Open Access
{"created":"2022-01-31T12:34:12.748113+00:00","id":"lit4125","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Wundt, Wilhelm","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 1: 463-471","fulltext":[{"file":"p0463.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Bemerkungen \u00fcber psychische Messung.\nVon\nW. Wundt.\nIn der Sitzung der philosophisch-historischen Classe der K\u00f6nigl. Akademie der Wissenschaften zu Berlin vom 16. M\u00e4rz 1882 hat Eduard Zeller \u00bbEinige weitere Bemerkungen \u00fcber die Messung psychischer Vorg\u00e4nge \u00ab vorgetragen, welche in den Sitzungsberichten der genannten Akademie ver\u00f6ffentlicht sind. Der Verfasser sucht hierin den Inhalt seines fr\u00fcheren, dem gleichen Gegenst\u00e4nde gewidmeten Vortrages vom 3. M\u00e4rz v. J. gegen die kritischen Einw\u00e4nde zu vertheidigen, welche ich mir im letzten Hefte dieser Studien (S. 251\u2014 260) zu machen erlaubt habe. Ich kann es mir nicht versagen, auch diese neue Arbeit mit einigen Gegenbemerkungen zu begleiten, in denen ich mich \u00fcbrigens um so k\u00fcrzer fassen darf, als der geehrte Verfasser selbst jetzt den Inhalt seines fr\u00fcheren Vortrages in einer Weise erl\u00e4utert, die ich wohl als ein erfreuliches Zugest\u00e4ndniss, das er der experimentellen Psychologie macht, auffassen darf.\nZeller bemerkt n\u00e4mlich, seine Ausf\u00fchrungen \u00fcber die Messbarkeit psychischer Vorg\u00e4nge bez\u00f6gen sich nur auf die directe Messung derselben, welche ja allein im eigentlichen Sinne eine Messung genannt werden d\u00fcrfe, nicht aber auf solche Ma\u00dfbestimmungen, die erst \u00bbauf Grund von Messungen durch Schlussfolgerung und Berechnung gefunden worden sind\u00ab. Dass m\u00f6glicher Weise auf diesem letzteren, mdirecten Wege auch auf psychischem Gebiete numerische Werthe f\u00fcr die Intensit\u00e4t oder f\u00fcr die Dauer und Geschwindigkeit gewisser Vorg\u00e4nge gewonnen werden k\u00f6nnten, habe er nicht bestritten, sondern nur behauptet, niemals k\u00f6nne ein psychischer Vorgang als\ni","page":463},{"file":"p0464.txt","language":"de","ocr_de":"464\nW. Wundt.\nexacter Ma\u00df stali f\u00fcr einen andern psychischen Vorgang verwendet werden, und damit fehle also die nothwendige Bedingung einer jeden directen Messung.\nMit diesem Zugest\u00e4ndniss k\u00f6nnte nun, so scheint es, die messende Psychologie vollkommen zufrieden sein. Erinnert man sich, welche Rolle der indirecten, auf Schlussfolgerung und Rechnung gegr\u00fcndeten Messung in den exactesten Gebieten der Naturwissenschaft, wie in der Mechanik, Astronomie, Physik, zukommt, so erscheint es fast als ein alle Erwartungen \u00fcbertreffendes Loos, wenn die Psychologie gerade diesen Wissenschaften gleichgestellt wird. In der That gibt es in allen jenen Gebieten kaum e i n e Ma\u00dfbestimmung von irgend erheblicherem Interesse, die nicht unter einer sehr starken Betheiligung von Schlussfolgerung und Rechnung gewonnen worden w\u00e4re. Wenn Zeller bemerkt, in allen diesen F\u00e4llen werde der Ausdruck \u00bbMessung\u00ab nicht in seinem eigentlichen und urspr\u00fcnglichen Sinne gebraucht, so kann man das vielleicht zugehen, aber es muss dabei doch auch bemerkt werden, dass diese indirecte oder uneigentlich so zu nennende Messung darum nicht etwa unsicherer ist, sondern dass sie, sofern nur die Schlussfolgerung bindend und die Rechnung fehlerfrei ist, durchaus die n\u00e4mliche Sicherheit darbietet wie die directe Messung. Bedarf doch sogar die letztere, -wenn ihre Resultate den h\u00f6chsten Anspr\u00fcchen wissenschaftlicher Genauigkeit gen\u00fcgen sollen, einer verwickelten Combination von Schlussfolgerungen und Rechnungen, durch die man die unvermeidlichen Fehler jeder directen Messung m\u00f6glichst zu eliminiren sucht. Man kann daher geradezu sagen : die Resultate der directen Messung werden f\u00fcr sich allein im selben Ma\u00dfe ungen\u00fcgend, als die Anspr\u00fcche an die Genauigkeit der zu messenden Werthe zunehmen.