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{"created":"2022-01-31T14:28:56.803568+00:00","id":"lit4134","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"K\u00f6rner, Reinhold","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 2: 194-265","fulltext":[{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\nVon\nDr. Reinliold K\u00f6rner.\nEinleitung1).\nJedes wissenschaftliche System repr\u00e4sentirt eine nach logischen Gesetzen geregelte Gesammt\u00fchersicht \u00fcber eine Mannigfaltigkeit als zusammengeh\u00f6rig betrachteter Einzelobjecte. Diese sind darin nach\n1) Als literarische Hilfsmittel wurden f\u00fcr die vorliegende Abhandlung benutst :\nW. Wundt, Logik, Bd. 2, Cap. 1 u. 2 (1883).\nH. Lotze, Logik (1874).\nCh. Sigwart, Logik, 2 Bde. (1873\u20141878).\nV. Carus, Geschichte der Zoologie (1872).\nJ. Sachs, Geschichte der Botanik (1875).\nLinn\u00e9, Systema naturae, 13. Aufl. (1788).\n----, Philosophia botanica (1819).\n----, Classes plantarum (1738).\nA. L. de Jussieu, Genera plantarum secundum ordines naturales disposita (1791).\nA. P. De Candolle, Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire de la botanique ou exposition des principes de la classification naturelle et de l\u2019art d\u2019\u00e9crire et d\u2019\u00e9tudier les v\u00e9g\u00e9taux (1819).\n-----, Essai sur les propri\u00e9t\u00e9s m\u00e9dicales des plantes, compar\u00e9es avec leurs formes\next\u00e9rieures et leur classification naturelle (1894).\nCuvier, Tableau \u00e9l\u00e9mentaire de l\u2019histoire naturelle des animaux (1798).\n----, Le\u00e7ons d\u2019anatomie compar\u00e9e (1805).\n-----, Sur un nouveau rapprochement \u00e0 \u00e9tablir entre les classes qui composent le\nr\u00e8gne animal. Annales du Mus\u00e9um d\u2019histoire naturelle, Vol. 19, p. 73\u2014 84 (1812).\n----, Le r\u00e8gne animal distribu\u00e9 d\u2019apr\u00e8s son organisation, 5 Bde. 2. Aufl. (1829).\nL. Agassiz, Essay on classification (1859).\n----, Methods of study in natural history (1863).","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n195\n\u00e4u\u00dferen oder inneren Beziehungen gewissen Allgemeinbegriffen eingeordnet, welche, in bestimmten Verh\u00e4ltnissen der Ueber-, Unter-und Nebenordnung zu einander stehend, die Bausteine des systematischen Begriffsgeb\u00e4udes darstellen. Am complicirtesten gestalten sich wegen der au\u00dferordentlich reichen F\u00fclle und Verschiedenartigkeit der darunter befassten Objecte die Systeme der organischen Naturk\u00f6rper. Die Allgemeinhegriffe sind hier nicht nur ungemein zahlreich, sondern ihre vielfach verschiedene Weite bedingt auch eine ausgepr\u00e4gte Rangordnung derselben, welche in der Stufenleiter der systematischen Kategorien ihren Ausdruck findet, deren Hauptsprossen heutzutage der Reihe nach als Art, Gattung, Familie, Ordnung, Classe, Typus, Reich bezeichnet werden. Diese gesetzm\u00e4\u00dfige Bildung des formalen Schemas ist aber sowohl in der Natur der Objecte als auch in der Eigenth\u00fcmlichkeit des menschlichen Geistes begr\u00fcndet. Denn jedes System ist das Product zweier grundverschiedener Factoren, eines objective^ des empirisch gegebenen Materiales, und eines subjectiven, des logischen Denkens. Die Form des Systems ist das ausschlie\u00dfliche Erzeugniss des letzteren, d. h. seiner Grundoperationen: Urtheil, Schluss und Begriffsbildung; sie ist jedoch in jeder Beziehung an den objectiven Inhalt gebunden, w\u00e4re ohne diesen nie entstanden, und steht und f\u00e4llt mit ihm.\nDie bestimmte Art und Weise nun, wie die logischen Th\u00e4tigkei-ten des Geistes das empirische Material f\u00fcr den Aufbau des Syst\u00e8mes verwerthen, findet ihren Ausdruck in den Classificationsmethoden. Vom logischen Gesichtspunkt aus gibt es deren verschiedene: nach den zu classificirenden Objecten aber und nebenbei auch nach dem Zwecke der Classification richtet es sich, welches Verfahren in dem jeweiligen Falle eingeschlagen werden kann oder muss. Hiernach haben die folgenden Untersuchungen erstens die f\u00fcr die Organismen im besonderen anwendbaren Classificationsme-\nDarwin, Ueber die Entstehung der Arten durch nat\u00fcrliche Zuchtwahl, Ueber-setzung von Carus, 6. Aufl. (1876).\nHaeckel, Generelle Morphologie, 2 Bde. (1866).\nK. Leuckart, Ueber den Polymorphismus der Individuen, oder die Erscheinungen der Arbeitstheilung in der Natur (1851).\nH. Leuckarti decani eommentatio \u00bbde zoophytorum et historia et dignitate systematica\u00ab (1873).\nA. Villot, Classification du r\u00e8gne animal (1877).\n13*","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nReinhold K\u00f6rner.\nthoden, und zweitens das Verh\u00e4ltniss des systematischen Begriffsgeb\u00e4udes zu diesem objectiven Inhalt zu ihrem Gegenst\u00e4nde.\nI. Die Methoden der Classification.\nBei jedem methodischen Classificationsverfahren sind zun\u00e4chst gewisse Gesichtspunkte festzustellen, nach denen die Anordnung der Objecte erfolgen soll, oder es sind bestimmte Eintheilungsgriin.de der Einthpilung zu Grunde zu legen. Diese aber m\u00fcssen, sofern die Classification \u00fcberhaupt wissenschaftlichen Werth besitzen, der Ausdruck wirklicher Eigenschaften und Beziehungen der Objecte sein soll, nothwendig inh\u00e4rirende Merkmale der Objecte sein und d\u00fcrfen nicht als ihnen fremd von au\u00dfen an sie herangebracht werden. Dies ist ein ebenso unwiderlegliches als wichtiges logisches Princip. Denn es gilt, eine den Objecten angepasste Form zu schaffen, nicht aber die Objecte in einer nach fremden Principien gefertigten Form unterzubringen. In der Systematik der Organismen ist indessen trotz der Evidenz dieses Grundsatzes mannigfach gegen denselben gefehlt worden, und zwar nicht nur in Zeiten, wo man noch nicht vom wissenschaftlichen Selbstwerth des Syst\u00e8mes \u00fcberzeugt war, sondern in neuester Zeit noch, bei der ausgesprochenen Absicht der betreffenden Autoren, wissenschaftlich werthvolle Systeme zu schaffen. Die nen-nenswerthesten solch falscher Eintheilungsprincipieri sind: die alphabetische Reihenfolge, die Beziehungen der Organismen zum Menschen oder zur Au\u00dfenwelt, bestimmte Zahlenverh\u00e4ltnisse und \u00e4u\u00dfere Analogien. Die Anordnung nach dem Alphabet macht die zuf\u00e4llige Reihenfolge der Buchstaben ma\u00dfgebend f\u00fcr die Reihenfolge der zuf\u00e4lligen Bezeichnungen der Objecte und ist eigentlich ein Zeichen des Mangels eines jeden wissenschaftlichen Eintheilungsprincipes. Die Anordnung nach den Beziehungen, in welche der Mensch die Organismen zu sich gesetzt hat, kn\u00fcpft zwar vielfach an Eigenth\u00fcmlichkeiten des Baues der organischen Wesen an, vernachl\u00e4ssigt aber die Bedeutung dieser Charaktere f\u00fcr die letzteren selbst. Anordnungen der Organismen nach ihren Beziehungen zur Au\u00dfenwelt begegnet man vor allem in den Einthei-lungen der Thiere nach dem Medium. So hei PI in ins im Alterthum.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n197\nTitius in der Neuzeit und noch gegenw\u00e4rtig in der Gruppe der \u00bbEn-tozoen\u00ab. Zwar ist das Verli\u00e4ltniss des Organismus zur Au\u00dfenwelt kein k\u00fcnstlich gesetztes, sondern ein rein nat\u00fcrliches, doch aber ein lediglich accidentelles, und eine Eintheilung, welche zuf\u00e4llige Beziehungen zu Grunde legt, denen sich die typisch verschiedensten Wesen anzupassen verm\u00f6gen, ist daher logisch und wissenschaftlich durchaus unhaltbar.\nDie genannten drei Priucipien sind \u00fcbrigens im Grunde nichts als Mittel bequemer Anordnung gewesen. Dagegen ist das vierte (Zahlenverh\u00e4ltnisse und \u00e4u\u00dfere Analogien) zur Grundlage wirklicher Systeme gemacht worden durch die Naturphilosophen der ersten De-cennien des 19. Jahrhunderts. Diese suchten die Gliederungen nach bestimmten numerischen Verh\u00e4ltnissen durchzuf\u00fchren, indem z. B. Oken die 3, Goldfu\u00df die 4, Kaup und Mac Leay die 5 als Grundzahl w\u00e4hlten. Dabei spielen zugleich Analogien der wunderlichsten Art eine gro\u00dfe Bolle: Oken und Goldfu\u00df erblicken in den Gruppen des Thierreichs den auseinander gelegten Menschenleib, Mac Leay ordnet dieselben nach \u00bbcircul\u00e4ren Progressionen\u00ab u. der gl.\nWenn auch unverkennbar f\u00fcr die Annahme solcher numerischen Verh\u00e4ltnisse und Analogien gewisse Thatsachen als objective Grundlage sich constatiren lassen, so sind diese doch nur der Ansto\u00df zu associativen Gedankenreihen gewesen, die in ihrem Verlauf, jeden festen Boden verlassend, zu reinen Hirngespinnsten sich gestalteten. Ein so erzieltes \u00e4u\u00dferliches Gleichma\u00df erweckt zwar leicht den Schein logischer Vollkommenheit, wird sich aber stets mit der Natur der Objecte in Widerspruch setzen m\u00fcssen. Daher sind auch die systematischen Zerrbilder der naturphilosophischen Schule nur dazu angethan, die v\u00f6llige Unhaltbarkeit von Classificationen zu erweisen, welche sich auf rein willk\u00fcrliche, den Objecten fremde Principien gr\u00fcnden.\nWenn nun ein logisch richtiges Classificationsverfahren auf die Merkmale der Objecte selbst sich st\u00fctzen muss, so ist damit als Voraussetzung desselben eine Analyse des Merkmalcomplexes der zu classificirenden Objecte nebst einer begrifflichen Fixirung der Merkmale theoretisch mit Nothwendigkeit gefordert. Denn ein Erkennen der Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten zweier Organismen in ihrer Gesammtheit ist nur m\u00f6glich durch ein Vergleichen der sie zusammensetzenden Theile. Soll dies aber ein bewusstes sein,","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nReinhold K\u00f6rner.\nso bedarf es dazu der sicheren Kenntniss der einzelnen Merkmale, die wiederum nur mit Hilfe einer allgemeingiiltigen begrifflichen Fixirung, einer wissenschaftlichen Terminologie, m\u00f6glich ist. Diese kann freilich in Wahrheit erst ein Erzeugnis der reiferen Wissenschaft sein.\nLinn\u00e9 hat, wie f\u00fcr vieles andere, so auch hierf\u00fcr den sicheren Grund gelegt, indem er durch Sch\u00f6pfung einer das ganze Gebiet der Natur umfassenden Kunstsprache an Stelle der ungenauen und schwankenden Bezeichnungen der Umgangssprache dieser ungemein schwierigen Aufgabe in einer f\u00fcr seine Zeit bewunderungsw\u00fcrdigen Weise gerecht wurde. Beim Studium seiner Werke staunt man \u00fcber den lieichthum der von ihm gebrauchten Kunstw\u00f6rter und \u00fcber die Ausdauer, mit welcher er die Terminologie aller Theile der Organismen durch alle Abtheilungen des Systems hindurch feststellte. Dass Fortschritt und Vertiefung der Anatomie seit jener Zeit vieles davon f\u00fcr die Gegenwart veraltet erscheinen l\u00e4sst, wird kein Unparteiischer ihm zum schm\u00e4lernden Vorwurf machen wollen.\nAuf dieser logisch geforderten analytischen Vorarbeit, die aber nach dem Stande der Wissenschaften zu verschiedenen Zeiten eine mehr oder weniger vollkommne sein musste, bauen sich theoretisch zwei allgemeine Classificationsmethoden auf, eine vorwiegend analytische, durch welche das Gesammtgebiet nach gewissen a priori als Eintheilungsgr\u00fcnde festgestellten Objectsmerkmalen analytisch in Ober- und Unterabtheilungen gegliedert wird, und eine vorwiegend synthetische, nach welcher die einzelnen Objecte auf Grund des gesammten Merkmalbestandes zu Allgemeinbegriffen h\u00f6heren und niederen Grades an der Hand des nat\u00fcrlichen Processes der Abstraction zusammengefasst werden.\nIn der Praxis sind beide Methoden nie mit theoretischer Reinheit aufgetreten, fast \u00fcberall vielmehr in wechselseitiger Verbindung, doch so, dass sich stets ein deutliches Uebergewicht des einen oder anderen Verfahrens erkennen l\u00e4sst. Ueberwiegt die erste Methode, so pflegt man das System als \u00bbk\u00fcnstliches\u00ab, \u00fcberwiegt die zweite, als \u00bbnat\u00fcrliches\u00ab zu bezeichnen.\nMeinen weiteren Er\u00f6rterungen werde ich indessen nicht diese, sondern eine ungleich tiefere und bedeutungsvollere Eintheilung der Methoden zu Grunde legen, wie sie W. Wundt in dem soeben ver-","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n199\n\u00f6ffentlichten zweiten Band seiner \u00bbLogik\u00ab durchf\u00fchrt, deren Correctur-bogen mir durch die G\u00fcte des Autors zur Einsicht Vorlagen. Diese Eintheilung betont vor allem und gr\u00fcndet sich auf die Beachtung oder Nichtbeachtung der Beziehungen der Objecte und die Auffassung und Deutung der erkannten. Sie ist um so werthvoller, als sie zugleich im allgemeinen die drei auf einander folgenden Entwicklungsstufen der Systematik in den Anschauungs- wie in den Erfahrungswissenschaften bezeichnet. Diese drei Methoden sind die descriptive, die genetische und die mathematisch-analytische Methode.\nIm folgenden nun werde ich dieselben, besonders die beiden ersten, etwas eingehender er\u00f6rtern, in dem Sinne, dass, w\u00e4hrend sie von Wundt mehr generell behandelt sind, von mir die Darlegung ihrer speciellen Bedeutung f\u00fcr die Systematik der Organismen versucht werden soll. Dazu ist ein Eingehen auf die Systeme \u00e4lterer und neuerer Autoren unerl\u00e4sslich. Die F\u00fclle des Stoffes aber gebietet eine Auswahl, sodass vorwiegend nur die Hauptsysteme werden inBetracht kommen k\u00f6nnen. Da jedoch die Arbeiten eines Linn\u00e9, A. L. de Jussieu, A. P. De Candolle, Cuvier, L. Agassiz, Darwin und Hackel s\u00e4mmtliche leitenden Principien enthalten, so wird diese Beschr\u00e4nkung des Stoffes nicht zur Unvollst\u00e4ndigkeit f\u00fchren.\n1. Die descriptive Methode.\nSie ist dadurch characterisirt, dass sie die nat\u00fcrlichen Beziehungen der Merkmale und Objecte, sei es aus \u00fcnkenntniss ihrer Existenz, sei es aus bewusster Absicht, in den Hintergrund stellt oder g\u00e4nzlich igno-rirt. Die Merkmale sind demnach bei ihr von selbst\u00e4ndigem und theoretisch gleichem Werthe und verhalten sich unter einander und zum Objectsganzen wie die coordinirten Summanden einer Summe. Weil aber die Aufz\u00e4hlung der Merkmale ohne R\u00fccksicht auf ihre Beziehungen das eigentliche Wesen der Beschreibung ausmacht, so wird diese Methode als die descriptive bezeichnet. Sie kam bei allen systematischen Darstellungen naturgem\u00e4\u00df am fr\u00fchesten zur Anwendung und ist bei der Classification der Organismen selbst heutzutage noch keineswegs v\u00f6llig \u00fcberwunden.","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nReinhold K\u00f6rner.\nObschon nun die descriptive Methode an sich einer einseitig analytischen wie synthetischen Behandlung in gleichem Ma\u00dfe zug\u00e4nglich ist, so hat doch nur die ersterc zur Aufstellung vollst\u00e4ndiger Systeme gef\u00fchrt, w\u00e4hrend nach der letzteren mehr nur systematische Gruppirungen entstanden sind. Dies r\u00fchrt daher, dass das \u00e4u\u00dferlich analytische Verfahren selbst hei gro\u00dfer Vollendung den Rahmen des descriptiven Systems niemals \u00fcberschreitet, w\u00e4hrend das synthetische, je vollkommener es wird, um so mehr zu genetischen Systemen f\u00fchren muss, sodass in diesem Falle die Grenze zwischen descriptiven und genetischen Systemen schwer zu ziehen ist. Ich charakterisire deshalb hier vorzugsweise die analytisch-descriptive Methode.\nIhre Eigenth\u00fcmlichkeit besteht sowohl in dem einseitig g 1 i e -derndenV erfahren als anch in dem U eher ge wicht des logisch -formalen Factors gegen den empirischen. Dies hat darin seinen Grund, dass die Aufstellung auf diese Methode sich st\u00fctzender Systeme ebenso dem Bed\u00fcrfhiss des logischen Denkens nach einer vernunftgem\u00e4\u00dfen , klaren und \u00fcbersichtlichen Anordnung der organischen Wesen, als dem praktischen Bed\u00fcrfniss entspringt, durch ein sicheres und m\u00f6glichst bequemes Mittel Namen und Charakter irgend eines vor Augen kommenden Naturk\u00f6rpers trotz der unabsehbaren F\u00fclle derselben auffinden zu k\u00f6nnen. Beiden Bed\u00fcrfnissen aber wird Rechnung getragen durch eine nach einfachen, bestimmt hervortretenden und leicht wahrnehmbaren Merkmalen vollzogene Gliederung des ein-zutheilenden Gebietes in Gruppen engeren und weiteren Umfanges, die zu einander im logischen Verh\u00e4ltniss der Coordination und Subordination stehen. Jedes zugeh\u00f6rige Object, Thier oder Pflanze, wird dann unter einen niedersten Allgemeinbegriff und mit diesem Unter die ihm \u00fcbergeordneten Begriffe fallen und um so leichter subsumirt werden k\u00f6nnen, je sicherer und hervorstechender die als Theilungs-gr\u00fcnde gew\u00e4hlten Merkmale sind.\nDen Haupteintheilungsgrund hat theoretisch ein allen Objecten gemeinsames Merkmal zu bilden, das an jeder Art in besonderen Mo-dificationen hervortritt. An diesem sind dann einige wenige Haupt-modi seines Auftretens zu suchen, nach denen bestimmte Oberabtheilungen sich ergeben. Die weitere Theilung dieser wird sich aber nur selten auf die Unterschiede eines einzigen Merkmals gr\u00fcnden k\u00f6nnen ; es wird sich sogar empfehlen, dieselbe nach den jedesmaligen f\u00fcr die","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n201\ngewonnenen Gruppen besonders characteristisehen Merkmalen vorzu-nehmen. Mit haupts\u00e4chlicher Hilfe der specificirenden Determination schreitet so das Theilungsverfahren bis zu den Arten und Variet\u00e4ten vorw\u00e4rts. F\u00fcr die Wahl der Merkmale sind dabei vorwiegend logische und praktische Gesichtspunkte ma\u00dfgebend; ihre Bedeutung f\u00fcr die Objecte selbst und ihre wechselseitigen Beziehungen treten mehr oder weniger vollst\u00e4ndig in den Hintergrund.\nDie einfachste und wichtigste Form der analytischen Gliederung ist die Dichotomie, welche auf dem contr\u00e4ren oder contradicto-rischen Gegensatz der Merkmale fu\u00dft. Sie ist vielfach und schon von Aristoteles als unstatthaft bezeichnet worden, haupts\u00e4chlich wohl wegen des \u00fcberaus h\u00e4ufigen Auftretens negativer Merkmale f\u00fcr das eine der beiden Theilungsglieder.\nAllerdings wird ein Object, welches ja immer eine Verbindung positiver Merkmale darstellt, durch den Mangel eines Merkmals mit logischer Berechtigung nur dann charakterisirt werden k\u00f6nnen, wenn derselbe das kurze stellvertretende Kennzeichen einer ganzen Reihe unterscheidender positiver Charaktere ist. Es kann jedoch f\u00fcr ein Eintheilungsverfahren von vorwiegend praktischem Endzweck die Benutzung der Negation meiner Meinung nach in jedem Falle ohne gro\u00dfe logische Bedenken gestattet werden, sobald sie nur als n\u00fctzlich sich erweist und jedes Missverst\u00e4ndniss ausschlie\u00dft. F\u00fcr das genetische Verfahren hingegen hat die Dichotomie und haben Poly-tomien bestimmter Art nur dann Berechtigung, wenn sie nicht der Ausdruck einer k\u00fcnstlichen Spaltung, sondern ein mittelbares Ergebnis der Synthese sind.