir wollen beispielsweise die graduelle Methode der Wahl anwenden. Dann w\u00fcrde ich mit Tusche auf wei\u00dfem Karton2) etwa 20 Rechtecke zeichnen, deren horizontale Seite 10 cm lang ist, w\u00e4hrend die Vertikale bei dem ersten Rechteck 2 cm, bei dem zweiten 4 cm usw. und bei dem zwanzigsten 40 cm lang ist. Vor der Exposition w\u00fcrde ich ein kurzes Protokoll \u00fcber die Personalien \u00fcber\nx) Ziehen: \u00c4sthetik. 1. 116.\n2) Form und Gr\u00f6\u00dfe des Kartons sind dabei durchaus nicht gleichg\u00fcltig und m\u00fcssen daher eventuell gleichfalls variiert werden.","page":1579},{"file":"p1580.txt","language":"de","ocr_de":"1580\nGr. Sfc\u00f6rring\nden k\u00f6rperlichen nnd seelischen Zustand der Yersnehsperson und \u00fcber die allgemeinen objektiven Yersnchsbedingnngen auf-nehmen nnd die Zeit des Yersnchsbeginnes notieren. Bez\u00fcglich des seelischen Zustandes w\u00e4re namentlich die Stimmung \u2014 ob traurig oder heiter oder neutral nsw. \u2014 nnd etwaige Erm\u00fcdung zu beachten. Unter den objektiven Yersnchsbedingnngen w\u00fcrden z. B. die Belenchtnngsverh\u00e4ltnisse a.nzngeben sein, da diese wechseln nnd f\u00fcr optische nnd \u00e4sthetische Eindr\u00fccke nicht gleichg\u00fcltig sind. F\u00fcr die Yersnche selbst hat man hierauf die Entfernung der Angen von den zu exponierenden Rechtecken zu regulieren. Meistens empfiehlt sich in unserem Beispiel eine Entfernung von 40 bis 60 cm. Ebenso mu\u00df die Winkellage des Kartons mit den Zeichnungen zum Beschauer wenigstens ungef\u00e4hr fixiert werden. Am zweckm\u00e4\u00dfigsten werden sie in einer frontalen Ebene, also auf einer senkrechten Tafel exponiert. Der Yergleich findet dann in der oben beschriebenen Weise statt, und zwar k\u00f6nnte ich in unserem Beispiel entweder alle Rechtecke zugleich auf der Tafel exponieren und die Yersuchsperson hin und her vergleichen lassen oder die Rechtecke nacheinander zu zwei oder drei in der Reihenfolge ihrer Gr\u00f6\u00dfe exponieren. Im ersteren Fall setze ich mich einem \u00e4hnlichen regellosen Hin-und-herprobieren wie bei der Methode der Herstellung aus. Wir wollen trotzdem annehmen, da\u00df wir diesen Weg ein-schlagen. Die Instruktion an die Yersuchsperson h\u00e4tte dann folgenderma\u00dfen zu lauten: ,Betrachten Sie jedes Rechteck genau und vergleichen Sie es mit den anderen in beliebiger Reihenfolge ! Dann sagen Sie mir, welche Unterschiede im \u00e4sthetischen Wohlgefallen bestehen, und zwar achten Sie sowohl auf quantitative wie auf qualitative ! Wenn es Ihnen m\u00f6glich ist, versuchen Sie die Rechtecke nach dem Grad der Wohlgef\u00e4lligkeit in einer Reihe zu ordnen !\u2019 Bei Kindern und Ungebildeten w\u00e4hlt man eine popul\u00e4re Form der Instruktion. Oft empfiehlt es sich bei der ersten Versuchsreihe noch ausdr\u00fccklich hinzuzuf\u00fcgen: ,Denken Sie dabei an gar nichts anderes, unterdr\u00fccken Sie alle Erinnerungen an bestimmte Gegenst\u00e4nde, Kunstwerke usw., lassen Sie nur die Form selbst auf sich wirken!\u2019 Wir versuchen also zun\u00e4chst die Ankn\u00fcpfung von Vorstellungen, den assoziativen Faktor m\u00f6glichst zu unterdr\u00fccken, um die reine Wirkung des direkten oder Empfindungsfaktors kennenzulernen. Die Yersuchsperson hat anzugeben, wie weit ihr die Unterdr\u00fcckung gelungen ist. Erst in einer zweiten Versuchsreihe l\u00e4\u00dft man den Assoziationen der Yersuchsperson freien Lauf. Alle Angaben der Yersuchsperson notieren wir vollst\u00e4ndig und w\u00f6rtlich : wollten wir sie abk\u00fcrzen oder umformulieren, so w\u00fcrden sie an Zuverl\u00e4ssigkeit wesentlich einb\u00fc\u00dfen. Auch vermeiden wir, wenn die Yersuchsperson uns ihre Selbstbeobachtungen \u00fcber Gef\u00fchlsnuancen, Assoziationen usw. mitteilt, anfangs alle","page":1580},{"file":"p1581.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1581\nFragen, da sie eine ganz unberechenbare Suggestivwirkung, namentlich bei Kindern, aber anch bei Erwachsenen haben k\u00f6nnen. Erst nachtr\u00e4glich m\u00fcssen wir durch Erg\u00e4nznngsfragen dasjenige zu ermitteln suchen, was die Versuchsperson bei ihrem Spontanbericht \u00fcbersehen hat. Im Versuchsprotokoll mu\u00df ausdr\u00fccklich vermerkt werden, wo der , Spontanbericht5 anfh\u00f6rt und das ,Erg\u00e4nzungsverh\u00f6r5. beginnt. Am besten ist es, auch die Fragen selbst wenigstens kurz zu protokollieren. Teils sind es solche, die immer wiederkehren, wie z. B. die Kontrollfragen: haben Sie auch wirklich an keinen Gegenstand gedacht ? Ist Ihnen keine Erinnerung auf getaucht ? Konnten Sie Ihre Aufmerksamkeit auf die Objekte konzentrieren?, teils sind sie dem Spontanbericht der einzelnen Versuchspersonen und auch den exponierten Objekten in der individuellsten Weise anzupassen, gerade in diesem letzten variablen Teil hat der Versuchsleiter seine Begabung und seine Erfahrung im h\u00f6chsten Ma\u00dfe n\u00f6tig. Ich unterlasse es dabei auch nie, der Versuchsperson einzusch\u00e4rfen, da\u00df sie bei diesem Verh\u00f6r streng zu unterscheiden hat zwischen dem, was sie w\u00e4hrend der \u00e4sthetischen Aufnahme selbst erlebt hat, und dem, was ihr erst nachtr\u00e4glich w\u00e4hrend des Verh\u00f6rs einf\u00e4llt. Am Schlu\u00df des Verh\u00f6rs empfiehlt es sich stets noch zwei Spezialfragen zu tun: 1. wie und wof\u00fcr glauben Sie die exponierten Objekte, also z. B. unsere Bechtecke in der Kunst, verwenden zu k\u00f6nnen? und 2. was halten Sie selbst f\u00fcr die Ursache, da\u00df das eine Objekt Ihnen besser gefallen hat als das andere ? Absichtlich werden diese Fragen erst nach Abschlu\u00df der ganzen Versuchsreihe gestellt, damit das \u00e4sthetische Erlebnis und seine Beschreibung durch die, wie wir wissen, \u00e4sthetikfremden Gedanken an Zweck und Grund m\u00f6glichst wenig beeinflu\u00dft wird.\nEs ist selbstverst\u00e4ndlich, da\u00df wir die Dauer der Exposition und des Verh\u00f6rs im Protokoll notieren und in der Begel erst nach einer langen Pause, am besten erst am folgenden Tage zu einer neuen bzw. zweiten Versuchsreihe \u00fcbergehen. Die Dauer der Exposition ist im allgemeinen reichlich zu bemessen. Meistens gew\u00e4hre ich der Versuchsperson soviel Zeit, als sie selbst beansprucht, um zu einem \u00e4sthetischen Urteil zu gelangen. Bei Einzelexpositionen, also namentlich bei der Methode der absoluten Pr\u00e4dikate, aber auch zuweilen bei der Methode der paarweisen Vergleichung ist es wichtig, auch dem zeitlichen Ablauf des \u00e4sthetischen Eindruckes, also z. B. eine etwaige Latenzzeit, ein rasches oder langsames Ansteigen und Abklingen, eine Verschiebung des Vorzugsurteiles oder seiner Nuance mit der Dauer der Beobachtung usw. festzustellen, entweder auf Grund des Spontanberichtes oder mit Hilfe unserer Erg\u00e4nzungsfragen. Da die Versuchsperson sich der ersten Phasen des \u00e4sthetischen Erlebnisses \u2014 namentlich bei dem sub experiment eilen Verfahren \u2014 hinterher","page":1581},{"file":"p1582.txt","language":"de","ocr_de":"1582\nGr. St\u00f6rring\noft nicht mehr sicher erinnert, so ist es bei solchen Spezialuntersuchungen doch zuweilen angezeigt, sich durch eine sehr stark abgek\u00fcrzte Exposition Sicherheit zu verschaffen.\u201d\n,,Es er\u00fcbrigt noch, die f\u00fcr die einzelnen Beobachter bez\u00fcglich derselben Objekte gewonnenen Werte zueinander in Beziehung zu setzen. Das geschieht, indem man aus den Sch\u00e4tzungen der verschiedenen Versuchspersonen f\u00fcr dasselbe Objekt den Mittelwert bestimmt und sodann einen Wert angibt, welcher die mittlere Abweichung der Beobachter von diesem Wert darstellt.\nMan stellt also schon bei Anwendung der Methode paarweiser Vergleichung f\u00fcr jeden Beobachter die Bangordnung der Wohlgef\u00e4lligkeit der untersuchten Objekte fest, so da\u00df man f\u00fcr jedes der Objekte eine Bangzahl bekommt; dann bestimmt man f\u00fcr jedes einzelne der untersuchten Objekte das arithmetische Mittel aus den Bangzahlen der verschiedenen Beobachter bez\u00fcglich je eines bestimmten Objektes. Diesen Wert nennt man die mittlere B a n g z a h 1.\u201d\nDas Streuungsma\u00df f\u00fcr die Sch\u00e4tzungen der einzelnen Beobachter bez\u00fcglich eines bestimmten Objektes ist dann gegeben in der sogenannten mittleren Variation, d. h. in der mittleren Schwankung der einzelnen Variationen um die mittlere Bangzahl. Man nimmt die Differenzen zwischen der mittleren Bangzahl und den einzelnen Werten von den verschiedenen Beobachtern bez\u00fcglich desselben Objektes absolut; sind diese A1? A2, A3 . . . ., so ist die mittlere Variation:\nTr __ A i + ^2 ~i~ ^3 \u2022 \u2022 \u2022 \u201cb An\ny m \u2014\t.\nn\nBez\u00fcglich der mittleren absoluten Pr\u00e4dikate ist die Betrachtungsweise analog wie hier bei mittleren Bangzahlen.\nVon diesen streng experimentellen \u00e4sthetischen Methoden an relativ einfachen \u00e4sthetischen Objekten hat man Ma\u00dfnahmen zu unterscheiden, bei denen man komplizierte Kunstwerke verschiedenen Beobachtern zur Beschreibung der durch dieselben in ihnen ausgel\u00f6sten \u00e4sthetischen Eindr\u00fccke darbietet, ohne da\u00df eine Variation der Versuchsbedingungen in \u00e4hnlicher Weise wie im Falle jener einfachen \u00e4sthetischen Objekte stattfinden kann. Man kann hier von Quasiexperimenten sprechen. Ziehen spricht hier von subexperimenteller Methode.\nDie bisher besprochenen experimentell-\u00e4sthetischen Methoden sind als Eindrucksmethoden charakterisiert und ihnen sind Methoden gegen\u00fcbergestellt worden, bei denen man die k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen der \u00e4sthetischen Gef\u00fchlszust\u00e4nde","page":1582},{"file":"p1583.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1583\nexperimentell untersucht. Letztere Methoden pflegt man als \u00e4sthetische Ausdrucksmethoden zu bezeichnen.\nEs handelt sich dabei um Untersuchung der\u00c4nde-\u00efung von Puls und Atmung und \u00c4nderung der Blutf\u00fclle der Organe bei \u00e4sthetischen Gef\u00fchlszust\u00e4nden, sodann um photographische Untersuchung des Gesichtsausdruckes und der K\u00f6rperhaltung.\nIm ganzen genommen ist noch wenig experimentell-\u00e4sthetisch gearbeitet worden.\nMach den streng experimentell-\u00e4sthetischen Methoden liegen Untersuchungen vor an den verschiedensten einfachen Figuren, sodann \u00fcber Farben und Farbenkombinationen, sodann T\u00f6ne, Tonfolgen und Tonkombinationen, weiter \u00fcber einfache Taktverh\u00e4ltnisse. Sodann kann man hierher rechnen experimentelle Untersuchungen \u00fcber den Rhythmus.\nAus der relativ geringen Zahl experimentell - \u00e4sthetischer Versuche greife ich sodann noch heraus Versuche von Dessoir und weiter von K\u00fclpe \u00fcber Untersuchung \u00e4sthetischer Wertsch\u00e4tzung bei Variation der zeitlichen Einwirkung der Objekte.\nDessoir exponierte den Versuchspersonen \u00e4sthetische Objekte 10, 20 und 30 Sekunden und fand, da\u00df man verschiedene Stadien der Entwicklung des \u00e4sthetischen Urteils unterscheiden mu\u00df. Ganz eigenartig ist dabei der erste Eindruck bei kurzer Exposition. Er sagt dar\u00fcber: ,,Es zeigt sich, da\u00df gleich zu Anfang ein gewisser Gesamteindruck da ist, da\u00df der Beiz sofort mit einem bestimmt gef\u00e4rbten Wohlgefallen oder Mi\u00dffallen beantwortet wird. Wir nehmen ohne Zaudern Stellung zu dem Dargebotenen. So viel auch die Vorbereitung der Versuchsperson und die Beschaffenheit des Gegenstandes an dem Inhalt des Erlebnisses \u00e4ndern m\u00f6gen, stets zeigt das Erlebnis Totalit\u00e4t und Bestimmtheit. Der erste Eindruck hat eine \u00e4sthetische, wie in allem \u00fcbrigen Sein eine spezifische Wertigkeit: er bedeutet etwas ganz Eigenartiges, Unwiederholbares, etwas, das unwiederbringlich nur einmal vorkommt, das in der weiteren Folge aufgehoben oder vertieft, berichtigt oder erg\u00e4nzt, aber nimmermehr ersetzt werden kann. Entscheidend wirken die sinnlichen Eigenschaften der Dinge und die organischen Empfindungen im Betrachten, und daraus erkl\u00e4rt sich auch die instinktive Sicherheit und St\u00e4rke des ersten Eindruckes. Zun\u00e4chst n\u00e4mlich sieht und genie\u00dft der unbefangene Betrachter nur R\u00e4umliches und Farbiges; der Eindruck der Bedeutung der dunklen und lichten Flecken, bei manchen Personen mit der Einf\u00fchlung verbunden, kommt der Regel nach sp\u00e4ter. Ob die Formen oder Farben eher ins Bewu\u00dftsein treten, h\u00e4ngt","page":1583},{"file":"p1584.txt","language":"de","ocr_de":"1584\nG. St\u00f6rring\nvom Gegenst\u00e4nde ab, immerhin lassen verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig viele Haturobjekte nnd Kunstobjekte sofort die Harmoniegef\u00fchle auf-lenchten. Mit ihnen scheint die Stimmung verkn\u00fcpft, die sich \u00fcberraschend schnell einstellt, \u00fcbrigens meist ohne Bedenken auf den Gegenstand \u00fcbertragen wird. Hernach geht die Beobachtung auf das Sachliche ein. Dabei kommt dann in Betracht, ob der Inhalt leicht oder schwer zn erkennen nnd ob er Ausdruck einer die Anteilnahme heischenden Idee ist. Assoziationen aus der individuellen Erfahrung pflegen sich wiederum sp\u00e4ter hinzuzugesellen. Diese Beihenfolge, die an vielen Versuchspersonen und an recht verschiedenen Gegenst\u00e4nden als der durchschnittliche Verlauf festgestellt wurde, gilt demnach vermutlich blo\u00df f\u00fcr besonders geschulte \u2014oder wenn man will beeinflu\u00dfte \u2014Beobachter und f\u00fcr farbige Objekte. Das Hauptergebnis allerdings d\u00fcrfte feststehen: Ehe deutlich gesehen wird, was alles da ist, ja ehe \u00fcberhaupt ein Wissen m\u00f6glich ist, bilden sich Stimmung und Urteil auf Grund wahrgenommener sinnlicher Eigenschaften. Fast m\u00f6chte ich diese Tatsache als einen \u00e4sthetischen Keflex bezeichnen. Eine beinahe physiologische Reaktion findet statt, deren h\u00f6herer Grad ganz deutlich in organischen Empfindungen sich \u00e4u\u00dfert: im Beschleunigtwerden oder Stocken des Atems, oder in einem Schauer, der \u00fcber den B\u00fccken l\u00e4uft oder im Gef\u00fchl, da\u00df man rot und bla\u00df wird. Bei gr\u00f6\u00dfter Steigerung kann das Erblicken eines sch\u00f6nen Gegenstandes Krampf oder Ohnmacht hervor-rufen. Wenn eine Stimme zu singen anhebt, f\u00fchlen wir uns wohl im Innersten getroffen, lange bevor wir Wort und Weise verstehen. Klangfarben gibt es, die unmittelbar erregen und unmittelbar beruhigen, die uns aufpeitschen oder gleich einem sanften Wind umspielen. So wirken sie vielleicht nur f\u00fcr einige Sekunden, ein sinnlicher Beiz f\u00fcr das Lebensgef\u00fchl. Aber gerade diese anf\u00e4ngliche Wirkung k\u00fcmmert uns hier1)\u201d.\nK\u00fclpe fand, da\u00df bei k\u00fcrzester Exposition der \u00e4sthetischen Objekte das noch nicht auftrat, was wir sp\u00e4ter als ,,Einf\u00fchlung\u201d kennen lernen werden und schlo\u00df daraus, da\u00df \u201eEinf\u00fchlung'\u2019 keine conditio sine qua non \u00e4sthetischer Urteile ist.\n2. Kapitel.\nDie nicht experimentell \u00e4sthetischen Methoden nnd ihre Anwendung.\nAu\u00dfer den experimentellen Methoden kommt bei den \u00e4sthetischen Untersuchungen, wie wir schon h\u00f6rten und wie sich uns im folgenden im einzelnen zeigen wird, eine quasi experimentelle Methode in Betracht, die man an Hand gegebener \u00e4sthetischer Objekte in ausgiebiger Weise\nl) Dessoir: \u00c4sthetik. S. 155 ff.","page":1584},{"file":"p1585.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1585\nbet\u00e4tigen kann. Sodann spielt in der Psychologie der \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen eine sehr bedeutsame Polle die Selbstbeobachtungsmethode. Eine gewisse Bedeutung hat zuletzt noch die entwicklungsgeschichtliche Methode, welche \u00e4sthetische Befunde der V\u00f6lkerpsychologie und Kinderpsychologie vergleichend verarbeitet.\nI. Der direkte und indirekte (assoziative) Faktor beim \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzen bei Fechner und das \u00e4sthetische Hilfsprinzip.\n1. Fechner ist auch f\u00fcr die nicht experimentelle \u00c4sthetik von epochemachender Bedeutung gewesen. Er hat eine Beihe von Prinzipien auf gestellt, welche fruchtbare Gesichtspunkte der Untersuchung und wertvolle Unterscheidungen geben. Von au\u00dferordentlicher Bedeutung ist seine Lehre vom direkten und indirekten Faktor. Alles \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzen gr\u00fcndet sich nach Fechner auf einen direkten und indirekten Faktor. Der direkte Faktor ist gegeben in den sinnlichen Tatbest\u00e4nden, in Farbe, Gestalt, Klang, Bhythmus usw. Der indirekte Faktor wird auch als assoziativer Faktor bezeichnet. Gemeint sind damit g e-f\u00fchls starke Vorstellungen und Gedanken, die durch den direkten Faktor ausgel\u00f6st werden. Ich gebe zur Illustrierung ein Beispiel von Fechner :\n,,Weshalb gef\u00e4llt uns eine rote Wange an einem jugendlichen Gesicht besser als eine blasse ? Ohne Zweifel kommt hier nicht allein die rote Farbe in Betracht. Denn die rote Farbe der K\u00e4se mi\u00dff\u00e4llt uns. Die rote Farbe der Wange gef\u00e4llt uns nicht so sehr auf Grund des sinnlichen Eindruckes als auf Grund der sich an denselben anschlie\u00dfenden Vorstellungen von Gesundheit, Freude, bl\u00fchendem Leben, und die rote Farbe der roten K\u00e4se mi\u00dff\u00e4llt uns nicht auf Grund des sinnlichen Eindruckes, sondern auf Grund der sich an denselben anschlie\u00dfenden Vorstellungen von Trunk und Kupferkrankheit.\u201d\nWir fragen nun zun\u00e4chst, ob der direkte Faktor f\u00fcr sich genommen schon eine \u00e4sthetische Wirkung nach Fechner erzeugt. Auf diese Frage finden wir bei Fechner eine entschieden bejahende Antwort. Denn er sagt : ,,Da\u00df Formen, Farbe, T\u00f6ne und selbst Verh\u00e4ltnisse von solchen, deren Eindruck schon \u00fcber den rein sinnlichen hinausgeht, uns r\u00fccksichtslos auf angekn\u00fcpften Sinn, Bedeutung, Zweck und ohne Erinnerung an \u00e4u\u00dferlich oder innerlich fr\u00fcher darin Erfahrenes, kurz verm\u00f6ge direkter Einwirkung, mehr oder weniger gefallen oder mi\u00dffallen k\u00f6nnen, bezweifelt niemand. Jedem gef\u00e4llt, abgesehen von Assoziationen, rein ges\u00e4ttigtes Bot oder Blau besser als","page":1585},{"file":"p1586.txt","language":"de","ocr_de":"1586\nGr. St\u00f6rring\nschmutziges, fahles, und die Zusammenstellung von Eot und Blau besser als von Gelb und Gr\u00fcn, jedem ein rein symmetrisches Becht-eck besser als ein windschiefes ; einseitig verkn\u00fcpfte Mannigfaltigkeit \u00fcberhaupt besser als Monotonie oder unregelm\u00e4\u00dfiges Formgewirr1).\u201d' Der direkte Faktor spielt nach Fechner bei der Musik fast allein eine Bolle. \u201eEs bedarf in der Tat keiner Assoziation, um durch eine sanfte Musik sanft gestimmt, durch eine lebhafte erregt, durch eine traurige traurig gestimmt zu werden2).\u201d\nWas andrerseits den assoziativenFaktor betrifft, so ergibt seine \u00e4sthetische Bedeutung sich an der Hand von F\u00e4llen, wie dem der Orange, verglichen mit dem einer gleichgef\u00e4rbten und gleichgestalteten Holzkugel, sodann aus psychologischen Selbstbeobachtungen folgender Art: \u201eWas in der Sixtinischen Madonna nach Abzug aller Assoziationen noch \u00fcbrig bleibt, ist eine kunterbunte Farbentafel, der es jedes Teppichmuster an Wohlgef\u00e4lligkeit zuvortut3).\u201d\nGegen die Behauptung der Bedeutung des assoziativen Faktors f\u00fcr die \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen macht sich dann Fechner selbst einen Einwand. Man k\u00f6nnte sagen: Wenn wirklich die assoziativen Faktoren die angenommene Bedeutung f\u00fcr \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzungen h\u00e4tten, dann m\u00fc\u00dften die \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen sehr subjektiven Charakter tragen, da ja doch die Assoziationen bei den verschiedenen Individuen sehr verschieden sind. Auf diesen Einwand antwortet Fechner: Man mu\u00df beachten, da\u00df trotz der Verschiedenheit der Erlebnisse der einzelnen Individuen ein Grundstock gemeinsamer Verhaltungsweisen vorhanden ist, der durch die allgemeine Natur menschlicher, irdischer und kosmischer Verh\u00e4ltnisse bedingt ist.\nF\u00fcr die \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen kommt also sowohl ein direkter Faktor als ein indirekter, assoziativer Faktor in Betracht.\nEs wird jetzt die Frage aufgeworfen, wie sich die Gesamtwirkung gestaltet. In bezug auf Gestaltung der Gesamtwirkung stellt nun Fechner die Behauptung auf, da\u00df die \u00e4sthetische Gesamtwirkung dieser beiden Faktoren weit st\u00e4rker ist als die Summe der Gef\u00fchlszust\u00e4nde dieser beiden Faktoren. Hier haben wir es mit dem bekannten \u201e\u00e4sthetischen Hilfsprinz i p\u201d Fechners zu tun.\nDie G\u00fcltigkeit dieses Prinzips beweist Fechner in folgender Weise. Ein sch\u00f6nes Gedicht hat eine bestimmte \u00e4sthetische\nb Fechner: Vorschule der \u00c4sthetik. S. 95.\n2)\tFechner: Vorschule der \u00c4sthetik. S. 160.\n3)\tFechner: 1. c. S. 118.","page":1586},{"file":"p1587.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1587\nWirkung. Nimmt man nun dasselbe Gedicht in fremder Sprache unter Beibehaltung von Versma\u00df, Rhythmus und Reim, so wird jetzt, wo die Auffassung des Inhaltes in Wegfall kommt, die \u00e4sthetische Wirkung eine relativ geringe sein. Beh\u00e4lt man andrerseits den Inhalt des Gedichtes bei, indem man den Inhalt in Prosastil darbietet, so ist die \u00e4sthetische Wirkung ebenfalls sehr stark herabgesetzt. Hieraus ergibt sich, da\u00df die \u00e4sthetische Wirkung eines sch\u00f6nen Gedichtes gr\u00f6\u00dfer ist, als die Summe der Gef\u00fchlszust\u00e4nde von Inhalt einerseits und von Versma\u00df, Rhythmus und Reim andrerseits.\n2. Bevor wir die Entwicklung weiterf\u00fchren, wollen wir zun\u00e4chst methodologische Betrachtungen \u00fcber diese Bestimmungen von Fechner anstellen.\nMan h\u00f6rt zuweilen sagen, in der Psychologie der \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen komme au\u00dfer der streng experimentellen Methode die Selbstbeobachtungsmethode zur Anwendung und au\u00dferdem noch ein Vergleichsverfahren.