\nAber freilich, mit diesem Zugest\u00e4ndniss, dass durch Rechnung und Schlussfolgerung psychologische Ma\u00dfbestimmungen m\u00f6glich seien, ist so lange nicht viel gewonnen, als man, wie dies Zeller auch in seiner neuen Abhandlung thut, die M\u00f6glichkeit jeder directen Messung psychischer Werthe an anderen psychischen Werthen bestreitet. Vielmehr erscheint jenes Zugest\u00e4ndniss nun als ein Widerspruch, da die indirecte Ma\u00dfhestimmung nothwendig \u00fcberall auf directe Messungen sich st\u00fctzen muss. Dessen ist sich allerdings auch Zeller wohl bewusst; aber er ist, wie seine Auseinandersetzung \u00fcber","page":464},{"file":"p0465.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Bemerkungen \u00fcber psychische Messung.\n465\ndas Weber\u2019sche Gesetz erkennen l\u00e4sst, der Meinung, eine directe Messung finde bei psychophysischen Versuchen nur in Bezug auf die \u00e4u\u00dferen Sinnesreize statt, nicht in Bezug auf die psychischen Effecte derselben, die Empfindungen. Dass uns \u00bbdie von zwei Reizen hervorgebrachten Empfindungen hinsichtlich ihrer St\u00e4rke sich von einander zu unterscheiden scheinen, oder dass uns in einer Reihe solcher Empfindungen die einzelnen Glieder gleich weit von einander abzuliegen scheinen, erfahren wir nicht durch Messung, sondern lediglich durch unser Selbstbewusstsein\u00ab. *) Ich gehe zu, dass wir dies durch unser Selbstbewusstsein erfahren, ich begreife aber nicht, wie wir es durch dasselbe anders erfahren sollen, als durch unmittelbare Messung einer Empfindung an der andern. Ja es ist leicht zu bemerken, dass die Bedingungen der Genauigkeit f\u00fcr diese psychische Messung die n\u00e4mlichen sind wie f\u00fcr jede beliebige Messung physischer Gr\u00f6\u00dfen. Wir entscheiden mit Sicherheit, ob eine Empfindung der andern gleich ist, w\u00e4hrend wir nicht ohne weiteres anzugeben im Stande sind, um wieviel eine st\u00e4rkere Empfindung eine schw\u00e4chere \u00fcbertrifft. Gleicherweise f\u00fchrt jede physikalische Gr\u00f6\u00dfenbestimmung auf die Messung des Gleichen am Gleichen zur\u00fcck. Wir bestimmen ein Gewicht, indem wir es durch ein anderes \u00e4quilibriren, eine L\u00e4nge, indem wir sie an einem Ma\u00dfstab von gleicher L\u00e4nge ahmessen, u. s. w. Nur das eine sind wir nicht im Stande : Empfindungswerthe \u00e4hnlich wie Gramme und Centimeter als feste Ma\u00dfeinheiten aufzubewahren ; und dies ist der Grund, aus dem wir in diesem speciellen Fall auf eine relative Gr\u00f6\u00dfensch\u00e4tzung beschr\u00e4nkt bleiben, wie sie im Web ersehen Gesetze ihren Ausdruck findet. Wenn wir dann dem letzteren eine mathematische Form geben, welche die Empfindungswerthe auf die entsprechenden Reizwerthe zur\u00fcckbezieht, so beruht das freilich auf Rechnung, aber diese Rechnung w\u00fcrde nicht m\u00f6glich sein, wenn nicht eine Reihe von Beobachtungen vorangegangen w\u00e4re, bei denen je eine Empfindung direct an einer andern gemessen wurde. Die von mir fr\u00fcher aus Anlass gewisser missverst\u00e4ndlicher Auffassungen des Weher\u2019sehen Gesetzes gemachte Bemerkung, dass sich die Empfindungen unabh\u00e4ngig von den bei ihrer Sch\u00e4tzung betheiligten Vorg\u00e4ngen der Auffassung und Vergleichung gar nicht messen lassen,\n1) A. a. O. S. 8.