\nAusgedehnte Anwendung findet die Dichotomie neben einfachen Polytomien bei der Anfertigung sogenannter Bestimmungstabellen. Diese pflegt man freilich nicht mit dem Namen analytischer Systeme zu helegen, in Wahrheit aber sind sie solche, und zwar die reinsten und besten, weil sie, von der Darstellung der nat\u00fcrlichen Verwandtschaft der Organismen v\u00f6llig absehend, lediglich dem praktischen Zweck des Bestimmens dienen. Ohne Anspruch auf selbst\u00e4ndigen Werth erheben zu k\u00f6nnen, sind sie doch \u00e4u\u00dferst praktische Erg\u00e4nzungen anderer Systeme, zu denen sie den leicht zu handhabenden \u00bbSchl\u00fcssel\u00ab darstellen, und geben zugleich einen vortrefflichen Einblick in das Wesen der einseitig formalen Methode.","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nReinhold K\u00f6rner.\nNicht unerw\u00e4hnt darf au\u00dferdem hleiben, dass, so sehr auch im descriptiven Systeme das logische Denken als die Objecte beherrschend auftreten mag, dasselbe doch die Grenze der Erfahrung selbst nie \u00fcberschreiten darf. Es hat nicht die geringste Berechtigung, sich in freier Combination der als Eintheilungsgriinde gew\u00e4hlten Merkmale zu ergehen ; nicht die mathematisch m\u00f6glichen, sondern nur die empirisch gegebenen Combinationen, nicht der logische, sondern allein der empirische Umfang der Begriffe haben G\u00fcltigkeit. Darin liegt zugleich die Absurdit\u00e4t des Verfahrens ausgesprochen, zufolge dessen z. B. Goldfu\u00df und Klein in ihren Systemen Kaum lie\u00dfen f\u00fcr noch aufzufindende Formen, die durch bestimmte logisch m\u00f6gliche, in der Natur aber nicht realisirte Merkmalscombinationen gekennzeichnet w\u00fcrden. Nicht unpassend glaube ich hierbei an die W\u00f6rterb\u00fccher zu erinnern. Bei diesen liefert die unver\u00e4nderliche Keihenfolge der Buchstaben des Alphabets den ersten und alle weiteren Eintheilungsgriinde ; aber nur ein Theil der logisch m\u00f6glichen Combinationen ist erfahrungsm\u00e4\u00dfig in den W\u00f6rtern der Sprache gegeben. Hier verlangt in gleicher Weise wie bei der Systematik der Organismen der empirische Factor sein wohlbegr\u00fcndetes Recht.\nKommt es nun darauf an, ein Urtheil zu f\u00e4llen \u00fcber die Vorz\u00fcge und Schw\u00e4chen eines descriptiv-analytischen Systems der Organismen, so wird ein solches in seiner Methode thats\u00e4chlich vollendetes System zun\u00e4chst den doppelten Vorzug besitzen, dass es sowohl die logisch-theoretische Forderung eines \u00fcbersichtlichen Fachwerkes, eines auf die Grundoperationen des logischen Denkens sich st\u00fctzenden formalen Schemas f\u00fcr eine Summe verschiedenartiger realer Einheiten durchaus befriedigt, wie auch dem praktischen Bediirfniss einer leichten und sicheren Subsumtion jedes vor Augen kommenden Objectes vorz\u00fcglich entspricht, ja seihst eine Einschaltung neu entdeckter Formen ohne Schwierigkeit gestattet. Diesen unbestreitbaren Vorz\u00fcgen gegen\u00fcber treten aber die gro\u00dfen Schw\u00e4chen zu Tage, wenn man nach seiner absoluten logischen und wissenschaftlichen Bedeutung fragt. Dabei muss man sich \u00fcbrigens h\u00fcten, die logischformale Vollendung des systematischen Geb\u00e4udes mit seinem logischen Werthe zu verwechseln ; denn nur um den letzteren handelt es. sich jetzt. Logisch gerechtfertigt ist das Verfahren, wenn ihm das Bewusstsein zu Grunde liegt, dadurch nichts als ein praktisches Hilfsmittel","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Die logische\u00bb Grundlagen der Systematik der Organismen.\t203\noder einen Ersatz f\u00fcr die noch nicht m\u00f6gliche Darstellung der nat\u00fcrlichen Beziehungen zu schaffen. Ein durchaus unlogisches hingegen muss es genannt werden, wenn es zur Darstellung der nat\u00fcrlichen Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen dienen soll, wof\u00fcr es in Wahrheit v\u00f6llig unzul\u00e4nglich ist. Deshalb kann ihm aber auch eine absolute wissenschaftliche Bedeutung nicht zugesprochen werden. Linn\u00e9 war der erste, welcher sich dieser Unzul\u00e4nglichkeit und des Unterschiedes der \u00bbk\u00fcnstlichen\u00ab und \u00bbnat\u00fcrlichen\u00ab Methode klar bewusst wurde. Sein analytisches Pflanzensystem hat, wie er wiederholt versichert, lediglich jenen praktischen Zweck und ist deshalb auch in seiner Methode reiner und vollendeter als die \u00e4hnlichen Systeme seiner Vorg\u00e4nger und Zeitgenossen. Aus diesem Grunde w\u00e4hle ich dasselbe, um an ihm als dem repr\u00e4sentativen Beispiele f\u00fcr alle \u00fcbrigen seiner Art sowohl die Reinheit und Vollendung der logischen Methode zu pr\u00fcfen, als auf die Widerspr\u00fcche, welche sich dabei zwischen dieser Methode und der Natur der Objecte herausstellen mussten, hinzuweisen.\nEine Eigenth\u00fcmlichkeit des Linn\u00e9ischen Pflanzensystems gibt sich zun\u00e4chst darin zu erkennen, dass die als \u00bbClassen\u00ab bezeich-neten obersten Abtheilungen zwar die ersten durch besondere Benennung fhdrten, nicht aber die durch die analytische Gliederung zuerst sich ergebenden Abtheilungen sind, da ihrer Bildung wiederholte Dichotomien vorhergehen, welche Linn\u00e9 in dem analytischen Schl\u00fcssel des Systems genau angibt *) : Das Pflanzenreich zerf\u00e4llt danach zun\u00e4chst in Pflanzen mit erkennbaren und mit verborgenen Bl\u00fcthen ; jene in solche mit Zwitterbl\u00fcthen und mit eingeschlechtigen Bl\u00fcthen ; im ersteren Falle sind die Staubgef\u00e4\u00dfe entweder unter sich frei oder unter einander oder mit dem Pistill verwachsen ; die freien Staubgef\u00e4\u00dfe aber sind bald von gleicher, bald von constant ungleicher L\u00e4nge, die verwachsenen bald mit den Staubf\u00e4den, bald mit den Staubbeuteln unter sich verbunden. Auf diese Dichotomien folgt in allen F\u00e4llen nach bestimmten weiteren Theilungsgriinden die polytomische Gliederung in Classen. Dieselben stehen aber offenbar durchaus nicht auf gemeinsamer Stufe der Gliederung, da ihnen eine gr\u00f6\u00dfere oder geringere Zahl von Dichotomien vorausgeht. So erfolgt die Fixirung\n1) Classes plantarum p. 445.","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nReinhold K\u00f6rner.\nder ersten 13 Classen nach vier, die der 16.\u201420. nach drei, die der 21.\u201423. nach nur zwei Dichotomien, und die 24. ist sogar das unmittelbare Product der ersten Zweitheilung.\n1st dieses Verfahren auch durch sachliche Gr\u00fcnde wohl gerechtfertigt, so ist cs doch, mit streng logischem Ma\u00dfstabe gemessen, f\u00fcr fehlerhaft zu erkl\u00e4ren. Seine nat\u00fcrliche Folge ist das wiederholte Springen des Theilungsgrundes in der Reihe der Classen. Denn es ist durchaus unrichtig und oberfl\u00e4chlich, wenn man, wie oftmals, schlechthin behauptet, Linn\u00e9 habe den ersten Eintheilungs-grund von den Staubgef\u00e4\u00dfen, den zweiten von den Stempeln genommen. Vielmehr gewahrt man, zun\u00e4chst die Classen der Reihe nach \u00fcberblickend, dass der 1.\u201420. Zahl, L\u00e4nge, Insertion, Freiheit oder gegenseitige Verwachsung der Staubgef\u00e4\u00dfe, der 21.\u201423. die Verthei-lung der Bl\u00fcthen and der 24. der Mangel derselben zu Grunde gelegt sind.\nMan k\u00f6nnte wohl meinen, es h\u00e4tte sich \u2014 z. B. in der Zahl der Staubgef\u00e4\u00dfe \u2014 ein einheitlicherer Einthcilungsgrund finden lassen m\u00fcssen. Damit w\u00e4re indessen den Forderungen der exacten Logik zwar Gen\u00fcge geleistet, dem praktischen Werthe des Systems jedoch wenig gedient gewesen. Es ist kein geringes Verdienst Linn\u00e9\u2019s, der logischen Pedanterie ausgewichen und infolge dessen zu praktisch und wissenschaftlich werthvollen Abtheilungen gelangt zu sein.\nDer Natur als F\u00fchrerin folgend, stellte er die so einheitlich und selbst\u00e4ndig erscheinenden Gruppen der Labiaten und Cruciferen nicht in die 4. und 6. Classe, denen sie der Zahl der Staubgef\u00e4\u00dfe nach zugetheilt werden m\u00fcssten, sondern schuf, die constant verschiedene L\u00e4nge der Staubgef\u00e4\u00dfe als zugleich praktisch vortheilhaftes, weil sicheres Merkmal herausgreifend, besondere Classen f\u00fcr dieselben. Eben so richtig trennte er, unbek\u00fcmmert um die Zahl, die Pflanzen mit verwachsenen Staubgef\u00e4\u00dfen von denen mit freien, zugleich die mit verbundenen Staubf\u00e4den von denen mit verbundenen Staubbeuteln scheidend, augenscheinlich deshalb, weil letztere die so scharf umschriebene Gruppe der Compositen umfassen ; und wenn er die Pflanzen mit verwachsenen Staubf\u00e4den nicht in eine Classe stellte, so gab dazu wohl die Familie der Papilionaceen Veranlassung, welche nicht den Werth einer blo\u00dfen Ordnung erhalten durfte. Endlich war die Stellung der Staubgef\u00e4\u00dfe auf dem Stempel als Classeninerkmal durch die","page":204},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"200\nReinhold K\u00f6rner.\ngr\u00fcnden sich auf das einheitliche Merkmal der Zahl der Griffel oder Narben, die der 14. und 15. auf die sehr constante und leicht erkennbare Gestalt der Fr\u00fcchte, f\u00fcr die 16.\u201418. Classe ist als Ordnungsmerkmal die Zahl der Staubgef\u00e4\u00dfe, f\u00fcr die 19. der Bau der Bl\u00fcthen in den K\u00f6pfchen, f\u00fcr die 20.\u201422. Zahl und Verwachsung der Staubgef\u00e4\u00dfe, f\u00fcr die 23. die Vertheilung der Geschlechter verwandt.\nMag es gleich sachgem\u00e4\u00df sein, logisch muss es als ein Mangel empfunden werden, dass man in der Reihe der Ordnungsmerkmale fast allen Classenmerkmalen wieder begegnet, wenn auch nicht in den den betreffenden Classen zugeh\u00f6rigen Ordnungen. In den Ordnungen der dreizehn ersten Classen noch mehr als in diesen selbst tritt gar h\u00e4ufig die L\u00fcckenhaftigkeit der Zahlenreihe zu Tage, sodass dann auch die gleichm\u00e4\u00dfig fortschreitende Zahl der Ordnungen durchaus nicht immer mit der Zahl der Griffel \u00fcbereinstimmt. Hier wie dort bleibt die analytische Gliederung mit ihren durch die Natur der Objecte bewirkten logischen M\u00e4ngeln die Rechenschaft \u00fcber den Grund des eigenth\u00fcmlichen Thathestandes schuldig. Die Benennungen der Ordnungen sind fast s\u00e4mmtlich logisch richtig und sachgem\u00e4\u00df ; nur f\u00fcr die Ordnungen der 19. Classe h\u00e4tten sich wohl treffendere und bedeutungsvollere finden lassen.\nSchlie\u00dflich m\u00f6chte ich Linn\u00e9 noch gegen gewisse ungerechte Vorw\u00fcrfe vertheidigen. So hebt man immer wieder als Mangel seines Systems hervor, dass es vielfach das nat\u00fcrlich Zusammengeh\u00f6rige trenne, und dass es oft an Sicherheit zu w\u00fcnschen \u00fcbrig lasse, indem besonders die Zahl der Geschlechtsorgane der Pflanzen h\u00e4ufigen Schwankungen unterworfen sei. Offenbar aber r\u00fchrt das erstere von der Unzul\u00e4nglichkeit der Methode seihst her, ein Mangel, den Linn\u00e9 gar wohl erkannte und an vielen Stellen durch logische Incorrectheit zu mildern suchte, und ist das letztere ein rein sachlicher Uebelstand, der dem Systematiker nicht zur Last gelegt werden darf. Gerade dieser \u00fcberall f\u00fchlbare Widerspruch von Methode und Natur der Objecte aber f\u00fchrt den indirecten Beweis, dass dieselbe f\u00fcr eine naturgem\u00e4\u00dfe Classification der Organismen nicht geeignet ist. Im Grunde ist es \u00fcbrigens viel weniger auff\u00e4llig, dass selbst die vollkommenste analytische Gliederung des Pflanzenreichs an vielen M\u00e4ngeln und Unbestimmtheiten leidet, als dass die letzteren nicht sehr viel zahlreicher sind, und die Natur in einer h\u00e4ufig so \u00fcberraschend leichten Weise in das k\u00fcnstliche","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n207\nSchema sich einf\u00fcgt; und Niemand wird Linn\u00e9 den Ruhm nehmen k\u00f6nnen, zufolge seines eminenten Classificationstalentes die analytisch-descriptive Methode in einer alle fr\u00fcheren Bem\u00fchungen tief in Schatten stellenden Weise, sowohl was die Logik der Durchf\u00fchrung als was den praktischen Werth des Resultates hetrifft, zur Classification des Pflanzenreiches verwandt zu haben.\n2. hie genetische Methode.\nA. Allgemeines.\nDie genetische Methode zeichnet sich dadurch aus, dass sie auf dem mehr oder minder ausgepr\u00e4gten Bewusstsein der Existenz causaler Beziehungen zwischen den Objecten selbst und den Merkmalen derselben wie deren mehr oder weniger vollkommenen Er kennt n iss basirt und die Objecte nach eben diesen Beziehungen zu classificiren, das System zum Totalausdruck derselben zu erheben strebt. Diese causalen Beziehungen stellen sich aber stets als genetische dar, so zwar, dass der genetische Zusammenhang bald als ein subjectiv realer, bald als ein objectiv idealer oder realer erscheint. Nach der Natur der zu classificirenden Objecte richtet es sich, welche von diesen genetischen Beziehungen zu Grunde gelegt werden d\u00fcrfen. W\u00e4hrend danach die ersteren allein f\u00fcr die Anscliauungswissenschaften in Betracht kommen k\u00f6nnen, weil nur die Gebilde des Geistes selbst in von diesem construirte Entwicklungsreihen gebracht werden d\u00fcrfen, sind f\u00fcr die Classification von Erfahrungsobjecten nur die letzteren anwendbar. Unter ihnen aber sind es wiederum nur die realen genetischen Beziehungen, welche sich zur Grundlage eines wahrhaft genetischen Systems der Organismen eignen, und keine anderen d\u00fcrfen mehr Platz finden, sobald einmal \u2014 wie dies f\u00fcr die organischen Wesen der Fall ist \u2014 die Beziehungen als derartige constatirt sind. So lange freilich die Existenz derselben unbekannt war, bildeten nothwendig die zwar real vorgestellten, der Empirie aber v\u00f6llig unzug\u00e4nglichen ideal-genetischen Beziehungen einen vorl\u00e4ufigen Ersatz von anfechtbarem Werthe.\nEs ist von Interesse, sich klar zu machen, wie die Eigenart unsrer psychischen Functionen in Verbindung mit der Natur der Organismen","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nRfiiihokl K\u00f6rn\u00ab.\nfast mit Nothwendigkeit zu einer derartigen Entwicklung der Anschauungen f\u00fchren musste.\nDie Bildung von Allgemeinbegriffen wird unmittelbar von unserem psychischen Mechanismus veranlasst. Die erste Stufe derselben, das blo\u00dfe Benennen \u00e4u\u00dferst \u00e4hnlicher, aber in keiner \u00e4u\u00dferlich sichtbaren Beziehung stehender Naturobjecte mit dem gleichen Namen, ist ein psychischer Process, der nicht die geringste bewusste Reflexion voraussetzt. Die Zusammengeh\u00f6rigkeit bestimmter Individuen wird unmittelbar in der Aehnlichkeit der durch sie erzeugten Vorstellungen empfunden, und die \u00e4hnliche Vorstellungen erzeugenden Objecte werden zu der n\u00e4mlichen begrifflichen Fixirung f\u00fchren m\u00fcssen. Ein derartiges Abstractionsverfahren niederster Ordnung geht aber ebenso nothwendig in ein solches h\u00f6herer Ordnung \u00fcber, schreitet zur Bildung von Allgemeinbegriffen weiteren Umfanges vor, indem zwei oder mehr nicht in allen, aber in vielen Beziehungen sich gleichende Eindr\u00fccke, in der Erinnerung associirt, als gro\u00dfentheils sich deckend empfunden werden, und die Vorstellung des aus zahlreichen mehr oder minder \u00e4hnlichen Einzelwesen ahstrahirten Gemeinsamen zu einer begrifflichen Bezeichnung f\u00fchrt, welche f\u00fcr alle diese gemeinsamen Merkmale aufweisenden Objecte zugleich gilt. Dass dieses Abstractionsverfahren, wenn es wissenschaftlich werthvoll sein und in den Dienst der Classification treten soll, nothwendig durch bewusste und planm\u00e4\u00dfige Vergleichung unterst\u00fctzt und geregelt werden muss, hebt die Thatsache nicht auf, dass es im Grunde eine unmittelbare Wirkung unseres psychischen Mechanismus ist, welche unausbleiblich und in stets derselben Weise sich \u00e4u\u00dfert, sobald \u00fcberhaupt bestimmte Objecte auf Sinn und Geist einwirken. Daraus erkl\u00e4rt sich zugleich die Erscheinung, dass wir stets nur sinnlich Aehnliches, nicht aber Verschiedenes in Allgemeinhegriffe zusammenfassen. W\u00e4ren s\u00e4mmt-liche Organismen v\u00f6llig von einander verschieden, so w\u00fcrde die Bildung von Allgemeinbegriffen, also ein Wissen und Erkennen \u00fcberhaupt, unm\u00f6glich sein. Nun kommt aber die Beschaffenheit der Naturk\u00f6rper der Beschaffenheit unseres Geistes in h\u00f6chst merkw\u00fcrdiger Weise darin entgegen, dass die organischen Wesen Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten in allen m\u00f6glichen Abstufungen aufweisen, der Art, dass sie thats\u00e4chlich zu einer Summe von Allgemeinbegriffen engeren und weiteren Umfanges, und diese zu einem vollst\u00e4ndigen","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n209\nSystem sich vereinigen lassen. Daraus begreift es sich nicht schwer, wie der nat\u00fcrliche Zwang der Vereinigung form verwandter Organismen, der rein subjectiver Natur ist, objectivirt als Zwang der Objecte seihst aufgefasst werden konnte, f\u00fcr den es die Ursache zu erforschen galt. So au\u00dferordentlich fruchtbar jedoch diese Projicirung eines sub-jectiven Vorganges gewesen ist, ein Irrthum ist sie dennoch zu nennen. Denn seihst dann, wenn die Aehnlichkeiten der Organismen rein zuf\u00e4llige w\u00e4ren, ohne tiefere Begr\u00fcndung zu besitzen oder auf wirkliche Beziehungen der Objecte hinzuweisen, selbst dann w\u00fcrde uns ja die eigenth\u00fcmliche Beschaffenheit unsres Geistes in gleicher Weise Begriffe bilden, Systeme eonstruiren lassen; die ohjectiv genetischen und formverwandtschaftlichen Beziehungen der Organismen haben also mit der suhjectiven Nothwendigkeit der Vereinigung des Aehn-lichen in Allgemeinhegriffe nicht das Geringste gemein.\nNun hat aber das logische Denken, haupts\u00e4chlich auf Grund jenes suhjectiven Zwanges, schon fr\u00fch zu der Vermuthung gedr\u00e4ngt, dass die empfundene Form\u00e4hnlichkeit nur der \u00e4u\u00dfere Ausdruck f\u00fcr eine dahinter verborgene Aehnlichkeit der bildenden Gesetze sei, und dass man durch systematische Ordnung der Organismen nach Aehnlichkeit und Verschiedenheit zugleich die Aehnlichkeit und Verschiedenheit der inneren Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit zum Ausdruck bringe. Diese in der ersten Periode der Systematik bis Linn\u00e9 auf keimende Vermuthung f\u00fchrte, immer bewusster sich gestaltend, in der folgenden mit logischer Consequenz zun\u00e4chst zur Hypostasirung idealer, aber doch als wirklich gedachter Causalbeziehungen zwischen den Organismen, eines \u00fcbernat\u00fcrlichen Zusammenhangs derselben, in Folge des m\u00e4chtigen Dranges, nur \u00fcberhaupt eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr all die wahrgenommene Aehnlichkeit geben zu k\u00f6nnen, die f\u00fcr zuf\u00e4llig oder als von den innen waltenden Gesetzen unabh\u00e4ngig zu halten das logische Denken sich str\u00e4ubte.