\nWenn Fechner die Wohlgef\u00e4lligkeit der Orange mit der einer gelben Holzkugel gleicher Gr\u00f6\u00dfe vergleicht, so scheint die Vergleichung ihn zu der Feststellung zu f\u00fchren, da\u00df neben dem direkten Faktor ein assoziativer die \u00e4sthetische Wirkung herbeif\u00fchrt. Methodologisch wird man damit aber dem vorliegenden Verfahren wenig gerecht. Wenn man nach dem Bedingungskomplex der Wohlgef\u00e4lligkeit der Orange fragte, so ist zun\u00e4chst zu sagen, da\u00df die Orange einen sehr komplexen Tatbestand darstellt.\nBei Betrachtung der Orange kommt von diesem komplexen Tatbestand nur Form und Farbe der Orange zur Wirkung in dem betrachtenden Individuum. Kommt nun die \u00e4sthetische Wirkung, die bei Betrachtung der Orange entsteht, allein auf das Konto von Form und Farbe? Um dar\u00fcber ins Klare zu kommen, suchten wir Form und Farbe, wie sie hier auftreten, zu isolieren. Das geschieht, wenn wir einen K\u00f6rper nehmen von derselben Form und derselben Farbe, dessen \u00fcbrige Eigenschaften \u00e4sthetisch indifferent sind: etwa eine Holzk\u00fcgel von gleicher Gr\u00f6\u00dfe und gleicher Farbe,\nDiese Holzkugel vergleichen wir nun in ihrer Wirkung mit der Orange. Wir konstatieren, da\u00df die \u00e4sthetische Wirkung bei der Holzkugel eine weit geringere ist. Und wenn wir uns jetzt fragen, woran das liegt, so hilft uns zuletzt die Selbstbeobachtung, welche uns sagt, da\u00df bei \u00e4sthetischer Betrachtung der Orange noch solche und solche Assoziationen mitklingen.\nMan sieht, dem Vergleichungsproze\u00df, welcher sich auf Selbstbeobachtung der \u00e4sthetischen Wirkung beider Objekte st\u00fctzt und auf den dann noch eine weitere Verwendung der Selbstbeobachtung folgt, geht ein eigenartiger Proze\u00df voran.","page":1587},{"file":"p1588.txt","language":"de","ocr_de":"1588\nGr. St\u00f6rring\nMan konstatiert, da\u00df der unmittelbare Eindruck auf das Konto von Form und Farbe kommt. Dann schafft man sich ein Gebilde (!), in welchem diese Form und diese Farbe mit \u00e4sthetisch indifferenten Eigenschaften znsammengedacht ist. Dann sucht man ein Objekt der Wirklichkeit, welches die in dem Gedankengebilde gedachten Eigenschaften hat, also auch so beschaffen ist, da\u00df es \u00e4sthetisch indifferent ist (kausale Feststellung!). Und dann vergleicht man. Die interessanteste Leistung liegt hier offenbar vor der Vergleichung !\nDie Vergleichung bez\u00fcglich \u00e4sthetischer Wirknngsf\u00e4higkeit wird hier ja doch vollzogen mit einem Objekt, welches so beschaffen ist, da\u00df auf diese Vergleichung sich ein Induktionsschlu\u00df gr\u00fcnden l\u00e4\u00dft.\nUnd zwar haben wir es hier zudem mit einem sich \u00fcber einer kausalen Feststellung snperponierenden Schlu\u00df nach der Methode der \u00dcbereinstimmung zu tun. Die Methode der \u00dcbereinstimmung fa\u00dft ja F\u00e4lle ins Auge, die au\u00dfer in einer oder einer begrenzten Zahl von Eigenschaften in allen anderen Eigenschaften different sind. Hier wird nicht nur Verschiedenheit der \u00fcbrigen Eigenschaften, sondern auch emotionelle Indifferenz verlangt, weshalb noch ein Kausalschlu\u00df vorausgesetzt wird.\nWir haben es hier mit einem Verfahren zu tun, welches bisher in den logischen Untersuchungen meines Wissens keine Charakterisierung gefunden hat.\nMethodologisch interessant ist sodann die Begr\u00fcndung, welche Fechner f\u00fcr sein \u201e\u00e4sthetisches Hilfsprinzip\u201d gibt.\nHier beweist er das Prinzip zun\u00e4chst f\u00fcr den Fall eines sch\u00f6nen Gedichtes. In demselben haben wir es zu tun mit der Wirkung von Versma\u00df, Rhythmus, Keim und sodann der Wirkung des Inhaltes. Kun eliminiert er die Wirkung des Inhaltes, ohne ein eigentliches Experiment anzustellen.\nBekanntlich wird bei der Induktionsmethode der Differenz entweder ein Faktor neu eingef\u00fchrt, der mit dem Umst\u00e4ndekomplex die betreffende Wirkung nach sich zieht oder es wird aus einem gegebenen Umst\u00e4ndekomplex, der die betreffende Wirkung nach sich zieht, ein Faktor eliminiert.\nHier haben wir es auch mit der Eliminierung eines Faktors, wie in einer der Arten der Differenzmethode, zu tun, nur wird derselbe nicht, wie im Fall der eigentlichen Differenzmethode an demselben Umst\u00e4ndekomplex vollzogen, sondern es wird ein \u00e4hnlicher Umst\u00e4ndekomplex aufgesucht, an","page":1588},{"file":"p1589.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1589\nwelchem dieser weitere Faktor sich nicht f i n d e t. Im Falle des sch\u00f6nen Gedichtes ist die Auffassung des Inhaltes eliminiert bei I ortrag desselben in einer unbekannten Sprache mit ann\u00e4hernder Beibehaltung von Versma\u00df. Rhythmus und Beim.\nHier liegt also eine Modifikation der Differenzmethode vor.\nIch habe in meiner Logik bereits hervorgehoben, da\u00df die herrschende Auffassung nicht zu recht besteht, induktive Beobachtungsmethode sei allein die \u00dcbereinstimmungsmethode1).\neiterbildung der Auffassung Fechnev s \u00fcber\nden direkten und assoziativen Faktor.\n1.\tDie Beziehung des assoziativen zum direkten Faktor ist von Fechner nicht n\u00e4her allgemein bestimmt worden. Gelegentlich redet er bei Besprechung der einzelnen Beispiele von^ Verschmelzung des assoziativen Faktors mit dem direkten. Aber er hat die Verschmelzung nicht als Conditio sine qua non angesehen2).\nK\u00fclpe macht in \u00dcbereinstimmung mit Entwicklungen von Fotze die Feststellung, da\u00df der assoziative Faktor mit dem direkten Faktor eine Einheit, eine Gesamtvorstellung bildet. ,,Erinnert mich ein Bild, das ich sehe, an ein anderes ihm \u00e4hnliches, oder an den Ort, wo ich es zuerst kennengelernt habe, so wird das Interesse geteilt oder von seinem urspr\u00fcnglichen Gegenst\u00e4nde abgelenkt. Reproduziert eine Symphonie, welche ich h\u00f6re, die Vorstellung von einer landschaftlichen Szenerie oder einem kriegerischen Schauspiel, so wird die Energie, mit welcher ich ihrer musikalischen Wirkung folge, gleichfalls bedroht sein oder leiden3).55 F\u00fclpe macht die Bestimmung, da\u00df der assoziative Faktor in \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzungen mit dem direkten Faktor verschmolzen ist; wo eine solche Verschmelzung fehlt, haben die an den direkten Faktor sich anschlie\u00dfenden Vorstellungen, auch die gef\u00fchlsstarken, au\u00dfer\u00e4sthetischen Charakter ! Also da, wo sich an einen sinnlichen Eindruck eine selbst\u00e4ndige Reproduktion einer gef\u00fchlsstarken Vorstellung, eines gef\u00fchls-starken Gedankens anschlie\u00dft, handelt es sich darnach um einen au\u00dfer\u00e4sthetischen Faktor. Sp\u00e4ter werden wir hier eine Einschr\u00e4nkung zu machen haben.\n2.\tRun hat Groos erkannt, da\u00df ein au\u00dfer\u00e4sthetischer Faktor indirekt von \u00e4sthetischer Bedeutung sein kann: der au\u00dfer -\n1)\tSt\u00f6rring: Logik. S. 266 ff.\n2)\tSt\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. S. 178.\n. \u00ae)) K\u00fclpe: \u00dcber den assoziativen Faktor im \u00e4sthetischen Genu\u00df. Viahrsschr. f. wiss. Physiol. 23. 8. 1721 vgl. JR. JK\u00fcller-Freienfels: Physiologie der Kunst. 1924.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t103","page":1589},{"file":"p1590.txt","language":"de","ocr_de":"1590\nG. St\u00f6rring\n\u00e4sthetische Faktor kann n\u00e4mlich, wenn in ihm ein sehr starker Gef\u00fchlsznstand steckt, die Stimmung beeinflussen. Es kann dann nach dem Ablauf der selbst\u00e4ndigen Reproduktion das von neuem betrachtete Objekt unter dem Einflu\u00df der ver\u00e4nderten Stimmung eine andere \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzung erfahren. Groos entwickelt das an einem sehr geschickt gew\u00e4hlten Beispiel. Er sagt : ,,ich habe bei dem Anblick des Matterhornes von Zermatt aus wie jeder andere Beschauer sofort den Eindruck von etwas ungew\u00f6hnlich Wildem und Drohendem gehabt. Dieser Eindruck erkl\u00e4rt sich leicht aus der ganzen Form des Berges, der wie kein anderer das Gepr\u00e4ge der Unnahbarkeit besitzt. Eines Tages fiel es mir auf, da\u00df die Hauptlinien seiner Gestalt dreimal die Form einer Schlange wiederholen, die sich aufgerichtet hat und mit leicht zur\u00fcckgebeugtem Hals und vorw\u00e4rtsdr\u00e4ngendem Kopf zum t\u00f6dlichen Angriff \u00fcberzugehen droht. Besonders der mittlere Grat, der, von Zermatt aus gesehen, die ganze Figur von oben nach unten teilt und dadurch noch schlanker macht, ist hierf\u00fcr charakteristisch. Als ich von dieser Assoziation und dem durch sie bedingten Urteil (vom Urteil gilt nat\u00fcrlich genau dasselbe, was vorher von der Assoziation gesagt ist) zu dem Anblick des Berges zur\u00fcckkehrte, war der Eindruck des Furchtbaren und Drohenden begreiflicherweise \u00e4u\u00dferst lebendig, weil die durch Assoziation und Urteil erzeugte Gesamtstimmung nach wirkend mit dem Wahrnehmungsakt verwuchs1).\u201d\nAlso ein au\u00dfer\u00e4sthetischer Faktor kann indirekt von \u00e4sthetischer Bedeutung werden, indem er eine ver\u00e4nderte Stimmung erzeugt und diese bei einer von neuem erfolgenden Betrachtung des \u00e4sthetischen Objektes die \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzung beeinflu\u00dft.\n3. Der au\u00dfer\u00e4sthetische Faktor kann aber auch in der Weise \u00e4sthetisch wirksam werden, da\u00df er bei h\u00e4ufiger Wiederholung seinen au\u00dfer\u00e4sthetischen Charakter verliert. Tritt der Gedanke der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit eines \u00e4sthetischen Objektes neben der Wahrnehmung des Objektes als selbst\u00e4ndige Gr\u00f6\u00dfe im Bewu\u00dftsein auf, so hat er au\u00dfer\u00e4sthetischen Charakter, kun kann aber der Gedanke der Zweckm\u00e4\u00dfigkeit eines solchen Objektes infolge h\u00e4ufiger Wiederholung eine Verschmelzung mit der Wahrnehmung des Objektes eingehen. Dann ist aus dem au\u00dfer\u00e4sthetischen ein \u00e4sthetischer Faktor geworden.\nDieser \u00dcbergang des au\u00dfer\u00e4sthetischen Faktors in einem \u00e4sthetischen vollzieht sich, wie ich gezeigt habe2), bei schnell aufeinanderfolgenden Wiederholungen der Assoziation auf Grund einer relativ geringen Anzahl von Wiederholungen.\nb Groos: Der \u00e4sthetische Genu\u00df. S. 94 und 95.\n2) St\u00f6rring: Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Aufl. S. 184.","page":1590},{"file":"p1591.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1591\nIch betrachte etwa in der M\u00fcnchner Pinakothek mit besonderem Interesse die Schule von Athen, dabei einige Zeit verweilend. Es entwickeln sich gewisse au\u00dfer\u00e4sthetische Reproduktionen, eine beschr\u00e4nkte Anzahl derselben mit Regelm\u00e4\u00dfigkeit. Dann wird eine relativ geringe Anzahl von Wiederholungen der mit Regelm\u00e4\u00dfigkeit anftretenden an\u00dfer\u00e4sthetischen Faktoren bei diesen kurzen Intervallen zwischen den Wiederholungen gen\u00fcgen, um sie zu \u00e4sthetischen zu machen. Ich sage ,,eine relativ geringe Anzahl von Wiederholungen\u201d im Gegensatz zu der im gew\u00f6hnlichen Leben f\u00fcr Auftreten dieser Modifikation n\u00f6tigen Wiederholungen: ein Objekt des gew\u00f6hnlichen Lebens bietet sich uns in \u00e4hnlichen oder gleichen Exemplaren im allgemeinen nur in gr\u00f6\u00dferen zeitlichen Intervallen dar; deshalb bedarf es hier einer weit gr\u00f6\u00dferen Anzahl von Wiederholungen.\nIII. Vom \u00e4sthetischen Schein.\nWir haben gesehen, welche Bedingungen die an den direkten Faktor sich anschlie\u00dfende gef\u00fchlsstarke Vorstellung erf\u00fcllen mu\u00df, wenn sie \u00e4sthetische Bedeutung haben soll. Nun kann man weiter fragen : Welche Bedingungen mu\u00df dann der gef\u00fchlsstarke sinnliche Eindruck erf\u00fcllen, wenn er direkter Faktor einer \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzung werden soll? Eine dieser Bedingungen wird uns in der Lehre vom \u00e4sthetischen Schein entgegentreten.\nSchopenhauer hatte gesagt, da\u00df ,,bei der \u00e4sthetischen Betrachtungsweise das Selbstbewu\u00dftsein des Erkennenden nicht als Individuum, sondern als reinen, willenlosen Subjektes der Erkenntnis\u201d spricht1).\nVolkelt hat mit Recht darauf hingewiesen, da\u00df Schopenhauer zu weit geht, wenn er von dem \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzen allgemein die Willensbet\u00e4tigung ausschaltet. Man findet auch gelegentlich im \u00e4sthetischen Verhalten Strebungen auftreten, aber diese sind dann so gestaltet, da\u00df unser gegenw\u00e4rtiges praktisches Ich keine Beziehung zu den Objekten gewinnt. Volkelt sagt mit Recht: \u201eEs fehlt die Verkn\u00fcpfung mit dem von den Sorgen, Interessen, Pflichten des Tages erf\u00fcllten Ich2).\u201d\nVolkelt spricht deshalb von einer Herabsetzung der Wirklichkeit zum Schein bei der \u00e4sthetischen Betrachtung: \u201eWenn ich meine Felder, G\u00e4rten und W\u00e4lder mit \u00e4sthetischem Auge betrachte, so stehen sie mir nicht als eine Wirklichkeit gegen\u00fcber, die meinen Trieb nach Besitzen oder Vermehren besch\u00e4ftigt, beunruhigt, be-\n1)\tSchopenhauer: Welt als Wille und Vorstellung. 1. 230.\n2)\tVolkelt: \u00c4sthetik. 1. 506.\n103*","page":1591},{"file":"p1592.txt","language":"de","ocr_de":"1592\nGr. St\u00f6rring\nfriedigt, sondern ich sp\u00fcre sie als eine leichtere Wirklichkeit; sie gewinnen f\u00fcr mein Ange etwas Bildhaftes, Scheinartiges1).\u201d\nEs ergibt sich also, da\u00df Bedingung f\u00fcr die \u00e4sthetische Wertsch\u00e4tzung von Objekten ist, da\u00df bei Betrachtung derObjekte unser gegenw\u00e4rtiges praktisches Ich keine Beziehung zu ihnen gewinnt.\nDiese Bedingung ist aber dann erf\u00fcllt, wenn wir den Objekten gegen\u00fcber das entwickeln, was von Ernst Meumann \u201eKontemplation\u201d genannt wird, n\u00e4mlich positiv: \u201ev\u00f6llige Hingabe an das Objekt\u201d und negativ: \u201eDas Sichfreimachen von eigenen . . . Gedanken\u201d, welche dem Inhalt des Objektes nicht entsprechen2).\u201d\nHur m\u00f6chte ich anstatt von \u201ev\u00f6lliger Hingabe an das Objekt\u201d noch deutlicher von \u201ev\u00f6lliger Konzentration auf das Objekt mit besonderer Betonung der Gef\u00fchlsseite desselben\u201d sprechen, um eine scharfe Abgrenzung gegen\u00fcber einer intellektuellen Konzentration auf das Objekt zu vollziehen.\nDie so gefa\u00dfte Kontemplation ist zugleich eine Bedingung daf\u00fcr, da\u00df der sinnliche Eindruck bei \u00e4sthetischen Objekten zum \u201edirekten\u201d Faktor der \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzung wird.\nMethodologisch liegt hier die Sache relativ einfach: gef\u00fchlsstarke Eindr\u00fccke der Au\u00dfenwelt sind hier mit \u201esinnlichen\u201d Eindr\u00fccken bei \u00e4sthetischem Wertsch\u00e4tzen verglichen, wobei das eine Glied der Vergleichung sich uns in der Selbstbeobachtung darbietet und die Aufgabe dahin ging, differente Z\u00fcge hervorzuholen. Die Fragestellung selbst war uns durch Behauptungen moderner \u00c4sthetiker gegeben.\nIV. Die \u00e4sthetische Realit\u00e4t.\nVon \u00e4sthetischer Realit\u00e4t spricht man da, wo bei \u00e4sthetischer Betrachtung Ans\u00e4tze zu Realit\u00e4tssetzungen stattfinden, ohne da\u00df die Erfahrung zu solchen Setzungen berechtigte. Diese \u00e4sthetischen Realit\u00e4tssetzungen k\u00f6nnen deshalb als illusion\u00e4re Realit\u00e4tssetzungen charakterisiert werden.\nSo finden z. B. \u00e4sthetische Realit\u00e4tssetzungen oder Ans\u00e4tze dazu beim Lesen eines Romanes statt. Besonders ausgepr\u00e4gt sind solche \u00e4sthetische Realit\u00e4tssetzungen bei Lekt\u00fcre eines Romanes von seiten wenig Gebildeter. Wenn sie einen Roman gelesen und sich sehr f\u00fcr die Gestalten desselben interessiert haben und wenn man ihnen dann sagt, da\u00df die Gestalten des Romanes ja doch nicht\nx) V\u00f6lhelt: 1. c. S. 548.\n2) Ernst Meumann: System der \u00c4sthetik. S. 113.","page":1592},{"file":"p1593.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1593\nexistieren, so kann man erleben, da\u00df eine solche Behanptnng mit \u00c4rger zur\u00fcckgewiesen wird.\nBei dem Gebildeten aber sind jedenfalls Ans\u00e4tze zu einer Bealit\u00e4tssetznng nnd anch zeitweilige Realit\u00e4tssetzungen in manchen F\u00e4llen, so beim Lesen eines Romanes, dentlich nachweisbar. So kann eine in einem Roman geschilderte Situation eine sympathische F n r c h t davor einfl\u00f6\u00dfen, da\u00df einer bestimmten mich interessierenden Gestalt dasselbe Ungl\u00fcck znsto\u00dfen k\u00f6nnte. Hier haben wir es offenbar mit einer zeitweiligen \u00e4sthetischen Realit\u00e4tssetzung mit illusion\u00e4rem Charakter zn tnn. Wie ist dieselbe bedingt ?\nDie Beantwortung dieser Frage ist von gro\u00dfer Wichtigkeit. Ihre Bedeutung geht \u00fcber das Gebiet des \u00e4sthetischen Wert-sch\u00e4tzens hinaus. Haben wir eine Aufkl\u00e4rung dieses Tatbestandes gegeben, so k\u00f6nnen wir auch kausal Rechenschaft von den in der Entwicklung der Kultur so wichtigen religi\u00f6sen Wertsch\u00e4tzungen, soweit sie illusion\u00e4r sind, geben.\nBeim Lesen eines Romanes werden \u00e4sthetische Realit\u00e4tssetzungen vollzogen, weil es sich um eine konkrete Schilderung eines Komplexes von Tatbest\u00e4nden und Vorg\u00e4ngen handelt, welche starkes Interesse auf sich ziehen.\nDie kausale Verkettung dieser Realit\u00e4tssetzung l\u00e4\u00dft sich aber noch n\u00e4her angeben. l.Je konkreter die Schilderung eines Romanes ist, desto mehr ist der Gedanke an die Realit\u00e4t der geschilderten Vorg\u00e4nge nahegelegt.\n2. Der Gedanke an die Realit\u00e4t dieser Vorg\u00e4nge wird sich also (Interesse vorausgesetzt) mitFreude verbinden. Dann haben wir es also mit einem gef\u00fchlsstarken Gedanken der Realit\u00e4t zu tun. Dieser gef\u00fchlsstarke Gedanke wird nun aber fixiert im Bewu\u00dftsein durch Anschlu\u00df an die vorhandene Interessestimmung!\nDieser Realit\u00e4tsgedanke h\u00e4ngt also nicht von der Einstellung zum Denken ab. Wenn sich bei dem Gebildeten gegen\u00fcber solchen Schilderungen des Romans die Einstellung zum Denken entwickelt, so schwindet dieser Realit\u00e4tsgedanke wie Schnee vor der Sonne.\nDie \u00e4sthetische Realit\u00e4tssetzung ist also ein mit Befriedigung sich verbindender Realit\u00e4tsgedanke, der ohne Einstellung zum Denken zur Entwicklung kommt und durch","page":1593},{"file":"p1594.txt","language":"de","ocr_de":"1594\nGr. St\u00f6rring\nInteressestimmung im Bewu\u00dftsein sieh behauptet.\nMethodologisch ist hier zu sagen, da\u00df diese Feststellung \u00fcber \u00e4sthetische Eea lit\u00e4tss etzung sich auf eine Beobachtung gr\u00fcndet, die bereits auf dem Boden der Vulg\u00e4rpsychologie gemacht ist. Die kausale Aufkl\u00e4rung, die ich hier darbiete, habe ich nur geben k\u00f6nnen auf Grund von Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten des Gef\u00fchlslebens, die durch Verwertung der Psychopathologie der Gef\u00fchle f\u00fcr die normale Psychologie aufgedeckt sind.\nV. Die \u00e4sthetische Einstellung.\nDer Begriff der Einstellung wird in letzter Zeit h\u00e4ufig in einem sehr weiten Sinn genommen. Wir wollen den Begriff der \u00e4sthetischen Einstellung dem der Einstellung zum Denken, den wir fr\u00fcher festgelegt haben, analog gestalten. Wir sprechen von Einstellung zum Denken da, wo der Wille vorliegt, \u00fcber bestimmte Tatbest\u00e4nde unter gewissem Gesichtspunkte g\u00fcltige Aussagen zu machen und wo dieser Wille in den Hintergrund des Bewu\u00dftseins getreten ist, aber qualitativ so auf die Gestaltung des Denkens wirkt, als ob er im Vordergrund des Bewu\u00dftseins st\u00fcnde. Wir werden nun von \u00e4sthetischer Einstellung da sprechen k\u00f6nnen, wo der Wille vorliegt, eine \u00e4sthetische Wirkung in sich durch Betrachtung gewiss er Ob j ekte zustande zu bringen \u2014 und wo dieser Wille in den Hintergrund des Bewu\u00dftseins getreten ist.\nMan k\u00f6nnte denken, da\u00df die \u00e4sthetische Einstellung Conditio sine qua non \u00e4sthetischer Wertsch\u00e4tzung sei. Das ist aber nicht der Fall. Wenn ich auf der Stra\u00dfe ein sch\u00f6nes Gesicht sehe, so geh\u00f6rt keine \u00e4sthetische Einstellung dazu, um es sch\u00f6n zu finden.\nSetzt man die \u00e4sthetische Einstellung in Analogie zu der Einstellung zum Denken, so tritt dadurch eine gewisse Bereicherung der Betrachtungsweise ein.\nBei der Einstellung zum Denken richtet sich die Aufmerksamkeit auf den zu beurteilenden Tatbestand unter bestimmtem Gesichtspunkt. Diese Aufmerksamkeitsbet\u00e4tigung ist Mittel zum Zweck der Realisierung des Willens, eine g\u00fcltige Aussage zu machen. Bei \u00e4sthetischer Einstellung entwickelt sich offenbar auch eine Aufmerksamkeitsbet\u00e4tigung. Wie ist sie gestaltet im Vergleich mit der Aufmerksamkeitsbet\u00e4tigung bei Denkprozessen? Sie geht \u2014 so ist zun\u00e4chst zu sagen \u2014 offenbar mit weniger","page":1594},{"file":"p1595.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1595\nSpannungsempfindungen einher. Wir sprechen deshalb bei \u00e4sthetischer Einstellung am besten von einer Konzentration (d. h. einer Aufmerksamkeits-bet\u00e4tignng mit einem Minimum von Spannungsempfindungen) bez\u00fcglich des betreffenden Objektes.\nDer Wille, welcher in der \u00e4sthetischen Einstellung steckt, kann verschiedene Formen annehmen.\nMan hat gesagt, da\u00df wir beim \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzen ein \u201em\u00f6glichst gro\u00dfes Vergn\u00fcgen haben wollen.\u201d Das gilt sicherlich f\u00fcr eine Gruppe von F\u00e4llen.\nHier liegen \u00e4hnliche Verh\u00e4ltnisse vor, wie beim praktischen Wollen. Man kann hier auch von verschiedenen Motiven sprechen. Dabei verstehe ich, wie auf sittlichem Gebiet, unter Motiv den letzten Zweck eines Wollens, den Z^teck, der nicht selbst wieder Mittel zum Zweck ist.\nMotiv der \u00e4sthetischen Bet\u00e4tigung kann also zun\u00e4chst darin liegen, sich \u00e4sthetischen Genu\u00df zu verschaffen. Wie wir aber auf praktischem Gebiet nicht blo\u00df die Freude zum letzten Zweck des Wollens machen k\u00f6nnen, sondern auch eine bestimmte Bet\u00e4tigung \u2014 auch im Fall die Bet\u00e4tigung sich mit Lust verbindet, kann die Bet\u00e4tigung und nicht die Lust gewollt werden \u2014 so auch auf dem Gebiet \u00e4sthetischer Bet\u00e4tigung: da k\u00f6nnen wir zum letzten Zweck die Bet\u00e4tigung machen, die in der \u00e4sthetischen Betrachtung des wertvollen Objektes gegeben ist. Es kann aber das Motiv bei \u00e4sthetischer Betrachtung noch anders gestaltet sein: wenn jemand h\u00e4ufig einen Zustand \u00e4sthetischer Versenkung erlebt hat, so kann eine \u00e4sthetische Einstellung sich entwickeln, in welcher der Wille steckt, eine Hingabe an das Objekt, ein v\u00f6lliges Aufgehen in dem \u00e4sthetischen Objekt zu vollziehen. Man kann wohl sagen, da\u00df hier nicht \u00e4sthetische Lust gewollt ist, auch nicht \u00e4sthetische Bet\u00e4tigung, sondern das \u00e4sthetische Objekt selbst.