\nWundt, Phil. Studien. X.\n31","page":465},{"file":"p0466.txt","language":"de","ocr_de":"466\nW. Wundt.\nkommt liier gar nicht in Frage. Sie will ja nur sagen, dass \u00fcberall wo wir von Messung der Empfindungen reden, wir selbstverst\u00e4ndlich jene psychischen Vorg\u00e4nge mit hinzuzudenken haben. Die Messung h\u00f6rt aber darum nicht auf Messung zu sein, und der zu messende Vorgang bleibt ein psychischer, oh er in der Empfindung allein oder in der Apperception der Empfindung besteht.\nEbenso beruhen, wie ich glaube, die Ausf\u00fchrungen Zeller\u2019s gegen meine Behauptung, dass Au\u00dfen- wie Innenwelt aus unsern Vorstellungen bestehen und daher an und f\u00fcr sich der wechselseitigen Ma\u00dfbeziehungen nicht nothwendig entbehren m\u00fcssen, auf einem Missverst\u00e4ndnisse. Der Gedanke an das metaphysische Wesen der Dinge lag mir bei diesem Satze v\u00f6llig fern, und ich begreife schwer, wie Zeller in diesem Zusammenhang auf die Vermuthung gerathen konnte, ich wolle damit sagen, dass die Welt \u00bban sich selbst nur aus unsern Vorstellungen besteht\u00ab. Mit diesem metaphysischen Wesen der Dinge haben weder der Physiker noch der Psycholog hei ihren Messungen etwas zu thun ; beide bewegen sich hier vollst\u00e4ndig in der Welt der Vorstellungen, und darum, so meinte ich, schlie\u00dfe es durchaus keinen Widerspruch in sich, wenn die Messungen beider gelegentlich in einander eingreifen. Gegen\u00fcber diesem thats\u00e4chlichen Verh\u00e4ltniss des durchg\u00e4ngigen Zusammenhangs unserer Vorstellungen schien mir Zeller einigerma\u00dfen von der verbreiteten Fiction einer v\u00f6llig getrennten Au\u00dfen- und Innenwelt beeinflusst zu sein, wenn er in seinem fr\u00fcheren Vortrage zwischen den Ver\u00e4nderungen in der Natur und den Bewusstseinserscheinungen eine Scheidelinie zog, f\u00fcr die ihm das Kriterium der mechanischen Bewegung ma\u00dfgebend war. Wenn Zeller jetzt bemerkt, dass ihm diese Fiction ferngelegen habe, so freue ich mich dieser Uebereinstimmung um so mehr, als mir damit allerdings das haupts\u00e4chlichste Hinderniss hinwegzufallen scheint, welches der Anerkennung einer Messbarkeit psychischer Vorg\u00e4nge entgegenzustehen pflegt. Denn die weiteren Einw\u00e4nde, die der Verfasser namentlich in Bezug auf die psychologische Zeitmessung beibringt, sind tlieils, wie ich glaube, durch die Versuche selbst bereits widerlegt, theils beziehen sie sich auf Schwierigkeiten der Ausf\u00fchrung, die an und f\u00fcr sich nicht unbesiegbar sind. Dass \u00fcbrigens in dieser Beziehung die psychische Messung nicht nur bis jetzt weit zur\u00fcckgeblieben sei, sondern voraussichtlich auch in der Zukunft hinter","page":466},{"file":"p0467.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Bemerkungen \u00fcber psychische Messung.\n467\nden exacten physikalischen Wissenschaften in mancher Beziehung Zur\u00fcckbleiben werde, habe ich ausdr\u00fccklich hervorgehoben.\nAuf die Verh\u00e4ltnisse der psychischen Zeitmessung eingehend, bestreitet der Verfasser nicht, dass wir \u00bbdie Dauer einer stetig verlaufenden Reihe von psychischen Th\u00e4tigkeiten auf die uns gel\u00e4ufigen Zeitma\u00dfe zur\u00fcckf\u00fchren\u00ab k\u00f6nnen. Aber wir seien nicht im Stande, ihre Geschwindigkeit zu messen, weil es uns hier an einem genauen Ma\u00df der Geschwindigkeit fehle, wie wir ein solches hei den mechanischen Bewegungen in dem Verh\u00e4ltniss des durchlaufenen Raumes zur Zeit besitzen. Nat\u00fcrlich ist dieses Ma\u00df der