\nUnd doch war die Annahme solcher Beziehungen nichts als eine Hypothese, welche sich dem empirischen Nachweise vollst\u00e4ndig entzog. Erst in neuster Zeit ist durch die Entwicklungstheorie auf die thats\u00e4chliche Existenz causaler Beziehungen hingewiesen worden, die aber nicht idealer, sondern realer und zwar genetischer Natur sind. Wir nehmen an, dass S tammesverwandtschaft das Band ist, welches nicht nur die Vertreter einer jeden Species, sondern ganze\nWundt, Philos. Studien. II.\t14","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nReinhold K\u00f6rner.\ngro\u00dfe Gruppen, vielleicht sogar s\u00e4mmtliche organische Wesen mit einander verbindet. Damit hat zugleich jene Voraussetzung des logischen Denkens ihre gl\u00e4nzende Best\u00e4tigung gefunden.\nDieser Entwicklungsgang der Anschauungen von der Existenz und Beschaffenheit der Beziehungen der Organismen aber ist naturgem\u00e4\u00df zugleich derjenige der Classificationsmethoden gewesen. W\u00e4hrend man sich anfangs auf synthetische Gruppirungen beschr\u00e4nkte, die zufolge der Unkenntniss der Causalbeziehungen rein descriptiven Charakter besa\u00dfen, griff man sp\u00e4terhin, vom Bed\u00fcrfniss der \u00fcbersichtlichen Ordnung und von praktischen Beweggr\u00fcnden getrieben,zu descripti v-analytischen Gliederungen, von denen man sich dann voll und ganz der urspr\u00fcnglich eingeschlagenen, von der Natur seihst geforderten und auch inzwischen durchaus nicht vernachl\u00e4ssigten Methode wieder zuwandte, so aber, dass an Stelle des unbewussten Herausf\u00fchlens der Gesammt\u00e4hnlichkeit auch hier immer mehr das bewusste Vergleichen trat, welches nothwendig zur Annahme der Existenz causaler Beziehungen der Organismen, und zwar zun\u00e4chst zur Hypostasirung eines idealen, zuletzt endlich zur Erkenntniss und Zugrundelegung eines realen genetischen Zusammenhangs derselben f\u00fchrte. Dadurch ist die immer weiter greifende Umwandlung der descriptiven in die genetische Methode angebahnt, ohne dass jedoch dieses Ziel aus sp\u00e4ter zu er\u00f6rternden Gr\u00fcnden je vollst\u00e4ndig erreicht werden k\u00f6nnte.\nEs existirt umgekehrt aber auch kein analytisch-descriptives System, welches nicht den realen Beziehungen der Objecte vielfach Rechnung tr\u00fcge. Man erkennt leicht, wie in allen diesen Systemen die Arten und Gattungen, Familien, ja sogar \u00f6fters Ordnungen und Classen unzerrissene nat\u00fcrliche Vereinigungen darstellen, w\u00e4hrend nur die h\u00f6heren Abtheilungen Producte der k\u00fcnstlichen Gliederung sind. Die Synthese kommt gleichsam der Analyse auf halbem Wege entgegen. Dies erkl\u00e4rt sich daraus, dass alle Gattungen, die meisten Familien, ja seihst viele Gruppen h\u00f6heren Ranges durch eine so gro\u00dfe Uebereinstimmung in allen Charakteren schon \u00e4u\u00dferlich gekennzeichnet sind, dass nicht nur das nat\u00fcrliche Gef\u00fchl ihrer Zusammengeh\u00f6rigkeit sie nicht zu zerrei\u00dfen gestattet, sondern seihst die Theilung auf Grund eines einzigen Merkmals sie unversehrt belassen muss. Wie sehr das nat\u00fcrliche Gef\u00fchl einer Zerspaltung des ihm als zusammen-","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n211\ngeh\u00f6rig sich Offenbarenden widerstrebt, sieht man deutlich an Linn\u00e9 seihst, der sogar in seinem die nat\u00fcrliche Verwandtschaft absichtlich verleugnenden Pflanzensystem, in welchem er deshalb auch wirklich viele Familien k\u00fcnstlich zersplittert hat, doch in mehreren F\u00e4llen zu Gunsten der nat\u00fcrlichen Vereinigungen von der \u00fcbrigens so strengen Consequenz in der Durchf\u00fchrung seines Principes ahgewichen ist.\nAuf dieses vorhin in seinen Ursachen er\u00f6rterte Gef\u00fchl der nat\u00fcrlichen Zusammengeh\u00f6rigkeit st\u00fctzen sich auch die seit langem gel\u00e4ufigen Ausdr\u00fccke \u00bbk\u00fcnstliches\u00ab und \u00bbnat\u00fcrliches\u00ab System. Nat\u00fcrliche Systeme sind diejenigen, welche, diesem Gef\u00fchle durchg\u00e4ngig Rechnung tragend, lediglich und stets das in den meisten Beziehungen Aehnliche vereinigen, k\u00fcnstliche diejenigen, welche, diesem Gef\u00fchle nicht folgend, vielfach das als zusammengeh\u00f6rig Empfundene trennen, aus welchem Grunde denn auch die analytisch-descriptive Methode im allgemeinen zu \u00bbk\u00fcnstlichen\u00ab, die genetische zu \u00bbnat\u00fcrlichen\u00ab Systemen f\u00fchrt.\nDie genetische Methode muss nothwendig synthetisch sein. Denn da unserer Wahrnehmung nur das Einzelne gegeben ist, so ist man darauf beschr\u00e4nkt, auf Grund einer umfassenden Vergleichung der Beziehungen der concreten Einzelwesen synthetisch diese in Allgemeinhegriffe niederster und letztere stufenweise in solche h\u00f6herer und h\u00f6chster Ordnung zusammenzufassen. Eine derartige Synthese ist freilich mehr als ein \u00e4u\u00dferliches Zusammenstellen ; sie tr\u00e4gt zufolge der realen Beziehungen, welche im System ihren Ausdruck finden sollen, den Charakter einer wahrhaften Induction, welche in ihren aus dem Einzelnen abgeleiteten Allgemeinheiten einen bestimmten gesetzm\u00e4\u00dfigen Zusammenhang des darunter Befassten zur Darstellung bringt.\nFreilich hat das genetische System historisch nicht durch die rein synthetische Methode allein den gegenw\u00e4rtigen Grad der Ausbildung erreicht; an seiner Entwicklung haben Analyse und Synthese wechselseitigen und oft untrennbar verschlungenen Antheil. Es ist auch nicht zu leugnen, dass analytische Gliederungen als Probe und Contr\u00f4le der synthetischen Vereinigungen f\u00fcr die formale Vollendung des Systems von gro\u00dfem Werthe und vorl\u00e4ufig vielleicht unentbehrlich sind ; zu verlangen ist aber, dass die synthetische Methode stets den ersten Rang behaupte. Wo immer in genetischen Systemen selh-\n14*","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nReinhold K\u00f6rner.\nst\u00e4ndige analytische Gliederungen her vortreten, da sind sie ein Zeichen sowohl der mangelnden Kenntniss genetischer Beziehungen wie auch des descriptiven Charakters der betreffenden Stellen.\nWenn aber genetische und synthetische Methode zwei untrennbare Begriffe sind, so leuchtet ein, dass man von genetischer oder nat\u00fcrlicher \u00bbEintheilung\u00ab im eigentlichen Sinne nicht sprechen d\u00fcrfte, in Betreff der Methode keinesfalls, mit einigem Hecht indessen in Bezug auf das Resultat, indem das fertige System sich allerdings wie ein von oben herab gegliedertes Ganzes darstellt, an welchem die Grenzlinien der durch Synthese gewonnenen Gruppen als Theilungslinien erscheinen. Ebenso kann von \u00bbEintheilungsgr\u00fcnden\u00ab des genetischen Systems nur insofern die Rede sein, als dasselbe sich auf die Vergleichung s\u00e4mmtlicher anatomischer, embryologischer und entwicklungsgeschichtlicher Eigenth\u00fcmlichkeiten st\u00fctzt und auch so entstanden gedacht werden kann, als oh dieser gesammte Merkmalbestand der \u00bbEintheilung\u00ab zu Grunde gelegt, das ganze Gebiet nach den an allen Merkmalen zugleich heraustretenden Unterschieden gegliedert w\u00e4re.\nWas den logischen Werth des genetischen Systems anlangt, so hat man h\u00e4ufig vom Standpunkt der formalen Logik aus das analy-tisch-descriptive f\u00fcr vollkommner erkl\u00e4rt. Das wird man jedoch nur dann behaupten d\u00fcrfen, wenn man die systematische Anordnung der Objecte nicht als Forderung der Wissenschaft und als durch ihre eigenen realen Beziehungen zu einander bestimmt, sondern lediglich als Forderung eines rein logischen Bed\u00fcrfnisses auffasst und zugleich die m\u00f6glichste Einfachheit und Durchsichtigkeit der logischen Form als Ma\u00dfstab ihrer Vollkommenheit betrachtet. Diese Eigenschaften sind aber offenbar nur praktische Vorz\u00fcge, nicht Merkmale der Vollkommenheit eines Systems. Letztere h\u00e4ngt vielmehr, die logische Correct-heit an sich vorausgesetzt, nur davon ah, in welchem Grade die Form dem Inhalt angepasst ist. Die genannte Voraussetzung wird zwar die Form eines analytisch-descriptiven Systems stets zu erf\u00fcllen im Stande sein ; ist aber die des genetischen weniger dazu bef\u00e4higt? Kann nicht auch die Synthese unter Ber\u00fccksichtigung all der mannigfaltigen Charaktere eine in jeder Beziehung streng logische sein? Wenn nun ein streng logisches Verfahren die Synthese auf jedem Schritte regelt und durchdringt, so muss auch das Gesammtproduct ein logisch gegliedertes Ganzes sein. Freilich wird die Form des gene-","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n213\ntischen Systems kein so einfaches Aussehen besitzen k\u00f6nnen, als die des descriptiven ; sie wird im Gegentheil ein complicirtes Gewebe sein, das dem Unkundigen wohl un\u00fcbersichtlich erscheinen mag, w\u00e4hrend das Auge des Kundigen leicht bestimmte Regeln erkennt, nach welchen dasselbe geordnet ist. Dass heim genetischen System die Vollkommenheit der logischen Form au\u00dferordentlich viel schwieriger zu erreichen ist als beim descriptiven, ist ein Umstand, der auf die Be-urtheilung des Werthes keinen Einfluss haben darf. W\u00e4hrend aber das letztere der Natur der Objecte eine durchaus untergeordnete Beachtung schenkt, besitzt das erstere auch eine dem Inhalt v\u00f6llig angepasste Form, insofern es der Totalausdruck der objectiven Verwandtschaftsverh\u00e4ltnisse sein will. Hier ist der Punkt, wo das descriptive System logisch unhaltbar wird, und wo das genetische seine st\u00e4rkste logische St\u00fctze hat.\nAn dieser Stelle d\u00fcrfte zugleich am geeignetsten eine bedeutungsvolle Streitfrage ihre Beantwortung finden, die Frage nach dem Grade der Selbst\u00e4ndigkeit, welchen das logische Denken bei der Classification der Organismen beanspruchen darf.\nEs ist bekannt, wie wenig man fr\u00fcher das Gleichgewicht des formalen und des empirischen Factors in der Systematik zu wahren verstand. Man kann aber bemerken, dass auch heutzutage noch h\u00e4ufig der Logiker einerseits unter Vernachl\u00e4ssigung der Objecte die Regeln der Systematik allein aus dem logischen Denken ahleiten m\u00f6chte, der empirische Systematiker andrerseits eben so leicht die gr\u00fcndliche R\u00fccksicht auf die allgemeinen Denkgesetze \u00fcber dem Gef\u00fchle der unabh\u00e4ngigen und selbst\u00e4ndigen Bedeutung der Erfahrungsthat-sachen zu vergessen geneigt ist.\nDie Logik als die Wissenschaft von den allgemeing\u00fcltigen und zwingend nothwendigen Normen des menschlichen Denkens hat allerdings das volle und unbestreitbare Recht, die auf Grund und mit Hilfe des objectiven Substrates entstandene Form von diesem loszul\u00f6sen und die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit dieses Productes der logischen Geistesth\u00e4tigkeiten einem Sonderstudium zu unterwerfen; sie muss sich jedoch stets bewusst bleiben, dass diese Form nur in Bezug auf den in sie befassten Inhalt gilt, keine unumschr\u00e4nkt gestaltende, gesetzgebende Macht darstellt, der die Objecte unterworfen w\u00e4ren. Gesetzt, es entspr\u00e4che der wahrgenommenen Formverwandtschaft der Organismen keine","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nReinhold K\u00f6rner.\ninnere Causalit\u00e4t, sie w\u00e4re vielmehr rein \u00e4u\u00dferlich und zuf\u00e4llig, so w\u00fcrden die Systeme keine andere Bedeutung haben k\u00f6nnen, als \u00fcbersichtliche Fachwerke zu sein zur Y eranschaulichung der Mannigfaltigkeit der Lebewesen. In diesem Falle w\u00e4re auch ihre Anordnung im System v\u00f6llig dem logischen Denken anheimgestellt, dies w\u00e4re berechtigt, nach eigenstem Ermessen, nur im allgemeinen von der sinnlichen Aehnlichkeit geleitet, die Classification durchzuf\u00fchren. Die Aehnlichkeit der Objecte w\u00e4re dann wohl das Mittel zur Erreichung des Zweckes, doch ohne allen zwingenden Charakter. Nun ist aber die Form\u00e4hnlichkeit der Organismen thats\u00e4chlich nur der \u00e4u\u00dfere Ausdruck realer genetischer Beziehungen, und die Darstellung der letzteren muss daher als Aufgabe der Systematik vom logischen Denken erstrebt werden. Weil jedoch je zwei Organismen nur auf eine einzige Art genetisch mit einander verbunden sein k\u00f6nnen, so kann es auch nur ein richtiges, der Natur entsprechendes System geben, und das logische Denken hat somit in keiner Weise das Recht, die Beziehungen nach subjectiver Willk\u00fcr anzusetzen, sondern ist streng und unab\u00e4nderlich an die objectiv gegebenen gebunden. Man kann sagen, das System der Organismen sei in der Natur gewisserma\u00dfen wirklich vorhanden; das logische Denken solle es nur reconstruiren, zu einem menschlich anschaulichen Bilde gestalten.\nDiese Freiheitsbeschr\u00e4nkung des logischen Denkens ist aber keineswegs als Werthbeschr\u00e4nkung zu betrachten. Denn in der Freiheit, welche ihm durch die Eigenart des behandelten Materiales genommen wird, hat sein wahrer Werth niemals gelegen. Wenn es sich fr\u00fcher unbeschr\u00e4nkter f\u00fchlte, so lag dies nur daran, dass man den nat\u00fcrlichen Zusammenhang der organischen Wesen und die aus ihm entspringenden Forderungen nicht kannte. Diese belehren uns aber, dass die vormalige Freiheit beim Aulbau des Syst\u00e8mes insofern v\u00f6llig werthlos war, als das Resultat doch nur in dem einen eben bezeichneten Falle ein objectiv richtiges und werthvolles sein konnte. Der wahre Werth des logischen Denkens ist ein viel allgemeinerer und liegt darin, dass es in der Begriffsbildung das Mittel bietet, durch welches allein die reale Ordnung der Naturobjecte vorstellbar gemacht werden kann.\nNach diesen mehr allgemeinen Er\u00f6rterungen \u00fcber die genetische Methode sollen nunmehr die besonderen Principien, wie sie in den Systemen und systematischen Theorien eines Linn\u00e9, Jussieu,","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"215\nDie logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\nDe Candolle, Cuvier, Agassiz und Darwin hervortreten, einer vergleichenden Betrachtung unterworfen werden. Diese werden nat\u00fcrlich verschiedener Art sein m\u00fcssen, je nachdem die Erkenntniss eines realen genetischen Zusammenhanges zu Grunde liegt oder nicht, und es wird deshalb zweckm\u00e4\u00dfig sein, die Systeme, welche sich auf blo\u00dfe Form Verwandtschaft gr\u00fcnden, den auf den stammesverwandtschaftlichen Beziehungen basirenden, also die genetischen Systeme im weiteren Sinne den imengerenSinneso genannten gegen\u00fcberzustellen.\nB. Die genetische Methode im weiteren Sinne oder die Classification auf Grund der Formverwandtschaft.\nLinn\u00e9 war es, welcher nicht allein die analytisch-descriptive Methode mit Meisterschaft zu handhaben verstand, sondern auch zuerst den Unterschied einer Classification nach dieser Methode von der Anordnung der Organismen nach den empfundenen Gesammt\u00e4hnlich-keiten erkannte und nachdr\u00fccklich hervorhob, freilich nur f\u00fcr das Pflanzenreich : \u00bbSystemata alias duplicia sunt, artificialia et naturalia ; naturalia dicuntur, quae classes naturales servant, in quibus classi-bus nullae admittuntur nisi quae inter se affines sunt plan tae, to ta facie et natura convenientes. Artificialia vero constant classibus, quas ingrediuntur varia indiscriminatim plantarum genera, inter se toto coelo diversa, nisi quod conveniant unica ista nota classi asystematicopraefixa. Artificiales methodi longe faciliores sunt, cum in iis auctor r\u00e9gulas plantis praescribit ; in naturali vero methodo notas, quas natura sp\u00e9ciales his non illis imposuit plantis, inquirere debet Systematicus suinmo negotio. Methodus naturalis adhuc d\u00e9tecta non est\u00ab ').\nLinn\u00e9 stellte selbst 67 \u00bbnat\u00fcrliche Ordnungen\u00ab des Pflanzenreichs auf* 2), ohne sie indess zu einem Systeme zu vereinigen, eine Aufgabe, die er zwar als die h\u00f6chste der botanischen Wissenschaft, zugleich aber als eine erst in Zukunft l\u00f6sbare bezeichnete ; er weigerte sich sogar entschieden, eine Zusammenfassung dieser Ordnungen zu Classen auch\n]) Classes plantarum, praefatio.\n2) Ibid. p. 485.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nReiiihold K\u00f6rner.\nnur zu versuchen und \u00fcber die Principien der L\u00f6sbarkeit dieses Problems eingehender nachzudenken.\nDem gegen\u00fcber muss es stark befremden, dass Linn\u00e9 in seiner Classification des Thier reichs eine Trennung beider Methoden weder theoretisch noch praktisch durchf\u00fchrte. Vielmehr sehen wir ihn hier v\u00f6llig in dem Irrthum seiner Vorg\u00e4nger befangen, den er f\u00fcr die Systematik des Pflanzenreichs so richtig erkannt und ger\u00fcgt hatte, dass durch analytische Gliederung des Ganzen zugleich eine den nat\u00fcrlichen Verwandtschaftsverh\u00e4ltnissen entsprechende Eintheilung gewonnen werden k\u00f6nne. Dieser innere Widerspruch der Linn\u00e9ischen Anschauungen scheint mir aber zum gro\u00dfen Theil durch die Natur der Objecte selbst erkl\u00e4rbar zu sein. Denn hei den Pflanzen musste es sofort auffallen, dass die nach dem Gef\u00fchle der Gesammt\u00e4hnlichkeit aufgestellten nat\u00fcrlichen Gruppen durch eine nach einzelnen, bestimmten Merkmalen erfolgende Gliederung sehr h\u00e4ufig zerrissen w\u00fcrden. Bei den Thieren hingegen besitzen die durch das nat\u00fcrliche Gef\u00fchl schon von Aristoteles gro\u00dfentheils richtig bezeichneten \u00bbClassen\u00ab, wenigstens die f\u00fcnf ersten Linn\u00e9\u2019s, so charakteristische, scharf ausgepr\u00e4gte anatomische Charaktere, dass eine auf diese Merkmale sich st\u00fctzende Gliederung der nat\u00fcrlichen Vereinigung leicht begegnete. Das mag den bei Linn\u00e9 thats\u00e4chlich vorhandenen Glauben hervorgerufen oder wenigstens verst\u00e4rkt haben, dass auf Grund der Anatomie, d. h. einzelner anatomischer Merkmale der Thiere, eine nat\u00fcrliche Classification des Thierreichs gewonnen werden k\u00f6nne '). Seine \u00bbClassen\u00ab hielt Linn\u00e9 f\u00fcr unzweifelhaft nat\u00fcrlich, und die Umgrenzungen der Ordnungen \u00e4nderte er im Laufe der Zeit vielfach nach dem Gef\u00fchl der Zusammengeh\u00f6rigkeit ah, ohne indessen sein k\u00fcnstliches Princip aufzugeben.