\nVI. Die Frage der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung.\nEinige Autoren betrachten die Einf\u00fchlung als Conditio sine qua non \u00e4sthetischer Wertsch\u00e4tzung. Hauptvertreter dieser Auffassung sind Th. Tipps und Volhelt. Es wird sich uns zeigen, da\u00df nicht bei jeder \u00e4sthetischen Wertsch\u00e4tzung ein Einf\u00fchlungsproze\u00df vorliegt.\nVolhelt definiert die \u00e4sthetische Einf\u00fchlung als die Verkn\u00fcpfung gegenst\u00e4ndlicher Gef\u00fchle mit dem Anschauen des \u00e4sthetischen Gegenstandes1). Als gegenst\u00e4ndliche Gef\u00fchle\nx) Volk\u00dflt: \u00c4sthetik. 1. 213.","page":1595},{"file":"p1596.txt","language":"de","ocr_de":"1596\nG. St\u00f6rring\nbezeichnet er solche, die uns ans Objekten \u00e4sthetischer Betrachtung' entgegenzntreten scheinen.\nDie \u00e4sthetische Einf\u00fchlung soll nicht etwa dadurch zustande kommen, da\u00df eine Y erschmelzung des angeschauten Inhaltes mit dem Gef\u00fchlszustand sich vollzieht, sondern hier liegt eine noch intimere Beziehung nach VolTcelt vor. Er sagt: ,,Ich bilde mich f\u00fchlend dem Beschauen um. F\u00fchlend bem\u00e4chtige ich mich des Anschauens und bilde es innerlich gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfig um. Indem ich anschaue, vollziehe ich nicht etwas neben dem F\u00fchlen, sondern die Anschauungs\u00e4u\u00dferung des Bewu\u00dftseins ist zugleich auch Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferung. Mein Anschauen ist selbstf\u00fchlend und mein F\u00fchlen anschauend. Es ist also . . . eine intuitive Einheit. Das F\u00fchlen gibt sich an die Anschauung hin, und die Anschauung nimmt das Gef\u00fchlte in sich auf. Oder ohne bildliche Bezeichnung: Die Funktion des Sehauens ist zugleich f\u00fchlend und das Gef\u00fchlte kommt uns aus dem Geschauten heraus zum Bewu\u00dftsein\u201d 1). VolTcelt hat nichts dagegen einzuwenden, wenn man diese Psychologie als eine mystische bezeichnet. Wir k\u00f6nnen nur anerkennen eine Verschmelzung des angeschauten Inhalts mit dem F\u00fchlen.\nVolTcelt unterscheidet zwischen eigentlicher und symbolischer Einf\u00fchlung. Bei der eigentlichen Einf\u00fchlung sind die Objekte der Einf\u00fchlung menschliche Gestalten, bei der symbolischen untermenschliche Gebilde.\nMit der symbolischen Einf\u00fchlung sind Tatbest\u00e4nde gemeint,, die wir nicht mehr zur Einf\u00fchlung rechnen k\u00f6nnen. Bei der \u00e4sthetischen Betrachtung lebloser Gegenst\u00e4nde soll das eingef\u00fchlte Menschliche \u201eunausgedacht\u201d bleiben und es soll eine \u201eHerabsetzung des Menschlichen in eine niedrigere Stufe des Daseins\u201d stattfinden. \u201eDas Menschliche wird entsprechend dem Bewu\u00dftsein, da\u00df wir es mit ITntermenschlichem zu tun haben, im Sinne der Analogie genommen.2)\u201d So wird z. B. der Flug der W\u00f6lkchen als \u201esehnsuchtsvoll\u201d spielend aufgefa\u00dft und dabei wird die menschliche Stimmung ins Analog-Menschliche herabgesetzt. Wenn die Tanne oder die S\u00e4ule den Eindruck des Sichaufrichtens macht, so werden darnach einmal die Empfindungen des Sichemporstreckens ins Analoge, Gef\u00fchlsm\u00e4\u00dfige \u00fcbersetzt und au\u00dferdem findet eine Herabsetzung des Menschlichen in eine niedere Stufe des Daseins statt.\nWir k\u00f6nnen hier keine Herabsetzung des Menschlichen in eine niedere Stufe des Daseins anerkennen. Wenn mir der Flug der W\u00f6lkchen einen wehmutsvoll spielenden Eindruck macht, so k\u00f6nnen wir nicht zugeben, da\u00df dabei der Charakter des Wehmuts-\n1)\tVolTcelt: 1. c. S. 245.\n2)\tVolTcelt: 1. c. S. 450.","page":1596},{"file":"p1597.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1597\nvollen herabgesetzt wird, da\u00df der Fing der W\u00f6lkchen als etwas anfgefa\u00dft wird, was dem Wehmntsvollen analog ist in einer niederen Stufe des Daseins. Das Wehmutsvolle bleibt hier vielmehr, was es ist ; es wird gar nicht anf das Objekt durch Verschmelzung bezogen, sondern es bleibt auf mich selbst, den \u00e4sthetischen Betrachter bezogen: es handelt sich hier darum, da\u00df von dem Anschauungsobjekt, dem Flug der W\u00f6lkchen, uns durch das Mittelglied des Gedankens an die Verg\u00e4nglichkeit ein wehmutsvolles Gef\u00fchl aufgedr\u00e4ngt wird!\nWir leugnen hier die Verschmelzung des Gef\u00fchles mit dem \u00e4sthetischen Objekt und damit leugnen wir hier die Einf\u00fchlung.\nWir k\u00f6nnen also sagen, da\u00df in manchen F\u00e4llen \u00e4sthetischer Betrachtung von Objekten an die Stelle der Verschmelzung unserer durch die Objekte ausgel\u00f6sten Gef\u00fchle mit dem Objekt \u2014und damit an die Stelle der \u00e4sthetischen Einf\u00fchlung \u2014 ein Sichaufdr\u00e4ngen eines bestimmten gef\u00fchlsstarken Gedankens tritt !\nIm Fall der \u00e4sthetischen Betrachtung der Tanne oder S\u00e4ule k\u00f6nnen wir auch nicht annehmen, da\u00df das dabei hervortretende seelische Sichaufrichten in ein niedrigeres Analogon des-menschlich-seelischen Sichaufrichtens verwandelt und dann ver-objektiviert wird, hier scheint uns auch das seelische Sichaufrichten zu bleiben, was es ist und nicht auf das Objekt bezogen zu werden, sondern auf mich, den anschauenden Betrachter: Die Anschauung der Tanne, der S\u00e4ule dr\u00e4ngt mir auf eine Bet\u00e4tigung meines Ichs in bezugauf die Tanne, auf die S\u00e4ule.\nIch entwickle beim Betrachten der Tanne Streckungsempfindungen ; diese werden ins geistige umgedeutet als seelisches Sichaufrichten.\nIn der einen Klasse dieser F\u00e4lle tritt also an die Stelle der Verschmelzung unserer Gef\u00fchle mit dem angeschauten Objekt \u2014 und damit an die Stelle der Einf\u00fchlung \u2014 ein Sichaufdr\u00e4ngen eines gef\u00fchlsstarken Gedankens, in der anderen ein Sichaufdr\u00e4ngen einer bestimmten Bet\u00e4tigung des anschauenden Subjektes.\nMan darf uns nicht den Ein wand machen, da\u00df wir es hier, wo keine Verschmelzung mit dem angeschauten \u00e4sthetischen Objekt vorliegt, mit einem au\u00dfer\u00e4sthetischen Faktor zu tun haben: mit au\u00dfer\u00e4sthetischen Faktoren haben wir es da zu tun, wo gef\u00fchlsstarke Vorstellungen oder Gedanken nicht nur als selbst\u00e4ndige Reproduktionen neben dem angeschauten Objekt","page":1597},{"file":"p1598.txt","language":"de","ocr_de":"1598\nG-. St\u00f6rring\nauftreten, sondern wo sie zugleich dnrcli die jeweilige Konstellation des Bewu\u00dftseins bedingt sind, w\u00e4hrend in den von uns bezeichneten F\u00e4llen des Sichauf dr\u00e4ngens gef iihlsstarker Gedanken oder von Bet\u00e4tigungen des Ichs an dem Objekt eine gro\u00dfe Konstanz der Beziehung der sich aufgedr\u00e4ngten Gedanken und Bet\u00e4tigungen zu dem angeschauten Objekt vorliegt, so da\u00df keineswegs, wie bei einfachen Reproduktionen diese Beziehung von Individuum zu Individuum und bei demselben Individuum von Moment zu Moment (mit \u00c4nderung der Konstellation des Bewu\u00dftseins) wechselt.\nVII. Definition des Sch\u00f6nen. Definition des Erhabenen, des Tragischen und des Komischen.\n1.\tKach den vorangegangenen Entwicklungen ergibt sich eine Definition des Sch\u00f6nen von selbst. Wir werden darnach sagen, da\u00df wir es bei dem Sch\u00f6nen zu tun haben mit konkreten Werten, welche sich uns darstellen im Zustande der Kontemplation, d. h. bei v\u00f6lliger Konzentration (Konzentration im Sinne von Aufmerksamkeit mit einem Minimum von Spannungsempfindungen genommen) auf das Objekt mit besonderer Betonung der Gef\u00fchlsseite desselben, wobei die einzelnen Teilinhalte des Objektes eine Einheit bilden.\nBei dieser Bestimmung des Sch\u00f6nen stellen sich das Erhabene, das Tragische und Komische als besondere Arten des Sch\u00f6nen dar.\nWir geben jetzt eine n\u00e4here Charakterisierung derselben.\n2.\tIch glaube das Erhabene so charakterisieren zu k\u00f6nnen, da\u00df ich sage : Bei Auffassung eines Objektes als erhaben stellt sich ein Objekt dem Betrachter als von unfa\u00dfbarer oder fast unfa\u00dfbarer Gr\u00f6\u00dfe dar, welche gewaltige, freudevolle Willensans\u00e4tze zur Bew\u00e4ltigung der Auffassung dieser Gr\u00f6\u00dfe ausl\u00f6st-, diese Willensans\u00e4tze werden mit Freude als erfolgreich oder als innerhalb gewisser Grenzen erfolgreich erlebt. Die Gr\u00f6\u00dfe dieser Objekte geh\u00f6rt entweder der k\u00f6rperlichen oder der geistigen W e 11 a n.\n3.\tBei dem Tragischen handelt es sich um die Darstellung eines Konfliktes eines einen","page":1598},{"file":"p1599.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1599\ng\u00fcltigen Wert darbietenden Wollen s, der den Untergang der k\u00e4mpfenden Pers\u00f6nlichkeit \u00fcerbeif\u00fcbrt. Diese Darstellung ist so vollzogen, da\u00df sie ein Mitstreben im Zuschauer erweckt, welches einen gef\u00fchlsstarken Mit-y ollzug der Anerkennung jenes g\u00fcltigen Wertes einschlie\u00dft; dieser gef\u00fchlsstarke Mitvollzug wird durch die vom Scheitern der Pl\u00e4ne abh\u00e4ngigen Unlustgef\u00fchle per Kontrast gesteigert, indem man sich sagt, da\u00df diese Leiden in der Weise Wirkung der idealen Bestrebungen der k\u00e4mpfenden Pers\u00f6nlichkeit sind, da\u00df die idealen Bestrebungen jedenfalls Mitursache dieses Leidens sind.\n4. Bei der Komik scheint mir vorzuliegen:\n1.\tErweckung der Erwartung, da\u00df ein aufzufassender Tatbestand sich als bedeutungsvoll darstellt.\n2.\t\u00dcberraschend auftretende Charakterisierung des anscheinend Bedeutungsvollen als nichtig.\n3.\tInfolgedessen pl\u00f6tzliche Aufhebung der vorliegenden Spannung in einer mit Lust sich vollziehenden L\u00f6sung, die mit Lachen verbunden sein kann.\nMethodologisch ist von diesen Definitionen zu sagen, da\u00df sie entstanden sind nicht durch eine mystische Begriffsschau (Husserl), sondern in der Weise, da\u00df man sich von dem zu Definierenden einzelne konkrete F\u00e4lle vergegenw\u00e4rtigte und daraus zun\u00e4chst eine allgemeine Bestimmung ableitete. Diese allgemeine Bestimmung, welche die gemeinsamen Z\u00fcge einzelner F\u00e4lle herausholt, wurde an anderen einzelnen F\u00e4llen auf ihre Dichtigkeit hin gepr\u00fcft und einer Korrektur unterzogen. Nachdem dies Verfahren mehrfach wiederholt war \u2014 oder auch zwischen diesen einzelnen Kontrollen \u2014 wurden die durch die wissenschaftliche Entwicklung dargebotenen allgemeinen Bestimmungen mit der selbstgewonnenen hypothetischen Feststellung und mit Einzelf\u00e4llen verglichen, womit nochmalige Korrekturen der hypo-","page":1599},{"file":"p1600.txt","language":"de","ocr_de":"1600\nG-. St\u00f6rring\nthetis ch gemachten allgemeinen Bestimmungen verbunden waren.\nIn diese ganzen Entwicklungen griffen sodann korrigierend und best\u00e4tigend psychologische Betrachtungsweisen ein.\nHier wird mancher Philosoph den Einwand machen, da\u00df psychologische Betrachtungsweisen doch nicht die Definition der Begriffe bestimmen k\u00f6nnen! Das wird man dann Psychologismus nennen. Von Psychologismus sollte man aber nur reden bei unberechtigter Anwendung der Psychologie in anderen Gebieten. Wir haben es hier ja doch nicht mit philosophischen Feststellungen zu tun, die etwa die Dignit\u00e4t von synthetischen Urteilen a priori haben, vielmehr mit mehr oder minder hypothetischen \u00e4sthetischphilosophischen Entwicklungen, welche durch Heranziehung psychologischer Betrachtungen in ihrer Dignit\u00e4t nicht herabgesetzt zu werden brauchen. Sodann bleibt nach solcher Heranziehung psychologischer Entwicklungen es dem \u00c4sthetiker ja noch unbenommen, Verifikationen zu vollziehen, so da\u00df dann die Psychologie nur heuristische Bedeutung hat.\nHier liegt f\u00fcr jeden, der sehen will, die Sache aber folgenderma\u00dfen: Die psychologische Betrachtungsweise kann hier die einzelnen Glieder der hypothetischen (!) Pest Stellungen psychologisch zueinander in Beziehung setzen, indem vor allem von gesicherten Einzelgliedern aus (durch kausale Betrachtungen) Korrekturen an weniger gesicherten Einzelgliedern und Erg\u00e4nzungen vollzogen wurden. Dies Verfahren hatte den st\u00e4rksten Einflu\u00df bei derbe g rifflich en Bestimmung des Tragischen.\nII. ABSCHNITT.\nMethoden der Psychologie der ethischen Wertsch\u00e4tzungen.\n1. Kapitel.\nUntersuchung der ethischen Wertsch\u00e4tzungen nach der v\u00f6lkerpsychologischen Methode.\nVon denjenigen Moralpsychologen, deren Entwicklungen in st\u00e4rkster Weise v\u00f6lkerpsychologisch orientiert sind, haben wir besonders Wundt und W estermarck zu nennen; daneben auch noch Bibot.\nWie Wundt bei allen philosophischen Disziplinen mit Recht\u00bb eine enge Anlehnung an objektive Tatbest\u00e4nde zu vollziehen sucht*","page":1600},{"file":"p1601.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1601\nso finden wir bei ihm das gleiche Verfahren in seinen psychologischen Untersnchnngen hervortreten. Die Grundlage aller exakten Psychologie sieht er mit Recht gegeben in der experimentellen Psychologie. Dieselbe behandelt nach ihm aber nnr relativ elementare psychische Tatbest\u00e4nde. F\u00fcr \u00fcntersnchnng der h\u00f6heren psychischen Tatbest\u00e4nde will Wundt nicht eine Selbstbeobachtung am Schreibtisch in Anspruch nehmen, er findet f\u00fcr die Untersuchung des h\u00f6heren psychischen Lebens ein gro\u00dfes objektives Material gegeben in den Tatsachen der V\u00f6lkerpsychologie. Was das h\u00f6here Gef\u00fchlsleben betrifft, so rekuriert Wundt auf solch objektives Material sowohl f\u00fcr die Untersuchung der ethischen Gef\u00fchle wie f\u00fcr die der \u00e4sthetischen und religi\u00f6sen.\nAuf ethischem Gebiet ist f\u00fcr Wundt das Resultat der v\u00f6lkerpsychologischen Untersuchung in der Hauptsache folgendes : Einmal ergeben die v\u00f6lkerpsychologischen Einzeluntersuchungen, da\u00df die Entwicklung der ethischen Anschauungen in der Menschheit von Sympathiegef\u00fchlen und von Ehrfurchtsgef\u00fchlen abh\u00e4ngt (von Ehrfurchtsgef\u00fchlen nach Wundt besonders in mehr indirekter Weise, indem diese prim\u00e4r die religi\u00f6se Entwicklung bestimmen und diese wieder nach ihm von gro\u00dfem Einflu\u00df auf die sittliche Entwicklung der Menschheit ist). Wir haben zu betonen, da\u00df die Ehrfurchtsgef\u00fchle jedenfalls auch direkt f\u00fcr die sittliche Entwicklung von eminentem Einflu\u00df sind. Wir werden dar\u00fcber sp\u00e4ter ins Einzelne gehende Bestimmungen machen.\nSodann macht Wundt auf Grund seiner musterhaften und erstaunlich ausgedehnten v\u00f6lkerpsychologischen Forschungen die sch\u00f6ne Feststellung, da\u00df, wie auf anderen Gebieten des h\u00f6heren psychischen Lebens, so auch auf dem ethischen Gebiet die Entwicklung bestimmt wird durch ein Prinzip, das er als das Prinzip der Heterogonie der Zwecke bezeichnet. Es besagt, da\u00df die Effekte des menschlichen Wollens in einem fort \u00fcber die von den Menschen ins Auge gefa\u00dften Zwecke des Wollens herausgehen und da\u00df die nichtgewollten Effekte des Wollens b e-reichernd wirken auf die sp\u00e4teren Zwecksetzungen !\nEs wird sich uns sp\u00e4ter im einzelnen zeigen, da\u00df diese Wundtschen Bestimmungen von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr die Moralpsychologie sind.\nDie v\u00f6lkerpsychologischen Untersuchungen Wundts wurden erg\u00e4nzt besonders durch die von WestermarcTc.\nWir wollen uns jetzt diesen Untersuchungen von Westmarck zuwenden, indem wir sie zugleich kritisch und methodologisch betrachten. Westermarclcs Untersuchungen st\u00fctzen sich auf den g\u00fcnstigen Umstand, da\u00df er zu einem gro\u00dfen Teil seines Materials in der denkbar intimsten Beziehung steht, indem er vier Jahre","page":1601},{"file":"p1602.txt","language":"de","ocr_de":"1602\nG. St\u00f6rring\nlang in Marokko Eeisen machte nnd dabei unter den Gebirgsbewohnern des Nordens, den Beduinen der Ebenen und den Berbern im Gro\u00dfen Atlas lebte.\nI. Y\u00f6lkerpsychologische Feststellungen Westermarch \u00fcber allgemeinste Beschaffenheit der sittlichen Gef\u00fchlsregungen.\nAllgemein zugestanden ist, da\u00df die sittlichen Stellungnahmen sich in sittlicher Mi\u00dfbilligung und sittlicher Billigung vollziehen. Wenn man von sittlichen Mi\u00dfbilligungs-urteilen und sittlichen Billigungs urteilen spricht, so betont Westermarck mit Becht \u2014 das hat schon David Hume erkannt \u2014, da\u00df solche Urteile sich auf emotionelle Tatbest\u00e4nde gr\u00fcnden. Er setzt sich dadurch in Gegensatz zu \u00e4lteren Philosophen, wie Gudworth, Clarice und Price, und ebenso zu gewissen neueren Philosophen, welche die merkw\u00fcrdige Anschauung vertreten, da\u00df sittliche Mi\u00dfbilligung und sittliche Billigung sich nicht auf Gef\u00fchle gr\u00fcnden, sondern auf den Verstand oder die Vernunft \u2014 gegenw\u00e4rtig wird dabei von intuitiver (!) Erkenntnis der sittlichen Tatbest\u00e4nde gesprochen; die sittlichen Tatbest\u00e4nde sollen platonisch \u201egeschaut\u201d werden, Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge sind nicht Bedingungen solcher Erkenntnis, sondern sollen dabei eine ganz sekund\u00e4re Bolle spielen. Man frischt dabei eine \u00e4ltere, merkw\u00fcrdige Vorstellungsweise auf. Schon der Philosoph Price sagt: ,,Gewisse Eindr\u00fccke von Lust oder Schmerz, Befriedigung oder Ekel sind gew\u00f6hnlich mit unseren Wahrnehmungen von Tugend und Laster verkn\u00fcpft; allein sie sind nur deren Wirkungen und Begleitumst\u00e4nde, nicht aber die Wahrnehmungen selbst. Diese sollten so wenig mit jenen verwechselt werden, wie eine besondere Wahrheit (gleich jener, f\u00fcr welche Pythagoras eine Hekatombe opferte) mit der Befriedigung verwechselt werden sollte, die eine Folge ihrer Entdeckung sein mag1).\u201d\nIn den einleitenden Entwicklungen zur Untersuchung des h\u00f6heren Gef\u00fchlslebens haben wir die emotionelle Grundlage der sittlichen Urteile erwiesen.\nTV ester march glaubt nun weiter v\u00f6lkerpsychologisch zeigen zu k\u00f6nnen, da\u00df die sittlichen Mi\u00dfbilligungsurteile auf \u201evergeltendem sittlichen Unwillen\u201d beruhen und die sittlichen Billigungsurteile auf \u201evergeltendem sittlichen Wohlwolle n.\u201d\nDiese Feststellungen erinnern an die Entwicklungen des National\u00f6konomen und Ethikers Adam Smith \u00fcber den Ur-\n1) Price'. Revien of the principal questions of morals. S. 65 (nach Wester-march).","page":1602},{"file":"p1603.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1603\nsprung des Gerechtigkeitsgef\u00fchles ans vergeltendem Unwillen einer aggregg2Y0n Eeaktion gegen unberechtigte Leidzuf\u00fcgung1) und der Auffassung der Dankbarkeit als aktive Eeaktion auf Zuf\u00fcgung von Freude von seiten einer anderen Person.\nDer sittlichen Entr\u00fcstung, welcher von Westermarch gleichgesetzt wird der ,,vergeltende sittliche Unwille\u201d, entspricht auf au\u00dfersittlichem Gebiet der Zorn, mit anderen Worten der vergeltende Unwille, und die Eache, dem vergeltenden sittlichen Wohlwollen die Dankbarkeit.\nDer vergeltende Unwille ist ein aggressiver Geisteszustand, der sich gegen die Schmerzursache richtet. Er tritt auch auf bei dem verletzten Tier und beim Kinde. Erleiden von Unrecht oder Verletzungen ruft vergeltenden Unwillen, Eachegef\u00fchl wach.\nWestermarch, welcher dem vergeltenden Unwillen eine Dichtung gegen die Schmerzursache beilegt, polemisiert mit Eecht gegen den Ethnologen Steinmetz2), welcher v\u00f6lkerpsychologisch zu beweisen gesucht hat, da\u00df das Hauptmotiv der Eache darin bestehen soll, das beleidigte, erniedrigte Selbstgef\u00fchl zu st\u00e4rke n.\u201d Venn in vielen F\u00e4llen von Schmerzzuf\u00fcgung der Schuldige zum Gegenstand der Eache gemacht wird, so h\u00e4lt das Steinmetz nicht f\u00fcr wesentlich. Man m\u00fcsse bedenken, da\u00df es bei der Blutfehde nicht auf den einzelnen Schuldtragenden ankomme, da\u00df die Eache sich gegen seine Familie, gegen den Stamm richtet. Erst auf langem Entwicklungsgang komme die Auffassung zustande, da\u00df jede Strafe lediglich den Schuldigen zu treffen hat. Hier sei die V erstandeserkenntnis wirksam geworden, da\u00df das beste Mittel zur Einschr\u00e4nkung des Unrechtes die Bestrafung des T\u00e4ters sei.\nF\u00fcr diese Auffassung zieht Steinmetz eine gro\u00dfe Masse v\u00f6lkerpsychologischen Materials heran3).\nWestermarch polemisiert mit Eecht unter Bezugnahme auf das von Steinmetz beigebrachte Einzelmaterial dagegen, indem er vor allem teststellt, da\u00df sich die Blutrache in erster Linie gegen den Misset\u00e4ter richtet und gegen den Stamm, die Familie, nur sekund\u00e4r. Westermarch h\u00e4tte f\u00fcr sich noch geltend machen k\u00f6nnen, da\u00df, wenn sich die Blutrache prim\u00e4r gegen den Misset\u00e4ter richtet, es durch das Prinzip der \u00dcbertragung der Gef\u00fchle begreiflich werde, da\u00df sich der vergeltende Unwille auch auf die Familie, den Stamm, \u00fcbertr\u00e4gt !\nAls Ursache f\u00fcr den vergeltenden Unwillen nimmt TV ester-march den ,, Schutz behelf\u201d des Menschen und Tieres in Anspruch,\n1)\tSt\u00f6rring: Moralphilosophische Streitfragen. I. Teil: Die Entstehung des sittlichen Bewu\u00dftseins. S. 35 ff.\n2)\tSteinmetz: Ethnologische Studien zur ersten Entwicklung der Strafe.\n3)\tWestermarcTc: 1. c. 1. 21 ff.","page":1603},{"file":"p1604.txt","language":"de","ocr_de":"1604\nGr. St\u00f6rring\nauf Leidzuf\u00fcgung mit Flucht oder mit Zorn und Angriff zu reagieren. Beide Gef\u00fchlszust\u00e4nde sind von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung f\u00fcr die Erhaltung der Art. Den Angriff denkt er sich nicht urspr\u00fcnglich mit der Absicht begleitet, Leiden zuzuf\u00fcgen. Erst mit Entwicklung der Intelligenz wird bei erfolgreichem Angriff gegen den Feind bemerkt, da\u00df dem Feinde Schmerz zugef\u00fcgt war und in der Folge tritt die Absicht auf, dem Feinde Schmerz zuzuf\u00fcgen. (Wir wollen nicht unterlassen zu bemerken, da\u00df sich dies Geschehen nach dem Wundtschen Prinzip der Heterogonie der Zwecke abspielt.)