Geschwindigkeit hei den psychischen Vorg\u00e4ngen nicht verwendbar, sondern es kann hei ihnen immer nur das Verh\u00e4ltniss der Zahl einer Reihe gleichartiger psychischer Acte zu der Zeit, die zu ihrem Vollzug erforderlich ist, ermittelt werden. In diesem Sinne aber, muss ich wiederholt behaupten, ist die Geschwindigkeit psychischer Vorg\u00e4nge nicht nur messbar, sondern es liegen auch Versuche zu solchen Messungen vor, wenn diese gleich noch sehr der Vervollkommnung f\u00e4hig sein m\u00f6gen, da sich ja das ganze Untersuchungsgebiet noch in seiner Kindheit befindet. Ich habe in dieser Beziehung fr\u00fcher auf die Messung der\u00fcnterscheidungs-, Wahl- und Associationszeiten hingewiesen; ich muss jetzt auf diesen Gegenstand etwas n\u00e4her eingehen, weil Zeller durch den blo\u00dfen Hinweis auf jene Versuche offenbar nicht \u00fcberzeugt worden ist.\nEine Unterscheidungszeit U gewinnen wir, wie in dem Aufsatz \u00bb\u00fcber psychologische Methoden\u00ab (S. 28 dieser Studien) auseinandergesetzt ist, aus der einfachen Reacti\u00f6nsdauer R und der Unterschei-dungsreactionsdauer Ru durch blo\u00dfe Subtraction des einfacheren vom zusammengesetzten Vorgang, U = Ru\u2014R. Ebenso die Wahlzeit W aus der mit Unterscheidung und Wahl verbundenen Reactionszeit Ruw und der blo\u00dfen Unterscheidungsreactionszeit RU1 W \u2014 Ruw \u25a0\u2014Ru ; die Associationszeit A aus der Differenz Rua \u2014Ru , u. s. w. Die Vorg\u00e4nge U, W, A sind relativ einfache psychische Acte , die in Bezug auf ihre Dauer ebenso gut wie zwei verschiedene Bewegungen mit einander vergleichbar sind. Wenn demnach der Vorgang V z. B. regelm\u00e4\u00dfig um eine bestimmte Zeit k\u00fcrzer ist als der Yorgang A, so werde ich berechtigt sein, zu behaupten, dass die Unterscheidung ein psychischer Vorgang ist, der sich schneller vollzieht als die Association. Denn ich werde nun auch offenbar in einer gegebenen Zeit\n31*","page":467},{"file":"p0468.txt","language":"de","ocr_de":"468\nW. Wundt.\neine gr\u00f6\u00dfere Zahl von Unterscheidungsacten als von Assoeiationsacten vollziehen k\u00f6nnen. Mit demselben liechte werde ich behaupten k\u00f6nnen, dass eine Unterscheidung zwischen zwei Eindr\u00fccken sich schneller vollzieht als eine solche zwischen vier oder mehr Eindr\u00fccken, u. dergl. Obgleich man es hier nicht, wie hei der Bewegung, mit einem stetigen Vorgang zu thun hat, so ist doch das angewandte Messungsverfahren ein durchaus \u00fcbereinstimmendes, insofern jedesmal die Messung der Geschwindigkeit auf zwei Z\u00e4hlungen beruht, auf einer Z\u00e4hlung der Zeit und auf einer Z\u00e4hlung des in der Zeit verlaufenden Vorgangs , dessen Geschwindigkeit bestimmt werden soll. Bei der gleichf\u00f6rmigen Bewegung messen wir die Geschwindigkeit, indem wir die Zahl der Baumeinheiten bestimmen, die in einer gewissen Zahl von Zeiteinheiten durchlaufen werden ; bei den psychischen Vorg\u00e4ngen messen wir die Geschwindigkeit, indem wir die Zahl gleichartiger Acte bestimmen, die in einer gewissen Zahl von Zeiteinheiten vollzogen werden.