\nDaraus aber darf man wohl den Schluss ziehen, dass Linn\u00e9 von der principiellen Unm\u00f6glichkeit, durch die analytische Methode eine nat\u00fcrliche Anordnung zu gewinnen, nicht \u00fcberzeugt war. Nur deshalb, weil eine auf die von ihm gew\u00e4hlten Merkmale sich st\u00fctzende analytische Classification des Pflanzenreichs mit den Resultaten einer auf das unmittelbare Gef\u00fchl der Verwandtschaft sich gr\u00fcndenden Synthese \u00f6fters sich in auffallenden Widerspruch setzte, nur deshalb\n1) Vgl. Systema naturae, Vol. I, p. 11.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n217\ntrennte der Botaniker Linn\u00e9 scharf die k\u00fcnstliche und nat\u00fcrliche Methode; der Zoologe Linn\u00e9 fand dagegen keine Veranlassung zu solcher Trennung, da seine k\u00fcnstliche Methode ihm so nat\u00fcrliche Resultate zu liefern schien.\nDiese Vermischung beider Methoden ist zum Theil die Ursache, warum in seiner Classification des Thierreichs die Analyse bei weitem nicht so logisch vollkommen und consequent durchgef\u00fchrt ist als in der des Pflanzenreichs, welche beiden Systeme jedoch \u00fcberhaupt nicht so, wie dies gew\u00f6hnlich geschieht, in Parallele gesetzt werden sollten; zum andern Theil aber tr\u00e4gt die Beschaffenheit der Objecte selbst die Schuld, indem die Differenzirungsmannigfaltigkeit der Thiere eine derartige ist, dass sich einheitliche Merkmale f\u00fcr Ordnungen und Classen in dem Sinne wie f\u00fcr die Pflanzen nicht aufstellen lassen, wenn nicht gerade das \u00e4u\u00dferlichste Theilungsverfahren Platz greifen soll, von welchem Linn\u00e9\u2019s Zeitgenosse, der Zoologe Klein, das bekannte warnende Muster geliefert hat.\na. Wesen und Bedeutung der causalen Beziehungen.\nPr\u00fcft man die systematischen Arbeiten von Jussieu, Cuvier, Linn\u00e9, De Candolle und Agassiz der Reihe nach zuv\u00f6rderst auf die Ansichten, welche darin \u00fcber Wesen und Bedeutung der genetischen, d. h. also zun\u00e4chst form verwandtschaftlichen Beziehungen der Organismen ausgesprochen sind, so wirdes dem aufmerksameren Blicke schwerlich entgehen, dass die beiden ersteren eine mehr realistische, aber oberfl\u00e4chlichere, die beiden letzteren Systematiker eine mehr idealistische, jedoch tiefere Auffassung bekunden, w\u00e4hrend Linn\u00e9 eine mittlere Stellung zwischen ihnen einnimmt.\nDie richtige L\u00f6sung des in Rede stehenden Problems konnte indessen von keinem dieser Systematiker gegeben werden, weil ein innerer Widerspruch der damaligen Anschauungen dasselbe geradezu unl\u00f6sbar machen musste, ein Widerspruch, der anf\u00e4nglich unbemerkt sich eingeschlichen, mit der Zeit aber immer fester sich eingenistet hatte, n\u00e4mlich die Co\u00ebxistenz des Begriffes der \u00bbnat\u00fcrlichen Verwandtschaft\u00ab und des Dogmas von der Constanz der Arten, welches, zuerst von Linn\u00e9 sanctionirt, die bisherige","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nReinhold K\u00f6rner.\nund zuk\u00fcnftige Unver\u00e4nderlichkeit der Arten als vom Sch\u00f6pfer selbst\u00e4ndig erschaffener Einheiten behauptete. Dieses Dogma schloss als die absolute Negation eines die Organismen verbindenden objectiven Bandes, mit Ausnahme der Individuen einer Species, jede Erkl\u00e4rung des Verwandtschaftsbegriffes auf nat\u00fcrlichem Wege aus. Es war deshalb die Setzung eines \u00fcbernat\u00fcrlichen, aber immerhin existenzm\u00f6glichen, die \u00e4hnlichen Formen verkn\u00fcpfenden Bandes, eines meist als \u00bbSch\u00f6pfungsplan\u00ab gedachten idealen Zusammenhanges das zwar nicht wissenschaftliche, aber logisch einzig m\u00f6gliche Mittel der Erkl\u00e4rung.\nJussieu und Cuvier haben sich dessen nicht bedient, haben mithin, als ausgesprochene Anh\u00e4nger des Unver\u00e4nderlichkeitsdogmas, f\u00fcr die nat\u00fcrlichen Beziehungen der Organismen \u00fcberhaupt keine Erkl\u00e4rung gebracht, eine Unvollkommenheit, welche indessen durch das echt wissenschaftliche Festhalten an den rein empirischen Grundlagen reichlich aufgewogen wird.\nJussieu l\u00e4sst sich zwar nirgends auf eine Er\u00f6rterung der Verwandtschaftsfrage ein, aber seine Behandlung der Systematik im allgemeinen, die hohe Bedeutung, die er f\u00fcr das \u00bbnat\u00fcrliche System\u00ab in Anspruch nimmt, sowie die an verschiedenen Stellen seines Hauptwerkes sich vorfindenden Ausdr\u00fccke \u00bbvera affinitas\u00ab, \u00bblex naturalis\u00ab, \u00bblex af\u00fcnitatum\u00ab bezeugen, dass er die Mannigfaltigkeit und Eigenartigkeit der Formverwandtschaftsverh\u00e4ltnisse der Organismen als etwas nicht nur Aeu\u00dferliches, sondern tiefer in der Natur der Objecte Begr\u00fcndetes, zwar Geheimnissvolles, aber doch Gesetzm\u00e4\u00dfiges empfand, wof\u00fcr er jedoch, wie erw\u00e4hnt, eine Erkl\u00e4rung nicht versuchte.\nWas Cuvier anlangt, so wird man ihm anfangs kaum ein klareres Verst\u00e4ndniss in diesem Punkte zuschreiben d\u00fcrfen. Auch er fasst hier die Erscheinung ganz oberfl\u00e4chlich und \u00e4u\u00dferlich auf : \u00bbCes points de ressemblance sont ce qu\u2019on nomme les rapports naturels. Plus ils sont nombreux, plus ces rapports sont grands\u00ab1); sp\u00e4ter indessen erhebt er sich zu einer um vieles vertiefteren Anschauung : \u00bbSi les subdivisions n\u2019ont pas \u00e9t\u00e9 \u00e9tablies arbitrairement, mais si on les a fait reposer sur les v\u00e9ritables rapports fondamentaux, sur les ressemblances essentielles des \u00eatres, la m\u00e9thode est le plus s\u00fbr moyen\n1) Tableau \u00e9l\u00e9mentaire, p. 15.","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n219\nde r\u00e9duire les propri\u00e9t\u00e9s de ces \u00eatres \u00e0desr\u00e8glesg\u00e9n\u00e9rales, de les exprimer dans les moindres termes et de les graver ais\u00e9ment dans la m\u00e9moire\u00ab '). Sind hier schon die Ausdr\u00fccke f\u00fcr die verwandtschaftlichen Beziehungen bedeutungsvoller und tiefgreifender, so kann die Forderung, das Einzelne auf allgemeine Gesetze zur\u00fcckzuf\u00fchren, durchaus nur dann einen Sinn haben, wenn diese \u00e4u\u00dfere Aehnlichkeit wirklich als der correspondirende Ausdruck innerer Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit vorgestellt wird. Diese selbst freilich musste einem Anh\u00e4nger des Dogmas von der Constanz der Species ein R\u00e4thsel bleiben. Zu einer metaphysischen Erkl\u00e4rung aber lie\u00df Cuvier sich weder hier noch in der daf\u00fcr gef\u00e4hrlichsten Lehre von den \u00bbBaupl\u00e4nen\u00ab verleiten. Dieser Begriff ist ihm nichts als ein Symbol, ein anschaulicher Hilfsausdruck. Denn er\nsagt an der bekannten Stelle : \u00bb.quatre plans g\u00e9n\u00e9raux, d\u2019apr\u00e8s\nlesquels tous les animaux semblent avoir \u00e9t\u00e9 model\u00e9s\u00ab1 2); und dass dies \u00bbsemblent\u00ab hier durchaus nicht \u00bbvermuthlich\u00ab bedeutet, wird unzweifelhaft durch das voraufgehende : \u00bbII est fort ais\u00e9 d\u2019arriver, poulies animaux vert\u00e9br\u00e9s, \u00e0 un grand nombre de g\u00e9n\u00e9ralit\u00e9s communes \u00e0 leurs quatre classes . .. .; c\u2019est ce que l\u2019on exprime en disant que ces quatre classes sont en quelque sorte form\u00e9es sur le m\u00eame plan\u00ab3).\nZwischen denen, welche in der Auffassung der Verwandtschaftsverh\u00e4ltnisse der Organismen den Boden der Erfahrungsthatsachen nicht verlie\u00dfen, und denen, welche sich an metaphysische Deutungen wagten, steht Linn\u00e9 mitten inne, da er zu einer halb realen, halb idealen Erkl\u00e4rung seine Zuflucht nahm. Dieser Versuch, die mannigfach abgestuften Aehnlichkeiten der heutigen Lebewesen durch ausgedehnte Hybrid at ionen urspr\u00fcnglich erschaffener Einzelvertreter der Familien oder Classen mittelst g\u00f6ttlicher Einwirkung begreiflich zu machen, ist jedoch als ebenso unwissenschaftlich und unlogisch, wie \u00fcberhaupt v\u00f6llig unzureichend und verfehlt zu erachten. Denn bei der Kreuzung der urspr\u00fcnglichen repr\u00e4sentativen Einzelspecies einer jeden Familie mussten nothwendig Mischformen entstehen, welche die Charaktere von zwei der projectirten Familien in sich vereinigten; keinesfalls aber konnten sich bestimmte denselben subordinirte\n1)\tR\u00e8gne animal, p. 10.\n2)\tSur un nouveau rapprochement, p. 76.\n3)\tIbid. p. 75.","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nReinliold K\u00f6rner.\nGattungen bilden, und ebenso wenig bei weiterer Verbastardirung bestimmten Gattungen und mit diesen bestimmten Familien zugeh\u00f6rige Arten. So logisch scharf Linn\u00e9 zu denken vermochte, sobald er sich in seinem specifischen Element, der systematischen Analyse, befand, so locker werden seine Schlussfolgerungen, wenn er sich auf das Feld der Erkl\u00e4rung der Erscheinungen begibt.\nDie beiden ausgezeichnetsten Vertreter einer idealen Erkl\u00e4rungsweise der Form Verwandtschaft, der Lehre vom Sch\u00f6pfungsplan, die aber zugleich an Reichthum der empirischen Kenntnisse Jussieu und Cuvier nicht im entferntesten nachstanden, waren De Candolle und Agassiz. Als eifrigste Verfechter des Unver\u00e4nderlichkeitsdogmas grilfen beide zu jenem logisch einzig m\u00f6glichen Erkl\u00e4rungsversuche, der durch die tiefe ihnen innewohnende Religiosit\u00e4t nicht wenig gef\u00f6rdert ward. Neben Agassiz\u2019 allerdings viel umfassenderen und ich m\u00f6chte sagen tendenzi\u00f6ser gehaltenen Ausf\u00fchrungen finde ich die des De Candolle noch viel zu wenig ber\u00fccksichtigt; das 5. Capitel des 2. Buches seines grundlegenden Werkes1), in welchem er mit Begeisterung die Hypothese des Sch\u00f6pfungsplanes vertritt, ist ganz in Agassiz\u2019 Geist geschrieben und erhebt sich stellenweise zu einer wahren Theodicee. Der Weg, auf dem beide M\u00e4nner zu solchen Anschauungen sich geleitet sahen, war freilich ein verschiedener, indem De Candolle durch sein besonderes Studium des \u00bbSymmetrieplanes\u00ab, Agassiz durch das der systematischen Kategorien im allgemeinen darauf gef\u00fchrt ward ; f\u00fcr das Resultat ist dies ohne Belang. Als Zeugnisse m\u00f6gen zwei charakteristische Citate dienen, das eine f\u00fcr De Candolle, das andere f\u00fcr Agassiz: \u00bbLes organes inutiles, dans un syst\u00e8me donn\u00e9 d\u2019organisation, y existent cependant par une suite de la loi g\u00e9n\u00e9rale de la sym\u00e9trie des \u00eatres. La sym\u00e9trie suppose un plan primitif. Un plan suppose une volont\u00e9 ou une intelligence ; donc les preuves de la sym\u00e9trie sont des preuves d\u2019un ordre g\u00e9n\u00e9ral, et d\u2019une cause premi\u00e8re\u00ab2). \u2014 \u00bbTo me it appears indisputable, that . . . those systems, to which we have given the names of the great leaders of our science who first etablished them, being in truth but translations into human language of the thoughts of the Creator.... If it can be proved that man has not invented, hut only traced this\n1/ De Candolle, Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire etc.\n2) Ibid. p. 185.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n221\nsystematic arrangement in nature, that these relations and proportions which exist throughout the animal and vegetable world have an intellectual, an ideal connection in the mind of the Creator, that this plan of creation . . . was the free conception of the Almighty Intellect, matured in his thought, before it was manifested in tangible\nexternal forms---, we have done, once and for ever, with the desolate\ntheory which refers us to the laws of matter as accounting for all the wonders of the universe, and leaves us with no God but the monotonous, unvarying action of physical forces, binding all things to their inevitable destiny\u00ab 1).\nb. Veranschaulichung des causalen Zusammenhanges.\nDa der Gedanke bestimmter Beziehungen zwischen gegebenen Objecten naturgem\u00e4\u00df und nothwendig zu r\u00e4umlichen Vorstellungen irgend welcher Art hinf\u00fchrt, ja ohne solche \u00fcberhaupt unm\u00f6glich ist, so kn\u00fcpft sich an die Frage, welche Bedeutung die in Rede stehenden Systematiker den Aehnlichkeiten der Organismen beilegten, von selbst die weitere, wie man sich den causalen Zusammenhang anschaulich vorgestellt habe.\nDer Ursprung aller r\u00e4umlichen Versinnbildlichungen der Beziehungen der organischen Wesen ist in dem schon fr\u00fch auftauchen-den Gewahrwerden der Vollkommenheitsgrade der Organisation zu suchen. Das durch oberfl\u00e4chliche Beobachtung gewonnene Bild der Reihe, Stufenleiteroder Kette war j edoch nur im allgemeinsten Sinne zutreffend; hei versuchter specieller Anwendung musste es sich als v\u00f6llig unzul\u00e4nglich herausstellen. Durch Cuvier und De Candolle vor allen erfuhr es eine eingehende Untersuchung und gr\u00fcndliche Widerlegung. Der erstere sagt ganz vortrefflich: \u00bb. . . Quoique il y en ait o\u00f9 l\u2019on observe une sorte de d\u00e9gradation et de passage d\u2019une esp\u00e8ce a l\u2019autre, qui ne peut \u00eatre ni\u00e9e, il s\u2019en faut beaucoup que cette disposition soit g\u00e9n\u00e9rale. L\u2019\u00e9chelle pr\u00e9tendue des \u00eatres n\u2019est qu\u2019une application erronee \u00e0 la totalit\u00e9 de la cr\u00e9ation de ces observations partielles, qui n\u2019ont de justesse qu\u2019autant qu\u2019on les restreint dans les limites o\u00f9 elles ont \u00e9t\u00e9 faites\u00ab1 2), -\u2014 und weist dies an andrer Stelle aus-\n1)\tAgassiz, Essay on classification, p. 89.\n2)\tR\u00e8gne animal, Pr\u00e9face, p. 20, 21.","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nReiuhold K\u00f6rner.\nf\u00fchrlich f\u00fcr einzelne Systemgruppen nach '). Er begn\u00fcgt sich incless mit dieser Widerlegung, ohne sich auf eigne Speculationen einz\u00fclassen. Ihm gegen\u00fcber ist De Candolle, der ebenso entschieden die Anordnung in continuirliche Reihen verwirft, eifrigst um ein treffendes Bild zur Veranschaulichung bem\u00fcht. Als solches w\u00e4hlt er den bereits von Linn\u00e9 fl\u00fcchtig angedeuteten und auch von Jussieu erw\u00e4hnten Vergleich des Systems mit einer geographischen L\u00e4nderkarte, den er in interessanter und geistvoller Weise bis ins Detail ausf\u00fchrt und als das alleinige Mittel der Darstellung nachzuweisen sucht1 2). Seine Ueberzeugung ist, .... \u00bbqu\u2019il n\u2019existe pas dans la nature de s\u00e9ries continues; que les \u00eatres se groupent \u00e0 des distances fort in\u00e9gales; qu\u2019il est impossible d\u2019exprimer leurs v\u00e9ritables rapports dans un ordre lin\u00e9aire, et que ce n\u2019est que par des tableaux, soit g\u00e9n\u00e9raux soit partiels, qu\u2019on peut prendre une id\u00e9e du plan g\u00e9n\u00e9ral de la nature\u00ab3).\nAgassiz ist gleichfalls wie die Genannten von der Unm\u00f6glichkeit einer einreihigen Darstellung \u00fcberzeugt, gibt die Existenz verschiedener Vollkommenheitsgrade im allgemeinen zu und spricht die richtige Ansicht aus, dass fast immer die h\u00f6chsten Vertreter einer jeden Gruppe \u00fcber den niedrigsten der n\u00e4chsth\u00f6heren st\u00fcnden4). Auf den Entwurf eines vollst\u00e4ndigen Bildes l\u00e4sst er sich indessen eben so wenig ein als Cuvier.\nMan darf dabei aber den gro\u00dfen Unterschied nicht \u00fcbersehen, der zwischen der Betrachtungsweise des Cuvier und Agassiz einerseits, des De Candolle andrerseits besteht. Jene n\u00e4mlich haben eine Stufenfolge irgend welcher Art im Auge, gehen von dem gleichen Gesichtspunkte aus wie die Sch\u00f6pfer der einreihigen Stufenleiter, nur dass sie deren Einfachheit bestreiten. De Candolle hingegen igno-rirt in seiner graphischen Darstellung die Vollkommenheitsgrade vollst\u00e4ndig ; dieselbe ist nichts anderes als ein r\u00e4umliches Abbild der suhordinirten und coordinirten Allgemeinbegriffe des Systems, so dass die \u00fcbergeordneten Begriffe durch weite Felder, die untergeordneten durch von jenen umschlossene engere bezeichnet werden, und die\n1)\tSur un nouveau rapprochement, p. 79 ff.\n2)\tTh\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire, p. 227ff., und Essai sur les propri\u00e9t\u00e9s m\u00e9dicales etc. p. 24, 25.\n3)\tTh. \u00e9l. p. 234.\n4)\tMethods of study, p. 77 ff.","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n223\nlogische, auf das Ma\u00df der Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten der Objecte sich st\u00fctzende Differenz der coordinirten Begriffe in der verschiedenen Distanz der entsprechenden r\u00e4umlichen Bilder ihren Ausdruck findet. D e Can doll e\u2019s veranschaulichende Darstellung ist der echte und folgerichtige Ausfluss des jede reale Entwicklung der Wesen aus einander negir enden, nur die Form Verwandtschaft des fertig Gegebenen kennenden Classifications Verfahrens, indem sie selbst jeden Gedanken an reale genetische Beziehungen, ja sogar den der blo\u00dfen Stufenordnung v\u00f6llig ausschlie\u00dft, wogegen die Vorstellungen von Cuvier und Agassiz gerade eine nach mannigfachen Richtungen gehende Stufenfolge der Ausbildung und Differenzirung der Organismen ausdr\u00fccken, und es thats\u00e4chlich nur des Hineintragens des lebendigen Entwicklungsgedankens bedarf, um die Stufenfolge zur Entwicklungsfolge, die ganze bildliche Darstellung auch f\u00fcr das eigentlich genetische System g\u00fcltig werden zu lassen.\nc. Specielle Methodik.\nAn dritter Stelle sind nunmehr die besonderen Methoden und Principien der in Rede stehenden Systematiker zur Sprache zu bringen; denn es ist f\u00fcr diese, im Vergleich zu ihren Vorg\u00e4ngern, durchaus charakteristisch, dass sie mit Eifer und Sorgfalt bestimmte Grunds\u00e4tze zu finden trachteten, durch welche das System zum wahren Gesammtausdruck des formverwandtschaftlichen Zusammenhanges der organischen Wesen erhoben werden m\u00f6chte, mit Ausnahme Linn\u00e9\u2019\u00bb, der sich absichtlich von derartigen Versuchen fernhielt.\nAls Haupterfordemiss zur Erreichung des Zweckes gilt ihnen gemeinsam eine bewusste und planm\u00e4\u00dfige Vergleichung der Organismen nach allen ihren Theilen ; und wenn auch erst Cuvier und De Candolle als die eigentlichen Begr\u00fcnder der vergleichenden Morphologie namhaft gemacht werden, im Interesse der Classification ward dieselbe ebenso von Jussieu und seihst von Linn\u00e9, wenn auch in minder ausgedehntem Ma\u00dfe, angewandt.\nBesonders charakteristisch f\u00fcr Jussieu, Cuvier und De Can-dolle ist eine eigenth\u00fcmliche Combination von analytischer und synthetischer Methode, welche unmittelbar aus den an die Spitze gestellten Principien entsprang. Die Verwandtschaft derselben","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nReinhold K\u00f6rner.