\n\u00dcber sittlichen Zorn, sittliche Entr\u00fcstung ___________ oder\nwas f\u00fcr Westermarch dasselbe ist \u2014, sittlichen vergeltenden Unwillen kann man sich orientieren, indem man sich dar\u00fcber unterrichtet, unter welchen Bedingungen Strafe, diese Form \u00f6ffentlicher sittlicher Entr\u00fcstung, stattfindet. Bei der Strafe tritt deutlich hervor die E i c h t u n g der sittlichen Entr\u00fcstung gegen den Misset\u00e4ter. Und wenn auch bei der Strafe auf niedriger Entwicklungsstufe auch Verwandte des Schuldigen herangezogen werden. Diesen Tatbestand kann man sich in gleicher Weise verst\u00e4ndlich machen, wie die analoge Erscheinung bei au\u00dfersittlicher Bache. Hier tritt also das hervor, was man ,,gemeinsame Verantwortlichkeit\u201d zu nennen pflegt.\nDiese Vorstellungsweise beruht nat\u00fcrlich auch auf \u00dcbertragung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde. Im primitiven Bewu\u00dftsein f\u00fchren diese Tatbest\u00e4nde zu einer interessanten Auffassung: S\u00fcnden und Fl\u00fcche werden als ansteckend gedacht.\nSchon fr\u00fch ist eine Polemik gegen die Auffassung der gemeinsamen Verantwortlichkeit aufgetreten. Confucius sagt schon : \u201eMchts ist ungerechter, als da\u00df jemand die Zwistigkeit seines Vaters erbe.\u201d\nBevor wir die v\u00f6lkerpsychologischen Entwicklungen nach Westermarch weiterf\u00fchren, wollen wir eine kritisch-methodologische Bemerkung machen.\nWestermarch glaubt hier v\u00f6lkerpsychologisch bewiesen zu haben, da\u00df sittliche Mi\u00dfbilligungsurteile eine \u201esittliche Entr\u00fcstung\u201d, \u201evergeltenden sittlichen Unwillen\u201d darstellen. Er hat dabei ohne Zweifel sehr viel Material beigebracht, in welchem wirklich sittlicher und auch vergeltender Unwille bei anscheinender sittlicher Mi\u00dfbilligung zutage tritt. Aber die H\u00e4ufung der v\u00f6lkerpsychologischen F\u00e4lle nutzt hier nichts! Denn wenn man das auch in tausend und abertausend F\u00e4llen konstatieren kann, so ist dabei die M\u00f6glichkeit nicht ausgeschlossen, da\u00df es auch sittliche Mi\u00dfbilligungsurteile gibt, in denen sich keine sittliche Entr\u00fcstung, kein \u201evergeltender Unwille\u201d findet. Durch eine gel\u00e4uterte Selbstbeobachtungsmethode, d. h. durch","page":1604},{"file":"p1605.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1605\nSelbstbeobachtung des experimentell und psyehopathologisch ge-schulten Psychologen l\u00e4dt sich feststellen, da\u00df, wenn man sich in einer depressiven Stimmung ohne aktive F\u00e4rbung ein Wollen von sich oder anderen vorstellt, das man nicht ganz sittlich billigen kann, die sittliche Mi\u00dfbilligung sich auf ein passives sittliches Unlustgef\u00fchl gr\u00fcndet !\nSolche feine Erscheinungen treten bei Berichten v\u00f6lker-psychologiseher Art nat\u00fcrlich nicht so leicht in die Erscheinung als die E\u00e4lle sittlicher Mi\u00dfbilligung mit ausgepr\u00e4gter aktiver, und zwar aggressiver Stellungnahme !\nA ir setzen jetzt die v\u00f6lkerpsychologische Betrachtungsweise nach Wester mar ck fort.\nDer feindselige Charakter der sittlichen Entr\u00fcstung wird ^verdeckt\u201d durch die Tendenz der Vergebung von Vergehen. W\u00e4hrend noch Aristoteles sagt, es sei gerecht und deshalb ehrenvoll, an dem I eind lieber Bache zu nehmen, als sich zu vers\u00f6hnen, wird von den Stoikern der Zorn verworfen und gefordert, anderen zu vergeben. ,,Z\u00fcrnet jemand dir, so antworte darauf indem du ihm Gutes tust1).\u201d Mit noch st\u00e4rkerer Betonung tritt diese b orderung im Christentum auf. ,, Liebet eure Feinde, segnet, die euch fluchen ...\u201d\nW estermarc'k betont mit Becht, da\u00df Vergeltung und Vergebung nicht in so unvers\u00f6hnlichem Gegensatz stehen, wie es zun\u00e4chst scheint. Die Vergeltung kann ja doch auch eine solche sein, bei welcher der pers\u00f6nliche Ha\u00df ausgeschaltet ist ! Wir finden bei den gro\u00dfen Weltreligionen, dem Brahmanismus, Buddhismus und dem Christentum die Lehre von einer endg\u00fcltigen Bestrafung des B\u00f6sen und diese wird als sittlich berechtigt aufgefa\u00dft.\nHier sehen wir uns auf eine n\u00e4here Untersuchung der Strafe verwiesen. Die Strafe wird von der Gesellschaft auferlegt und ist Ausdruck der sittlichen Entr\u00fcstung der Gesellschaft. Nun fragt es sich, was mit der Strafe gewollt ist.\nMan hat verschiedene Annahmen \u00fcber den Zweck der Strafe gemacht. Einige haben ihn gesucht in der A b-schreckung, andere in der Besserung, andere wieder in der V e r g e 11 u n g. Die meisten Neueren verurteilen die Anschauung, da\u00df der Zweck der Strafe in der Vergeltungsabsicht liege. Westermarc'k vertritt im Anschlu\u00df an v\u00f6lkerpsychologische Untersuchungen diese letztere Position.\nWas das Prinzip der Abschreckung betrifft, so wendet Westermarc'k dagegen ein, da\u00df sich hier die Frage nicht beantworten lasse, weshalb nun der T\u00e4ter bestraft wird, weshalb nicht etwa\nx). Seneca, de ira. 2. 34 nach Westermarch.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II. 104","page":1605},{"file":"p1606.txt","language":"de","ocr_de":"1606\nG. St\u00f6rring\nauch die Kinder. Sodann macht er folgendes dagegen geltend: \u201eAuch m\u00fc\u00dfte, wenn die Absicht der Strafe nur Abschreckung w\u00e4re, die strengste Strafe da drohen, wo die st\u00e4rksten Begierden zu z\u00fcgeln sind. Folgerichtig m\u00fc\u00dfte ein Verbrechen, das unter dem Bruck starker Versuchung oder in der Leidenschaft begangen ist, besonders hart bestraft werden, w\u00e4hrend ein Verbrechen, wie Vatermord, mit mehr Nachsicht als andere Arten des Totschlages zu behandeln w\u00e4re, da die Kindesliebe meist einen hemmenden Einflu\u00df aus\u00fcben wird. K\u00f6nnte das moralische Bewu\u00dftsein dies billigen !\u201d1) Gegen das Prinzip der Besserung macht er folgendes geltend: \u201eGewohnheitsm\u00e4\u00dfige Vagabunden und Trinker sind fast unverbesserlich, manche schwere Verbrecher viel leichter zu bessern. Nach der Besserungstheorie m\u00fc\u00dften dann gewisse schwere Verbrecher weniger bestraft werden, als der Trinker bei geringen Vergehungen2)\u201d.\nVon Westermarclc wird ein Zusammenhang zwischen sittlicher Entr\u00fcstung einerseits und Abschreckung und Besserung als Zweck der Strafe andrerseits angenommen. Fa\u00dft man die Besserung als Zweck auf, so mu\u00df durch die Strafe Beue erzielt werden. Beue ist aber eine \u201eForm des vergeltenden Unwillens3).\u201d Also fordert die Besserungstheorie selbst eine Vergeltung bestimmter Art.\nMehr interessiert uns die n\u00e4here Charakterisierung und Begr\u00fcndung der Vergeltung. Der Gedanke, da\u00df es sich um Vergeltung als Zweck handelt, ist f\u00fcr Westermarclc dadurch nahegelegt, da\u00df die sittliche Entr\u00fcstung entstanden ist aus au\u00dfersittlicher Entr\u00fcstung mit ihrer ausgesprochenen Tendenz zur Leidzuf\u00fcgung.\nZur Behauptung, da\u00df die Vergeltung als Zweck figuriere, kommt es aber dadurch, da\u00df er in der sittlichen Entr\u00fcstung, welche er hier durch v\u00f6lkerpsychologische Betrachtung als Kern der sittlichen Mi\u00dfbilligung erwiesen zu haben glaubt, zwei Momente sieht, einmal den Willen, die Schmerzursache zu beseitigen und sodann den Wunsch, Schmerz zu verursachen.\n(Man beachte, da\u00df, wenn auch die Behauptung der Beziehung der sittlichen Entr\u00fcstung zu sittlichen Mi\u00dfbilligungsurteilen als v\u00f6lkerpsychologisch abgeleitet gelten mag, die Analyse der sittlichen Entr\u00fcstung jedenfalls nicht v\u00f6lkerpsychologisch erwiesen ist, sondern offenbar Besultat der Selbstbeobachtung.)\nVon Vergeltung spricht noch Wester march offenbar bei sittlicher Entr\u00fcstung deshalb, weil er in ihr, jedenfalls in ihrer Erscheinungsweise bei starker Intensit\u00e4t, den Wunsch findet, Schmerz zu verursachen. Dieser Wunsch, \u201eGegenschmerz\u201d zu verursachen, gebe der sittlichen Entr\u00fcstung \u201eihr charakteristischstes\n1) Westermarc'k: 1. c. 1. 68. \u2014\u2022 2) Westermarclc : 1. c. 1. 69. \u2014 3) Wester-\nmarck: 1. c. 1. 74.","page":1606},{"file":"p1607.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1607\nKennzeichen\u201d. \u201eOhne dieses w\u00e4re moralische Verurteilung, w\u00e4ren Begriffe von Becht und Unrecht nie entstanden. Ohne dieses w\u00fcrden wir einen schlechten Menschen ebensowenig verurteilen als eine giftige Pflanze. Der Grund, weshalb moralische Urteile \u00fcber wollende Wesen oder ihre Taten gef\u00e4llt werden, liegt nicht nur darin, da\u00df sie wollend, sondern auch darin, da\u00df sie zugleich f\u00fchlend sind; und wie sehr wir'auch versuchen m\u00f6gen, unsere Emp\u00f6rung auf die Tat zu beschr\u00e4nken, ihre besondere Farbe empf\u00e4ngt sie davon, da\u00df sie sich gegen ein f\u00fchlendes Wesen richtet.\u201d\nDiese letzten Betrachtungen haben mit V\u00f6lkerpsychologie wenig zu tun und sind nicht besonders gl\u00fccklich.\nVon dieser Auffassung \u00fcber Vergeltung als Zweck der Strafe h\u00e4tte ihn eine geh\u00f6rige Ber\u00fccksichtigung der Entwicklungen von Adam Smith \u00fcber sittliches Bachegef\u00fchl abhalten sollen, die er doch selbst zitiert. Adam Smith sagt: \u201eDas Bachegef\u00fchl\u201d (gemeint ist das sittliche, berechtigte) bezweckt \u201enicht so sehr, unserem Feind seinerseits Schmerz zuzuf\u00fcgen, als ihm klarzumachen, da\u00df dieser die Strafe f\u00fcr sein vorheriges Benehmen ist und ihn f\u00fchlen zu lassen, da\u00df der, dem er solches antat, es nicht verdient.\u201d\nDie h\u00f6here sittliche Betrachtungsweise stimmt jedenfalls nicht \u00fcberein mit dem \u201eIch will vergelten, spricht der Herr\u201d, sondern betrachtet die Leidznf\u00fcgung bei der Strafe als Mittel zum Zweck der Besserung.\nVor allem ist hervorzuheben, da\u00df Westermarch hier den Fehler macht, die \u201esittliche Entr\u00fcstung\u201d zu identifizieren mit dem \u201evergeltenden sittlichen Unwillen\u201d! In der sittlichen Entr\u00fcstung findet sich keineswegs als Moment der Wunsch, Gegenschmerz zu verursachen als selbst\u00e4ndiger Zweck.\nMerkw\u00fcrdig ist die Behauptung Wester march\u00e9, da\u00df ohne den Wunsch, Gegenschmerz zu verursachen, die Begriffe von Becht und Unrecht nicht entstanden w\u00e4ren. Es wird sich uns sp\u00e4ter zeigen, da\u00df diese Begriffe aus zwei Quellen entstanden sind, von denen die eine von David Hume anfgewiesen ist, die andere von Adam Smith, aber in keine von beiden geht dieser Wunsch als conditio sine qua non ein.\nBerechtigt ist die Auffassung von WestermarcTc, da\u00df sich die sittliche Entr\u00fcstung auch auf das Gef\u00fchlsleben des T\u00e4ters bezieht, aber das ist ja auch der Fall, wenn die Absicht der Strafe Besserung ist oder genauer: auch in Besserung, also Herbeif\u00fchrung von Beue besteht !\nMethodologisch ist zu sagen, da\u00df die Entscheidung dar\u00fcber, ob mit der sittlichen Entr\u00fcstung eine Tendenz zur Vergeltung gesetzt\n104*","page":1607},{"file":"p1608.txt","language":"de","ocr_de":"1608\nG. St\u00f6rring\nist oder nicht, hier nicht v\u00f6lkerpsychologisch entschieden wird oder man kann auch wohl weiter sagen, sich nicht v\u00f6lkerpsychologisch entscheiden l\u00e4\u00dft, ebensowenig wie die fr\u00fcher aufgeworfene Frage, ob alle sittlichen Mi\u00dfbill i g n n g s n r t e i 1 e eine sittliche Entr\u00fcstung voraus setzen oder nicht.\nAls v\u00f6lkerpsychologisch von Wester mar ck b e-wiesen kann gelten, da\u00df eine F\u00fclle von sittlichen Mi\u00dfbilligungsurteilen es mit sittlicher Entr\u00fcstung, sittlichem Zorn, als emo-tioneller Unterlage dieser Erteile, zu tun hat.\n2. Sittliche Billigung wird von Westermarclc \u201evergeltendem Wohlwollen\u201d gleichgesetzt. Bei schw\u00e4cheren Formen derselben findet sich ein \u201efreundliches Streben, die Ursache der erfahrenen Lust festzuhalten\u201d, aber nicht der Wunsch, Vergn\u00fcgen zu bereiten.\nDoch wenn dieser letztere Faktor fehlt, l\u00e4\u00dft sich doch nicht mehr von vergeltendem Wohlwollen sprechen ! Und was hei\u00dft das bei sittlicher Billigung von Handlungen \u201edie Ursache der Lust festhalten wollen?\u201d Anstatt von einem Streben nach \u201eFesthalten der Ursache der Lust\u201d spricht man wohl besser von einer Freude an der Ursache der sittlichen Freude, wobei die Freude in das verursachende Objekt verobjektiviert, eingef\u00fchlt sein kann.\nV\u00f6lkerpsychologisch l\u00e4\u00dft sich feststellen, da\u00df bei sittlicher Billigung wie bei sittlicher Mi\u00dfbilligung der Gedanke der gemeinsamen Verantwortlichkeit sich geltend macht.\nDie chinesiche Regierung verlieh den toten Eltern eines bedeutenden Sohnes den Adelstitel1). \u201eAuf Madagaskar forderten nach Ellis die Nachkommen solcher Personen, die dem Staat oder dem F\u00fcrsten besondere Dienste erwiesen, mit anderen Zweigen der Familie aus dem gleichen Grunde Straferla\u00df1).\u201d\nII. Definition der sittlichen Gef\u00fchlsregungen.\nDie bisherigen Entwicklungen wiesen \u00fcber sich selbst hinaus : Wir haben in vorstehenden Entwicklungen von sittlichen Mi\u00dfbilligungsurteilen und sittlichen Billigungsurteilen gesprochen, sittlichen und au\u00dfersittlichen Zorn unterschieden, ohne eine definitorische Bestimmung \u00fcber das Sittliche zu machen.\nDie sittlichen Mi\u00dfbilligungs- und Billigungsurteile st\u00fctzen sich auf sittliche Gef\u00fchle, nicht etwa umgekehrt. Deshalb kann\nx) Westermarch: 1. c. 1. 80.","page":1608},{"file":"p1609.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1609\nauch gefragt werden: was macht die entsprechenden Gef\u00fchls-zust\u00e4nde zn sittlichen.\nWir k\u00f6nnen nns hier knrz fassen.\nDie sittlichen Gef\u00fchle nnd sittlichen Urteile sind nach W ester-march ansgezeichnet dnrch das Moment der Unparteilichkeit oder besser : der \u00dcberzengnng des die sittliche Stellungnahme Vollziehenden von der Unparteilichkeit der Stellungnahme. Sodann erheben sittliche Stellungnahmen den Anspruch auf Allgemeing\u00fcltigkeit im Gegensatz zu pers\u00f6nlichen Bachegef\u00fchlen und pers\u00f6nlichen Dankbarkeitsgef\u00fchlen.\nWir wenden uns jetzt einer Materie zu, welche uns l\u00e4ngere Zeit besch\u00e4ftigen mu\u00df : den allgemeinen Bestimmungen \u00fcber die Entstehung der sittlichen Gef\u00fchle.\nIII. Allgemeine Bestimmungen \u00fcber die Entstehung der sittlichen Gef\u00fchlsregungen an Hand v\u00f6lkerpsychologischer Tatbest\u00e4nde. SympathieundZuneigung. Sitte in Beziehung\nzur Sittlichkeit.\n1. F\u00fcr die Entstehung uneigenn\u00fctzigen Verhaltens nimmt W ester march, \u00e4hnlich wie Bihot, Sympathie und Z u~ neigung in Anspruch, aber so, da\u00df aus Mitgef\u00fchl allein keine sittlichen Handlungen hervorgehen sollen, sondern nur, wenn Sympathie zusammenwirkt mit Zuneigung!\nMitgef\u00fchl, Sympathie entsteht, wie schon Hume erkannt hat, einmal durch Wahrnehmung der k\u00f6rperlichen Begleiterscheinungen von Leid und Freude bei anderen und sodann durch Wahrnehmung der Ursachen, welche auf einen anderen wirken, in ihm Freude oder Leid erzeugen. In beiden F\u00e4llen wirken hier nat\u00fcrlich Assoziationen. Hach Hume ist in dieser Sympathie eine selbst\u00e4ndige Quelle selbstlosen Handelns gegeben, indem die Unlust beim Mitleid den treibenden Faktor f\u00fcr Hilfeleistung darstellen kann; wir w\u00fcrden sagen, das geschieht dann, wenn von der Unlust, aus dem Mitleidsgef\u00fchl sich uns aufdr\u00e4ngt die Vorstellung einer Handlung, welche geeignet erscheint, das fremde Leid zu mildern oder aufzuheben.\nMitfreude kann aber selbstlose Handlungen ausl\u00f6sen, wenn wir sympathisieren mit dem Lustaffekt, von dem wir wissen, da\u00df er durch eine bestimmte Handlung von uns in anderen ausgel\u00f6st wird. Dann haben wir den Tatbestand vor uns, da\u00df diese gedachte Handlung von uns sich mit Lust verbindet. Schlie\u00dft sich aber, so sahen wir, an eine gedachte Handlungsweise von uns Lust an, so ist damit eine Tendenz zur Bealisierung dieses Handelns gesetzt.","page":1609},{"file":"p1610.txt","language":"de","ocr_de":"1610\nGr. St\u00f6rring\nWestermarck sagt von dem \u201eMitgef\u00fchl\u201d : \u201eMitgef\u00fchl im gew\u00f6hnlichen Sinne verlangt die Mitwirkung des altruistischen Gef\u00fchles, der Zuneigung \u2014 einer Gem\u00fcts Stimmung, die ganz besonders als freundliches Empfinden anderen Wesen gegen\u00fcber hervorzutreten geneigt ist. Dieses Gef\u00fchl allein bestimmt uns, freundlichen Anteil an den Empfindungen unrerer N\u00e4chsten zu nehmen. Es enth\u00e4lt die Tendenz, die Bereitwilligkeit und, bei starker Entwicklung, den hei\u00dfen Wunsch, ihr Leid und Ereud mitzuempfinden. Unter seinem Einflu\u00df ist unser Mitgef\u00fchl nicht l\u00e4nger eine blo\u00dfe Wirkung der Assoziation; wir nehmen t\u00e4tigen Anteil an seiner Entstehung, wir richten unsere Aufmerksamkeit auf jeden Umstand, von dem wir glauben, da\u00df er die Gef\u00fchle des geliebten Menschen beeinflussen kann, auf jedes \u00e4u\u00dfere Zeichen seiner Empfindungen . . . Das altruistische Gef\u00fchl ist nicht nur Bereitwilligkeit zum Mitgef\u00fchl, es ist vor allem ein Streben, Gutes zu tun1).\u201d\nEr meint, wenn aus Mitleiden eine Handlung zum Wohl des Mitmenschen entspringe, so geschehe das \u201enicht aus Mitleiden f\u00fcr sein Leiden, sondern nur, um uns ein peinliches Schauspiel zu ersparen!\u201d\nV\u00f6lkerpsychologisch werden f\u00fcr die Wirkung von Sympathie und Zuneigung Tatbest\u00e4nde folgender Art herangezogen: \u201eHeute noch gibt es Wilde, die mehr in Familien als in St\u00e4mmen leben, doch kennen wir kein Yolk, dem eine soziale Organisation au\u00dferhalb der Familie v\u00f6llig mangelt. Sp\u00e4tere Entdeckungen tragen nur dazu bei, Darwins Behauptung zu best\u00e4rken, da\u00df, obgleich einzelne Familien, oder ihrer zwei oder drei, die einsamen Weiten unzivilisierter Weiden durchstreifen, sie doch stets freundliche Beziehungen zu anderen Familien desselben Gebietes unterhalten; sie treten von Zeit zu Zeit zwecks Beratung oder gemeinsamer Verteidigung zusammen. Im allgemeinen jedoch \u2014 die Ausnahmen sind selten \u2014 finden wir die niederen Bassen in gr\u00f6\u00dferen Gemeinschaften als die Familie, und alle Glieder der Gemeinschaft sind untereinander durch Gemeinsamkeit der Interessen und Gef\u00fchle verbunden. Yon der Harmonie, dem gegenseitigen Wohlwollen, dem Gef\u00fchle der Solidarit\u00e4t, die unter normalen Verh\u00e4ltnissen in solchen Gesellschaften vorherrschen, werden wir weiterhin deutliche Beweise geben. Melvilles Bemerkung (in \u201eTypei\u201d) bez\u00fcglich einiger Menschenfresser von den Marquezas-Inseln, mag als in gewissem Ma\u00dfe typisch angef\u00fchrt werden. \u201eBei ihnen\u201d, sagt er, \u201eschienen kaum in irgendeinem Punkt Meinungsverschiedenheiten zu bestehen: Sie zeigten bei jeder Handlung des Lebens v\u00f6llige\n1) Westermarck: 1. c. 1. 92.","page":1610},{"file":"p1611.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\tf\n\u00dcbereinstimmung, alles geschah in Gemeinschaft nnd guter Ka mer a ds chaf t1 ). \u201d\nMethodologisch ist zu sagen, da\u00df diese geringe Einsch\u00e4tzung der Bedeutung der Sympathie f\u00fcr sieh genommen, v\u00f6lkerpsyehologisch nicht begr\u00fcndet wird. Begr\u00fcndet wird nur die Behauptung, da\u00df altruistische Faktoren bei Naturmenschen in ausgepr\u00e4gter Weise wirksam sind.\nBevor ich auf die Kritik der Auffassung von West ermarch \u00fcber Bedeutung der Sympathie f\u00fcr sich genommen, eingehe, wollen wir uns \u00fcber die eingehenderen Entwicklungen orientieren, welche Bibot, von dem WestermarcTc in diesem Punkte offenbar abh\u00e4ngig ist, \u00fcber Sympathie und Zuneigung macht:\nDen Auffassungen A. Lehmanns \u00fcber Sympathiegef\u00fchle sind diejenigen von Th. Bibot verwandt. Sie bieten aber doch noch so viel Besonderes, da\u00df sich eine gesonderte kritische W\u00fcrdigung derselben sehr lohnt. Bibot findet in den Sympathiegef\u00fchlen zwei Momente. Das eine ist der \u201epsychologische Gleichklang\u201d in der Seele, das andere die \u201eZuneigung\u201d. Ohne das zweite Moment soll die Sympathie nicht \u00fcber den Egoismus hinausf\u00fchren !\nBibot sagt: 1. Das erste Moment k\u00f6nnte als psychologischer Gleichklang definiert werden. Wenn man w\u00e4hrend dieser Periode des Gleichklanges in der Seele derer lesen k\u00f6nnte, die miteinander sympathisieren, so w\u00fcrde man eine einzige Gef\u00fchlstatsache wahrnehmen, die sich in dem Bewu\u00dftsein mehrerer widerspiegelt. L. Noire hat in seinem Buch \u00fcber den Ursprung der Sprache die Hypothese aufgestellt, da\u00df sich dieser durch die gemeinsame T\u00e4tigkeit der ersten Menschen erkl\u00e4re. W\u00e4hrend sie arbeiteten, marschierten, tanzten oder ruderten stie\u00dfen sie nach Ansicht dieses Schriftstellers Laute aus, die zu Gattungsnamen dieser verschiedenen Handlungen oder verschiedener Gegenst\u00e4nde wurden, und da alle dieselben Laute ausstie\u00dfen, mu\u00dften sie auch von allen verstanden werden. Es kommt hier nicht darauf an, ob diese Hypothese richtig ist oder falsch (Max M\u00fcller stimmt ihr zu); ich f\u00fchre sie nur zur Erl\u00e4uterung an. Aber dieser Zustand der Sympathie bildet nicht an nnd f\u00fcr sich ein Band der Liebe, der Zuneigung zwischen denen, die ihn empfinden; er bereitet nur darauf vor. Er kann die Grundlage einer gewissen sozialen Solidarit\u00e4t sein, weil dieselben inneren Zust\u00e4nde dieselben Handlungen hervorbringen \u2014 einer mechanischen, \u00e4u\u00dferen, nicht moralischen Solidarit\u00e4t.\n2. Das zweite Moment betrifft die Sympathie im engeren und gew\u00f6hnlichen Sinne des Wortes; es ist ein psychologischer Gleichklang, zu dem sich ein neues Element hinzugesellt: es tritt eine\na) Westermarch : 1. c. 1. 