\nDie Werthe, die man auf diese Weise gewinnt, sind nun allerdings durch Becbnung, wenn auch durch eine sehr einfache Bech-nung, gefunden. Aber diese spielt hier keine andere Bolle als bei denjenigen indirecten physikalischen Ma\u00dfbestimmungen, denen man mit vollem Becht den n\u00e4mlichen Werth wie den directen Messungen zuschreibt. Von hypothetischen Voraussetzungen, die in die Bechnung mit aufgenommen werden, ist keine Bede. Insbesondere kommt also auch die von Zeller erw\u00e4hnte Hypothese, dass die Perception der Sinneseindr\u00fccke mit der Erregung der centralen Sinnesfl\u00e4chen unmittelbar gegeben sei, hier gar nicht in Betracht, da alle jene psychischen Zeitmessungen die einfache Beactionszeit in ihrer Totalit\u00e4t benutzen, ohne sich auf die Frage nach den zeitlichen Verh\u00e4ltnissen der sie zusammensetzenden elementareren Vorg\u00e4nge auch nur einzulassen. Dass wegen dieser unvermeidlichen Ben\u00fctzung hypothetischer Voraussetzungen die Versuche, die einfache Apperceptionszeit zu bestimmen, h\u00f6chst unsicher sind, habe ich ausdr\u00fccklich hervorgehoben *) und darum meinerseits von solchen Versuchen v\u00f6llig Umgang genommen. Wie man aber auf die oben beschriebene, denkbar einfachste Eliminationsmethode den Ausdruck eines \u00bbcomplicirten Verfahrens\u00ab an wenden kann,\n1) Physiol. Psychologie, II, S. 225 Anmerk. 4.","page":468},{"file":"p0469.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Bemerkungen \u00fcber psychische Messung.\n469\nist mir schwer verst\u00e4ndlich. Selbst das Versuchs verfahren ist ein ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig einfaches und wird nur dadurch etwas langwierig, dass die nat\u00fcrlichen Schwankungen der psychischen Vorg\u00e4nge gr\u00f6\u00dfere Beobachtungsreihen erforderlich machen, wenn man f\u00fcr die Zeit jedes Vorgangs einigerma\u00dfen zuverl\u00e4ssige Mittelwerthe gewinnen will. Aber dies ist ein Schicksal, das die experimentelle Psychologie mit allen den Gebieten naturwissenschaftlicher Beobachtung theilt, in denen die Complication der Erscheinungen oder die Schwierigkeit der Untersuchung eine H\u00e4ufung von Beobachtungen erfordert. Auch der Umstand, dass die einfache Reactionszeit gewisse physische Vorg\u00e4nge in sich schlie\u00dft, kann hier nicht geltend gemacht werden, denn diese Reactionszeit wird ja gewisserma\u00dfen nur als Beobachtungsmittel ben\u00fctzt und dann vollst\u00e4ndig eliminirt. Man k\u00f6nnte daher ebenso gut den Astronomen vorwerfen, sie seien nicht im Stande, die Zeit des Meridiandurchgangs eines Sternes wirklich zu messen, weil darin jedesmal gewisse subjective Vorg\u00e4nge, die so genannte \u00bbphysiologische Zeit\u00ab, eingeschlossen sind, welche man nachtr\u00e4glich durch Combination der Beobachtungen oder eventuell auch durch directe Bestimmung eliminiren muss.\nAuch den Einwand, welchen Zeller auf die Erscheinungen der von mir so genannten \u00bbnegativen Zeitverschiebung\u00ab gr\u00fcndet, kann ich nicht als berechtigt anerkennen. Die Existenz einer solchen Umkehrung des wirklichen Zeitverlaufs von Ereignissen, meint Zeller, \u00bbbeweist doch zur Gen\u00fcge, dass die Vorg\u00e4nge, um die es sich hier handelt, viel zu verwickelt sind, um die einfache Anwendung der psychophysischen Messungen auf die psychischen Th\u00e4tigkeiten zu erlauben\u00ab. Nun habe ich die Bedingungen, unter denen solche Zeitverschiebungen eintreten, ausf\u00fchrlich er\u00f6rtert. Es geht daraus hervor, dass sie bei den zur Bestimmung der oben genannten psychischen Zeiten gew\u00e4hlten Methoden gar nicht eintreten k\u00f6nnen; ja ich habe ausdr\u00fccklich darauf aufmerksam gemacht, dass gewisse Versuchsanordnungen vermieden werden m\u00fcssen, weil bei ihnen der Einfluss einer Zeitverschiebung nicht ganz ausgeschlossen ist.1) Hiernach hat man doch, meine ich, ebenso wenig ein Recht, die Existenz dieser Zeitverschiebungen gegen Beobachtungen geltend zu machen, bei denen sie\n1) Physiol. Psychologie II, S. 253.","page":469},{"file":"p0470.txt","language":"de","ocr_de":"470\nW. Wundt.