\nist bei Cuvier und De Candolle besonders auffallend. Eeide sind der Ueberzeugung, dass es m\u00f6glich sei, durch eine nach Regeln a priori vollzogene analytische Gliederung eine nat\u00fcrliche Classification zu gewinnen, und dass diese Methode die beste sei auf dem Standpunkte einer noch l\u00fcckenhaften Kenntniss der Einzelformen, welche ein alleiniges synthetisches Verfahren sehr unsicher mache. W\u00e4hrend aber De Candolle dem letzteren, gleich als sei es durch das erstere Verfahren entbehrlich geworden, eine ziemlich untergeordnete Stellung zuweist, erkennt ihm Cuvier die gleiche Bedeutung zu und verlangt wechselseitige Contr\u00f4le und Verification der Resultate beider Methoden l).\nDiese Ueberzeugung, welche auch Jussieu der Hauptsache nach theilte, st\u00fctzt sich auf das Princip der Rangordnung oder der Subordination der Merkmale, dessen Ursprung folgenderma\u00dfen zu denken ist : Indem man sich bewusst zu werden suchte, worin denn eigentlich die Veranlassung liege, gerade eine bestimmte Anzahl von Formen in diese oder jene \u00bbnat\u00fcrliche Gruppe\u00ab zusammenzufassen, erkannte man, dass dies in der constanten Anwesenheit gewisser Charaktere oder auch in dem gemeinsamen Vorkommen einer Anzahl von Charakteren in bestimmter gegenseitiger Lagerung begr\u00fcndet sei. Diese Untersuchungen f\u00fchrten zu dem Resultate, dass nicht alle Merkmale von gleichem classificatorischen Werthe seien, und indem man die Speculationen \u00fcber den Werth der Merkmale durch viele engere und weitere Gruppen des Systems hindurch fortsetzte, bemerkte man, dass im allgemeinen die weiteren Gruppen auf Charaktere anderer Art sich st\u00fctzten als die engeren. Diese Beobachtungen gestalteten sich zu dem Princip einer ganz bestimmten Rangordnung der Charaktere derart, dass Charaktere h\u00f6herer Ordnung vielleicht zur Begr\u00fcndung von Classen dienen konnten, w\u00e4hrend solche niederer Ordnung nur als Familien- oder Gattungsmerkmale auftreten durften.\nWar es schon nicht richtig, jene durch unvollst\u00e4ndige Induction gefundenen Thatsachen zu einem allgemeing\u00fcltigen Princip zu erheben, so war es noch falscher, ein derartiges Princip nun gar speciell deductiv zur analytischen Gliederung des Thier- und Pflanzenreiches an wenden zu wollen. Dies w\u00e4re allein f\u00fcr das v\u00f6llig unbekannte all-\n1) Vgl. Cuvier, Le\u00e7ons d\u2019anatomie compar\u00e9e, p. 63, und De Candolle, Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire, p. 191 ff.","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n225\ngemeine Entwicklungsgesetz gestattet, w\u00e4hrend jenes hei vorausgegangenem vollst\u00e4ndigen Inductionsverfahren als \u00fcberfl\u00fcssig, hei unvollst\u00e4ndigem aber als mangelhaft, weil Quelle zahlreicher willk\u00fcrlicher Constructionen, bezeichnet werden muss. Aus diesem einen Irrthum verfiel man zudem in den anderen, ungleich schlimmeren, dass man hei der eigentlichen Werthbestimmung der Merkmale ihren classificatorischen mit dem functioneilen Werthe verwechselte, dass man den Grad der Wichtigkeit eines Charakters f\u00fcr die Bildung nat\u00fcrlicher Gruppen nach dem Grade der physiologischen Wichtigkeit eines Organs absch\u00e4tzen zu k\u00f6nnen meinte, ganz in Widerspruch mit der damals schon gel\u00e4ufigen Thatsache, dass oft ganz unbedeutende, f\u00fcr den Organismus scheinbar werthlose Organe f\u00fcr die Classification von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung sein k\u00f6nnen.\nEs wird nun zu zeigen sein, wie diese allgemeinen Grunds\u00e4tze bei den einzelnen Systematikern ihren besonderen Ausdruck fanden.\nJussieu geht von den richtigen Grunds\u00e4tzen aus, dass die Charaktere nicht zu z\u00e4hlen, sondern ahzuw\u00e4gen seien, dass ein constanter viele variable aufwiege *), und dass die functioneile Wichtigkeit der Organe, von denen die Charaktere genommen sind, und die Constanz oder Gleichm\u00e4\u00dfigkeit ihres Vorkommens durch die gr\u00f6\u00dferen Gruppen des Systems hindurch zu ber\u00fccksichtigen seien. Hiernach unterscheidet er prim\u00e4re, secund\u00e4re und terti\u00e4re Charaktere. Davon sind:\n1)\tdie prim\u00e4ren constant, von wesentlichen Organen genommen (Keimbl\u00e4tter des Embryo, Insertion der Staubgef\u00e4\u00dfe und Stempel) ;\n2)\tdie secund\u00e4ren meist constant, von unwesentlichen Organen genommen (Beschaffenheit der Corolle u. s. w.) ;\n3)\tdie terti\u00e4ren bald constant, bald variabel, von wesentlichen oder unwesentlichen Organen genommen.\nUnter den Charakteren ersten Ranges aber unterscheidet er deutlich wieder zwei Gradationen :1 2)\nAuf erster Stufe steht ihm der Embryo als der functionell wichtigste Theil der Fructificationsorgane, um dessen willen alle \u00fcbrigen da sind. Auf die Zahl der Keimbl\u00e4tter gr\u00fcndet er daher durch\n1)\tGenera plantarum, p. 46 ff.\n2)\tIbid. p. 50 ff.\nWundt, PJiilos. Studien. IT.\n15","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nReinhold K\u00f6rner.\nanalytische Trichotomie seine obersten Abtheilungen derAkotyle-donen, Monokotyledonen und Dikotyledonen.\nDabei hasirt die erste derselben fehlerhafterweise auf einem lediglich negativen Merkmal, ohne dass inductiv festgestellt worden w\u00e4re, dass die Akotyledonen wirklich eine ihren positiven Merkmalen nach zusammengeh\u00f6rige Gruppe bilden.\nAuf zweiter Stufe stehen ihm die Staubgef\u00e4\u00dfe und Stempel als zur Erzeugung von Samen und Embryo unbedingt nothwendige Organe. Da aber nur durch das Zusammenwirken beider der Embryo sich bildet, so ist es ihr gegenseitiges Stellungsver-h\u00e4ltniss, welches seiner Meinung nach f\u00fcr die weitere Gliederung jener drei Abtheilungen ma\u00dfgebend sein muss '). Eine derartige sophistische Schlussweise h\u00e4tte dem System Jussieu\u2019s sicher sehr gef\u00e4hrlich werden m\u00fcssen, wenn sie nicht offenbar dem Bem\u00fchen entsprungen w\u00e4re, die vorher bereits inductiv gefundene Wichtigkeit dieser Stellungsverh\u00e4ltnisse auch durch eine Art philosophischer Deduction zu begr\u00fcnden.\nIndem Jussieu nun als die drei Hauptformen der Stellungsver-h\u00e4ltnisse die hypogyne, perigyne und epigyne Insertion der Staubgef\u00e4\u00dfe erkennt, theilt er danach durch abermalige analytische Trichotomie die Mono- und Dikotyledonen in je drei Classen, w\u00e4hrend die Akotyledonen ungetheilt bleiben m\u00fcssen.\nDass er die Richtigkeit dieser siebenclassigen Eintheilung durch die (damals) ebenfalls siebenclassige der Thiere best\u00e4tigt findet und dabei gar noch die Keimbl\u00e4tter (lobi) mit den Atrien des Herzens (cordis auriculae) in Parallele setzt2), ist als ein letzter Anklang an die Philosophie des Aristoteles immerhin hemerkenswerth. Diese sieben Classen hielt Jussieu f\u00fcr durchaus nat\u00fcrlich, zumal sie sich lediglich auf die Zahl der Kotyledonen und die relative Stellung der inneren Geschlechtsorgane, also auf prim\u00e4re Charaktere, gr\u00fcnden. Die praktische Verwendbarkeit schien ihm aber eine gr\u00f6\u00dfere Anzahl von \u00bbClassen\u00ab zu erfordern3), weshalb er die Dikotyledonen zun\u00e4chst auf Grund der Beschaffenheit der Corolle durch Trichotomie in die Gruppen der Apetalen, Monopetalen und Polypetalen spaltete, deren\n1) lbid. p. 54.\n2) p. 52.\n3) p. 57.","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n227\njede er dann wiederum auf Grund jener Stellungsverh\u00e4ltnisse in drei Classen gliederte.\nDie Schw\u00e4chen solcher Gliederung1) sieht er selbst darin, dass ein secund\u00e4rer Charakter einem prim\u00e4ren als Theilungsgrund vorangestellt worden sei ; er erkennt aber nicht, dass dadurch seine \u00bbClassen\u00ab, \u00e4hnlich wie in Linn\u00e9\u2019s k\u00fcnstlichem Pflanzensystem, sehr ungleichen Werth erhalten. Wenn er dagegen betont, dass seine neuen Classen fast,ebenso gut als die alten der nat\u00fcrlichen Verwandtschaft Rechnung tr\u00fcgen, und also meint, dieser durch verschiedene Darstellungen in gleicher Weise gerecht werden zu k\u00f6nnen, so ist diese Anschauung ein v\u00f6llig entschuldbarer allgemeiner Fehler seiner Zeit.\nDie Familien und Gattungen gewinnt Jussieu nicht durch weitere analytische Theilung der Classen, sondern ganz auf dem Wege der Synthese der Species zu Genera, der Genera zu Familien. Ueber-haupt gilt ihm die Synthese als das urspr\u00fcnglichste und haupts\u00e4chlichste Verfahren; nur die thats\u00e4chlich gro\u00dfe Schwierigkeit, nach dieser Methode auch die Familien zu Gruppen h\u00f6heren Ranges zu vereinigen, l\u00e4sst ihn nach Principien suchen, um auf speculativem Wege die obersten Abtheilungen des Systems feststellen zu k\u00f6nnen.\nAuf der viel breiteren Basis ungleich gr\u00fcndlicherer Ueberlegungen ruht das Classificationsverfahren De Candolle\u2019s, obschon sowohl wegen seiner allgemeinen Unzul\u00e4nglichkeit, als der darin enthaltenen gro\u00dfen Widerspr\u00fcche und der damals herrschenden Irrth\u00fcmer der Anatomie und Physiologie der Pflanzen das Resultat in den wichtigsten Punkten leider ein verfehltes genannt werden muss.\nNach De Candolle beruht die Classification wesentlich auf der Absch\u00e4tzung des Werthes der Charaktere2). Dieser aber setzt sich zusammen aus der Wichtigkeit des betreffenden Organes selbst und des Gesichtspunktes, unter welchem es betrachtet wird3), ein immerhin beachtenswerther Fortschritt gegen Jussieu, welcher beides noch vermengte. An diese Trennung kn\u00fcpft sich naturgem\u00e4\u00df die Aufstellung einer doppelten Werthscala. Auch De Candolle begeht jedoch den schweren Irrthum, die Wichtigkeit eines Organes von der Wichtigkeit der Function abh\u00e4ngig zu machen, was um so unbegreiflicher erscheinen muss, als er selbst ausdr\u00fccklich be-\nll Gen. plant, p. 61.\n2) Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire, p. 86.\n3) Ibid. p. 172. 15*","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nReinhold K\u00f6rner.\nhauptet, (lass die Function von der Structur der Organe bedingt werde, keineswegs aber ihre Ursache sei b, und seine scharfsinnige Theorie des Symmetrieplanes gerade auf die Unabh\u00e4ngigkeit des morphologischen Baues von der Function sich gr\u00fcndet. Jenen Irrthum zur Basis aller weiteren Folgerungen machend, stellt er zun\u00e4chst fest, dass Ern\u00e4hrung und Fortpflanzung die wichtigsten Functionen der Pflanze seien2), und dass mithin die nutritiven und reproductiven Organe die h\u00f6chste Bedeutung bes\u00e4\u00dfen. Zufolge der v\u00f6llig gleichen Wichtigkeit beider m\u00fcsse aber ein auf die ersteren sich gr\u00fcndendes System nothwendig mit einem auf den letzteren basirenden \u00fcbereinstimmen. Diese Uebereinstimmung sei demnach ein zuverl\u00e4ssiges Kriterium f\u00fcr die Richtigkeit und Nat\u00fcrlichkeit eines Systems oder bestimmter Abtheilungen desselben. Wenn man heutzutage ein System vorwiegend auf die Fortpflanzungsorgane gr\u00fcnde, so sei das eine lediglich durch die bessere Kenntniss dieser, die mangelhaftere jener bedingte Nothwendigkeit. Es ist indessen leicht ersichtlich, dass der von De Candolle als Naturgesetz hingestellte Parallelismus der Ab\u00e4nderungen des vegetativen und reproductiven Organsystems ein durchaus apriorisches Princip ist, welches wohl in einzelnen F\u00e4llen und in dem allgemeinsten Sinne, dass wesentliche Ver\u00e4nderungen des einen nicht ohne gleichzeitige Ver\u00e4nderungen des anderen auftreten k\u00f6nnen, zutrifft, keineswegs aber die Bedeutung eines allgemeing\u00fcltigen Gesetzes beanspruchen darf. De Candolle vermochte auch selbst sein Princip durchaus nicht zu beweisen, da er zugesteht, wie wenig der Em\u00e4hrungsapparat bislang bekannt sei und zur Basis einer Classification gemacht werden k\u00f6nne.\nDer wahre Werth eines Organes l\u00e4sst sich, wie er ferner auseinandersetzt, a priori und a posteriori ermitteln, par le raisonnement et par l\u2019observation, und zwar ist der erste Weg, sobald die Verrichtung einmal bekannt ist, der k\u00fcrzeste und zuverl\u00e4ssigste.3) So gilt ihm also auch hier ein Princip a priori am h\u00f6chsten, wie er denn \u00fcberhaupt in der Ableitung der classificatorischen Grunds\u00e4tze der Deduction ein bedeutendes Uebergewicht \u00fcber die Induction zuerkennt. A priori findet er demgem\u00e4\u00df, dass \u2014 und hier l\u00e4uft zugleich ein Irrthum seiner Zeit mit unter \u2014 die Gef\u00e4\u00dfe unter den Ern\u00e4hrungsorganen, der\n1) Ibid. p. 170.\n2) p. 76 ff.\n3) p. 82 ff.","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n229\nEmbryo unter den Fortpflanzungsorganen die erste Stelle einnehmen, w\u00e4hrend Staubgef\u00e4\u00dfe und Stempel, die Integumente des Samens, Corolle , Kelch und Involucren, endlich die accessorischen Organe der Reihe nach von immer geringerem Werthe sind1).\nParallel mit dieser Stufenfolge der Wichtigkeit der Organe selbst l\u00e4uft die der Gesichtspunkte ihrer Betrachtung2): 1. An- oder Abwesenheit, nur f\u00fcr die allgemeinsten Gliederungen mit Sicherheit anzuwenden; 2. relative (oder absolute) Stellung und Zahl der Organe oder ihrer Theile, wegen ihres Einflusses auf den Symmetrieplan und ihrer gro\u00dfen Constanz von hervorragender Bedeutung; 3. relative Gr\u00f6\u00dfe u. s. w.\nStreng nach diesen solcherweise deducirten Principien f\u00fchrt nun D e C a n d o 11 e auch wirklich die analytische Gliederung des Pflanzenreiches durch3). Auf An- und Abwesenheit derGef\u00e4\u00dfe gr\u00fcndet er die erste Dichotomie in V\u00e9g\u00e9taux Vasculaires und V. Cellulaires, die nach seiner Meinung \u00fcbereinstimmt und \u00fcbereinstimmen muss mit der auf Grund der An- und Abwesenheit der Kotyledonen des Embryo vollzogenen Theilung in Cotyl\u00e9don\u00e9s und Acotyl\u00e9don\u00e9s, ein angeblicher Beweis ihrer Nat\u00fcrlichkeit. Die weitere Theilung der ersteren Gruppe basirt auf der Stellung der Gef\u00e4\u00dfe, mit der nach De Candolle\u2019s irriger Ansicht zugleich eine bestimmte Art des Dickenwachsthums verbunden ist: Exog\u00e8nes und Endog\u00e8nes. Die Nat\u00fcrlichkeit dieser Abtheilungen wird als zweifellos erachtet, da die auf die Stellung der Kotyledonen sich gr\u00fcndende Dichotomie in Dicotyl\u00e9dones mit gegenst\u00e4ndigen und Monocotyl\u00e9don\u00e9s mit wechselst\u00e4ndigen Keimbl\u00e4ttern als mit jener sich deckend befunden wird. F\u00fcr die Gliederung der Akotyledonen musste des Mangels der Fortpflanzungsorgane und der wichtigeren Ern\u00e4hrungsorgane halber ein weniger bedeutungsvolles Ern\u00e4hrungsorgan, die Bl\u00e4tter, herbeigezogen werden, auf deren An- und Abwesenheit die Abtheilungen der Foliac\u00e9s und Aphylles sich gr\u00fcnden.\nDiese analytische Methode wendet aber De Candolle nun nicht weiter zur Gewinnung von Familien und Gattungen an, sondern es sind diese, ganz \u00e4hnlich wie bei Jussieu, rein synthetisch gebildete Gruppen, mit dem beachtenswerthen Unterschied indessen, dass De\n1) Ibid. j). 83.\n2} p. 147 ff.\n3) p, 237 ff.","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\nReinhold K\u00f6rner.\nCandolle von der Systematik der Zukunft fordert, auch die Familien als methodischeAbtheil ungen (divisions m\u00e9thodiques) der Classen, die Genera als solche der Familien darzustellen, weil anders nicht mit Sicherheit eine nat\u00fcrliche Umgrenzung derselben gewonnen werden k\u00f6nne1). So ist De Candolle zwar einseitiger in seinen Anschauungen als J u s s i e u , aber auch consequenter ; die Werthsch\u00e4tzung deductiver Principien f\u00fcr die Classification findet sich bei ihm am st\u00e4rksten ausgepr\u00e4gt.\nWas die Methodik Cuvier\u2019s anlangt, so giebt dieser in so ausgezeichneter Deutlichkeit und K\u00fcrze Aufschluss dar\u00fcber, dass man mir gestatten wird, ihn zun\u00e4chst selbst sprechen zu lassen: \u00bbJ\u2019ai examin\u00e9 une \u00e0 une toutes les esp\u00e8ces que j\u2019ai pu me procurer en nature; j\u2019ai rapproch\u00e9 celles qui ne diff\u00e9raient l\u2019une de l\u2019autre que par la taille, la couleur ou le nombre de quelques parties peu importantes, et j\u2019en ai fait\nce que j\u2019ai nomm\u00e9 un sous-genre...... Une fois mes sous-genres\n\u00e9tablis sur des rapports certains et compos\u00e9s d\u2019esp\u00e8ces bien constat\u00e9es, il ne s\u2019agissait plus que d\u2019en construire ce grand \u00e9chafaudage de genres, de tribus, de familles, d\u2019ordres, de classes et d\u2019embranchemens qui constitue l\u2019ensemble du r\u00e8gne animal. Ici j\u2019ai march\u00e9 en partie en montant des divisions inf\u00e9rieures aux sup\u00e9rieures par voie de rappro-chemens et de comparaisons ; en partie aussi en descendant des sup\u00e9rieures aux inf\u00e9rieures par le principe de la subordination des caract\u00e8res, comparant soigneusement les r\u00e9sultats des deux m\u00e9thodes, les v\u00e9rifiant l\u2019une par l\u2019autre\u00ab2). \u00bbLes parties d\u2019un \u00eatre devant toutes avoir une convenance mutuelle, il est tels traits de conformation qui en excluent d\u2019autres ; il en est qui, au contraire, en n\u00e9cessitent ; quand on conna\u00eet donc tels ou tels traits dans un \u00eatre, on peut calculer ceux qui coexistent avec ceux-l\u00e0, ou ceux qui leur sont incompatibles; les parties, les propri\u00e9t\u00e9s ou les traits de conformation qui ont le plus grand nombre de ces rapports d\u2019incompatibilit\u00e9 ou de coexistence avec d\u2019autres, ou en d\u2019autres termes, qui exercent sur l\u2019ensemble de l\u2019\u00eatre l\u2019influence la plus marqu\u00e9e, sont ce que l\u2019on appelle les caract\u00e8res importans, les caract\u00e8res dominateurs; les autres sont les caract\u00e8res subordonn\u00e9s, et il y en a ainsi de diff\u00e9rens degr\u00e9s. Cette influence des caract\u00e8res se\n1)\tIbid. p. 217.