84.","page":1611},{"file":"p1612.txt","language":"de","ocr_de":"1612\nGr. St\u00f6rring\nandere Gef\u00fchls\u00e4u\u00dferung, die Zuneigung (Wohlwollen, Teilnahme, Mitleid usw.) hinzu. Es ist nicht die reine, einfache Sympathie* sondern eine Zusammensetzung aus zweien. Die allgemeine Gewohnheit, die Erscheinung nur in ihrer vollst\u00e4ndigen, h\u00f6heren Form zu betrachten, verdeckt oft deren Ursprung und Zusammensetzung. Um \u00fcbrigens einzusehen, da\u00df wir es hier mit einer Zweiheit, einer Verschmelzung von zwei verschiedenen Elementen und nicht mit einer erk\u00fcnstelten Analyse zu tun haben, braucht man nur zu beachten, da\u00df die Sympathie (im ethymologischen Sinne) ohne irgendwelche Zuneigung zu bestehen vermag und diese, anstatt sie wachzurufen, sogar ausschlie\u00dfen kann. Nach Lubboch sind die Bienen, die doch eine soziale Gemeinschaft bilden, gleichg\u00fcltig gegeneinander, w\u00e4hrend die Ameisen ihre Verwundeten wieder aufrichten. Es ist bekannt, da\u00df die Tiere, die in Trupps leben, sich von einem verwundeten Genossen fast immer trennen und ihn verlassen. Wie viele Menschen gibt es, die, wenn sie jemand leiden sehen, sich eilig diesem Anblick entziehen, um den Schmerz zu unterdr\u00fccken, der durch Sympathie in ihnen wachgerufen wird! Das kann bis zur Abneigung gehen ; der reiche Mann im Evangelium bietet das typische Beispiel daf\u00fcr. Es ist also ein vollst\u00e4ndiger psychologischer Irrtum, wenn man glaubt, die Sympathie sei f\u00fcr sich allein imstande, aus dem Egoismus herauszuf\u00fchren. Sie tut nur den ersten Schritt und auch den nicht immer1).\u201d\nUnter ,,Gleichklang\u201d in der Seele versteht Ribot eine solche Sorte von Gleichklang, da\u00df man sich nicht wundert, wenn hier noch ein weiterer Faktor eingef\u00fchrt wird, um Sympathie zu erhalten. Dieser Gleiehklang ist nicht durch Betrachtung des anderen ausgel\u00f6st, sondern durch gleiche Wirkung gleicher Ursachen auf zwei verschiedene Seelen. Man kann gar nicht mit Ribot streiten, wenn er behauptet, da\u00df Sympathie im Sinne dieses Gleichklanges nicht \u00fcber den Egoismus hinausf\u00fchrt. Wir m\u00fcssen aber behaupten, da\u00df es eine Sympathie ohne Zuneigung gibt, welche mehr ist als dieser ,, Gleichklang\u201d, welche einen Gleichklang darstellt, der durch Betrachtung etwa des leidenden anderen ausgel\u00f6st ist und welcher ganz ohne Zweifel \u00fcber den Egoismus hinausf\u00fchrt. Uach Ribot soll erst mit dem Moment der Zuneigung ein altruistisch wirkender Faktor gegeben sein.\nEr weist hin auf Tiere, die in Trupps leben, sich von einem verwundeten Genossen fast immer trennen und ihn verlassen und was uns mehr sagen will \u2014 auf Menschen, die, wenn sie jemand leiden sehen, sich eilig diesem Anblick entziehen, um den Schmerz zu unterdr\u00fccken, der durch Sympathie in ihnen wachgerufen wird! Hier d\u00fcrfte denn doch wohl die Sym-\n1) Ribot: 1. c. S. 298 und 299.","page":1612},{"file":"p1613.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1613\npathie sich mit egoistischen Tendenzen komplizieren! Die Sympathie mit dem Leiden anderer setzt ohne Zweifel eine Tendenz znr Hilfeleistung: in ihr ist ein reproduziertes wiedererlebtes Leiden, ein Unlustzustand gegeben, welcher den Gedanken einer Bet\u00e4tigung aufdr\u00e4ngt, die geeignet erscheint, das Leiden aufzuheben oder zu mindern. Da\u00df eine solche Tendenz auch durch egoistische Tendenzen \u00fcberkompensiert werden kann, ist eine Sache f\u00fcr sich.\nDa\u00df diese Auffassung \u00fcber die Sympathie falsch ist, l\u00e4\u00dft sich auch auf Grund der allgemeinen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit beweisen, welche das Gef\u00fchlsleben und Willensleben beherrscht. Entwickelt sich bei Betrachtung eines leidenden Menschen Sympathie mit dem Leiden ohne Zuneigung, so ist in dem Mitleid ein Gef\u00fchlszustand der Unlust gegeben. Yon diesen Gef\u00fchls -zust\u00e4nden gilt aber nach den Feststellungen der neueren, der psychopathologischen und auch der experimentellen Willenpsychologen (ich verweise auf die experimentellen Arbeiten von Trouet, SJcawran, Gies, die unter meiner Leitung ausgef\u00fchrt sind), da\u00df, wenn von diesen aus sich uns aufdr\u00e4ngt die Vorstellung eines bestimmten Handelns, eine Tendenz entsteht zur Bealisierung dieses Handelns. Also mu\u00df, wenn von dem Mitleidsgef\u00fchl sich mir der Gedanke einer Bet\u00e4tigung meinerseits aufdr\u00e4ngt, der geeignet erscheint, das Leiden aufzuheben oder zu mildern, eine Tendenz znr Bealisierung dieses Handelns auftreten!\nAber auch in derjenigen Sympathie, die sich nicht auf Zuneigung st\u00fctzt, kann etwas liegen, das mit Zuneigung verwandt ist: in der aktiven Sympathie mit der Freude anderer kann die Bealisierung der als zuk\u00fcnftig gedachten Freude freudig miterlebt werden \u2014 doch ist das allerdings schon Sympathie mit einer Bet\u00e4tigung \u2014 und selbst bei der Sympathie mit dem Leiden anderer kann die aktive Stellungnahme als freudig vollzogen zum Bewu\u00dftsein kommen. Es bleibt aber dabei, es mu\u00df geleugnet werden, da\u00df Zuneigung conditio sine qua non der Sympathie ist und da\u00df erst eine Zuneigung ein altruistisches Moment einf\u00fchrt.\nDie von Bibot und WestermarcTc entwickelte Anschauung \u00fcber Sympathie und Zuneigung ist \u00fcbrigens in ihren Hauptz\u00fcgen sehr alten Datums. Sie geht auf Spinoza zur\u00fcck: Spinoza sagt in seiner Ethik: ,,Qui id, quod amat, laetitia vel tristitia affectum imaginatur, laetitia etiam vel tristitia afficietur; et uterque hic","page":1613},{"file":"p1614.txt","language":"de","ocr_de":"1614\nG. St\u00f6rring\naffectus major ant minor erit in amante, pront uterque major ant minor est in re amata1).\u201d\nWir wollen jetzt \u201eZiineigiing\u201d etwas n\u00e4her ins Ange fassen im Anschlu\u00df an W estermarck. Dabei ist anf verschiedene Arten der Zuneigung B\u00fccksicht zn nehmen. Da kommt einmal in Betracht die Znneignng znm Genossen \u2014 und zwar die Znneignng des Naturmenschen znm Genossen, weil hier die erste Entwicklung der Zuneigung von Interesse ist, sodann die geschlechtliche Znneignng, weiter die Mutterliebe, die Vaterliebe und die Kindesliebe.\nMethodologisch ist zn sagen, da\u00df \u00fcber diese Tatbest\u00e4nde von Westermarck \u2014 wie das durchaus der Sachlage entspricht \u2014 psychologisch Bechenschaft gegeben wird nur znm Teil unter Heranziehung v\u00f6lkerpsychologischer Tatbest\u00e4nde, znm Teil anf Grund der Handhabung der Selbstbeobachtung s-methode. Ich sage, das entspricht der Sachlage: manche psychologisch anfznkl\u00e4rende Tatbest\u00e4nde k\u00f6nnen eben nicht v\u00f6lkerpsychologisch gekl\u00e4rt werden, gehen aber wieder als Elemente in v\u00f6lkerpsychologisch verarbeitbare Tatbest\u00e4nde ein!\nFassen wir zun\u00e4chst die Mutterliebe ins Auge. Aristoteles sagt: die Eltern lieben ihre Kinder, weil sie Teile von ihnen sind. Nach Bain entspringt die Mutterliebe aus dem \u201eintensiven Vergn\u00fcgen\u201d, welches darin gegeben ist, \u201edie Jungen zu umarmen\u201d. Spencer nimmt f\u00fcr die Mutterliebe und ebenso f\u00fcr die Vaterliebe in Anspruch die \u201eLiebe zu den Schwachen und Hilflosen\u201d. F\u00fcr die Auffassung von Spencer spricht, da\u00df bei denjenigen Tieren, welche nicht in Herden leben, Mutter und Junge sich trennen, sobald die Jungen f\u00fcr sich selbst sorgen k\u00f6nnen. Sodann findet man, da\u00df da, wo die Jungen sich von vornherein selbst helfen k\u00f6nnen, Mutterliebe nicht vorhanden ist.\nSpencer hat hier sicher einen wirksamen Tatbestand getroffen. Aber W'estermarch sagt mit Becht, da\u00df dieser Faktor noch nicht gen\u00fcgt, weil doch ein Unterschied zwischen Mutterliebe und der Liebe zu dem Hilflosen derselben Art besteht.\nDiesen weiteren Faktor sieht er in den \u00e4u\u00dferen Beziehungen, in welcher die Nachkommenschaft von Anfang an zur Mutter steht. \u201eDiese hat enge Beziehungen zu ihren Jungen von der zartesten Jugend an und sie liebt sie, weil sie f\u00fcr sie eine Quelle des Vergn\u00fcgens sind.\u201d\nl) Spinoza: Ethik. 3. 21.","page":1614},{"file":"p1615.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1615\nDie letzteren Bestimmungen sind aber offenbar zu unbestimmt gehalten.\nEs scheinen mir bei der Mutterliebe folgende Faktoren wirksam zu sein:\nZun\u00e4chst 1. verbindet sich wohl die Wahrnehmung der Jungen unmittelbar mit Lustgef\u00fchlen.\nSodann entstehen 2. auch offenbar Lustgef\u00fchle aus der Umarmung der Jungen (Bain). Es findet sodann 3. eine \u00dcbertragung von Lustgef\u00fchlen aus dem eigenen Wohlbefinden (der Mutter) statt und sodann erzeugt 4. und 5. der Eindruck der Schw\u00e4che und Hilflosigkeit (Spencer) Mitleiden, womit ein Impuls zur Hilfeleistung gesetzt ist. Der Vollzug der Hilfeleistung verbindet sich mit ausgepr\u00e4gter T\u00e4tigkeitslust, welche dann in innige assoziative Beziehung zur Wahrnehmung des Jungen tritt und die urspr\u00fcnglich bei Wahrnehmung des Jungen ausgel\u00f6ste Lust betr\u00e4chtlich verst\u00e4rkt. Zuletzt wird die Auffassung der vollzogenen Hilfeleistung, die Auffassung des Effektes derselben, sich mit Lust verbinden, die durch Kontrast zu dem vorangehenden Mitleidsgef\u00fchl noch eine Steigung ihrer Intensit\u00e4t erfahren kann. Diese Lust ist sodann nat\u00fcrlich einem Proze\u00df der Verobjektierung unterworfen.\nBez\u00fcglich der Wirkung des durch den Eindruck der Schw\u00e4che und Hilflosigkeit ausgel\u00f6sten Mitleidens ist zu sagen, da\u00df es sich auf ein Lebewesen bezieht, dessen Wahrnehmung sich schon mit Lustgef\u00fchlen verbindet, so da\u00df hier vom Anfang an die Wirkung des Mitleidens durch die Zuneigung, welche mit der \u00dcbertragung von Lust auf das Objekt gegeben ist, etwas unterst\u00fctzt wird. Diese Unterst\u00fctzung wird nat\u00fcrlich in der Folge, nachdem die Faktoren vier und f\u00fcnf sich geltend gemacht haben, sehr betr\u00e4chtlich gesteigert.\nWir sehen, da\u00df in diesen Prozessen aus verschiedenen Quellen entsprungene Lust eine Polle spielt. Aber man kann unm\u00f6glich mit Bain sagen, da\u00df die Hilfeleistung \u201eum des Vergn\u00fcgens willen\u201d geschehe. Aristoteles hat ja schon erkannt, da\u00df die Lust in einer Bet\u00e4tigung wirksam sein kann, ohne da\u00df sie gewollt ist, in die Zweckvorstellung des Wollens auf genommen ist.\nUnd mi\u00dfverst\u00e4ndlich ist es zum mindesten, wenn Wester march von der Mutter sagt, sie liebt die Jungen, ,,weil sie f\u00fcr sie eine Quelle des Vergn\u00fcgens sind\u201d.\nMethodologisch ist zu bemerken, da\u00df hier f\u00fcr den Beweis der Wirkung des Eindruckes der Schw\u00e4che und Hilflosigkeit der Jungen mit Geschick Tatbest\u00e4nde aus dem Tierleben herangezogen sind.","page":1615},{"file":"p1616.txt","language":"de","ocr_de":"1616\nG. St\u00f6rring\nF\u00fcr die Vaterliebe sind qualitativ dieselben Faktoren in Betracht zu ziehen, nur f\u00e4llt fort die Lust aus der Umarmung und die besonders unter vier und f\u00fcnf geltend gemachten, sehr stark wirksamen Faktoren machen sich bei dem Vater offenbar in schw\u00e4cherer Weise geltend: der Vater vollzieht ja auch Hilfeleistungen \u2014 er spielt bei Tieren schon die Bolle des Besch\u00fctzers der Jungen und versorgt sie mit Nahrung, aber diese Hilfeleistungen sind offenbar mit schw\u00e4cheren Gef\u00fchlen verbunden: diese Hilfeleistungen haben keine so nahe Beziehung zur Wahrnehmung der Objekte der Hilfeleistung.\nBez\u00fcglich der Kindesliebe ist zu bemerken, da\u00df in derselben, verglichen mit der Elternliebe, die Freude des Wohlt\u00e4ters fehlt. Sie ist offenbar im allgemeinen gr\u00f6\u00dfer als die Freude \u00fcber empfangene Wohltat!\nNeu hinzu kommt bei der Kindesliebe die Ehrfurcht.\nWir haben jetzt noch die geschlechtlich gef\u00e4rbte Zuneigung und die einfache Zuneigung zum Genossen zu besprechen.\nIn der sexuell gef\u00e4rbten Zuneigung kann das Sexuelle in solcher Abschw\u00e4chung vorhanden sein, da\u00df es nicht als solches von dem betreffenden Individuum erkannt werden kann.\nAuf niedrigster Entwicklungsstufe tritt uns besonders die Frage entgegen, woher es kommt, da\u00df die Individuen \u00fcber die Zeit der geschlechtlichen Bet\u00e4tigung hinaus zusammen bleiben. Hier wirken offenbar eine \u00dcbertragung der Gef\u00fchle und mit der Wahrnehmung des anderen Individuums gegebene Sch\u00f6nheits-gef\u00fchle.\nBei h\u00f6herer Entwicklung wird die sexuell gef\u00e4rbte Zuneigung zu einem au\u00dferordentlich komplexen Tatbestand.\nF\u00fcr jeden der beiden Teile wird das andere Individuum zu dem, was wir ein Summationszentrum von Gef\u00fchlen nannten: gef\u00fchlsstarke Erlebnisse ganzer Perioden des Lebens finden eine \u00dcbertragung auf das andere Individuum.\nDazu treten hinzu meist im Hintergrund des Bewu\u00dftseins liegende Gedanken an die Vorz\u00fcge, besonders die geistigen Vorz\u00fcge des anderen Individuums in den verschiedensten Beziehungen.\nDie Elterngef\u00fchle werden auch entwickelt durch die Entwicklung der Liebe von Vater und Mutter zu den Kindern.\nIm V\u00f6lkerleben l\u00e4\u00dft sich konstatieren, da\u00df die Ehe mit fortschreitender Kultur immer dauernder geworden ist; das h\u00e4ngt damit zusammen, da\u00df bei h\u00f6herer Kultur eine","page":1616},{"file":"p1617.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1617\nSch\u00e4tzung geistiger Eigenschaften stattfindet.\nDer sogenannte Ges elligkeits trieb, d. h. die soziale Zuneigung znm Genossen, kommt schon bei h\u00f6heren Tieren, welche in Herden leben, znr Entwicklung. Bei Beobachtung der Tiere l\u00e4\u00dft sich leicht konstatieren, da\u00df die Glieder einer Herde froh sind \u00fcber das Beisammensein, da\u00df sie unter der Trennung leiden. Man kann sehen, da\u00df sie sich freuen, wenn sie wieder vereinigt werden. Westermarclc sagt: ,,Tiere, die in Gemeinschaft leben, entwickeln sehr h\u00e4ufig ein Gef\u00fchl der Liebe f\u00fcreinander, verteidigen einander, helfen einander in Elend und Gefahr und leisten einander verschiedene andere Dienste ... Mit demVer-gn\u00fcgen, das ihnen ihre gegenseitige Gesellschaft bietet, ist Freundlichkeit gegen den Urheber dieses Vergn\u00fcgens, den Gef\u00e4hrten selber, eng verkn\u00fcpft. Ich glaube, da\u00df in dieser Erkl\u00e4rung sozialer Zuneigung kein Schritt weiter gemacht werden kann.\u201d\nWenn Bain fragt, woher es komme, da\u00df solche Herdentiere und Menschen ein lebhafteres Gef\u00fchl f\u00fcr einen Genossen haben als f\u00fcr ein lebloses Objekt, das Lust erweckt, so m\u00f6chte W estermarch zur Erkl\u00e4rung daf\u00fcr nicht mit Bain auf das urspr\u00fcngliche und unabh\u00e4ngige Vergn\u00fcgen der animalischen Umarmung rekurrieren, sondern darauf, da\u00df das h\u00f6here Tier und der Mensch eben unterscheidet zwischen einem lebenden Wesen, einem Wesen seiner Art und einem leblosen Objekt, es besteht im ersteren Falle das Bewu\u00dftsein, da\u00df auch das andere Individuum Gef\u00fchl und Willen hat. Dem leblosen Ding gegen\u00fcber wird nicht Zorn und Zuneigung entwickelt1).\nBeim Menschen wird die Zuneigung zum Genossen noch gesteigert und kompliziert durch die gleichen Sitten, Gesetze und Einrichtungen. Der Mensch findet Wohlgefallen an anderen Menschen mit gleichen Gewohnheiten und Gedanken.\nDie sozialen Gef\u00fchle entwickeln sich mit \u201eVergr\u00f6\u00dferung der Familie zum Stamm\u201d. Diese Entwicklung h\u00e4ngt aber von wirtschaftlichen Bedingungen ab. Gehemmt wird diese Entwicklung zum Stamm durch Schwierigkeiten der Uahrungs-beschaffung, wie man sie im allgemeinen bei J\u00e4gerv\u00f6lkern findet. Bei gr\u00f6\u00dferem UahrungsVorrat des betreffenden Landes findet man eine st\u00e4rkere Entwicklung der sozialen Gef\u00fchle. W ester-march sagt: \u201eEs scheint gegenw\u00e4rtig \u00e4u\u00dferst wahrscheinlich, da\u00df die gr\u00f6\u00dfere Geselligkeit der australischen Schwarzen gegen\u00fcber den meisten anderen J\u00e4gerv\u00f6lkern darauf zur\u00fcckzuf\u00fchren ist,\nx) Westermarclc: 1. c. 2. 167.","page":1617},{"file":"p1618.txt","language":"de","ocr_de":"1618\nGr. St\u00f6rring\nda\u00df der nat\u00fcrliche Hahrungsvorrat ihres Landes reichlicher und infolge ihrer Bumerangs auch leichter erreichbar ist1).\u201d\nF\u00fcr Hirtenv\u00f6lker ist das Zusammenleben von gr\u00f6\u00dferer Wichtigkeit als f\u00fcr J\u00e4gerv\u00f6lker. Sie m\u00fcssen sich selbst und ihr wertvolles Yieh gegen Feinde sch\u00fctzen. Sie haben auch h\u00e4ufig das Bestreben, durch Yiehraub ihren Wohlstand zu vermehren.\nBei Ackerbau treibendenY\u00f6lker ist die soziale Yereinigung noch gr\u00f6\u00dfer: Ein bebautes St\u00fcck Land kann eine weit gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Menschen erhalten als ein nur zur Viehweide dienendes.\nSo ist der soziale Zusammenschlu\u00df immer st\u00e4rker entwickelt und damit auch die sozialen Gef\u00fchle.\nIch m\u00f6chte f\u00fcr die Entstehung und Entwicklung der Z u-neigung zum Genossen folgende Faktoren in Anspruch nehmen :\n1.\tBei Wesen mit \u00e4hnlicher Eeaktion auf Lust- und Schmerzreize, wie das betreffende Individuum sie hat, entwickelt das Individuum die mehr oder weniger klare Auffassung, da\u00df es sich um \u00e4hnlich f\u00fchlende und wollende Wesen handelt.\n2.\tEine Gef\u00fchls\u00fcbertragung von Lustgef\u00fchlen auf den Gef\u00e4hrten entwickelt sich aus eigenem Wohlbefinden auf den anwesenden Gef\u00e4hrten.\n3.\tSympathie mit Schmerz des Gef\u00e4hrten veranla\u00dft, f\u00fcr sich und unter Mitwirkung jener (relativ schwachen) unter 2. bezeichneten Lustgef\u00fchle Hilfeleistung. Aus dieser Bet\u00e4tigung entspringt T\u00e4tigkeitslust, bezogen auf den Gegenstand der Hilfeleistung; dadurch entsteht eine wesentliche Steigerung der Intensit\u00e4t der \u00fcbertragenen Lustgef\u00fchle!\n4.\tAus gemeinsamen Interessen entsteht gemeinsame Bet\u00e4tigung. Die so entwickelten T\u00e4tigkeitsgef\u00fchle finden ebenfalls eine Yer-obj ekti vierung in dem Genossen.\n5.\tHachdem die unter 3 und 4 bezeichneten Lustgef\u00fchle eine innige Beziehung zur Wahrnehmung des Gef\u00e4hrten gewonnen habe n,\nx) WestermarcJc : 1. c. 2. 169.","page":1618},{"file":"p1619.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1619\nii n d so bereits eine starke Zuneigung zum Gef\u00e4hrten erzeugt haben, wird auf Wahrnehmung eines neu auftretenden Leides des Gef\u00e4hrten mit noch st\u00e4rkerem Mitleiden reagiert unter liebevoller Vergegenw\u00e4rtigung der Situation des Gef\u00e4hrten, der Ursache derselben und der M\u00f6glichkeiten zur Beihilfe, und es entwickelt sich ein gef\u00fchlsstarker Gedanke, in bestimmter Weise zu helfen, der einen stark lustgef\u00e4rbten Impuls zur Hilfe ausl\u00f6st. Dadurch erfahren die schon vorhandenen Zuneigungsgef\u00fchle eine weitere Steigerung.\n6. Eine weitere Entwicklung der Zuneigung zum Gef\u00e4hrten wird sodann durch Entwicklung der Interessenkreise des Gemeinschaftsk\u00f6rpers zustande gebracht, dem die Individuen angeh\u00f6ren.\nMethodologisch ist zu diesen Feststellungen zu sagen, da\u00df hier psychische Tatsachen des V\u00f6lkerlebens, besonders der Naturv\u00f6lker, Fragen an die Psychologie stellen, welche beantwortet werden unter Zuhilfenahme von Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten, die durch experimentell-psychologische und durch p a t h o-psychologische Methoden festgestellt sind, wobei zugleich die Selbstbeobachtungsmethode besonders den Dienst leistet, da\u00df mit ihrer Hilfe eine Analyse der komplexeren Tatbest\u00e4nde vollzogen wird. An einzelnen Punkten der Entwicklung wurden tierpsychologische Feststellungen verwertet. \u2014\nBisher haben wir in diesem Kapitel von der Bedeutung der Sympathie und der Zuneigung f\u00fcr die Entwicklung sittlicher Gef\u00fchle gesprochen und dabei bez\u00fcglich der Bedeutung der Sympathie bis jetzt noch aus der Besprechung ausgeschlossen die mitf\u00fchlende Entr\u00fcstung. Diese haben wir jetzt zum Gegenstand der Betrachtung zu machen.\nSelbstlose Vergeltungsgef\u00fchle findet man schon bei gewissen Tieren. Bei Naturmenschen ist \u00f6ffentliche sympathische Entr\u00fcstung sehr ausgepr\u00e4gt. ,,Wird ein Mitglied der Gruppe verletzt, so nimmt das Gef\u00fchl der Einm\u00fctigkeit die Form \u00f6ffentlicher Entr\u00fcstung an. Wie Robertson schon l\u00e4ngst bemerkte, f\u00e4llt in kleinen Gemeinwesen die Beleidigung oder Schmach, die dem Ganzen an-","page":1619},{"file":"p1620.txt","language":"de","ocr_de":"1620\nG. St\u00f6rring\ngetan wird, auf jeden einzelnen zur\u00fcck, gleichsam als w\u00e4re sie ein Angriff anf seine eigene Ehre nnd Sicherheit. Der Wunsch nach Eache geht von Herz zn Herz nnd bricht bald in Wnt ans1).\u201d\nHach West er mar cTc, Bibot nnd anderen Antoren sollen Sympathie nnd Zuneigung in der Erzeugung sittlicher Gef\u00fchle Zusammenwirken. Mi\u00dflich ist dabei au\u00dfer dem von uns geltend Gemachten, da\u00df die Zuneigung einen Tatbestand darstellt, f\u00fcr dessen Genesis auch die Sympathie eine Eolle spielt, wie sich uns das bei der Analyse der Zuneigungsvorg\u00e4nge gezeigt hat. Wir stellen neben die Sympathie die \u00dcbertragung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden. Es sprechen in den Prozessen der Zuneigung allerdings, wie sich uns zeigte, noch andere Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten eine Eolle. So die Entstehung von Gef\u00fchlszust\u00e4nden, die sich unmittelbar mit einer geistigen Bet\u00e4tigung, einer niederen oder h\u00f6heren, verbinden, und das Gesetz der Kontrastentwicklung der Gef\u00fchle. Aber diese Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten bedingen nicht den selbstlosen Charakter von Handlungen! \u2014\nIch spreche von individual bedingten und sozial bedingten Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen der sittlichen Wertsch\u00e4tzungen. Die bis jetzt namhaft gemachten Faktoren nenne ich individual bedingte. Sie kommen zustande ohne Beihilfe von Wertsch\u00e4tzungen anderer Individuen. Die unter solcher Beihilfe sich entwickelnden sittlichen Wertsch\u00e4tzungen nennen wir sozial bedingte.\nWester mar ck- f\u00fchrt die Behandlung der sozial bedingten Wertsch\u00e4tzungen unter merkw\u00fcrdiger Begr\u00fcndung ein. Er sagt: ,,Das jetzt zu l\u00f6sende Problem ist ... : aus welchem Grunde Selbstlosigkeit, anscheinende Unparteilichkeit und die F\u00e4rbung von Allgemeinheit Kennzeichen geworden sind, durch welche sogenannte sittliche Gef\u00fchlsvorg\u00e4nge sich von anderen Yergeltungsgef\u00fchlen unterscheiden. Die L\u00f6sung dieses Problems liegt in der Tatsache, da\u00df die Gesellschaft die Wiege des sittlichen Bewu\u00dftseins ist . . ., da\u00df die Stammessitte die fr\u00fcheste Bichtschnur der Pflicht war2).\u201d\nAber tats\u00e4chlich kann von dem Charakter der Unparteilichkeit, der Selbstlosigkeit und Allgemeinheit der sittlichen Wertsch\u00e4tzungen auch \u2014 sagen wir kurz \u2014 durch individual bedingte Wertsch\u00e4tzungen Eechenschaft gegeben werden !\nWir haben es also jetzt zu tun mit den Beziehungen der Sitte zur Sittlichkeit.