\nnicht stattgefunden haben, als man etwa dem Astronomen, der aus Beobachtungen hei ruhiger Atmosph\u00e4re seine Refractionsformel berechnet hat, vorwerfen kann, dass diese Formel nicht g\u00fcltig sei, wenn Sturm und Gewitter die Luft ersch\u00fcttern.\nSchlie\u00dflich kann ich nicht umhin, auf eine Stelle meines vorigen Aufsatzes zur\u00fcckzukommen, in welcher der von mir hochverehrte Gelehrte zu meinem Bedauern eine Zurechtweisung zu sehen glaubt. Ich hatte darauf hingewiesen, dass Zeller, als er seine Abhandlung schrieb, mit den neueren Arbeiten \u00fcber psychische Zeitmessung, etwa seit dem Jahre 1868, nicht bekannt war. Zeller leugnet in seiner neuesten Abhandlung, der er ein eingehenderes Studium jener Arbeiten hat vorangehen lassen, diese Thatsache keineswegs, sondern er bemerkt nur, dass solche Untersuchungen f\u00fcr ihn deshalb nicht in Betracht gekommen seien, weil sie \u00fcber das Gebiet der direeten Messung, auf die sich allein seine Betrachtungen bezogen, hinausgingen, indem sie theils auf Rechnungen und Schlussfolgerungen, theils sogar auf Hypothesen sich st\u00fctzten. Ich hoffe in dem Obigen gezeigt zu haben, dass sich directe und indirecte Messung nicht in der Weise, wie es Zeller hier durchzuf\u00fchren sucht, von einander trennen lassen, da die eine mit der andern steht oder f\u00e4llt. Uebrigens aber lag mir bei jener Aeu\u00dferung nichts ferner als die Absicht eines pers\u00f6nlichen Vorwurfs. Es kam mir nur darauf an, auf das ung\u00fcnstige Verh\u00e4ltniss hinzuweisen, in welchem die Psychologie zu sonstigen Wissenschaften und insbesondere auch zu den historisch-philologischen Disciplinen der Philosophie selbst sich befindet. In der That, wenn ein Gelehrter von so anerkannter Gr\u00fcndlichkeit wie Zeller es nicht nur f\u00fcr thunlich h\u00e4lt, \u00fcber psychologische Probleme allgemeine Untersuchungen anzustellen, ohne von den concreten Arbeiten , die \u00fcber diese Probleme vorliegen, Notiz zu nehmen, sondern wenn er sich sogar noch zu einer ausdr\u00fccklichen Vertheidigung dieses Verfahrens herbeil\u00e4sst, was darf man dann von der Schaar derer erwarten , denen der Titel eines Philosophen immer noch als ein Rechtsanspruch gilt, \u00fcber Alles zu reden und Nichts gr\u00fcndlich zu wissen ? Das Eine wenigstens konnte mit ziemlicher Gewissheit als eine Folge der abf\u00e4lligen Aeu\u00dfcrungen eines Mannes wie Zeller vorausgesehen werden, dass alle diejenigen, die der experimentellen Psychologie abhold sind, weil sie ihnen unbequem ist, eifrig bem\u00fcht sein w\u00fcrden,","page":470},{"file":"p0471.txt","language":"de","ocr_de":"Weitere Bemerkungen \u00fcber psychische Messung.\n471\ndem Urtheil einer mit Hecht so angesehenen Autorit\u00e4t ein entscheidendes Gewicht beizumessen. Ich meine, in Anbetracht solcher Umst\u00e4nde kann man es denjenigen, welche sich aus den von Zeller besprochenen Untersuchungen eine Lebensaufgabe gemacht haben, nicht gar so \u00fcbel nehmen, wenn sie nicht nur f\u00fcr ihre Arbeit ein-treten, sondern wenn sie nebenbei noch in bescheidenster Weise dem Wunsche Raum geben, es m\u00f6chte k\u00fcnftig auch in den nicht-historischen Theilen der Philosophie die sonst herrschende Sitte allm\u00e4lig zur Gewohnheit werden, dass man sich, ehe man allgemeine Fragen er\u00f6rtert, zuvor mit den einschlagenden speciellen Untersuchungen vertraut macht.","page":471}],"identifier":"lit4125","issued":"1883","language":"de","pages":"463-471","startpages":"463","title":"Weitere Bemerkungen \u00fcber psychische Messung","type":"Journal Article","volume":"1"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:34:12.748118+00:00"}