\n2)\tR\u00e8gne animal, Pr\u00e9face p. 12\u201414.","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n231\nd\u00e9termine quelquefois d\u2019une mani\u00e8re rationelle par la consid\u00e9ration de la nature de l\u2019organe; quand cela ne se peut, on emploie la simple observation, et un moyen s\u00fbr de reconna\u00eetre les caract\u00e8res importans, lequel d\u00e9rive de leur nature m\u00eame, c\u2019est qu\u2019ils sont les plus constans; et que dans une longue s\u00e9rie d\u2019\u00eatres divers, rapproch\u00e9s d\u2019apr\u00e8s leurs degr\u00e9s de similitude, ces caract\u00e8res sont les derniers qui varient. De leur influence et de leur constance r\u00e9sulte \u00e9galement la r\u00e8gle, qu\u2019ils doivent \u00eatre pr\u00e9f\u00e9r\u00e9s pour distinguer les grandes divisions ; et qu\u2019\u00e0 mesure que l\u2019on descend aux subdivisions inf\u00e9rieures, on peut descendre aussi aux caract\u00e8res subordonn\u00e9s et variables\u00ab1). \u00bbD\u2019apr\u00e8s ce que nous avons dit sur les m\u00e9thodes en g\u00e9n\u00e9ral, il s\u2019agit de savoir quels sont dans les animaux le? caract\u00e8res les plus influens dont il faudra faire les bases de leurs premi\u00e8res divisions. Il est clair que ce doivent \u00eatre ceux qui se tirent des fonctions animales; c\u2019est, adir\u00e9, des sensations et du mouvement, car non seulement ils font de l\u2019\u00eatre un animal, mais ils \u00e9tablissent en quelque sorte le degr\u00e9 de son animalit\u00e9\u00ab2).\nDiese Gedankenreihen haben in vieler Beziehung eine auffallende Aehnlichkeit mit denen De Candolle\u2019s. Ein nicht unwesentlicher Unterschied besteht jedoch darin, dass bei Cuvier die Wichtigkeit eines Organs zu seiner Constanz in viel engere Beziehung gebracht wird, indem sich sogar, wie aus fr\u00fcheren Werken erhellt3), der Begriff der ersteren aus dem der letzteren entwickelt hat. Sp\u00e4ter freilich blieb sich Cuvier dieses Ursprunges nicht mehr bewusst, weshalb auch er in den allgemeinen Fehler verfallen konnte, die classificatorische Wichtigkeit eines Organs durch seine physiologische Bedeutung absch\u00e4tzen zu wollen. Auch das Princip des dominirenden Einflusses bestimmter Organe auf die Gesammtorganisation hat seine Quelle in der Beobachtung des constanten gemeinsamen Vorkommens oder Fehlens derselben in den verschiedenen Gruppen des Systems und ist in deductiver Anwendung von zweifelhaftem Werthe. Dasselbe war \u00fcbrigens De Candolle keineswegs fremd, da er in einem seiner fr\u00fcheren Werke nachdr\u00fccklich daraufhinweist4) ; sp\u00e4ter aber lie\u00df er es v\u00f6llig in den Hintergrund treten, leider fehlerhafteren Principien den Vorrang g\u00f6nnend.\n1) Ibid. (Introduction), p. 10, 11.\n3)\tTableau \u00e9l\u00e9mentaire, p. 17, 20, 21.\n4)\tEssai sur les propri\u00e9t\u00e9s m\u00e9dicales, p. 7.\n2) Ibid. p. 55.","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nReinhold K\u00f6rner.\nEine bestimmte Stufenordnung der Charaktere, wie De Candolle, hat Cuvier nicht aufgestellt; er meint blo\u00df, sie k\u00f6nne gefunden werden, und die h\u00f6heren und niederen Abtheilungen sollten sich dann auf Charaktere bestimmten Ranges st\u00fctzen. Nur \u00fcber die ersten, den obersten Abtheilungen zu Grunde liegenden Charaktere hat er reflectirt, wobei er indessen seine Ansicht mehrmals um\u00e4nderte. In Wahrheit bedurfte es jedoch solcher Deductionen gar nicht zur Aufstellung seines Systems ; denn wie eine aufmerksamere Pr\u00fcfung lehrt, h\u00e4ngen bei Cuvier Theorie und Praxis durchaus nicht in allen Theilen zusammen, ist sein vortreffliches System nicht auf Grund jener obersten Principien, sondern \u2014 man darf sagen gl\u00fccklicherweise \u2014 auf echt inductivem Wege entstanden. Dass er das Princip der Subordination der Charaktere im Verein mit dem des dominirenden Einflusses der Organe, wie er dies in der Darlegung seiner Methoden ausspricht, neben der vergleichenden Synthese anwandte, braucht man darum nicht zu leugnen; sicher aber war die letztere das Verfahren, durch welches das System eigentlich geschaffen wurde, w\u00e4hrend die ersteren in Wahrheit nur zum Zweck der Contr\u00f4le zur Anwendung kamen, wodurch allein er den nothwendigen wissenschaftlichen Beweis der Nat\u00fcrlichkeit der durch Synthese erhaltenen Gruppen f\u00fchren zu k\u00f6nnen glaubte. Das w\u00e4re jedoch nur dann der Fall gewesen, wenn diese Principien wirklich die Bedeutung allgemeiner Gesetze hatten. Thats\u00e4chlich findet man keine einzige Gruppe seines Systems, welche auf Grund jener Principien gebildet wurde; selbst die \u00bbEm-branchemens\u00ab sind, wie es durch seine eigene Darstellung in der ersten davon handelnden Schrift \u00bbSur un nouveau rapprochement\u00ab (p. 73\u201476) v\u00f6llig unzweifelhaft wird, auf dem Wege reinster Induction gefunden, nicht aber, wie V. Carus meint, an der Hand des Principes der Subordination, auf welches Cuvier allerdings nachtr\u00e4glich auch diese Gruppen pr\u00fcfte.\nHieraus ergiebt sich als Hauptunterschied des Classificationsverfahrens von De Candolle und Cuvier, dass jener in einseitiger Werthsch\u00e4tzung des Principes der Rangordnung der Charactere auch praktisch in engem Anschlu\u00df an dasselbe seine darum vorwiegend analytische Eintheilung des Pflanzenreichs durchf\u00fchrte, w\u00e4hrend dieser, das Princip schon theoretisch nicht \u00fcbersch\u00e4tzend, praktisch demselben mit gl\u00fccklichem Takte eine durchaus secund\u00e4re Rolle","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\t233\nzuertheilte und gerade deshalb die schweren irrth\u00fcmer des ersteren vermied.\nDie Methode, welcher Agassiz folgt, ist im allgemeinen zwar vorwiegend synthetisch; es steht ihr aber ein Princip eigenster Art zur Seite, wonach die Gruppen jeder Stufe durch von einander v\u00f6llig verschiedene Merkmale gekennzeichnet sein sollen, so jedoch, dass diese von der niedersten bis zur h\u00f6chsten Kategorie von immer umfassenderem Werthe sind, und also auch hei Agassiz eine gewisse Rangordnung der Charaktere bestellt. Hiervon kann \u00fcbrigens erst weiter unten eingehender gehandelt werden.\nDie vorausgehenden Betrachtungen haben gezeigt, wie unzul\u00e4nglich in seiner Anwendung das Princip der Subordination der Charaktere erschien und erscheinen musste. Kann dasselbe aber auch heutzutage, in der damaligen Auffassung wenigstens, als \u00fcberwunden gelten, so war es doch f\u00fcr jene Zeit gar wohl berechtigt, da man schlie\u00dflich, wenn man \u00fcberhaupt ein allgemeines Princip an die Spitze stellen wollte, in Anbetracht der mangelnden Kenntniss von der wahren genetischen Bedeutung des Systems , ein besseres nicht finden konnte. Aber schon jenen grossen Classificatoren blieb es nicht verborgen, wie wenig oft derartige allgemeine Grunds\u00e4tze f\u00fcr die Beur-theilung von Einzelf\u00e4llen gen\u00fcgten, wie die ganz bestimmte Art und Weise der Verkettung der formverwandtschaftlichen Beziehungen durch keine Regel a priori zu analysiren sei. Sehr deutlich spricht sich diese Erkenntniss bei Villot aus, der noch neuerdings die Prin-cipien der Classification vom vor- oder antidarwinistischen Standpunkt aus entwickelt hat : \u00bb On a reconnu qu\u2019il n\u2019existe de valeur absolue ni pour les organes ni pour les caract\u00e8res, qu\u2019un organe est dominateur ou subordonn\u00e9 selon qu\u2019il est plus ou moins d\u00e9velopp\u00e9, qu\u2019un m\u00eame organe peut fournir des caract\u00e8res de valeur bien diff\u00e9rente, et que le m\u00eame caract\u00e8re n\u2019a point la m\u00eame importance dans toutes les groupes. L\u2019observation et la comparaison des \u00eatres peuvent seules nous donner une id\u00e9e juste de l\u2019importance relative des caract\u00e8res de m\u00eame ordre, et elles doivent \u00eatre renouvel\u00e9es pour chaque groupe\u00ab1).\nDie richtige L\u00f6sung des Problems war nur m\u00f6glich durch die Erkenntniss, dass wahre Stammesverwandtschaft es sei, welche in dieser\n1) Villot, Classification du r\u00e8gne animal, p. 23.","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\nReinhold K\u00f6rner.\nvielfach verschlungenen Form Verwandtschaft ihren Ausdruck finde. Diese Erkenntniss zeigt, dass die classificatorische Wichtigkeit eines Organs keinesfalls an die physiologische Bedeutung desselben gebunden ist, und selbst eine Ableitung auf inductivem Wege unter alleiniger Ber\u00fccksichtigung der ausgehildeten und gegenw\u00e4rtig existiren-den Formen sich als unzureichend und unsicher erweist, dass vielmehr nur die Entwicklungs- und die aus ihr erschlossene Stammesgeschichte \u00fcber die wahre classificatorische Bedeutung eines Charakters f\u00fcr bestimmte Formencomplexe Aufschluss zu geben vermag.\nd. Der Begriff des Typus.\nDer Uebergang aus der \u00e4lteren in die neuere Anschauung ward wesentlich mit angebahnt und gefordert durch eine Art, die organischen Wesen zu betrachten, welche in dem ausgedehnten Studium der vergleichenden Morphologie ihren Ursprung hatte und sich in dem Auftreten des fast gleichzeitig auch in anderen Wissenschaftsgebieten Einfluss gewinnenden Begriffes des Typus, des Bauplans oder der Grundform zu erkennen gibt. Wundt hat denselben in seiner generellen Bedeutung ausf\u00fchrlich er\u00f6rtertr) ; ich kann mich also darauf beschr\u00e4nken, seine specielle Bedeutung f\u00fcr die Systematik der Organismen in K\u00fcrze darzulegen.\nIm Anschluss an Wundt, der in FLinsicht auf die empirischen Grundlagen des Begriffes demselben eine dreifach verschiedene Bedeutung als Bezeichnung der einfachsten Form, der vollkommensten Form und einer blo\u00df formalen Eigenschaft zuerkennt, unterscheide ich f\u00fcr meinen Zweck die genetischen Typen von den formalen Typen, wobei jene sich ungef\u00e4hr mit den beiden ersten, diese mit der dritten der genannten Bedeutungen decken. Unter genetischen Typen verstehe ich solche, welche zur Bezeichnung wahrer genetischer Einheiten dienen und deshalb, wenn auch nicht zu solchem Zwecke aufgestellt, doch thats\u00e4chlich der Erkenntniss der ihnen zu Grunde liegenden gemeinsamen Entwicklung Vorschub leisten konnten; unter formalen Typen solche, welche lediglich formale Einheiten aus-dr\u00fccken, die im allgemeinen nicht ein einheitliches Entwicklungs-\n1) Wundt, Logik, Bd. 2, p. 47 ff.","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n235\nganzes unter sich begreifen, mithin auch zu dessen Erkenntniss nichts beizutragen verm\u00f6gen.\nDie letzteren, hier von untergeordneterer Bedeutung, waren und sind der Gegenstand der Bem\u00fchungen, s\u00e4mmtliche organische Formen auf wenige einfache stereometrische Grundformen zur\u00fcckzu-f\u00fchren, wie dies besonders von Bronn in seinen \u00bbMorphologischen Studien \u00fcber die Gestaltungsgesetze der Naturk\u00f6rper\u00ab und vonHaeckel in seiner \u00bbGenerellen Promorphologie oder allgemeinen Grundformenlehre der Organismen\u00ab1) versucht worden ist.\nHaeckel hat sowohl den Werth dieses Zweiges der morphologischen Wissenschaft als auch seine Grenzen zum ersten Male klar erkannt. Die organische Grundform ist ihm durchaus keine m\u00fc\u00dfige und willk\u00fcrliche Abstraction, die durch beliebige Hervorhebung oder willk\u00fcrliche Erg\u00e4nzung einzelner Begrenzungsfl\u00e4chen, Linien oder Winkel des organischen K\u00f6rpers erhalten w\u00fcrde, sondern der noth-wendige und unver\u00e4nderliche Ausdruck des constanten Lagerungsverh\u00e4ltnisses aller constituirenden Bestandtheile der organischen Form zu einander und zum Ganzen. Solch eine gesetzm\u00e4\u00dfige Abstraction aber zeigt zwar den Weg, auf dem sich eine Erforschung der realen Gestaltungsgesetze bewegen muss, ist jedoch keineswegs, wie Bronn meinte, als Ausdruck dieser selbst zu betrachten. Diese Typen sind lediglich formal, indem sie zur Genese der Organismen in einem h\u00f6chstens zuf\u00e4lligen Zusammenhang stehen, weshalb sie f\u00fcr die Classification keinendirecten Werth besitzen. MitRecht sagtdaher Haeckel2): \u00bbEin Grundfehler aller bisherigen Untersuchungen der zoologischen Grundformen liegt in der falschen Voraussetzung, dass die verschiedenen Grundformen, welche sich aus den realen Formen der actuellen thierischen Bionten ableiten lassen, vollkommen einigen wenigen Hauptabtheilungen des Thierreichs entsprechen. So entstand die vielfach angenommene Eintheilung des Thierreichs in die drei Grundformen der irregul\u00e4ren Amorphozoen, der regul\u00e4ren Strahlthiere und der symmetrischen Bilateralthiere\u00ab.\nMan verstand es eben nicht, die formalen von den genetischen Typen zu trennen, sodass man, beide vermengend, ein weder diese noch jene richtig zur Darstellung bringendes Resultat erhielt. Diese\n1)\tGenerelle Morphologie, Bd. 1, Buch 4.\n2)\tIbid. p. 394.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nReinhold K\u00f6rner.\nVerwechselung macht sich daher auch in den meisten Systemen bemerkbar, welche bestimmte Typen zum Ausdruck bringen. Man glaubte nat\u00fcrliche, d. h. als in gemeinsamem Causalzusammenhang stehend betrachtete Organismengruppen unter solche Typen zu versammeln und nahm gar oft die blo\u00df formale f\u00fcr Wesensverwandtschaft. Ich erinnere hier nur an den vor Leuckart allgemein g\u00fcltigen und auch sp\u00e4ter noch von Agassiz aufrecht erhaltenen Typus der Radia-ten, der weder eine genetische noch eine formale Einheit genannt werden kann.\nOer wahrhaft genetische Typus aber kann zwar Wesen umfassen, denen eine bestimmte stereometrische Grundform gemeinsam ist, ist jedoch an deren Auftreten keineswegs gebunden, da sowohl ein und derselbe formale Typus in mehrere genetische Typen \u2014 man denke an die bilaterale Symmetrie der Vertebraten und Arthropoden \u2014, als auch mehrere formale Typen in einen und denselben genetischen Typus \u2014 man denke an die bilateralen Larven der sp\u00e4ter radi\u00e4ren Echinodermen \u2014 eingehen k\u00f6nnen. Der genetische Typus st\u00fctzt sich daher zwar mit auf die Anwesenheit einer bestimmten geometrischen Grundform, zugleich aber auf die Gemeinsamkeit der wesentlichen anatomischen und embryologischen Eigent\u00fcmlichkeiten f\u00fcr alle darunter befassten Vertreter. In diesem Sinne ist der Begriff des Typus auch wirklich von Cuvier, De Candolle, Agassizu. A. im Interesse der Classification verwandt worden.\nEs lag nun aber die Gefahr au\u00dferordentlich nahe, dass dieser Begriff, welcher thats\u00e4chlich auf ganz dem gleichen Wege der Abstraction entstanden war wie alle \u00fcbrigen Begriffe des Systems, zumal in der urspr\u00fcnglichen Bezeichnung \u00bbGrundform\u00ab oder \u00bbBauplan\u00ab, den Glauben hervorrufen konnte, die als Typen aufgefassten Gruppen des Thierreichs und Pflanzenreichs seien von den \u00fcbrigen verschieden, und die Idee des Typus habe eine reale Existenz auch au\u00dferhalb unsres Geistes. In der That sind dieser Gefahr die bedeutendsten Systematiker nicht entgangen.\nCuvier macht darin eine r\u00fchmliche Ausnahme. Wie schon oben bemerkt, hat der Ausdruck \u00bbBauplan\u00ab, \u00bbGrundform\u00ab bei ihm eine lediglich symbolische Bedeutung. Zur Aufstellung seiner vier Hauptabtheilungen des Thierreichs, deren jede sich auf einen allgemeinen Bauplan gr\u00fcndet, veranlasste ihn nur die ihn st\u00f6rende Thatsache, dass","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n237\nzwar die Classen der Wirbelthiere, in keiner Weise aber die der Wirbellosen allgemein sich charakterisiren lie\u00dfen. \u00bbJ\u2019ai trouv\u00e9 enfin la cause et le rem\u00e8de de ce d\u00e9savantage. C\u2019est que trop respectueux pour les usages ant\u00e9rieurs, j\u2019avais donn\u00e9 ce titre de classes \u00e0 des groupes d\u2019ordre tr\u00e8s diff\u00e9rent; et que ma classe des mollusques, par exemple, \u00e9quivaloit presque par l\u2019importance de ces caract\u00e8res g\u00e9n\u00e9raux, et par la vari\u00e9t\u00e9 des \u00eatres qui la composent, \u00e0 la s\u00e9rie enti\u00e8re des animaux vert\u00e9br\u00e9s, de sorte qu\u2019il aurait fallu ou ne faire qu'une seule classe de tous les vert\u00e9br\u00e9s, ou subdiviser les mollusques en plusieurs. En consid\u00e9rant le r\u00e8gne animal sous ce nouveau point de vue, et n\u2019ayant \u00e9gard qu\u2019aux animaux eux m\u00eames, .... j\u2019ai trouv\u00e9 qu\u2019il existe quatre formes principales, quatre plans g\u00e9n\u00e9raux, d\u2019apr\u00e8s lesquels tous les animaux semblent avoir \u00e9t\u00e9 model\u00e9s, et dont les divisions ult\u00e9rieures ne sont que des modifications assez l\u00e9g\u00e8res fond\u00e9es sur le d\u00e9veloppement ou sur l\u2019addition de quelques parties, mais qui ne changent rien sur l\u2019essence du plan\u00abl).\nDiese vier Hauptabtheilungen bezeichnet Cuvier \u00fcbrigens nie anders als \u00bbEmbranchemens\u00ab, \u00bbGrandes Divisions\u00ab oder \u00bbProvinces\u00ab, w\u00e4hrend ihre Bezeichnung als \u00bbTypen\u00ab erst sp\u00e4ter \u00fcblich wurde. Dass er es zudem keineswegs als ausschlie\u00dfliches Merkmal dieser h\u00f6chsten Abtheilungen erachtete, eine bestimmte Grundform zu besitzen, beweist deutlich der Umstand, dass auch die Articulaten sich ihm als \u00bbquatre formes principales\u00ab, die Pteropoden als \u00bbdeux formes principales\u00ab darstellen.\nEine ungleich tiefere, wenngleich stark transscendente Auffassung des Typusbegriffes spricht sich in De Candolle\u2019s Lehre vom \u00bbSymmetrieplan\u00ab aus, der bedeutungsvollsten und fruchtbarsten Theorie dieses vergleichenden Morphologen. Diese Theorie unterscheidet sich zun\u00e4chst darin sehr wesentlich von den ihr verwandten, dass sie statt des allgemeineren Begriffs des \u00bbBauplanes\u00ab den besonderen des \u00bbSymmetrieplanes\u00ab einsetzt nach dem apriorischen Grunds\u00e4tze : \u00bbTout l\u2019ensemble de la nature tend \u00e0 faire penser, que tous les \u00eatres organis\u00e9s sont r\u00e9guliers dans leur nature intime\u00ab2), der \u00fcbrigens f\u00fcr das besondere Gebiet, auf welches er haupts\u00e4chlich Anwendung findet, n\u00e4mlich den Bau der Bl\u00fcthen in den nat\u00fcrlichen Familien, in der That ganz\n1)\tSur un nouveau rapprochement, p. 76.\n2)\tTh\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire, p. 79.","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nReinliold K\u00f6rner.\nallgemeine Geltung hat und auch offenbar auf diesem Wege inductiv gewonnen wurde. Denn fast ausschlie\u00dflich in R\u00fccksicht auf die Familien des Pflanzenreichs ist diese Theorie entworfen, w\u00e4hrend von einem gemeinsamen Bauplan der h\u00f6heren Abtheilungen, wie hei den Thieren ganz gew\u00f6hnlich, kaum andeutungsweise die Rede ist.