\n1)\tWestermarclc: 1. c. 1. 95.\n2)\tWestermarclc: 1. r. 1. 98.","page":1620},{"file":"p1621.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1621\nDer Mission\u00e4r Bernau berichtet Yon den Indianern in Britisch-Guyana : \u201eIhr sittliches Empfinden von Gut nnd B\u00f6se wird g\u00e4nzlich durch die von ihren Vorfahren ererbten Sitten nnd Gebr\u00e4nche geregelt. Was ihre Vorfahren glaubten nnd taten, mu\u00df recht sein, nnd es erscheint ihnen der Gipfel der Vermessenheit, da\u00df jemand anderer Meinung sein k\u00f6nne.\u201d Das moralisch B\u00f6se der heidnischen Gr\u00f6nl\u00e4nder \u201ewar alles, .was den Sitten nnd Gesetzen, wie die Angakoks sie niedergelegt, widersprach1).\u201d\nDer Sitte entsprechendes Verhalten l\u00e4\u00dft sich nat\u00fcrlich leicht als mit dem Charakter der Allgemeinheit nnd der Uneigenn\u00fctzigkeit behaftet charakterisieren.\nWie Yertr\u00e4gt sich diese Beziehung zwischen Sitte nnd Sittlichkeit aber mit der fr\u00fcher aufgestellten Behauptung, da\u00df allen sittlichen Urteilen Gef\u00fchle zugrunde liegen? hun, die Sitte ist als sittliche Vorschrift zu bezeichnen, weil ihre \u00dcbertretung Entr\u00fcstung in selbstloser Weise wachruft.\nHier bei der Frage der Beziehung der Sitte zur Sittlichkeit ist einer der Punkte gegeben, wo methodologisch eine Heranziehung Y\u00f6lkerpsychologischer Tatbest \u00e4nd e unumg\u00e4nglich n\u00f6tig ist.\nWir werden sp\u00e4ter diesen Tatbestand weiter moralpsychologisch auswerten, da\u00df die Sitte urspr\u00fcnglich als sittlich geboten erschien.\nWenn in der sp\u00e4teren Entwicklung einzelne Pers\u00f6nlichkeiten Yon \u00fcberragender sittlicher Einsicht sich der Anerkennung einzelner Sitten als sittlicher Vorschriften widersetzten, so konnte das nur auf Grund der Tatsachen geschehen, da\u00df es eben neben sozial bedingten auch individual bedingte .sittliche Vorschriften gibt!\nIV. Allgemeine Charakteristik der Gegenst\u00e4nde aufgekl\u00e4rter sittlicher Urteile.\nMethodologisch sehr kennzeichnend ist es, da\u00df W ester mar ek, bevor er in die n\u00e4here Untersuchung der sittlichen Urteile einf\u00fchrt, eine Untersuchung einschiebt, in welcher er \u00fcber den allgemeinen Charakter der Gegenst\u00e4nde aufgekl\u00e4rter sittlicher UrteileBestimmungen macht. Westermarek selbst sagt: \u201eDieses Vorgehen bef\u00e4higt uns,\nx) Westermarck: 1. c. 1. 99.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t105","page":1621},{"file":"p1622.txt","language":"de","ocr_de":"1622\nG.. St\u00f6rring\nvon Anfang an zwischen Elementen zn unterscheiden, die auf den unteren Stufen geistiger Entwicklung kaum zu unterscheiden oder zu trennen sind, wie auch die Terminologie festzustellen, die in der weiteren Er\u00f6rterung angewandt werden soll1).\u201d\n1. Bei dieser allgemeinen Charakteristik wird zun\u00e4chst der Begriff der Handlungen n\u00e4her bestimmt. Bei einer Handlung haben wir es zu tun mit einem \u201e\u00e4u\u00dferen Geschehnis\u201d, einer Absicht, durch welche das \u00e4u\u00dfere Geschehnis verursacht ist.\nUnter Absicht versteht er dabei den Willen oder Entschlu\u00df, den Gedanken eines bestimmten Geschehnisses zu verwirklichen2).\nBei der Absicht wird geschieden zwischen direkter und indirekter Absicht. \u00dcber indirekte Absicht wird von \u00dfidgwich diskutiert an Hand eines konkreten Falles. Wenn ein Nihilist einen Zug in die Luft sprengt, in welchem der Kaiser sitzt, in dem sich aber auch noch andere Beisende befinden, so sagt \u00dfidgwich, da\u00df die T\u00f6tung des Kaisers die direkte, die T\u00f6tung der \u00fcbrigen Beisenden die indirekte Absicht des Nihilisten sei.\nW ester march s Ansicht dar\u00fcber ist folgende: Er sagt: ,,In diesem Fall haben wir zwei Absichten und, soweit ich sehen kann, zwei Handlungen vorausgesetzt, der Nihilist vermag seine Absichten, n\u00e4mlichl. das In-die-Luft-Sprengen des Zuges und 2. die Vernichtung des Kaisers durchzuf\u00fchren ; die erstere Handlung involviert nicht einmal notwendigerweise die zweite. Ich vermag aber nicht einzusehen, da\u00df hier irgendeine Absicht vorliegt, andere Personen zu t\u00f6ten. \u00dfidgwich behauptet3), es w\u00fcrde als absurd gelten, in solchem Falle zu behaupten, da\u00df der Nihilist die anderen zu t\u00f6ten ,nicht beabsichtige\u2019; aber der Grund daf\u00fcr ist einfach die Ungenauigkeit der Sprache und eine Verwechslung zwischen dem seelischen Faktor und der sittlichen Sch\u00e4tzung des Faktors. Es d\u00fcrfte absurd sein, die Nichtabsicht des Nihilisten als eine Milderung seines Verbrechens hinzustellen; es w\u00e4re aber kaum richtig, zu sagen, da\u00df er au\u00dfer dem Tode des Kaisers auch den der anderen beabsichtige, da er ja nur die Vernichtung des Zuges beabsichtigte, obgleich diese Absicht eine arge Au\u00dferachtlassung der verschiedenen wahrscheinlichen Folgen involvierte. Er setzt die Mitreisenden wissentlich einer gro\u00dfen Gefahr aus; wenn wir aber von einer Absicht seinerseits, sie solch einer Gefahr auszusetzen, sprechen, betrachten wir dieses Aussetzen als eine Handlung f\u00fcr sich2).\u201d\nIch spreche anstatt von direkter und indirekter Absicht von dem Wollen eines Effektes und dem Wollen\n1)\tWestermarck: 1. c. 1. 173.\n2)\tWestermarck: 1. c. 1. 175.\n3)\tSidgwick: Methods of ethics. S. 202.","page":1622},{"file":"p1623.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1623\neines sehr wahrscheinlich unvermeidbaren Nebeneffektes.\n2.\tDer Begriff des Beweggrundes wird yon WestermarcTc in einem weiteren Sinne als gew\u00f6hnlich gefa\u00dft nnd es ist nicht leicht, festzustellen, wie er diesen Terminus nimmt. Er spricht vom Zorn als Beweggrund einer Handlung, sodann nennt er aber auch das Beweggrund, was ich in moralphilosophischen und moralpsychologischen Entwicklungen ,,Motiv\u201d nenne. Ich verstehe unter Motiv den letzten Zweck eines Wollens, also denjenigen Zweck, der nicht wieder Mittel f\u00fcr einen anderen Zweck ist. Er nennt den ,,Zwang aus Notwendigkeit\u201d einen Beweggrund und er spricht von verschiedenen Beweggr\u00fcnden bei kaltbl\u00fctigem und affeklosem Handeln. Man trifft vielleicht seine Auffassung, wenn man die Beweggr\u00fcnde als die n\u00e4heren subjektiven Bedingungen des Wollens bestimmt.\nAbsichten und Beweggr\u00fcnde sind nach WestermarcTc als Gegenst\u00e4nde sittlicher Beurteilung nicht getrennt, sondern eine Einheit. Weshalb % Weil sittliche Urteile nur \u00fcber handelnde und wollende Menschen gef\u00e4llt werden, nicht \u00fcber abstrakte Willensakte.\n\u00dcber den letzten Punkt werden wir sp\u00e4ter Gelegenheit haben, eine n\u00e4here Diskussion zu er\u00f6ffnen.\n3.\tUnter den Begriff der Fahrl\u00e4ssigkeit fa\u00dft er nachl\u00e4ssige, achtlose und un\u00fcberlegte Handlungen zusammen.\n4.\tYon Enthaltung wird von dem Autor bei absichtlicher Unterlassung sittlich geforderter Handlungen gesprochen.\n5.\tDen Begriff des ,,Betragens\u201d bestimmt WestermarcTc, sich st\u00fctzend auf die Definitionen der vorstehend definierten Begriffe, in folgender Weise:\n,,Unter jemandes Betragen in einem bestimmten Falle wird eine Willenshandlung oder die Abwesenheit einer Willenshandlung bei ihm verstanden, die sich oft, aber nicht immer und auch nicht notwendigerweise, in einer Handlung, Enthaltung oder Unterlassung ausdr\u00fcckt \u2014 betrachtet mit R\u00fccksicht auf all die Umst\u00e4nde, die den sittlichen Charakter des Falles beeinflussen k\u00f6nnen1).\u201d\nY. Der Wille als Gegenstand sittlicher Beurteilung auf v\u00f6lkerpsychologischer Grundlage behandelt.\n1. Wie steht es mit der Unterscheidung absichtlicher und unabsichtlicher Sch\u00e4digung bei N aturv\u00f6lkern ?\n1) Westermarck: 1. o. 1. 187.\n105*","page":1623},{"file":"p1624.txt","language":"de","ocr_de":"G-. St\u00f6rring\nEs gibt Naturv\u00f6lker, welche diese Unterscheidung nicht zu machen scheinen.\nSo berichtet v. Martins1), da\u00df bei den Arawaks die Blutrache so blind und so umfassend sei, da\u00df h\u00e4ufig eine zuf\u00e4llige Tat zur Vernichtung ganzer Familien f\u00fchrt, sowohl der des Totschl\u00e4gers wie der des Opfers. So mu\u00df bei den Guyana-Indianern die kleinste Verletzung, die einer dem anderen selbst unbeabsichtigt zuf\u00fcgt, durch Beibringen einer \u00e4hnlichen Verletzung ges\u00fchnt werden.\nDieser Mangel an Unterscheidung zwischen absichtlichen und unabsichtlichen Sch\u00e4digungen findet sich sowohl im Falle der Bache als auch bei Strafe. \u2014\nBei manchen Naturv\u00f6lkern wird diese Unterscheidung zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Sch\u00e4digung zwar gemacht, aber auch bei unabsichtlicher Sch\u00e4digung wird der T\u00e4ter als zum Teil schuldig angesehen.\nIn vielen F\u00e4llen, wo eine Unterscheidung zwischen absichtlichem und unabsichtlichem Totschlag gemacht wird, wirkt noch erschwerend die B\u00fccksichtnahme auf das vermeintliche Gef\u00fchl des Erschlagenen, der als nach Bache d\u00fcrstend gedacht und gef\u00fcrchtet wurde. Sodann wirkten in vielen F\u00e4llen religi\u00f6se Betrachtungen. Zuf\u00e4llige \u00dcbertretungen religi\u00f6ser Gesetze werden auch bei manchen V\u00f6lkern, denen im \u00fcbrigen eine Unterscheidung zwischen absichtlicher und unabsichtlicher Sch\u00e4digung ganz gel\u00e4ufig ist und bei denen sich das im allgemeinen auch in ihrer Behandlung des T\u00e4ters unabsichtlicher Sch\u00e4digungen strafaufhebend auswirkt, \u00e4hnlich behandelt als absichtliche. So stellt sich die Beurteilung einer zuf\u00e4lligen \u00dcbertretung bei der \u00d6dipuslegende ganz anders dar, als die sonstige Beurteilung unabsichtlicher Sch\u00e4digungen bei den alten Griechen der damaligen Zeit. Hier, bei \u00dcbertretung religi\u00f6ser Gesetze l\u00e4\u00dft, meine ich, offenbar die Furcht vor den G\u00f6ttern eine rationelle Beurteilung des Falles nicht aufkommen. \u2014\nWo unabh\u00e4ngig von der Wirkung religi\u00f6ser Betrachtungen trotz Unterscheidung von absichtlicher und unabsichtlicher Sch\u00e4digung der T\u00e4ter einer unabsichtlichen Sch\u00e4digung, wie wir h\u00f6rten, f\u00fcr zum Teil schuldig gehalten wird, behauptet Wester mar ck, das beruhe lediglich \u201eauf dem Mangel an richtigem Nachdenken\u201d2).\nDann ist aber zu fragen, worauf dieser Mangel an Nachdenken beruht und da wird man finden, da\u00df hier emotionelle Ursachen vorliegen.\n1)\tVon Martins'. Beitr\u00e4ge zur Ethnographie Amerikas.\n2)\tWestermarcJc : 1. c. 1. 204.","page":1624},{"file":"p1625.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1625\nHier kommt in Betracht die \u00dcbertragung des Affektes, welcher bei Anffassnng der \u00e4nderen Tat sich entwickelt, anf den T\u00e4ter. Dazn kommt, da\u00df die Entwicklung eigenen Bachegef\u00fchles in gewisser Intensit\u00e4t schon assoziativ dnrch fr\u00fchere r\u00e4chende Stellungnahmezn F\u00e4llen absichtlicher Sch\u00e4digung bedingt ist \u2014 ganz abgesehen von der B\u00fccksichtnahme anf das vermeintliche Gef\u00fchl des Erschlagenen.\n2.\tWo anf niedrigerer Entwicklungsstufe zwischen absichtlichem und unabsichtlichem Totschlag unterschieden wird, findet man h\u00e4ufig, da\u00df bez\u00fcglich des unabsichtlichen Totschlages nicht unterschieden wird, ob derselbe fahrl\u00e4ssig oder zuf\u00e4llig war. \u201eNach den Gesetzen des Hummurabi mu\u00dften, wenn der Arzt eines Vornehmen einfe schwere Wunde mit einer Erz-1 anzette behandelte und seinen Tod veranla\u00dfte, oder wenn er ein Augengeschw\u00fcr mit einer Erzlanzette \u00f6ffnete und der Patient das Auge verlor, ihm beide H\u00e4nde abgenommen werden.\u201d\n3.\tAuf niederer Entwicklungsstufe pr\u00e4valieren die sogenannten negativen Gebote vor den positiven. Die Verbote gr\u00fcnden sich n\u00e4mlich auf die Mi\u00dfbilligung von positiven Handlungen, w\u00e4hrend die positiven Gebote sich auf Mi\u00dfbilligung von Unterlassungen und Enthaltungen beziehen. Die Mi\u00dfbilligung von positiven Handlungen ist eben st\u00e4rker als die Mi\u00dfbilligung von Unterlassungen und Enthaltungen. Im Alten Testament pr\u00e4valiert die Forderung \u201eDu sollst nicht\u201d, im Neuen die \u201eDu sollst\u201d.\n4.\tAuf niederer Entwicklungsstufe wird die Schuld einer Person, die aus Achtlosigkeit oder \u00dcbereilung durch positive Handlung Schaden stiftet, \u00fcbertrieben, dagegen die Nachl\u00e4ssigkeit, bei der Schlimmes verursacht wird, untersch\u00e4tzt.\nDie positive Handlung springt eben bei der Beurteilung mehr in die Augen als die Unterlassung einer Handlung.\n5.\tEin Sch\u00e4digung herbeif\u00fchrendes Handeln aus \u00e4u\u00dferem oder innerem Zwang findet schon auf niedriger Entwicklungsstufe mildere Beurteilung. So ist bei den Hottentotten Selbstverteidigung und T\u00f6tung in Notwehr von der Sitte gerechtfertigt.\nWenn auch im allgemeinen die seelischen Ursachen eines Handelns nicht so starkes Interesse erwecken als das Handeln selbst, so hat doch das Handeln aus Zwang schon fr\u00fch Beachtung bei der Beurteilung auf sich gezogen.\n6.\tWas die unterschiedliche Beurteilung von k a 11 b 1 \u00fc t i g e n und affektiven Sch\u00e4digungen betrifft, so findet derjenige, welcher in starker Leidenschaft handelt, Nachsicht \u2014 wie Foster meint, weil durch Baserei der Mensch taub gemacht wird gegen \u201edie Stimme der Vernunft\u201d. Dagegen macht","page":1625},{"file":"p1626.txt","language":"de","ocr_de":"1626\nGr. Sfc\u00f6rring\nW'estermarck geltend: die Hauptursache der Milderung sei nicht intellektueller Art, \u201esondern die Tatsache, da\u00df er von einem Impuls fortgetrieben wird, dem zu widerstehen, sein Wille nicht stark genug ist\u201d.\nAber auch wenn der Hauptgrund der Milderung intellektueller Art ist, so ist doch die Entstehung der ungew\u00f6hnlichen Situation f\u00fcr die intellektuelle Bet\u00e4tigung emotionell bedingt !\n7.\tEine Befolgung der sittlichen Forderungen ans eud\u00e4mo-nistischen oder ans selbstlosen Motiven wird erst sp\u00e4ter unterschieden. Allerdings wei\u00df schon Confucius die selbstlose Gesinnung zu sch\u00e4tzen.\n8.\tGegenstand der sittlichen Beurteilung ist nach Westermarch stets nicht das einzelne Wollen, sondern der Charakter. Das ist nat\u00fcrlich ein Punkt von grundlegender Bedeutung! Er meint: \u201eSelbst wenn ein moralisches Urteil unmittelbar auf eine bestimmte Handlung sich bezieht, interessiert es sich doch f\u00fcr den Willen des Handelnden als Ganzes. Daf\u00fcr werden folgende Argumente angef\u00fchrt: Auf eine aufrichtige Eeue pflegt man mit Verzeihung zu reagieren, man unterscheidet zwischen einem kaltbl\u00fctig und einem in der Leidenschaft begangenen Unrecht. Zuletzt spricht daf\u00fcr der allgemeine Brauch der V\u00f6lker, ein zweites oder drittes Vergehen schwerer zu bestrafen als das erste.\nHier wird eine gro\u00dfe F\u00fclle von F\u00e4llen der Beurteilung von Naturv\u00f6lkern beigebracht1).\n\u201eJe mehr ein Sittenurteil durch \u00dcberlegung beeinflu\u00dft wird, um so mehr pr\u00fcft es den Charakter.\u201d\n\u201eAber sei es auch noch so oberfl\u00e4chlich, stets bezieht es sich auf einen als eine ununterbrochene Einheit aufgefa\u00dften Willen, auf eine Person, die als Ursache von Lust oder Schmerz angesehen wird. Dies gilt f\u00fcr wilde und zivilisierte V\u00f6lker in gleicher Weise. Selbst die zahmen Tiere verhalten sich auf eine Verletzung oder auf eine Wohltat verschieden gegen verschiedene Personen \u2014 je nachdem, was sie vorher an den Handelnden f\u00fcr Erfahrungen gemacht haben2).\nHier scheint also durch v\u00f6lkerpsychologische Methoden bewiesen zu sein, da\u00df stets der Charakter, die Person, Gegenstand der sittlichen Beurteilung ist und nicht das einzelne Wollen. Und trotzdem m\u00fcssen wir dagegen entschiedenen Protest einlege n. Wir\nb Westermarch: 1. c. 1. 265 ff.\n2) Westermarch: 1. c. 1. 266.","page":1626},{"file":"p1627.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1627\nm\u00fcssen behaupten, da\u00df bei der sittlichen Beurteilung eines Wollens nnd Handelns nicht immer der Charakter, die Person, in Betracht kommt. Was stets in Betracht kommt, ist an\u00dfer dem Wollen der Handlung das Motiv des Wollens, d. h., der letzte Zweck desselben, der nicht wieder Mittel zu einem anderen Zweck ist. O h n e das Motiv eines Wollens zn kennen, k\u00f6nnen wir ein Handeln nicht sittlich beurteilen, aber wir f\u00e4llen auch sittliche Urteile, wo wir \u00fcber den Charakter des Menschen, \u00fcber einzelne Dispositionen (soweit sie sich nicht ans dem Motiv ergeben), geschweige denn \u00fcber die haupts\u00e4chlichsten Dispositionen des Menschen nichts wissen! Das ist ein v\u00f6llig gesicherter Tatbestand, der sich durch Selbstbeobachtung eindeutig ergibt.\nWie vertr\u00e4gt sich das nun aber mit den oben beigebrachten v\u00f6lkerpsychologischen Tatbest\u00e4nden und Argumentent\nWenn auf aufrichtige Beue hier Verzeihung folgt, so ber\u00fccksichtigt man allerdings eine Disposition zu einer bestimmten Art des Wollens ! Man geht \u00fcber Beurteilung der Motive hinaus. Nun, das ist ein Tatbestand, der unserer soeben aufgestellten Behauptung nicht widerspricht, wir sagen ja nicht, da\u00df nur das Wollen des Handelns und seine Motive bei sittlicher Beurteilung Ber\u00fccksichtigung finden. Aber es ist zu weit gegangen, wenn man sagt, da\u00df hier die sittliche Beurteilung einer Person, eines Charakters, d. h. der Gesamtheit der Hauptdispositionen des Individuums, vorliegt.\nWenn sodann das kaltbl\u00fctig begangene Unrecht anders beurteilt wird als das in der Leidenschaft begangene, und wenn nach allgemeinem Brauch das zweite oder dritte Vergehen schwerer bestraft wird als das erste, so ist doch bei diesen sittlichen Verurteilungen nicht der ganze Charakter in seinen Hauptz\u00fcgen betroffen, sondern nur die dem betreffenden Wollen entsprechenden Dispositionen !\nWir m\u00fcssen aber noch einen Schritt weiter gehen. Selbst wenn sich v\u00f6lkerpsychologisch sicher beweisen lie\u00dfe, da\u00df auf niederer und mittlerer sittlicher Entwicklungsstufe stets die ganze Pers\u00f6nlichkeit Gegenstand einer sittlichen V erurteilung ist, so w\u00fcrden wir deshalb doch noch nicht anerkennen, da\u00df bei sittlichen Verurteilungen stets der Charakter, die ganze Pers\u00f6nlichkeit, betroffen ist. Es k\u00f6nnte sich doch bei den auf niederen und","page":1627},{"file":"p1628.txt","language":"de","ocr_de":"1628\nG*. St\u00f6rring\nmittleren sittlichen Entwicklungsstufen gef\u00e4llten Urteilen, vom Standpunkt der h\u00f6heren Entwicklungsstufe aus gesehen, um eine unberechtigte Beziehung der sittlichen Verurteilung handeln. Es ist also psychologisch gut begreiflich, wie das urteilende Individuum besonders bei scharfen sittlichen Verurteilungen leicht \u00fcber das Ziel hinausschie\u00dft. Das bringt nat\u00fcrlich das Prinzip der \u00dcbertragung der Gef\u00fchle mit sich.\nEs geh\u00f6rt auch nat\u00fcrlich eine h\u00f6here intellektuelle Entwicklung dazu, zwischen der Verurteilung eines Wollens einer Handlung auf Grund des Motivs und eines solchen auf Grund der Disposition zu einem Wollen bestimmter Art und einer Verurteilung der Pers\u00f6nlichkeit zu unterscheiden.\nWir sehen aber, da\u00df auch hier eine Grenze f\u00fcr die Auswertung v \u00f6 1 k e r p s y c h o 1 o g i s c h e r Tatbest\u00e4nde gesetzt ist.\n2. Kapitel.\nDie deduktive und die induktive individualpsychologische Methode in der Untersuchung der ethischen Wertsch\u00e4tzungen.\n1. Die deduktive Methode in vorl\u00e4ufiger\nCharakterisierung.\n\u00dcber die v\u00f6lkerpsychologische Methode der Psychologie der ethischen Wertsch\u00e4tzungen ist die individualpsychologische zu stellen, bei welcher der Psychologe an sich selbst und an Individuen derselben Kulturstufe Feststellungen \u00fcber ethische Wertsch\u00e4tzungen macht.\nF\u00fcr den modernen Psychologen, der eine naturwissenschaftlich fundierte Psychologie vertritt, erscheint es ganz selbstverst\u00e4ndlich, da\u00df die individualpsychologische Untersuchung der ethischen Wertsch\u00e4tzungen auf rein induktivem Wege erfolgen mu\u00df.\nDer Psychologe wei\u00df, wieviel Unheil in der Philosophie durch Handhabung der deduktiven Methode gestiftet ist und h\u00e4lt sich deshalb von der deduktiven Methode ganz fern. Er sagt sich, das kann sich der Physiker leisten, wenn er etwa das Pendelgesetz aus gewissen allgemeinen Voraussetzungen deduktiv ableitet. Er kann das Pendelgesetz auf induktivem Wege finden, aber auch es deduktiv ableiten. Das Gebiet der Psychologie ist viel zu komplex zur Anwendung der deduktiven Methoden \u2014 und erst recht f\u00fcr so komplexe Erscheinungen wie der ethischen.\nUnd doch mu\u00df ich behaupten, da\u00df es zweckm\u00e4\u00dfig ist, auf diesem Gebiete neben der induktiven Methode auch die deduktive","page":1628},{"file":"p1629.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1629\nzu handhaben. Ich habe jedenfalls manche wichtige Feststellungen in diesem Gebiet gemacht, nnter Anwendung deduktiven Vorgehens neben dem induktiven.\nEs ist bei Anwendung der deduktiven Methode zu fordern, da\u00df man nur mit causae verae1) und genau festgelegten Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten arbeitet und da\u00df man in passender Weise die deduktiven Folgerungen mit gegebenen ethischen Wertsch\u00e4tzungen vergleicht (induktive Kontrolle).\nHier will ich zun\u00e4chst nur zur Empfehlung dieser Methode sagen, da\u00df die Aufweisung der Genesis mancher Tatbest\u00e4nde der ethischen Wertsch\u00e4tzungen dadurch erschwert ist, da\u00df eine Erscheinung des ethischen Geschehens verschiedene Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen hat, deren Auf Weisung dadurch erschwert ist, da\u00df die den betreffenden Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen entsprechenden Gef\u00fchlszust\u00e4nde miteinander verschmolzen und da\u00df die intellektuellen Unterlagen dunkelbewu\u00dft geworden sind ! So steht es z. B. mit dem imperativischen Charakter der sittlichen Wertsch\u00e4tzungen. Es ist von gro\u00dfer Wichtigkeit, die Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen desselben aufzudecken; ganz verschiedene Quellen desselben werden sich uns bei deduktiver Behandlung zeigen, die sich auf induktivem Wege schwer nachweisen lassen. \u00c4hnlich steht es mit den Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen des Bewu\u00dftseins sittlicher Selbstachtung oder etwa des von Kant klassisch beschriebenen Pflichtbewu\u00dftseins.\nHier mu\u00df man zur Verteidigung des deduktiven Vorgehens eines beachten: Es ist meist leichter, eine deduktiv vollzogene Bestimmung \u00fcber die sittlichen Wertsch\u00e4tzungen als mit dem ethischen Tatbestand \u00fcbereinstimmend zu erkennen, als den Faktor ohne weiteres induktiv aus dem komplexen ethischen Geschehen herauszuheben \u2014 \u00e4hnlich wie man aus einem Klange einen Oberton leichter heraush\u00f6rt, wenn er vorher f\u00fcr sich gegeben war, als wenn das nicht der Fall ist.\nTrotz allem empfehle ich aber die deduktive Methode nur jemandem, der methodologisches Feingef\u00fchl hat.\n2. Autonome Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen der deduktiven Wertsch\u00e4tzungen.\na) Sympathiegef\u00fchle und Sympathieempfindungen.\nMan hat die ethischen Wertsch\u00e4tzungen fr\u00fcher auf ein a n-geborenes Gewissen zur\u00fcckgef\u00fchrt. H\u00f6rt man einen gebildeten Mann, der psychologisch nicht orientiert ist, \u00fcber die\n1) St\u00f6rring: Logik. S. 280 ff. ; Moralpliilosopliisclie Streitfragen. S., 148.","page":1629},{"file":"p1630.txt","language":"de","ocr_de":"1630\tGr. St\u00f6rring\nEntstehung des Ethischen sprechen, so wird man meist von ihm h\u00f6ren: wenn die ethischen Wertsch\u00e4tzungen nicht von einem angeborenen Gewissen abh\u00e4ngen, so m\u00fcsse man daf\u00fcr die G e-w\u00f6hnung in Anspruch nehmen. Damit verbindet sich dann meist die Anschauung, da\u00df die sittlichen Wertsch\u00e4tzungen sich nur dann rechtfertigen lassen, wenn sie von einem angeborenen Gewissen abh\u00e4ngen. Mit der Frage der G\u00fcltigkeit ethischer Anschauungen haben wir es hier nicht zu tun. Aber die Rechenschafts -ablegung \u00fcber die Entstehung ethischer Wertsch\u00e4tzungen l\u00e4\u00dft sich f\u00fcr die Frage ihrer G\u00fcltigkeit verwerten. Wenn das Gewissen auch nicht angeboren ist, so h\u00e4ngen doch die ethischen Wertsch\u00e4tzungen von allgemeinen psychischen Funktionen ab, die mit der menschlichen katur gegeben sind \u2014 das wird sich uns zeigen. Man kann deshalb, wenn man will, von einem virtuellenAngeborensein der ethischen Wertsch\u00e4tzungen sprechen.\nDie ethischen Wertsch\u00e4tzungen h\u00e4ngen von allgemeinen psychischen Funktionen der menschlichen Natur ab \u2014 wir wollen sie deshalb autonom nennen \u2014, sodann h\u00e4ngen sie von \u00e4u\u00dferer sozialer Beeinflussung ab \u2014 wir sprechen deshalb von sozialer Abh\u00e4ngigkeit derselben.\nWir sprechen zuerst von den autonomen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen. Wundt hat auf Grund v\u00f6lkerpsychologischer Untersuchungen, wie wir sahen, behauptet, da\u00df f\u00fcr die Entstehung der ethischen Wertsch\u00e4tzungen Sympathiegef\u00fchle und Ehrfurchtsgef\u00fchle verantwortlich zu machen sind. Yon den den Ehrfurchtsgef\u00fchlen werden wir sp\u00e4ter bei Behandlung der sozialen Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen handeln.\nSympathie mit Lust und Leid anderer haben wir bereits n\u00e4her untersucht. Der Ethiker und National\u00f6konom Adam Smith hat die Entwicklungen seines Lehrers David Hume in sch\u00f6ner Weise erg\u00e4nzt, indem er neben der Sympathie mit passiver Lust und Unlust, von Sympathie mit der aktiven Beaktion auf Leidzuf\u00fcgung und mit der aktiven Reaktion auf Zuf\u00fcgung von Freude sprach. Diese aktive Sympathie ist uns also gegeben in sympathischen Ahndungsgef\u00fchlen und sympathischen Dankbarkeitsgef\u00fchlen1).\nWenn ich von Sympathie spreche, so unterscheide ich Sympathie gef \u00fchle und Sympathie empfindungen, Man kann n\u00e4mlich nicht blo\u00df mit Gef\u00fchlszust\u00e4nden anderer sympathisieren, sondern auch mit F\u00f6rderung und Hemmung von Bet\u00e4tigung anderer Menschen. Der Knabe sympathisiert mit der kraftvollen k\u00f6rperlichen Bet\u00e4tigung des graben-\n3) St\u00f6rring: Moralpliilo sopliisclie Streitfragen. S. 15 ff.","page":1630},{"file":"p1631.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1631\nden G\u00e4rtners, der J\u00fcngling mit der kraftvollen geistigen Bet\u00e4tigung, die er in einer Biographie zur Darstellung gebracht sieht. Solche Bet\u00e4tigungen verbinden sich mit Lust, wenn sie sich innerhalb bestimmter Grenzen halten, wenn sie sich innerhalb solcher Grenzen halten, wo die Bet\u00e4tigung dem vorhandenen Kr\u00e4ftevorrat entspricht.\nKun k\u00f6nnte man denken, diese Sympathie sei im Grunde auf jene Sympathiegef\u00fchle zur\u00fcckzuf\u00fchren, sie sei eben Sympathie mit der hier anftretenden Lust. Das ist aber keineswegs der Fall: hier steht nicht die Lust, sondern die Bet\u00e4tigung im Blickpunkt des Bewu\u00dftseins und damit h\u00e4ngt zusammen^ da\u00df sich hier I m-pnlse zu einer \u00e4hnlichen Bet\u00e4tigung entwickeln : es entwickeln sich bei Wahrnehmung oder Vorstellung solcher Bet\u00e4tigungen Spannungsempfindnngen. Ich spreche hier deshalb von Sympathie empfindungen1)!\nMan wird sich vielleicht wundern, da\u00df wir nicht blo\u00df Sympathie gef\u00fchlen, sondern auch diesen Sympathie empfindungen grundlegende Bedeutung f\u00fcr die Entwicklung der ethischen Wertsch\u00e4tzungen beilegen.\nDie Bechtfertigung daf\u00fcr wird sich sp\u00e4ter ergeben. Hier wollen wir nur darauf hinweisen, da\u00df man auf die ethische Entwicklung eines Z\u00f6glings f\u00f6rdernd wirken kann, wenn man das ethische Handeln als eine Bet\u00e4tigung charakterisiert, welche entgegenstehende Hemmungen kraftvoll \u00fcberwindet. Dieser Appell an die jugendliche Kraftbet\u00e4tigung verfehlt seine ethische Wirkung nicht.\nb) Das autonome ethische Wertsch\u00e4tzen und Wollen auf niederer Entwicklungsstufe, unabh\u00e4ngig vom Wertsch\u00e4tzen als Betrachter.\nDas eigene ethische Wertsch\u00e4tzen und Handeln wird sehr stark bestimmt durch Stellungnahme zu Handlungen anderer als Betrachter. Der uninteressierte Betrachter wird in seinem Wertsch\u00e4tzen nicht durch egoistische Gef\u00fchle gest\u00f6rt und es liegt ihm n\u00e4her, auf gewisse Seiten des Wollens zu achten als dem Wollenden selbst. Wir wollen zun\u00e4chst von diesem Einflu\u00df absehen, das ethische Wertsch\u00e4tzen und Wollen unabh\u00e4ngig von dem Wertsch\u00e4tzen als Betrachter besprechen.\nI. Es hat sich uns fr\u00fcher besonders an der Hand psycho-pathologischer Tatbest\u00e4nde ergeben, da\u00df Lust- und Unlustzust\u00e4nde in folgender Weise das Willensgeschehen bestimmen.\n1. Wenn sich an den Gedanken einer durch uns vollziehbaren Handlung ein Lustgef\u00fchl anschlie\u00dft, so ist damit eine Tendenz\n1) St\u00f6rring : Moralphilosophische Streitfragen. S. 50 ff. ; Psychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens. 2. Anfl. S. 221.","page":1631},{"file":"p1632.txt","language":"de","ocr_de":"1632\nG-. St\u00f6rring\nzur Realisierung dieses Handelns gegeben, d. h., wenn keine Hemmungen auf treten, wird dies gedachte Handeln vollzogen.\n2.\tWenn sieb an den Gedanken einer durch uns vollziehbaren Handlung ein Unlustgef\u00fchl anschlie\u00dft, so ist damit eine Tendenz zur Mchtausf\u00fchrung dieses Handelns gegeben.\n3.\tWenn von einem Unlustgef\u00fchl aus sich uns auf dr\u00e4ngt der Gedanke eines durch uns vollziehbaren Handelns, so ist damit eine Tendenz zur Realisierung dieses Handelns gegeben.\nAus diesen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten ergeben sich deduktiv eine Reihe von Bestimmungen f\u00fcr unser Gebiet.\nEs ist zweckm\u00e4\u00dfig, hier diejenigen F\u00e4lle, wo ein Wertsch\u00e4tzen und Wollen ohne Gef\u00fchls\u00fcbertragung zustande kommt, von solchen zu scheiden, in denen eine Gef\u00fchls\u00fcbertragung beim Wertsch\u00e4tzen und dementsprechend auch bei der Wirkung des Werts ch\u00e4tzens im Wollen mit wirkt.\nScheiden wir zun\u00e4chst die F\u00e4lle der Mitwirkung der Gef\u00fchls-\u00dcbertragung aus, so ergibt sich uns zun\u00e4chst, da\u00df, wenn wir jemand leiden sehen und wir ein Mitleiden mit seinem Leiden entwickeln, wir die Tendenz haben, eine Handlung zu realisieren, welche wir f\u00fcr geeignet halten, das Leiden zu beseitigen oder herabzusetzen, wenn die Sympathieunlust uns den Gedanken eines solchen Handelns unmittelbar wachruft (Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit 2, daneben 1).\nWenn wir ber\u00fccksichtigen, da\u00df das so von uns aufgefa\u00dfte Handeln sich mit Lust verbindet, so ergibt sich daf\u00fcr folgendes Symbol :\ngsu -y Vu \u2014> gsi\nV\"\nH\nDabei ist mit gSn die Sympathieunlust bezeichnet, mit UH der Gedanke der betreffenden Handlung, mit gsi die sich an den Gedanken der Handlung anschlie\u00dfende Sympathielust und mit H die ausgef\u00fchrte Handlung.\nHierbei ist gsu als der das Handeln in der Hauptsache bewirkende Faktor gedacht. gsi wirkt unterst\u00fctzend.\nEs ergibt sich aus den angef\u00fchrten Gesetzm\u00e4\u00dfigkeiten sodann, da\u00df, wenn wir mit dem Lusteffekt einer als von uns ausf\u00fchrbar gedachten Handlung, der in einem anderen auftritt, sympathisieren und sich nun an den Gedanken dieses Handelns zum Vorteil eines anderen Sympathielust anschlie\u00dft, eine Tendenz gesetzt ist, zur Realisierung dieses gedachten Handelns (Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit 1).","page":1632},{"file":"p1633.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1633\nDas stellt sieh uns in folgendem Symbol dar:\nUH ffsl\nV\nH\nDiese beiden Symbole stellen selbstloses Handeln im Interesse anderer dar.\nEs ergibt sich weiter deduktiv, da\u00df, wenn ein von uns als vollziehbar aufgefa\u00dftes Handeln in dem von der Handlung Betroffenen Unlust nach sich zieht und wir mit dieser Unlust sympathisieren, da\u00df dann eine Hemmung gesetzt ist f\u00fcr die Realisierung dieses Handelns (Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit 3).\nHier wird also durch die Sympathieunlust die Realisierung eines Handelns zum Nachteil eines anderen gehemmt.\nWir k\u00f6nnen sodann sympathisieren mit einer von ans als vollziehbar gedachten F\u00f6rderung von Bet\u00e4tigung anderer, k\u00f6rperlicher oder geistiger Art, und diese Sympathie setzt die Tendenz zur Realisierung des entsprechenden Handelns. Wenn wir mit grA Sympathie mit der Bet\u00e4tigung bezeichnen, so stellt sich das in\nfolgender Weise dar:\tTr\n6\tUh\t\u00c7a 1\nI\nV\nH\nDie innerhalb der angegebenen Intensit\u00e4tsgrenzen sich vollziehende Bet\u00e4tigung verbindet sich mit Lust. Diese Lust hat hier einen starken motorischen Einschlag; wir haben es also mit st\u00e4rkerer Tendenz zur Realisierung der gedachten Handlung zu tup als bei Sympathielust. Bei Sympathie mit der Hemmung von Bet\u00e4tigung ergibt sich ein analoges Symbol wie oben.\nII. \u00dfo~krates charakterisiert das ethische Wollen als ein solches, welches f\u00f6rdernd wirkt auf das wahre Wohl des handelnden Individuums. Dies Wollen bestimmte er dann im ,,Protagoras\u201d noch n\u00e4her dahin, da\u00df von ihm gilt \u2014 wenn man die gesamten Effekte des Wollens, die n\u00e4heren und die entfernteren, in Betracht zieht \u2014, da\u00df bei ihm eine Pr\u00e4valenz von Lustaffekten vorliegt.\nEine Wertsch\u00e4tzung eines Wollens auf Grund einer Pr\u00e4valenz von Lusteffekten kommt zustande, wenn ein Individuum die n\u00e4heren und entfernteren Effekte eines Wollens erlebt und wenn nun auf den Gedanken dieses Wollens sich die Lust- und Unlustgef\u00fchle der n\u00e4heren und entfernteren Effekte \u00fcbertragen.\nDas stellt sich in folgender Weise symbolisch dar:","page":1633},{"file":"p1634.txt","language":"de","ocr_de":"1634\nG-. St\u00f6rring\nWir bezeichnen hier mit Vn die Gedanken der Effekte und mit Gi einen Gef\u00fchlszustand mit Pr\u00e4valenz von Lustgef\u00fchlen. Die Klammern sollen anzeigen, da\u00df 7^ im Bewu\u00dftsein zur\u00fccktritt.\nDie so entstehende Wertsch\u00e4tzung ist zugleich diejenige, von der Rousseau sagte, da\u00df sie bei einem. Z\u00f6gling zustande kommt durch das Erlebenlassen der Effekte des eigenen Handelns. Er sagte ja doch, da\u00df man den Z\u00f6gling zum sittlichen Wertsch\u00e4tzen und Handeln am besten so erziehe, da\u00df man ihn gar nicht positiv beeinflusse, sondern ihn nur erleben lassen solle die Lust- und Unlusteffekte des eigenen Handelns ; bei ethischen zu billigenden Handlungen liege eine Pr\u00e4valenz von Lusteffekten vor; bei ethisch zu mi\u00dfbilligenden eine Pr\u00e4valenz von Unlusteffekten; dann werde der Z\u00f6gling dazu kommen, Freude an guten Handlungen zu haben und schlechte Handlungen zu verwerfen. Er sprach noch nicht von \u00dcbertragung von Gef\u00fchlen, aber das ist hier das wirksame Mittelglied.\nDie Entstehung der ethischen Mi\u00dfbilligung w\u00fcrde dann also durch folgendes Symbol dargestellt werden:\nFh [7b] -> On.\nKun mu\u00df man allerdings sagen, da\u00df hier nur die Effekte des Wollens bei dem handelnden Individuum in Betracht gezogen sind, aber nicht zugleich die Effekte auf andere Menschen.\n* Und sodann mu\u00df man sagen, da\u00df hier das ethische Wollen zun\u00e4chst nur gewertet wird auf Grund der Lust- und Unlust* e f f e k t e desselben.\nDie Effekte des Wollens auf andere Menschen machen sich erst geltend in der Wertsch\u00e4tzung des uninteressierten Betrachters von fremdem Wollen und Handeln.\nc) Ras autonome ethische Wertsch\u00e4tzen von Wollen auf niederer Entwicklungsstufe von seiten eines (uninteressierten) Betrachters auf Grund der WertSch\u00e4tzung der Effekte, der objektiven Seite des Wollens.\nDas ethisch wertsch\u00e4tzende Individuum macht nicht blo\u00df seine eigenen Handlungen zum Gegenstand der Wertsch\u00e4tzung, sondern auch das Wollen und Handeln anderer Menschen, und diese Wertsch\u00e4tzung wirkt auf das Wertsch\u00e4tzen und Wollen eigener Handlungen.\nWir denken uns also Menschen, welche Wertsch\u00e4tzungen der bisher bezeichneten Art vollzogen haben, jetzt als Betrachter fremden Wollens.\nDer Betrachter fremden Wollens kann dies Wollen wertsch\u00e4tzen einmal auf Grund des Wertsch\u00e4tzens des","page":1634},{"file":"p1635.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1635\nEffektes desselben und sodann anf Grnnd der Wertsch\u00e4tzung des Wollens selbst. Wir fassen zun\u00e4chst\nnur den ersten Fall ins Auge.\n\u2022 \u2022 _______\n\u00fcber die Wertsch\u00e4tzung des Betrachters lassen sich deduktiv folgende Bestimmungen machen.\n1.\tBei ethisch zu billigendem Wollen finden wir, wenn wir die gesamten Effekte, die n\u00e4heren und die entfernteren, bei anderen in Betracht ziehen, auch eine Pr\u00e4valenz von Lusteffekten wie bei den Effekten f\u00fcr den Handelnden selbst.\nSympathisiert der Betrachter wiederholt mit den Effekten einer bestimmten Art von Handlungsweise, einer bestimmten Art des Wollens, dann wird eine \u00dcbertragung der sich an die Effekte anschlie\u00dfenden Gef\u00fchle vollziehen und sich deshalb der Gedanke an diese bestimmte Art des Wollens und Handelns mit Sympathielust verbinden. Es entsteht so eine positive Wertsch\u00e4tzung dieser Art des Wollens und Handelns.\nDaf\u00fcr ergibt sich folgende symbolische Darstellung:\n\u00fcw-MFs]->Gsi.\n2.\tFassen wir ethisch zu mi\u00dfbilligendes Wollen und Handeln ins Auge, so ist zu sagen, da\u00df hier eine Pr\u00e4valenz von Unlustgef\u00fchlen vorliegt. Entwickelt der Betrachter Sympathie mit diesen Unlusteffekten, so kommt mit der Zeit eine \u00dcbertragung dieser Gef\u00fchlszust\u00e4nde, die eine Pr\u00e4valenz von IJnlusteffekten auf weisen, zustande.\nDas stellt sich folgenderma\u00dfen dar:\n\u00bb\ny to\t[F\u00ae] \u2014 y Gsn.\n3.\tund 4. Sympathisiert der Betrachter mit F\u00f6rderung und Hemmung von Bet\u00e4tigung, so ergeben sich analoge Wertsch\u00e4tzungen positiver und negativer Art:\nF\u00bb -+ [Fe] -+ Gal.\nF* -V [F@] Gau.\nd) Das autonome ethische Wollen auf niederer Entwicklungsstufe auf Grund von \u00dcbertragung der durch sympathische Stellungnahme zu den Effekten in anderen entstandenen Gef\u00fchlszust\u00e4nde.\nDenken wir jetzt das soeben als Betrachter der Effekte\nfremden Wollens und Handelns gedachte Individuum eigene\nvorgestellte Handlungen wertsch\u00e4tzend und vollziehend, so ergibt\nsich in Fall 1:\tTT. rTX \u201e\nFh-HFe]->#si.\nI\nr\nH\nUnd entsprechend die drei \u00fcbrigen F\u00e4lle.","page":1635},{"file":"p1636.txt","language":"de","ocr_de":"1636\nGr. St\u00f6rring\nJ)ie Wertsch\u00e4tzung der Gesinnung auf dem so erlangten Ent-\nWicklungsstadium.\nHier liegt ein Einwand nahe. Wir sprechen hier in einem fort yon ethischem Wollen anf Grnnd von Wertsch\u00e4tzung der Effekte! Da scheinen wir nns doch in Gegensatz zn setzen zum ethischen Tatbestand. Man k\u00f6nnte geneigt sein zn sagen: Das ethische Wollen wird doch in Wirklichkeit geradezu in Gegensatz gesetzt zu den Effekten desselben. Wenn ein Wollen als ethisch beurteilt ist und es zeigen sich unerwartete Unlusteffekte, so h\u00f6rt man trotz dieser Unlust eff ekten nicht auf, das betreffende Wollen als ethisch zu bezeichnen, man betont dann geradezu den Gegensatz zwischen dem ethischen Wollen, seinen Motiven, der Gesinnung, aus welcher dies Wollen hervorgehend gedacht wird, und den Effekten !\nDarauf ist zu erwidern, da\u00df man scharf scheiden mu\u00df zwischen den Durchschnittseffekten einer Handlungsweise, den Effekten, die in der Norm, besser gesagt, in der bei weitem \u00fcberwiegenden Mehrzahl der F\u00e4lle auftreten und den in einem gegebenen konkreten Fall auftretenden Effekten. In unseren voraufgegangenen Betrachtungsweisen hatten wir es doch mit Durchschnitt seff ekten zutun, wir sprachen ja von Effekten mit Pr\u00e4valenz von Lustgef\u00fchlen (Gs 1) und von Effekten mit Pr\u00e4valenz von Unlustgef\u00fchlen (Usu). Wenn man ein als ethisch wertvoll aufgefa\u00dftes Wollen in Gegensatz setzt zu den Effekten, so meint man die in einem ge-gebenenEinzelfall auf tretenden Effekte ! Diese stehen dann auch im Gegensatz zu dem \u201enormalen\u201d Effekt, dem Durchschnittseffekt !\nEs l\u00e4\u00dft sich zeigen, da\u00df sogar die\u2019Wertsch\u00e4tzung der Gesinnung von der Wertsch\u00e4tzung der Effekte abh\u00e4ngt. Wir sahen, da\u00df die Wertsch\u00e4tzung einer bestimmten Art des Wollens zum Teil von der Wertsch\u00e4tzung der Effekte abh\u00e4ngig ist. Vollziehen wir aber die Wertsch\u00e4tzung einer bestimmten Art des Wollens, so werden wir \u2014 so l\u00e4\u00dft sich deduktiv sagen \u2014 eine Gesinnung, eine Disposition zu dieser Art des Wollens, die wir uns doch als ein Etwas denken, woraus Willensvorg\u00e4nge der gesch\u00e4tzten Art in endloser Zahl hervorgehen k\u00f6nnen, noch au\u00dferordentlich viel mehr sch\u00e4tzen als das einzelne Wollen1).\nf) Sympathie des Betrachters mit der im Wollen selbst gegebenen kraftvollen Bet\u00e4tigung (subjektive Sympathie) \u2014 Entstehung genereller Willensentschl\u00fcsse. Beziehung der einzelnen Willensentschl\u00fcsse auf dieselben. Entstehung einer bestimmten Form sittlicher Selbstachtung. Andeutung der Entwicklung anderer Formen sittlicher Selbstachtung.\nDer (uninteressierte) Betrachter fremden Wollens kann nicht nur mit der objektiven Seite des Wollens, mit den Effekten desselben, sympathisieren, sondern auch mit der subjektiven Seite,\n1) St\u00f6rring: MoralpMlosopMsche Streitfragen. S. 63 ff.","page":1636},{"file":"p1637.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1637\nmit dem Wollen selbst, mit der im Wollen selbst gegebenen Lust, eventuell mit der in demselben gegebenen Unlust und sodann mit einer in demselben gegebenen Kraftbet\u00e4tigung.\nWir wollen hier herausgreifen die Sympathie des Betrachters mit einer in dem Wollen gegebenen kraftvollen Bet\u00e4tigung.\nIm speziellen wollen wir zun\u00e4chst dasjenige kraftvolle Wollen ins Auge fassen, welches Sokrates als das ethische Wollen charakterisiert, dasjenige Wollen, bei dem das Individuum sein auf F\u00f6rderung seines wahren Wohles gerichtetes Wollen behauptet im Gegensatz zu widerstreitenden Augenblicksimpuls\u00e8n. Hier kann der Betrachter mit der in diesem Wollen liegenden kraftvollen Bet\u00e4tigung sympathisieren und eine positive Wertsch\u00e4tzung vollziehen. Kun l\u00e4\u00dft sich aber nicht leugnen, da\u00df der Betrachter auch mit einem kraftvollen Streben sympathisieren kann, welches auf Realisierung des Augenblicksimpulses gerichtet ist und diesem zum Siege verhilft. Allerdings wird bei der ethischen Beurteilung der Sieg dieses kraftvollen Strebens als Schw\u00e4che bezeichnet ! Wie kommt diese Art von Wertsch\u00e4tzung durch autonome, nichtsoziale Faktoren zustande?\t\u2022\nWir finden hier also, da\u00df beim Vergleich unserer deduktiv gewonnenen Bestimmung ein Widerspruch mit dem gegebenen ethischen Tatbestand zutage tritt. Hier m\u00fcssen also andere Faktoren in entgegengesetztem, \u00fcberkompensierendem Sinne wirken. Die so durch deduktives Vorgehen veranlagte Fragestellung findet eine Beantwortung, indem wir induktiv aus dem gegebenen ethischen Gesamttatbestand ein Faktum herausheben, welches f\u00fcr die Psychogenesis des h\u00f6heren ethischen Werts ch\u00e4tzens sich als von grundlegender Bedeutung erweisen wird.\nDer Betrachter hat h\u00e4ufig an sich und anderen erfahren, da\u00df das Individuum, welches sein Streben nach Realisierung des Augenblicksimpulses zum Siege kommen l\u00e4\u00dft, nach vollzogener Handlung seine Wertsch\u00e4tzung \u00e4ndert. (Hach Vollzug der Handlung ist eben das Streben nach Realisierung der Augenblickslust nur vorgestellt, wirkt also nicht mehr so auf die aktuelle Wertsch\u00e4tzung und das Wollen wie das aktuelle Streben.) Es m\u00f6ge sich der Diskrepanz zwischen seinem jetzigen Wertsch\u00e4tzen und dem vorangegangenen Wertsch\u00e4tzen in dem vollzogehen Willensvorgang bewu\u00dft werden. Das Bewu\u00dftsein dieser Diskrepanz gibt\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\t106","page":1637},{"file":"p1638.txt","language":"de","ocr_de":"1638\nG-. St\u00f6rring\nh\u00e4ufig Anla\u00df dazu, seinem zuk\u00fcnftigen Wollen mit einem selbstgegebenen, generellen Willensentschlu\u00df gegen\u00fcberzutreten: der sich darauf richtet, in Zukunft sorgf\u00e4ltig und energisch bestrebt zu sein, seinem wahren Wohl entsprechend zu handeln.