\nDiese Symmetrie beruht nach De Candolle haupts\u00e4chlich auf der absoluten oder relativen Stellung, Zahl, Gr\u00f6\u00dfe und Form der Elemente. Jeder Familie schreibt er einen \u00bbv\u00e9ritable type sym\u00e9trique\u00ab zu, den unter allen modificirenden Umst\u00e4nden herauszufinden in \u00e4hnlichem Sinne Hauptaufgabe des Botanikers, als es die des Mineralogen sei, die unz\u00e4hligen Krystallformen auf wenige, einfache Grundformen zur\u00fcckzuf\u00fchren \u25a0'). Der Typus ist ihm ganz ersichtlich die einfachs te und zugleich die vollkommenste Form aller Repr\u00e4sentanten der betreffenden nat\u00fcrlichen Familie, die er aber nicht als Abstraction des menschlichen Geistes, sondern als wirklichen \u00bbplan primitif\u00ab auffasst, welcher der Sch\u00f6pfung einer jeden dieser Gruppen zu Grunde lag und in mannigfachen Modificationen verwirklicht wurde. Dieses Auffinden des urspr\u00fcnglichen Planes aber wird nach De Candolle h\u00e4ufig erschwert durch Abortus und Verwachsungen bestimmter Theile, wodurch Unregelm\u00e4\u00dfigkeiten entstehen. Besonders die Auffassung des Abortus ist es, welche De Candolle vollst\u00e4ndig als Geistesverwandten des Agassiz kennzeichnet : Abortirte Organe sind ihm Organe, \u00bbqui doivent exister dans le plan primitif, mais qui se sont d\u00e9truits , soit avant le d\u00e9veloppement visible de l\u2019organe, soit depuis l\u2019\u00e9poque o\u00f9 l\u2019organe est devenu visible \u00e0 nos yeux\u00ab2). Abortirte, doch nicht v\u00f6llig geschwundene, sondern nur rudiment\u00e4r und dadurch physiologisch bedeutungslos gewordene Organe dienen ihm aber auch zum directen Nachweis des g\u00f6ttlichen Ursprungs der einzelnen Symmetriepl\u00e4ne, indem solche nur zur Wahrung der Symmetrie vorhanden sein sollen. Dabei sieht er indessen ab von den ungemein zahlreichen F\u00e4llen, in denen der Abortus wirklich zum v\u00f6lligen Verschwinden des Organs, also zur thats\u00e4chlichen St\u00f6rung des Symmetrieplans f\u00fchrt, wof\u00fcr dann eben nur die Erkl\u00e4rung \u00fcbrig bleibt, dass in der sch\u00f6pferischen Idee der Plan anfangs doch symmetrisch war, sich aber nachtr\u00e4glich, sei es in dieser seihst, sei es in der individuellen Entwicklung\n1} Ibid. p. 188.\n2) p. 187.","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n239\nder bereits ins Dasein getretenen Organismen aus unbekannten Gr\u00fcnden zur Asymmetrie neigte.\nDiese transscendente Auffassung des Typusbegriffes findet bei Agassiz eine noch viel allgemeinere Anwendung auf das gesammte System. Denn wenn auch im strengeren Sinn nur die \u00bbBranches\u00ab als Ausdruck wirklicher Baupl\u00e4ne betrachtet werden, so sind doch die Gruppen der anderen Kategorien nicht weniger als Verk\u00f6rperungen besonderer sch\u00f6pferischer Ideen aufgefasst, wor\u00fcber unten N\u00e4heres gesagt werden soll.\nDas Werthvolle in der Aufstellung der \u00bbTypen\u00ab, besonders durch die beiden letztgenannten M\u00e4nner, liegt darin, dass bestimmte Gruppen des Systems nicht als blo\u00dfe Vereinigungen nach Form\u00e4hnlichkeit, sondern thats\u00e4chlich als genetische Einheiten hingestellt werden, wenngleich die Entwicklung selbst in die Gedanken des Sch\u00f6pfers vor der Verwirklichung der Formen zur\u00fcckverlegt wird, wozu die N\u00f6thigung in dem Dogma von der Constanz der Arten und nicht unwesentlich auch in dem Drange eines Gem\u00fcthsbed\u00fcrfnisses gelegen ist. Man darf aber nicht \u00fcbersehen, dass die Gruppen selbst dabei urspr\u00fcnglich doch lediglich nach descriptiven Merkmalen gebildet wurden, und das genetische Moment nichts als ein nachtr\u00e4glich \u00fcbergeworfenes Gewand ist. Erst wenn die Entwicklung in die Objecte selbst verlegt, mithin also der Untersuchung zug\u00e4nglich, der Erkl\u00e4rung f\u00e4hig wird, erst dann ist es m\u00f6glich, die Feststellung der genetischen Beziehungen zum Ersten, die Vereinigung der auf Grund derselben zusammengeh\u00f6rigen Wesen zum Zweiten zu machen. Es ist jedoch klar, dass eben durch die Betonung des genetischen Momentes das Auftreten des Typusbegriffes in der Systematik den Uebergang der Classificationen nach Form Verwandtschaft in die Classificationen nach realer Stammesverwandtschaft bezeichnet.\nC. Die genetische Methode im engeren Sinne oder die Classification auf Grund der Stammesverwandtschaft.\nDie M\u00f6glichkeit des Auftretens der genetischen Methode im engeren Sinne war gegeben mit dem Sturze des Unver\u00e4nderlichkeitsdogmas und dem gleichzeitigen Beweise, dass reale genetische Beziehungen zwischen den organischen Wesen bestehen, und Stammesverwandt-","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nRfiiiiliold K\u00f6rner.\nSchaft die Ursache der Form Verwandtschaft sei. Dieser Beweis ward am vollst\u00e4ndigsten erbracht durch Charles Darwin, der auf Grund allseitiger Forschungen und mit Hilfe alles seither gelieferten werthvollen, aber zerstreuten und unverbundenen Materials seine Schl\u00fcsse zog. So entstand seine Descendenz- und Selecti\u00f6nstheorie, welche die langsame und allm\u00e4hliche Entwicklung aller thierischen und pflanzlichen Organismen aus einer oder einigen wenigen Stammformen^ vorz\u00fcglich durch die Wirkung der nat\u00fcrlichen und geschlechtlichen Zuchtwahl, zum Inhalte hat. Die Frage, inwieweit Darwin\u2019s Theorie f\u00fcr die Erkl\u00e4rung der organischen Formen zureichend sei, kann hier uner\u00f6rtert bleiben; ihre Bedeutung f\u00fcr die Systematik ist zweifellos eine ganz au\u00dferordentliche.\nDarwin hat seihst die aus seiner Theorie f\u00fcr die Classification sich ergehenden Regeln in ausgezeichneter Weise dargelegt1), und seine Nachfolger, unter ihnen besonders Haeckel, sind bem\u00fcht, nach diesen Regeln das systematische Geb\u00e4ude auszubauen. Darwin hat nicht nur die Aufgabe der Systematik neu gestellt und tiefer erfasst, sondern auch vieles vorher Dunkle und R\u00e4thselhafte aufgekl\u00e4rt.\nDie Erkenntniss des realen genetischen Zusammenhangs der Organismen kann sich nicht mehr damit begn\u00fcgen, in dem System ein blo\u00dfes Fachwerk zur logisch-\u00fcbersichtlichen Anordnung der Objecte, oder ein praktisches Hilfsmittel im Dienste der Beschreibung und Benennung derselben, oder die Darstellung eines mystischen Sch\u00f6pfungsplanes zu sehen ; sie involvirt die unbedingte Forderung, dass das System das subjective Abbild der objectiven verwandtschaftlichen Beziehungen sei, den Stammbaum, resp. die Stammb\u00e4ume der organischen Welt zum Ausdruck bringe. Jeder Organismus nimmt seinen bestimmten und unver\u00e4nderlichen Platz in der Geschichte der Ge-sammtentwicklung des organischen Lebens ein ; jede willk\u00fcrliche Bestimmung desselben ist ausgeschlossen ; nur ihn aufzufinden, ihn zu bezeichnen kann die Aufgabe der systematischen Wissenschaft sein.\nIm Lichte der Darwinschen Theorie stellen sich die als Typen bezeichneten Allgemeinbegriffe nicht als ideal genetische, sondern real genetische Einheiten, als Abstractionen wirklich der Abstammung\n1) Entstehung der Arten, bes. Cap. 14.","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n241\nnach zusammengeh\u00f6riger Einzelwesen, das \u00bbTypische\u00ab derselben als Erbe von einer gemeinsamen Stammform, das Abweichende als Folge mannigfacher Anpassungen dar; die rudiment\u00e4ren Organe, fr\u00fcher der Gegenstand mystischer Erkl\u00e4rungen, geben sich als stark verk\u00fcmmerte Reste von den Vorfahren ererbter und bei diesen wolil-ausgebildeter und leistungsf\u00e4higer Organe kund ; nicht nur die That-sache der Aehnlichkeitsgrade der Organismen \u00fcberhaupt, sondern auch die vorher in ihrer Eigent\u00fcmlichkeit ganz unverst\u00e4ndliche bestimmte Art und Weise der form verwandtschaftlichen Beziehungen finden durch diese Theorie ihre nat\u00fcrliche Erkl\u00e4rung, sowie eine gro\u00dfe Anzahl vorher instinctiv aufgestellter und befolgter Regeln ihre causale Begr\u00fcndung.\nWenn es aber als Ziel der Systematik der Organismen bezeichnet wird, den Totalausdruck der stammverwandtschaftlichen Beziehungen zu gewinnen, so gilt es vor allen Dingen zu ermitteln, auf welche Weise und wie weit die Reconstruction des Stammbaumes oder der Genealogien im einzelnen \u00fcberhaupt m\u00f6glich ist.\nDa ist es nun eine Thatsache von nicht geringer Tragweite, dass der genetische Zusammenhang der Organismen, wegen der au\u00dferordentlich langen Zeitr\u00e4ume, in denen einigerma\u00dfen merkbare Umbildungen entstanden sind, und wegen der Unwiederbringlichkeit des Verlaufes der bereits geschehenen Umwandlungen, Gegenstand der unmittelbaren Erkenntniss in keiner Weise sein kann. Man ist also v\u00f6llig auf Schlussfolgerungen beschr\u00e4nkt, und leider stellen sich auch diesen viele und zum Theil un\u00fcberwindliche Schwierigkeiten in den Weg. F\u00fcr die M\u00f6glichkeit dieser Folgerungen ist jedoch von gr\u00f6\u00dfter Bedeutung die Annahme, dass der morphologische Aehnlichkeitsgrad allgemein im directen Verh\u00e4ltniss steht zum Verwandtschaftsgrad als seiner bedingenden Ursache, der erstere aber empirisch erkennbar ist. Darin liegt auch der Grund, warum die vor Darwin aufgestellten Systeme der Hauptsache nach noch jetzt unver\u00e4nderte G\u00fcltigkeit besitzen, warum die Erkenntniss der wahren Aufgabe der Systematik die fr\u00fcheren tausendfachen Bem\u00fchungen nicht fruchtlos macht. Denn indem man die Systeme nach den Graden der Formverwandtschaft entwarf, ordnete man unbewusst zugleich nach den Graden der Stammesverwandthscaft.\nMit jener Thatsache eng verkn\u00fcpft sind nun die drei Hilfs-\nWundt, Philos. Studien. II.","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nReinhold K\u00f6rner.\nmittel, welche dem Systematiker f\u00fcr die Reconstruction des Stammbaumes zu Gebote stehen.\nDas erste ist die vergleichende Anatomie und Morphologie, deren Werth f\u00fcr die Systematik schon vor Darwin in vollem Ma\u00dfe anerkannt wurde. Es l\u00e4sst jedoch die Form Verwandtschaft an sich oft eine mehrfache Deutung zu, w\u00e4hrend die genealogischen Beziehungen in jedem Falle unbedingt eindeutig sein m\u00fcssen. Hier f\u00e4llt die ungleiche Bedeutung der einzelnen Merkmale als wesentliches Moment in die Wagschale. Unbewusst die Spuren des Richtigen verfolgend, unterschied man schon fr\u00fcher die morphologischen oder homologen von den physiologischen oder analog en Charakteren, jene allein f\u00fcr die Systematik als werthvoll erachtend. Darwin\u2019s Theorie hat diese Ansicht gerechtfertigt. Die ersteren- Merkmale sind das vielen Formen gemeinsame, sehr constante, weil durch das Alter befestigte Erbtheil von einer l\u00e4ngst untergegangenen Stammform und werden darum auch genetische oder ererbte Charaktere genannt; die letzteren sind durch sp\u00e4tere Anpassung der Nachkommen jener Stammform an verschiedene \u00e4u\u00dfere Lebensbedingungen entstanden und werden deshalb adaptive oder Anpassungscharaktere genannt, obschon nat\u00fcrlich auch die genetischen Charaktere als einmal durch Anpassung erworbene betrachtet werden m\u00fcssen. Jene sind die relativ sehr best\u00e4ndigen Zahlen-und Lagerungsverh\u00e4ltnisse der Organe, welche von den Anpassungen und Umbildungen dieser in hohem Grade unabh\u00e4ngig sich zeigen. Daraus aber ergibt sich unmittelbar, dass und warum f\u00fcr die Ermittelung des verwandtschaftlichen Zusammenhangs die genetischen Merkmale, eben weil sie die altererbten sind und auf gemeinsame Abstammung hinweisen, in erster Linie in Betracht kommen, w\u00e4hrend Anpassungscharaktere nur von untergeordneter Wichtigkeit sind. \u00bbMan kann es als eine allgemeine Regel ansehen, dass, je weniger ein Theil der Organisation f\u00fcr Specialzwecke bestimmt ist, desto wichtiger er f\u00fcr die Classification wird\u00ab ').\nSo erkl\u00e4rt sich auch die hohe classificatorische Wichtigkeit der physiologisch oft bedeutungslosen rudiment\u00e4ren Organe. \u00bbRudiment\u00e4re Organe kann man mit den Buchstaben eines Wortes verglei-\n1) Darwin, Entstehung der Arten, p. 495.","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n243\nchen, welche heim Buchstabiren desselben noch heibehalten, aber nicht mit ausgesprochen werden und bei den Nachforschungen \u00fcber dessen Ursprung als vortreffliche F\u00fchrer dienen\u00ab1).\nDie beiden anderen zur Reconstruction des genealogischen Zusammenhanges dienenden Hilfsmittel sind erst durch 1)arwin in ihrer vollen Bedeutung gew\u00fcrdigt worden.\nDas eine derselben ist die vergleichende Embryologie oder Ontogenie. Da die Organismen keine unver\u00e4nderlichen Gr\u00f6\u00dfen sind, sondern w\u00e4hrend ihrer individuellen Existenz eine ganze Reihe oft h\u00f6chst verschiedenartiger Entwicklungszust\u00e4nde durchlaufen, so darf sich eine vergleichende Formbetrachtung nicht auf den einen, den Zustand des ausgebildeten Organismus beschr\u00e4nken, sondern hat nothwendig die ganze individuelle Entwicklungsgeschichte zu ber\u00fccksichtigen. Dabei sind besonders folgende Thatsachen von wesentlicher Bedeutung :\nDie individuelle Entwicklungsgeschichte ist ein allgemeines Bild, in ihren Grundz\u00fcgen eine kurze Recapitulation der Stammesgeschichte, und es gibt daher die der empirischen Untersuchung zug\u00e4ngliche Ontogenie oft werthvolle Aufschl\u00fcsse \u00fcber die empirisch nicht gegebene Phylogenie. An den Jugendzust\u00e4nden, besonders den keine freie Existenz f\u00fchrenden Embryonen, treten die morphologischen Charaktere viel reiner und unverf\u00e4lschter zu Tage, als an den durch mannigfache Anpassungen an die \u00e4u\u00dferen Lebensbedingungen modi-ficirten ausgebildeten Formen. Deshalb sind auch gleiche oder \u00e4hnliche Jugendzust\u00e4nde von Organismen, welche ausgebildet bedeutende Differenzen aufweisen, ein untr\u00fcgliches Kennzeichen der gemeinsamen Abstammung und je nach der Entwicklungsstufe, auf welcher die Aehnlichkeit hervortritt, der n\u00e4heren oder entfernteren Verwandtschaft derselben. Man darf es wohl als eine wenn auch nicht ausnahmslose Regel aussprechen, dass f\u00fcr die Beurtheilung der Verwandtschaft innerhalb der kleinsten Gruppen des Systems vorwiegend der ausgebildete Organismus, f\u00fcr die Gruppen mittleren und h\u00f6heren Umfanges dagegen in ausgedehntem Ma\u00dfe der Jugendzustand in Betracht gezogen werden muss.\nDas dritte und noch bedeutsamere Mittel endlich ist die ver-\n1) Ibid. p. 542.\n16*","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\nReinhold K\u00f6rner.\ngleichende Pal\u00e4ontologie, das vergleichende Studium der fos-silen Ueberreste organischer Wesen, welche seit der Entstehung belebter Materie die Erde bev\u00f6lkerten. Denn das System der Organismen muss noth wendig neben den lebenden Formen der Gegenwart auch die ausgestorbenen Formen aller fr\u00fcheren geologischen Perioden, soweit sie \u00fcberhaupt erhalten und bekannt sind, umfassen. Dabei ist vorz\u00fcglich auch die durch die r\u00e4umliche Lagerung in den Schichtenfolgen genau markirte zeitliche Aufeinanderfolge derselben in den einzelnen geologischen Perioden von h\u00f6chster Bedeutung. Weil aber die ausgestorbenen Formen als die Vorfahren der lebenden zu betrachten sind, so sind sie im hohen Grade wichtig und unentbehrlich zur Ermittelung der Phylogenien und gegenseitigen Verwandtschaftsverh\u00e4ltnisse der letzteren, und thats\u00e4chlicli ist in zahlreichen F\u00e4llen durch die Entdeckung versteinerter Formen schon jetzt nicht nur die Kluft zwischen heutzutage v\u00f6llig getrennten Gruppen \u00fcberbr\u00fcckt, sondern auch der wahre verwandtschaftliche Zusammenhang derselben in oft \u00fcberraschender Weise ans Licht gebracht worden.\nDer hiermit in K\u00fcrze bezeichnete Werth der comparativen Morphologie, Embryologie und Pal\u00e4ontologie als Grundlagen des genetischen Systems wird aber dadurch noch gesteigert, dass diese drei Wissenschaftszweige, in sich seihst schon vergleichend, auch in ihrer Gesammtheit eine vergleichende Behandlung gestatten, weil die ihnen zu Grunde liegenden Thatsachen in einem einzigen gro\u00dfen Causal-nexus stehen m\u00fcssen. Hierdurch wird der hohe wissenschaftliche Werth des genetischen Systems zweifellos gekennzeichnet. Dasselbe ist weder als blo\u00dfer Appendix zur wissenschaftlichen Zoologie und Botanik zu betrachten, noch selbst\u00e4ndig und getrennt von dieser zu behandeln, sondern hat als Gesammtausdruck ihrer Resultate zu gelten.\nDie Erkenntniss der Existenz eines realen verwandtschaftlichen Zusammenhanges der Organismen f\u00fchrt schlie\u00dflich auch zur endg\u00fcltigen L\u00f6sung des Problems seiner graphischen Darstellung. Diese kann nur das Bild eines reich verzweigten Baumes sein, welches zwar von Darwin nicht erfunden1), doch aber zum ersten Male in der wahren genetischen Bedeutung gew\u00fcrdigt worden ist2). Der erste\n1)\tVgl. Leuckart\u2019s Dekanatsschrift \u00bbde zoophytorum historia etc.\u00ab p. 3 und Anin. daselbst.\n2)\tDarwin, Entstehung der Arten, p. 155.","page":244},{"file":"p0245.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n245\nund einzige Versuch, den Stammbaum wirklich zu construiren, welchen Haeckel ausgef\u00fchrt hat, st\u00fctzt sich aber freilich zumTheil noch auf h\u00f6chst unsichere Vermuthungen.\nF ragt man \u00fcberhaupt nach den p o s i t i v e n II e s u 11 a t e n, welche die Bem\u00fchungen um die Erforschung der Genealogien der organischen Wesen bis jetzt erzielt haben, so sind dieselben noch sehr unvollkommen und l\u00fcckenhaft und werden es auch naturgem\u00e4\u00df bis zu einem gewissen Grade immer bleiben m\u00fcssen. Hie Schuld tr\u00e4gt vor allem der oben erw\u00e4hnte Umstand, dass die Erforschung der Phylogenien nur indirect durch jene drei Hilfsmittel geschehen kann, was an sich schon eine absolute Gewissheit der Resultate ausschlie\u00dft. Vielmehr wird man dadurch stets der Gefahr ausgesetzt sein, rein abstracten Gebilden eine reale Existenz als Stammform in fr\u00fcheren Perioden zuzuschreiben, welche empirisch gar nicht gegeben ist, die Construction also an Stelle der Reconstruction zu setzen und damit in den Fehler derer zu verfallen, welche den \u00bbTypen\u00ab ein zwar nicht materielles, sondern nur geistiges, doch aber reales Dasein in den Ideen der schaffenden Gottheit verliehen. Diese Gefahr aber ist um so gr\u00f6\u00dfer, als die zur empirischen Pr\u00fcfung ganz unumg\u00e4nglich n\u00f6thige pal\u00e4onto-logische Urkunde eine an vielen Stellen unvollst\u00e4ndige und l\u00fcckenhafte ist, an vielen sogar v\u00f6llig fehlt. Das letztere ist z. B. der Fall f\u00fcr die h\u00f6chst wichtigen niedrigsten Organismen der geologischen Urzeit, von denen leider aus nat\u00fcrlichen Ursachen sich keinerlei direct nachzuweisende Spuren bis auf unsere Zeit erhalten konnten, sodass das Dunkel, welches \u00fcber der ersten Gestaltung und Dilferenzirung des organischen Lebens, \u00fcber der urspr\u00fcnglichen Anzahl und Herkunft der thierischen und pflanzlichen Phylen schwebt, wohl niemals wird gelichtet werden, da hier die vergleichende Anatomie und Embryologie allein zu keinen positiven Resultaten f\u00fchren k\u00f6nnen.