\nEin solcher Willensentschlu\u00df ist ein eigenartiges Gebilde : er bezieht sich selbst auf zuk\u00fcnftiges einzelnes Wollen einer bestimmten Klasse; ich nenne ihn deshalb generellen Willensentschlu\u00df.\nDieser Entschlu\u00df zieht, wie wir sehen werden, Wirkungen nach sich, welche die Wahl der Augenblickslust sehr deutlich als Folge von Schw\u00e4che des Willens erscheinen lassen.\nEin solcher genereller Willensentschlu\u00df wird nicht ohne Wirkung im psychischen Leben sein. Aber trotz desselben wird doch noch im allgemeinen wiederholt die Wahl der Augenblickslust sich realisieren \u2014 in F\u00e4llen, die ung\u00fcnstiger gelagert sind. Das ethische Leben ist eben im allgemeinen der allm\u00e4hlichen Entwicklung unterworfen1) ; es ist nicht auf eine pl\u00f6tzliche v\u00f6llige Realisierung der ethischen Bestrebungen zu rechnen.\nF\u00fcr diese Entwicklung ist es sehr vorteilhaft, wenn auf einen Fall von Abweichung von dem generellen Willensentschlu\u00df mit starken Unlus,tgef\u00fchlen reagiert wird.\nWir wissen ja, da\u00df XJnlustgef\u00fchle im psychischen Leben viel kr\u00e4ftigere Wirkungen nach sich ziehen k\u00f6nnen als Lustgef\u00fchle. Solche Unlustgef\u00fchle k\u00f6nnen Anla\u00df geben zu einer kr\u00e4ftigen Erneuerung des generellen Willensentschlusses. Diese Erneuerung des generellen Willensentschlusses kann durch Betrachtung des Lebens ethischer Heroen in starker Weise unterst\u00fctzt werden.\nAus wiederholter kr\u00e4ftiger Erneuerung eines generellen Willensentschlusses entwickelt sich eine Willensrichtung.\nDer generelle Willensentschlu\u00df bezieht sich auf einzelnes Wollen bestimmter Art. Daraus l\u00e4\u00dft sich deduktiv die Bestimmung machen, da\u00df bei dem einzelnen Wollen bestimmter Art eine R\u00fcckbeziehung auf den generellen Willensentschlu\u00df stattfinden wird, und da\u00df bei dem Einzelwollen das mit dem generellen Willensentschlu\u00df \u00fcbereinstimmende Streben als Leistung der eigenen Pers \u00f6nlichkeit aufgefa\u00dft wird, w\u00e4hrend das dem generellen Willensentschlu\u00df nicht entsprechende Wollen, hier das Streben nach Realisierung der Augenblickslust als der Pers\u00f6nlichkeit auf oktroyiert erscheint. Und wenn das Streben nach Realisierung der Augenblickslust zum Siege kommt, so sieht darin die Pers\u00f6nlichkeit eine Schw\u00e4che ihres\n1) St\u00f6rring: Hebel der sittlichen Entwicklung der Jugend. 2. Anfl. S. 136ff.","page":1638},{"file":"p1639.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des G-ef\u00fchlslebens\n1639\nWillens: das auf ihr eigenes Konto gesetzte Streben nach Realisierung des generellen Willensentschlusses ist im Kampfe unterlegen. Hier sieht man, wie die Auffassung auch des kr\u00e4ftigen unethischen Strebens als Schw\u00e4che des .Willens von der Einf\u00fchrung eines dur c h den generellen Willensentschlu\u00df bestimmten Gesichtspunktes der Betrachtung bedingt ist.\nFassen wir nun den Fall des Sieges des Strebens ins Auge, welches mit dem generellen Willensentschlu\u00df \u00fcbereinstimmt, so ergibt sich uns deduktiv daraus eine Bestimmung, die f\u00fcr das ethische Leben von eminenter Bedeutung ist :\nBei einem Siege des mit ihrem generellen Willensentschlu\u00df \u00fcbereinstimmenden Strebens \u2014 hier nach ihrem wahren Wohl \u2014 hat die Pers\u00f6nlichkeit das freudige Bewu\u00dftsein, da\u00df sie innerhalb bestimmter Grenzen die Kraft hat, ihren generellen Willensentschlu\u00df durchzusetzen auch im Gegensatz zu entgegengesetzten Strebungen des eigenen Inneren. Wenn sich mit dem Bewu\u00dftsein dieses eigenen ethischen K\u00f6nnens eine freudige, als Ausdruck der Pers\u00f6nlichkeit auf gefa\u00dfte Erneuerung jener generellen Willensentschlie\u00dfung verbindet, so haben wir es mit einer bestimmten Form sittlicher Selbstachtung zutun.\nEine solche Erneuerung jenes generellen Willensentschlusses kann sich auf das einzelne Wollen oder auch auf die Entwicklung der Disposition zu solchem Wollen beziehen. Wir k\u00f6nnen eine solche Form sittlicher Selbstachtung charakterisieren als Achtung des Individuums vor sich als einer Per-s\u00f6nlichkeit,. deren genereller Willensentschlu\u00df in einer als wirkungskr\u00e4ftig von ihm erkannten Weise auf Realisierung eigenen WolLens oder der Disposition dazu ausgeht, welches Wollen F\u00f6rderung seines dauernden Wohles im Gegensatz zu Augenblicksimpulsen bedingt.\nDiese Achtung des Individuums vor sich selbst wird sich immer mehr auspr\u00e4gen, je mehr das Individuum die Wirkungskr\u00e4ftigkeit seines generellen Willens^ entschlusses im einzelnen Wollen erlebt.\nWir haben fr\u00fcher von Superposition, Schichtung der Gef\u00fchlszust\u00e4nde gesprochen. Hier hat sich \u00fcber der Wertsch\u00e4tzung\n106*","page":1639},{"file":"p1640.txt","language":"de","ocr_de":"1640\nG-. St\u00f6rring\neines Strebens nach Eealisiemng y osn Handlungen, die dem wahren Wohl entsprechen, snperponiert eine bestimmte Form sittlicher Selbstachtung. Wir sahen ja, da\u00df bei der Charakterisierung dieser Art von ethischer Selbstachtung diese Wertsch\u00e4tzung als Unterlage der sehr komplexen emotionellen Stellungnahme hervortritt. \u2014\nWie sich hier \u00fcber der einfachen ethischen Wertsch\u00e4tzung von Handlungen, die dem wahren Wohle des handelnden Individuums entsprechen, eine bestimmte Form ethischer Selbstachtung aufbaut, so auch \u00fcber anderen Formen einfacher ethischer Wertsch\u00e4tzung, so \u00fcber der Wertsch\u00e4tzung von Handlungen, die dem Individuum als ethische Vorschrift entgegentreten, im Gegensatz zu dem, was ihm als sittlich verboten erscheint. Das ist die Achtung des Individuums vor sich als die Befolgung dessen, was ihm als sittliche Vorschrift entgegentritt, mit fortschreitendem Erfolg wollenden Pers\u00f6nlichkeit. Doch davon k\u00f6nnen wir hier noch nicht n\u00e4her sprechen, weil die hier genannte einfache ethische Wertsch\u00e4tzung keine autonome, sondern eine sozial bedingte ist. Davon also erst sp\u00e4ter.\nAuch in ihrer Unterlage autonom bedingt ist dagegen weiter eine Form ethischer Selbstachtung, die sich aufbaut auf der Wertsch\u00e4tzung h\u00f6herer geistiger Freude im Gegensatz zu damit streitender sinnlicher Lust und ebenso eine Form ethischer Selbstachtung, die sich super-poniert \u00fcber der Wertsch\u00e4tzung h\u00f6herer geistiger Lebensbet\u00e4tigung im Gegensatz zu damit streitender sinnlicher Lebensbet\u00e4tigung und damit streitendem sinnlichen Genu\u00df.\nDie Prozesse der Superposition vollziehen sich analog dem ersten Fall.\nDie Betonung der h\u00f6heren Wertsch\u00e4tzung geistiger Freude in Belation zu sinnlicher Lust und geistiger Lebensbet\u00e4tigung im Gegensatz zu sinnlicher erfolgt auf induktivem Wege. Man findet diese Wertsch\u00e4tzungen bereits in den Diskussionen der allgemeinen philosophischen Ethik besonders herausgehoben, da sie von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr die philosophische Charakterisierung des Sittlichen nach gewissen moralphilosophischen Theorien sind.\nAuf die Beziehung zwischen Wertsch\u00e4tzung geistiger Lebensbet\u00e4tigung und geistiger Freude kann ich hier nicht n\u00e4her eingehen1).\n1) St\u00f6rring: Psychologie. S. 426 ff, ; vgl. Hebel der sittl. Entw. d. Jugend. S. 112 ff.","page":1640},{"file":"p1641.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1641\n3. Sozial bedingte Abh\u00e4 ngigk eits b eziehungen der ethischen Wertsch\u00e4tzungen.\n1.\tBis jetzt haben wir nnr dasjenige ethische Wertsch\u00e4tzen ins Ange gefa\u00dft, das antonom bedingt ist, und der menschlichen Matur selbst entspringt, ahch ohne soziale Beeinflnssnng. Wir fassen jetzt die Wirkung sozialer Faktoren anf die ethische Entwicklung ins Ange.\nDem jungen Menschen tritt der Erzieher gegen\u00fcber nnd bezeichnet ihm bestimmte Arten des Handelns nnd Wollens als verwerflich, bestimmte andere als l\u00f6blich. Als verwerflich werden ihm solche Arten des Wolle ns bezeichnet, welche sich in der Entwicklung des Gemeinschaftsk\u00f6rpers, dem das Individuum angeh\u00f6rt, als f\u00fcr das Bestehen und die Ent-wicklung des Gemeinschaftsk\u00f6rpers nachteilig erwiesen haben. Als l\u00f6blich werden ihm solche Arten des Wollens bezeichnet, welche sich als f\u00fcr die Entwicklung dieses Gemeinschaftsk\u00f6rpers als f\u00f6rderlich erwiesen haben. Auf diesen Entwicklungsproze\u00df innerhalb des betreffenden Gemeinschaftsk\u00f6rpers hat eine gro\u00dfe Bolle gespielt das von Wundt aufgewiesene ,,P rinzip der Heterogonie der Zweck e\u201d, wonach die Willensbet\u00e4tigungen nicht nur die gewollten, sondern auch ungewollte Effekte nach sich ziehen, die ungewollten Effekte des Handelns als bereichernd wirken auf die Motive des Wollens. ,,Achill, der aus Bache die Troer verfolgt, k\u00e4mpft, ohne es selbst zu wollen, f\u00fcr die Seinen; indem er aber nicht um jenes selbsts\u00fcchtigen Motivs, sondern um der Hilfe willen, die er den gef\u00e4hrdeten Genossen bietet, Buhm und Ehre davontr\u00e4gt ; wird schon dem K\u00e4mpfenden dieser Zweck allm\u00e4hlich zum Motiv.\u201d\nInsofern der Z\u00f6gling durch diese Wertsch\u00e4tzungen des Erziehers beeinflu\u00dft wird, partizipiert er, wie besonders John Stuart M\u00fcl nachdrucksvoll entwickelt hat, an den Er-f ahrungen ganzer Ge nerationen von Menschen.\n2.\tWir fragen uns nun, wie sich dieser Einflu\u00df vollzieht.\nDie gr\u00f6bste, primitivste Art der sozialen Beeinflussung geschieht durch Lohn und Strafe, LobundTadel. Tadel und Strafe wirkt auf die Entwicklung des Z\u00f6glings, wie die Erfahrung zeigt, bei rationeller Anwendung hemmend nicht nur auf die Bealisierung, sondern auch auf eine positive Wertsch\u00e4tzung des von dem Erzieher als ethisch verwerflich auf gefa\u00dften Wollens. Wenn bei Tadel und Strafe ung\u00fcnstige Komplikationen vermieden werden1), so wirken dieselben so, da\u00df durch sie Unlustgef\u00fchle aus-\nx) St\u00f6rring : Hebel der sittlichen Entwicklung der Jugend. 2; \u00c0tifl. S. 92 ff.","page":1641},{"file":"p1642.txt","language":"de","ocr_de":"16.42\tG. St\u00f6rring\ngel\u00f6st werden, die bei Wiederholung dieser Ma\u00dfnahme bestimmten Arten des Wollens gegen\u00fcber, eine \u00dcbertragung anf den Gedanken des betreffenden Wollens finden nnd so nach der fr\u00fcher hervorgehobenen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit hemmend wirken anf die Eealisiernng dieses gedachten Handelns nnd Wollens.\nDie Wirknng eines rationell angewandten Lobes vollzieht sich analog dnrch Gef\u00fchls\u00fcbertragnng ; es wird dadnrch die Eealisiernng eines Handelns im S i n n e des ethischen Tatbestandes erleichtert. Von Belohnnng wird ans naheliegenden Gr\u00fcnden am besten abgesehen.\nAristoteles hat hier bereits einen wichtigen Gesichtspunkt der Betrachtung eingef\u00fchrt. Er sagt in der Mkomachischen Ethik: \u201eGerecht wird der Mensch dnrch gerechtes Handeln nnd m\u00e4\u00dfig dnrch m\u00e4\u00dfiges Handeln.\u201d Er will damit unterscheiden zwischen einem Handeln im Sinne des ethischen Tatbestandes ans fremdem Antrieb nnd einem eigentlich ethischen Handeln nnd sagt nun, da\u00df das Handeln im Sinne des ethischen Tatbestandes ans fremdem Antrieb die Entwicklung eines eigentlich ethischen Handelns bef\u00f6rdern kann.\nVollzieht der Z\u00f6gling eine Handlung \u201eans fremdem Antrieb\u201d, die zum Wohl anderer dient, so ist in dieser Handlung die beste Gelegenheit gegeben zur Entwicklung von Sympathie mit den Effekten dieses Handelns. Die Er ende an einer solchen Handlung, die zum Wohl anderer dient, wird noch verst\u00e4rkt, indem das Individuum sich selbst als Erzeuger dieser Effekte wei\u00df.\n3. Die Wirknng von Lob und Tadel gestaltet sich besonders g\u00fcnstig, wenn sie von Personen ausgesprochen werden, denen gegen\u00fcber der Z\u00f6gling Ehrfnrchtsgef\u00fchle hat.\nDie Ehrfurcht ist ein psychisches Gebilde, welches anf verschiedenen Entwicklungsstufen verschiedene Komponenten hat. Sie hat nicht immer, wie \u00e4ltere P\u00e4dagogen meinen, die Komponenten Liebe und Eurcht. An die Stelle der Eurcht kann sehr bald Bewunderung treten. Von Bewunderung einem anderen gegen\u00fcber sprechen wir da, wo von seiten eines Individuums eine Sch\u00e4tzung des Bef\u00e4higtseins einer Person zu solchen Leistungen vorliegt, zu welchen die beurteilte Person in weit h\u00f6herem Grade bef\u00e4higt erscheint, als die sie wertsch\u00e4tzende Person. So sieht das Kind die Erwachsenen zu Leistungen, die es selbst sch\u00e4tzt, in weit h\u00f6herem Grade bef\u00e4higt als sich selbst.\nDie Wirkung von Lob und Tadel, die von einer Pers\u00f6nlichkeit dem Z\u00f6gling gegen\u00fcber ausgesprochen werden, welche ihm Ehrfurcht einfl\u00f6\u00dft, beruht auf verschiedenen Faktoren. Zun\u00e4chst ist klarj da\u00df in diesem Fall die Eeaktion auf das Verhalten des Z\u00f6glings","page":1642},{"file":"p1643.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\t1643\nvon demselben mehr beacht et wird, als wenii sie von irgendeinem anderen Menschen ausgeht, sodann wirkt hier der G e-danke, von einer so und so beschaffenen Pers\u00f6nlichkeit getadelt oder gelobt zu werden. Vor allem aber stellt eine solche Pers\u00f6nlichkeit f\u00fcr den Z\u00f6gling ein positives Summationszentrum von Gef\u00fchlen dar; das hat sehr gro\u00dfe Bedeutung im Kampfe der Motive: wenn da eine Handlungsweise von dem Z\u00f6gling gedacht wird als von dieser Pers\u00f6nlichkeit verurteilt bzw. gebilligt!\nLob und Tadel, von dem Erzieher ausgesprochen, werden sodann dazu beitragen, den ethischenWert Sch\u00e4tzungen den Charakter des Imperativischen zu geben.\n4. Wir sprachen, oben schon im Vor\u00fcbergehen von einer sozial bedingten ethischen Selbstachtung. Diese superponier.t sich, \u00e4hnlich wie bei den autonomen Formen ethischer Selbstachtung \u00fcber der einfachen Wertsch\u00e4tzung eines Wollens, welches in Befolgung dessen besteht, was dem Individuum als ethische Vorschrift sozial entgegentritt.\nDiese sozial bedingte ethische Selbstachtung wird noch durch folgenden Faktor verst\u00e4rkt:,wenn dem Z\u00f6gling von seiten des Erziehers, dem er Ehrfurchtsgef\u00fchle entgegenbringt, Anerkennung wegen seines ethischen Verhaltens zuteil wird, so entsteht dabei das freudige Bewu\u00dftsein der ethischen Leistungsf\u00e4higkeit innerhalb bestimmter Grenzen. Ein \u00e4hnlicher Effekt entsteht, wenn das der Erziehung entwachsene Individuum charaktervolles einzelnes Verhalten oder c h a-raktervolle allgemeine ethische Bestrebungen sich zum Bewu\u00dftsein bringt. Das kann geschehen ohne \u201eSelbstbespiegelungV!\n4. Von sozial und individual bedingten ethischen Wertsch\u00e4tzungen abh\u00e4ngige Erscheinungen.\nEthische Selbstachtung als Motiv.des Handelns.\t;\nVon sozial und autonom bedingter ethi-s c h er Selbstachtung abh\u00e4ngige Achtung: vor dem Sittengesetz.\t?\n1. Autonom und sozial bedingte ethische Selbstachtung ist uns bisher als Wirkung im ethischen Geschehen aufgetreten. Fa\u00dft man die ethische Selbstachtung als Wirkung auf, so liegt; da ethische Selbstachtung als Motiv des Wollens im ethischen Leben eine gro\u00dfe Bolle spielt, auf Grund dieses sich induktiv daE-","page":1643},{"file":"p1644.txt","language":"de","ocr_de":"1644\t' V\"\t~Gr. \u2018St\u00f6rring ;\t\"\t\"*\nbietenden Tatbestandes, die Frage nabe, welche Eolle die ethische Selbstachtung als Motiv des Wollens spielt.\nAls Motiv des Wollens tritt die ethische Selbstachtung dann auf, wenn ihre Behauptung zum letzten Zweck ( = Motiv) eines Wollens gemacht wird, indem man sich in einem gegebenen Fall sagt, da\u00df die Realisierung eines bestimmten Wollens n\u00f6tig ist, um seine ethische Selbstaehtung zu behaupten, und man nun, um diese Behauptung zustande zu bringen, dies bestimmte Wollen vollzieht.\nUnter dem Willen des Individuums, seine Selbstachtung zu behaupten, verstehe ich den Willen, die Bedingungen in sich realisiert halten, von denen ethische Selbstachtung abh\u00e4ngt.\nSo entwickelt sich eine neue Art von Wertsch\u00e4tzen und Wollen, indem etwas, was als Wirkung im psychischen Leben auf getreten ist, hier zum Motiv des Wollens gemacht wird!\nAuf diesen ethisch eminent wichtigen Tatbestand l\u00e4\u00dft sich nun das Sympathieprinzip anwenden: der Betrachter kann mit einem solchen Wollen bei anderen sympathisieren.\nSchlie\u00dft sich aber an den Gedanken, die Entwicklung ethischer Selbstachtung in anderen zu f\u00f6rdern, in gegebener konkreter Situation Sympathielust an, so sind damit die Bedingungenrealisiert, zur Entwicklung eines entsprechenden Strebens zur F\u00f6rderung dieser Entwicklung.\nAn den Gedanken, die Entwicklung ethischer Selbstachtung in anderen zu sch\u00e4digen, werden sich dann st\u00e4rkste Unlustgef\u00fchle anschlie\u00dfen, die in letzter Linie von der Wertsch\u00e4tzung der Behauptung eigener ethischer Selbstachtung abh\u00e4ngig sind. Ein Wollen, durch das absichtlich die Entwicklung ethischer Selbstachtung in anderen gesch\u00e4digt wird, erf\u00e4hrt jetzt die allersch\u00e4rfste ethische Verwerfung. Mit ihm ist gar nicht zu vergleichen ein Wollen, durch das wissentlich etwa sinnliche Unlustgef\u00fchle zu Unrecht in anderen erzeugt werden.\nHier tritt deutlich hervor der Unterschied zwischen einfachen (niederen) und h\u00f6heren ethischen Werten und Unwerten. Diesen Tatbestand n\u00e4her zu verfolgen, ist Sache der philosophischen Ethik.\n2. Kant hat geglaubt, das autonome Pflichtbewu\u00dftsein die \u201eAchtung vor dem Sittengesetz\u201d sei ein angeborener Tatbestand, psychisch nicht weiter abzuleiten.\nTats\u00e4chlich lassen sich aber Abh\u00e4ngigkeitsbeziehungen hierf\u00fcr aufweisen1). Die Ableitung ist zugleich eine solche, da\u00df dadurch\nx) St\u00f6rring: Moralphilosophische Streitfragen. S. 122 ff; Die sittlichen Forderungen und die Frage ihrer G\u00fcltigkeit. S. 93 ff.","page":1644},{"file":"p1645.txt","language":"de","ocr_de":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\n1645\nder W\u00fcrde des autonomen Pflichtbewu\u00dftseins kein Abbruch getan wird.\nKant behauptet, da\u00df das ethische Wollen nichts mit Sympathiegef\u00fchlen zu tun habe. Einem Handeln aus blo\u00dfer Sympathie mit Lust und Leid eines Menschen kann er keine ethische Bedeutung beimessen. W\u00e4re das richtig, so h\u00e4tte die ganze ,,eud\u00e4-monistische Ethik\u201d von Sokrates bis John Stuart M\u00fcl nichts mit Ethik zu tun, dann h\u00e4tte diese Betrachtungsweise auch nicht einmal eine Seite des Ethischen richtig charakterisiert. Richtig ist aber andrerseits, da\u00df man sich auf einen Menschen, der sich nur durch Sympathiegef\u00fchle zu altruistischem Handeln bestimmen l\u00e4\u00dft, nicht so verlassen kann, als wenn jemand ohne Entwicklung von Sympathiegef\u00fchlen in einem gegebenen Fall ethisch zu handeln imstande ist. Wenn ich bei Vergebung einer Stellung mitzuwirken habe und ich mich dabei nur durch meine Sympathiegef\u00fchle leiten lie\u00dfe, so w\u00e4re wenig Garantie f\u00fcr eine gerechte Beurteilung gegeben.\nWas Kant ethisches Wollen nennt, ist eine Form h\u00f6heren ethischen Wollens. Eie ist von ihm richtig charakterisiert, allerdings nicht nach der Genesis.\nKant nennt das autonome Pflichthandeln auch ein Handeln aus blo\u00dfer V ernunft.\nEs l\u00e4\u00dft sich zeigen, da\u00df dies Handeln darauf beruht, da\u00df in der Entwicklung der Pers\u00f6nlichkeit die Urteile \u201edas und das ist ethisch verboten\u201d und \u201edas und das ist ethisch geboten\u201d zu Summationszentren ethischer Gef\u00fchlsmassen geworden sind; ich spreche hier von einem positiven und negativen Summationszentrum ethischer Gef\u00fchle. Zur Entwicklung sind diese Summationszentren der ethischen Gef\u00fchle aber gekommen unter Einwirkung ethischer Selbstachtung1).\nHier l\u00e4\u00dft sich wieder auf deduktivem Wege eine sichere Bestimmung machen. Denken wir uns eine Form ethischer Selbstachtung durch eine Handlung von uns gef\u00e4hrdet, welche dieser Form bei uns vorhandener ethischer Selbstachtung widerspricht \u2014 auch wenn es sich um eine einem anderen vielleicht nicht wichtig erscheinende Abweichung handelt\u2014, so wird diese Gef\u00e4hrdung mit ethischen Unlustgef\u00fchlen erlebt, die in ihrer Qualit\u00e4t und Intensit\u00e4t von dieser Form ethischer Selbstachtung abh\u00e4ngen. Diese Unlustgef\u00fchle finden dann aber eine \u00dcbertragung auf das hier im Bewu\u00dftsein gegebene Urteil ,,das und das ist ethisch verboten\u201d. So wird dieses Urteil im Lauf\n1) Starring: Moralph\u00fcosophisclie Streitfragen. S. 133; Hebel der sittlichen Entwicklung der Jugend. S. 155.\nAbderhalden, Handbuch der biologischen Arbeitsmethoden. Abt. VI, Teil B/II.\n106 a","page":1645},{"file":"p1646.txt","language":"de","ocr_de":"1646\nGr. St\u00f6rring: Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens\nder Zeit zu einem negativen Summationszentrum ethischer Gef\u00fchls-zust\u00e4nde.\nAnalog vollzieht sich die Entwicklung des positiven Summationszentrums ethischer Gef\u00fchle bei Handlungen, die mit einer bestimmten Form ethischer Selbstachtung \u00fcbereinstimmen. Nur da\u00df hier noch au\u00dferdem Gef\u00fchlsmassen hinzukommen aus B e-geisterung f\u00fcr das Leben ethischer Heroen und aus der T\u00e4tigkeit f\u00fcr ethisch soziale Zwecke.\n\u00dcber die Beziehung zum Sympathiehandeln ist noch zu sagen: Wenn auch das h\u00f6here ethische Wertsch\u00e4tzen sehr weit entfernt ist von einem Wertsch\u00e4tzen allein auf Grund von Sympathiegef\u00fchlen, so sind doch Sympathiegef\u00fchle, wie wir gesehen haben, an verschiedenen Stellen der Entwicklung der h\u00f6heren Formen ethischer Wertsch\u00e4tzung in st\u00e4rkster Weise beteiligt. \u2014-\nYon einer Behandlung der Methoden der Psychologie der religi\u00f6sen Gef\u00fchle habe ich hier, wo die biologischen Forschungsmethoden zur Diskussion stehen, Abstand genommen. Ich habe die religi\u00f6sen Gef\u00fchle in meiner \u201ePsychologie des menschlichen Gef\u00fchlslebens\u201d untersucht. Allerdings hat dabei die Behandlung der Methoden keine besondere Betonung erfahren.","page":1646}],"identifier":"lit39662","issued":"1935","language":"de","pages":"1125-1646","startpages":"1125","title":"Methoden der Psychologie des Gef\u00fchlslebens","type":"Book Section"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:23:38.933472+00:00"}

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