\nDiese Unvollst\u00e4ndigkeit der Empirie bleibt die Ursache, dass trotz der erfolgten theoretischen Klarstellung des Wesens und der Aufgabe des genetischen Systems dasselbe praktisch noch durchaus nicht vollst\u00e4ndig auf die rein genetische Methode sich gr\u00fcndet, dass vielmehr der descriptive Charakter an vielen Stellen noch offen zu Tage tritt und auch wohl niemals ganz beseitigt werden kann.\nEs darf jedoch nicht vergessen werden, welcher, hohe Gewinn schon darin liegt, dass durch Darwin \u00fcberhaupt die wahre Aufgabe","page":245},{"file":"p0246.txt","language":"de","ocr_de":"246\nReinhold K\u00f6rner.\nder Systematik erkannt, das Ziel vorgesteckt und die Bahn bezeichnet ist, auf welcher die Wissenschaft, wenn auch langsam, der Wahrheit immer n\u00e4her kommen muss. Denn die Aufstellung eines rein genetischen Systems ist f\u00fcr die Systematik der Organismen zugleich das Endziel, da die h\u00f6chste Stufe der systematischen Formen, das mathematisch-analytische System, f\u00fcr die empirischen Wissenschaften \u00fcberhaupt und f\u00fcr die Naturwissenschaften insbesondere schlechthin ausgeschlossen bleibt, insofern die mathematisch-analytische Methode eine f\u00fcr uns unm\u00f6gliche Erkenntniss der au\u00dfer uns gelegenen Bil-dungs- und Entwicklungsgesetze der organischen Materie voraussetzen w\u00fcrde.\nII. Das Begriffsgelb\u00e4ude des Systems.\nA. Die M\u00f6glichkeit der begrifflichen Fixirung der Organismen.\nDa die Begriffsbildung ein nothwendiges und unerl\u00e4ssliches Er-kenntnisspostulat, und ein System von Begriffen f\u00fcr uns das einzige Mittel ist, die Beziehungen der Organismen in einer anschaulichen Gesammt\u00fcbersicht vorstellbar zu machen, so muss es als eine Frage von h\u00f6chster Bedeutung anerkannt werden, obundwiesich \u00fcberhaupt die organischen Naturk\u00f6rper begrifflich fixiren, in bestimmte Allgemeinbegriffe vereinigen lassen. Dabei zeigt eine genauere Ueberlegung, dass die praktische L\u00f6sung des Problems keineswegs so leicht, als die theoretische Forderung unumst\u00f6\u00dflich ist, dass sich derselben vielmehr gro\u00dfe Bedenken und Schwierigkeiten in den Weg stellen. Fr\u00fcher allerdings galt die L\u00f6sbarkeit als unbedingtes Factum. Die platonische Ideenlehre und der scholastische Realismus, welche eine objective Existenz der Begriffe lehrten, das Dogma von der Constanz der Arten, welches die princi-pielle Verschiedenheit der unter den niedersten Allgemeinhegriff befassten Organismen behauptete, sie enthalten ja den Gedanken, dass die Bildung fester und scharfbegrenzter Begriffe in jedem Falle m\u00f6glich, weil in der Natur der Dinge seihst begr\u00fcndet sei. Dieser \u00fcber ein Jahrtausend verbreitet gewesene Glaube ward durch Darwin von Grund aus ersch\u00fcttert und gest\u00fcrzt, ein zweites Mal ward","page":246},{"file":"p0247.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n247\ndas \u00bbnema pe\u00ee\u00ab des griechischen Denkers zum Inhalt einer freilich auf viel umfassenderen Grundlagen ruhenden Naturphilosophie. In ihr aber verbinden sich mit einer tieferen Erkenntniss die scheinbar schlimmsten Consequenzen f\u00fcr die systematische Begriffsbildung. Denn mit der Verneinung der Existenz stabiler und unwandelbarer Formen ist zugleich die Negation der M\u00f6glichkeit, stabile und scharf umschriebene Begriffe zu bilden, ausgesprochen. Damit erhebt sich angesichts der Nothwendigkeit der Begriffshildung die dringende Forderung, sich wenigstens den Grad der M\u00f6glichkeit zum Bewusstsein zu bringen, auch nach dem Stand der heutigen Erkenntniss noch die wandelbaren und schwankenden Formen in bestimmte Begriffe zu fassen, sei diese M\u00f6glichkeit so gering sie wolle. In Wahrheit jedoch ist sie dies keineswegs. Eine wissenschaftliche Begr\u00fcndung wird unbedingt von der Bedeutung ausgehen m\u00fcssen, die wir den Ohjectsbegriffen \u00fcberhaupt zuzuschreiben haben. Diese ist aber keine absolute, sondern eine lediglich relative; denn die Begriffe sind immer nur Mittel der menschlichen Erkenntniss, die sich nothwendig mit der Kenntniss der zu Grunde liegenden Erfahrungstatsachen und mit diesen selbst ver\u00e4ndern m\u00fcssen. Die Gr\u00f6sse des relativen Wer -thes wird dabei sowohl von dem Grade der Best\u00e4ndigkeit als von der Sicherheit der Begrenzung abh\u00e4ngen, und es fragt sich demnach nur, inwieweit die organischen Wesen diese beiden Bedingungen der Best\u00e4ndigkeit und Begrenzungssicherheit erf\u00fcllen, um daraus ein Urtheil \u00fcber den Werth ihrer Begriffe gewinnen zu k\u00f6nnen.\nDie Best\u00e4ndigkeit der Begriffe k\u00f6nnte offenbar nur eine sehr geringe sein, wenn die Umbildung der Organismen ein relativ schneller Vorgang w\u00e4re. Ein heute gebildeter Begriff w\u00fcrde dann in nicht zu ferner Zeit den betreffenden Objecten nicht mehr angepasst sein, die Form w\u00fcrde bald veralten und untauglich werden f\u00fcr den sich umgestaltenden Inhalt. Nun aber ist die Transformation der Organismen ein nach menschlichen Zeitma\u00dfen au\u00dferordentlich langsam sich vollziehender Vorgang. H\u00e4tte man vor Tausenden von Jahren bereits g\u00fcltige Allgemeinbegriffe f\u00fcr Thiere und Pflanzen gebildet, so w\u00fcrden sich bis heute nur unbetr\u00e4chtliche Ver\u00e4nderungen n\u00f6thig gemacht haben, wie auch die gegenw\u00e4rtig normirten begrifflichen Fixirungen, \u2014 wenn nicht die sich stets vervollkommnende Erkenntniss ihrerseits Um\u00e4nderungen veranlasste \u2014, selbst nach Jahrtausenden noch die fast","page":247},{"file":"p0248.txt","language":"de","ocr_de":"248\nReinhold K\u00f6rner.\nv\u00f6llig gleiche G\u00fcltigkeit besitzen w\u00fcrden. Daraus geht aber hervor, dass die Objecte allein f\u00fcr die Begriffe einen sehr hohen Grad der Best\u00e4ndigkeit erm\u00f6glichen. Nur die durch k\u00fcnstliche Z\u00fcchtung bewirkten Umbildungen zeigen einen ziemlich raschen Verlauf, sodass die Bezeichnungen f\u00fcr Hausthiere und Culturpflanzen in relativ k\u00fcrzerer Zeit Neuerungen und Um\u00e4nderungen erheischen.\nGr\u00f6\u00dfer sind freilich die Schwierigkeiten, welche die Natur der. Organismen einer festen Begrenzung der Begriffe entgegenstellt. Auf dem Boden des Dogmas von der Constanz der Species musste die M\u00f6glichkeit, die Begriffe scharf zu umgrenzen, als absolut sicher und unzweifelhaft gelten, weil danach die Grenzen objectiv bestimmt waren. Zwar behauptete man allgemein nur die Selbst\u00e4ndigkeit der Arten; aber es ist klar, dass, wenn die Arten sicher begrenzt werden konnten, dies auch unbedingt bei den gr\u00f6\u00dferen Gruppen m\u00f6glich sein musste, weil sie sich aus Arten als Einheiten zusammensetzen. Bei der praktischen Ausf\u00fchrung freilich wollten sich die Verhei\u00dfungen des Dogmas meist gar nicht bew\u00e4hren, bis dann die Theorie Darwin\u2019s die nat\u00fcrliche Erkl\u00e4rung brachte f\u00fcr die bei der Begriffsbegrenzung auch fr\u00fcher in gleicher Weise hervorgetretenen Schwierigkeiten, indem sie, die objective Existenz der Arten verneinend, an Stelle einer gro\u00dfen Summe von Anfang an v\u00f6llig getrennter Zeugungsreihen eine einheitliche Entwicklung der gesammten organischen Welt aus einer einzigen Stammform oder einigen wenigen dergleichen setzte, sodass nun als objectiv gegebene Einheiten nur die Individuen exi-stiren, die durch fein abgestufte Ueberg\u00e4nge mit einander verbunden sind, und damit bei solch allgemeinem Fluss der Grenzen die Bildung fest umschriebener Begriffe geradezu unm\u00f6glieh erscheinen m\u00f6chte. Man muss sich indessen hierbei sehr vor unn\u00f6thigen Uebertreibungen h\u00fcten. Besonders darf man deshalb nicht alle darauf bez\u00fcglichen Begriffsbildungen als Producte reiner Willk\u00fcr hinstellen wollen. Denn eine aufmerksamere Pr\u00fcfung der Sachlage zeigt, dass es allerdings Momente gibt, welche als objectiv bestimmend f\u00fcr die Begriffsbildung in Betracht kommen k\u00f6nnen, ja m\u00fcssen, und den scheinbar allgemeinen Fluss der Grenzen nur in beschr\u00e4nktem Sinne gelten lassen.\nZun\u00e4chst ist eine au\u00dferordentlich gro\u00dfe Anzahl vormals existiren-der Variet\u00e4ten, Arten, Gattungen, ja sind selbst ganze Familien und Classen heutigen Tages v\u00f6llig ausgestorben. Es lassen sich daher schon","page":248},{"file":"p0249.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n249\naus diesem Grunde die jetzt lebenden Pflanzeu und Thiere in zum Theil ziemlich scharf geschiedene gr\u00f6\u00dfere und kleinere Gruppen bringen; zwischen denen uns allerdings die pal\u00e4ontologischen Urkunden vielfach eine reiche Menge der die L\u00fccken ausf\u00fcllenden \u00bb Zwischenformen\u00ab aufweisen und mehr noch in der Zukunft aufweisen werden.\nVon ungleich gr\u00f6\u00dferer Bedeutung aber als dies mehr gelegentliche Mittel, bestimmt umgrenzte Begriffe bilden zu k\u00f6nnen, ist die That-sache, dass, wenn selbst alle organischen Wesen, welche jemals existirt haben, uns bekannt w\u00fcrden, wir dennoch keineswegs ein jeder Gliederung baares, unabsehbares Gewirr in einander \u00fcbergehender Formen vor uns h\u00e4tten. Denn gerade die eigenthiimliche Entwicklungsweise der Organismenwelt bringt es mit sich, dass die letztere aus vielfach verzweigten, divergirenden Formenreihen besteht. Nun aber h\u00e4ngen doch die aus einem Punkte entspringenden divergirenden Entwicklungsreihen, bildlich gesprochen die Aeste und Aestchen eines Stammbaumes, nur an der gemeinsamen Ursprungsstelle zusammen, w\u00e4hrend sie von da bis zum freien Ende v\u00f6llig selbst\u00e4ndig und von einander verschieden sind. D i e s e Th eile aber haben gewiss das unbedingte Anrecht auf je einen besonderen, selbst\u00e4ndigen Begriff, dessen Grenze stets nur an der Vereinigungsstelle unsicher sein k\u00f6nnte. Eine derartige Unsicherheit der Begrenzung ist indessen keineswegs ein Mangel, welcher den Begriffen der organischen \"Wesen allein zukommt, sondern eine sehr allgemeine Eigenschaft der Erfahrungsbegriffe \u00fcberhaupt. Fast alle leiden an der Unbestimmtheit der Grenzen, ohne deshalb etwas Unbestimmtes zu bedeuten.\nSo gehen z. B. die Farben des Spectrums continyiirlich in einander \u00fcber. Gleichwohl werden die Flauptdifferenzen der Empfindung mit bestimmten Namen belegt, und niemand h\u00e4lt die Aufstellung der Farbenbezeichnungen f\u00fcr unm\u00f6glich. Aehnlicherweise bedeuten die Begriffe Tag und Nacht etwas v\u00f6llig Bestimmtes und Entgegengesetztes, obschon beide ohne Grenzen in einander verlaufen; haben \u00bbW\u00e4rme\u00ab und \u00bbK\u00e4lte\u00ab ganz bestimmte Bedeutung, ohne dass f\u00fcr diese Empfindungen ein absoluter Indifferenzpunkt existirte ; ist endlich die Bedeutung der Begriffe : Ellipse, Kreis und Gerade eine unzweifelhafte, obschon die analytische Geometrie lehrt, dass diese Figuren aus einer einzigen Formel durch stetige Aenderung der Coordinaten entstehen.","page":249},{"file":"p0250.txt","language":"de","ocr_de":"250\nReinhold K\u00f6rner.\nDie Hauptschwierigkeit f\u00fcr die Bildung und Begrenzung der Begriffe der organischen Wesen liegt in der bis jetzt noch sehr gro\u00dfen Unvollst\u00e4ndigkeit des Stammbaumbildes, das \u00fcbrigens doch auch nur auf Grund vorl\u00e4ufiger Begriffsbestimmungen entworfen werden kann. Die Aeste und Verzweigungen erster und mittlerer Gr\u00f6\u00dfe, von den Phylen bis zu den Familien, ja seihst vielen Gattungen herab, sind verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig am besten als geschlossene Einheiten zu erkennen. Auf der Stufe der Arten hingegen wird die Unterscheidung des Gewirres der kleineren Verzweigungen immer schwieriger, bis die Variet\u00e4tenb\u00fcschel als feinste Ausl\u00e4ufer einer klaren und anschaulichen Darstellung die meisten Hindernisse entgegensetzen. Das Princip der Begriffsbildung ist aber auch hei den kleinen und kleinsten divergenten Formenreihen theoretisch das n\u00e4mliche wie bei den gro\u00dfen ; praktisch indess wird man sich, besonders wenn sehr zahlreiche Variet\u00e4tenb\u00fcschel die Begrenzung erschweren, h\u00e4ufig mit dem Herausgreifen vorz\u00fcglich charakteristischerund \u00bbtypischer\u00ab Formen behelfen m\u00fcssen, um welche man die \u00fcbrigen gruppirt. Ein solches Verfahren ist freilich nur als ein rein provisorisches zu betrachten.\nDiese Bemerkungen d\u00fcrften hinreichend erwiesen haben, dass die Darwin \u2019sehe Theorie keineswegs die M\u00f6glichkeit aufheht, die organischen Einzelformen in das Schema constanter und gut begrenzter Begriffe zu fassen ; diese Constanz ist in vielen F\u00e4llen sogar eine relativ sehr gro\u00dfe, und gewiss werden die Fortschritte in der Kenntniss der Verwandtschaftsbeziehungen die jetzt vielfach noch mangelhafte L\u00f6sung der Aufgabe immer mehr berichtigen und! vervollst\u00e4ndigen helfen. Man darf sogar behaupten, dass die Lage djer fr\u00fcheren Systematiker, welche, obschon von der Existenz objectiver Grenzen zwischen den einzelnen Gruppen \u00fcberzeugt, dennoch allenthalben praktisch die festen Grenzlinien nicht zu finden vermochten, viel misslicher und bedenklicher war als die der heutigen, we\u00fcn sie, im Besitze der Erkenntnis des allgemeinen genealogischen Zusammenhanges, \u00fcber die Begrenzung vielerBegriffe im Zweifel sind. F\u00fcr die heutigen Systematiker sind die Grenzlinien der Begriffe keine absoluten Trennungslinien, sondern nur m\u00f6glichst zul\u00e4ssige Begrenzungen, gleichsam Hilfslinien, welche der menschliche Geist in dem f\u00fcr ihn nicht unmittelbar anschaulichen Gesammtentwicklungsbilde, seinen Bed\u00fcrfnissen gem\u00e4\u00df, aber auch m\u00f6glichst der Sache angepasst, zu ziehen gen\u00f6thigt ist.","page":250},{"file":"p0251.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen,\n251\nB. Die systematischen Kategorien.\nDas System der Thiere und Pflanzen ist kein blo\u00dfes Agglom\u00e9rat engerer und weiterer Allgemeinbegriffe, es gen\u00fcgt auch nicht eine unbestimmte gegenseitige Unter- und Nebenordnung derselben, sondern das logische Denken und die Natur der Objecte fordern in gleicher Weise eine ganz bestimmte Rangordnung der Begriffe, welcher Forderung durch die feste Scala der systematischen Kategorien Gen\u00fcge geleistet wird.\nDie Kategorien sind durchaus von den empirischen Allgemeinbegriffen verschieden, indem diese einen bestimmten realen Inhalt und Umfang besitzen, jene, an sich inhalts- und umfangslos, lediglich deren H\u00f6he- oder Weitegrad bezeichnen ; wiederum stehen sie aber auch in engem Zusammenhang mit ihnen, indem sie ohne die empirischen Begriffe nicht denkbar, weil erst auf Grund derselben entstanden sind. H\u00e4tte nicht die unersch\u00f6pfliche Mannigfaltigkeit der Welt der Organismen zur Bildung einer so bedeutenden Summe von Allgemeinbegriffen des verschiedensten Umfanges gef\u00fchrt, man w\u00fcrde sich nie gedrungen gef\u00fchlt haben, ihren Weitegrad oder, was dasselbe ist, ihre Rangstufe begrifflich festzustellen. Dies aber ist n\u00f6thig erstlich, um ein Ma\u00df f\u00fcr den Verwandtschaftsgrad der unter irgend einen Allgemeinhegriff befass|en Formen zu besitzen, sodann, um durch Fixirung des Grades aller Ahstractionen die Uebersicht-lichkeit des Begriffsgeb\u00e4udes zu erh\u00f6hen. Diese N\u00f6thigung ward nat\u00fcrlich erst empfunden, als man das reichlicher sich anh\u00e4ufende Material in wirklich systematische Form zu bringen suchte. Nachdem anf\u00e4nglich planlos und zuf\u00e4llig Bezeichnungen f\u00fcr verschiedene Gruppen des Thier- und Pflanzenreichs entstanden waren, trug man in den ersten Perioden der Systematik zun\u00e4chst nur dem allgemeinen logischen Bed\u00fcrfniss der Subordination und Coordination Rechnung, indem man jeden \u00fcbergeordneten Begriff nach des Aristoteles Vorgang als ysvo\u00e7 (genus, Gattung), jeden untergeordneten als sTSo\u00e7 (species, Art) bezeichnete, sodass jeder Begriff gegen den n\u00e4chsth\u00f6heren als Art, gegen den n\u00e4chstniederen als Gattung erschien. Auch die \u00bb'(ivy psyiotgi\u00ab des Aristoteles sind lediglich in logischem Sinne aufzufassen. Linn\u00e9\u2019s Systeme sind die ersten, welche eine geregelte Scala fest bezeichnete r Kategorien aufweisen, an die","page":251},{"file":"p0252.txt","language":"de","ocr_de":"252\nReiiiliold K\u00f6rner.\nsich alle sp\u00e4teren Verbesserungen und Vervollst\u00e4ndigungen angeschlossen haben.\nObschon die Bezeichnungen f\u00fcr die Bangstufen, weil sie mit den Ohjecten nichts zu schaffen haben, an sich gleichg\u00fcltig sind, so m\u00fcssen sie doch, einmal fixirt, durch das ganze System hindurch in dieser Ordnung festgehalten werden; auch ist es praktisch geboten, dass diese Bezeichnungen m\u00f6glichst allgemeing\u00fcltige seien. Eine solche Einigung ist gl\u00fccklicherweise selbst zwischen Zoologen und Botanikern vorhanden, indem allgemein als Hauptstufen von unten nach oben angenommen werden: Art, Gattung, Familie, Ordnung, Classe, Typus (Phylum), Keich.\nNun fragt es sich aher: Welches ist denn das Umfangsma\u00df, das eine jede dieser Kategorien ausdr\u00fcckt, und wie misst man den Umfang der unter sie zu stellenden Allgemeinhegriffe? Uas Umfangsma\u00df der Kategorien einerseits ist offenbar nur ein relatives, aus dem Umfang der empirischen Begriffe abgeleitetes, wenn auch zufolge der feststehenden Scala der ersteren kein unbestimmtes. Der Umfang der Erfahrungsbegriffe andrerseits wird bestimmt durch den genealogischen Divergenzgrad der darunter befassten Organismen, f\u00fcr den wir aber ebenfalls kein absolutes, sondern nur ein relatives, durch Vergleichung gewonnenes Ma\u00df besitzen. Wie unser Ohr die Intervalle der T\u00f6ne von jedem beliebigen Grundton aus mit gro\u00dfer Genauigkeit abz\u00fcsch\u00e4tzen vermag, so unser Auge die Aehnlichkeitsabstufungen der Organismen. Es ist durchaus nicht unwissenschaftlich, dabei dem \u00bbTakte\u00ab, also dem intellectuellen Gef\u00fchl, eine gro\u00dfe Bedeutung zuzuerkennen, da er ein auf unbewusster Vergleichung beruhender, durch Uebung zu hoher Vollkommenheit zu steigernder Gradmesser der morphologischen Verwandtschaft ist.\nUnbedingte logische Forderung f\u00fcr die Einordnung der Allgemeinhegriffe in bestimmte Kategorien ist es, dass alle gleichwer-thigen Begriffe einer bestimmten Kategorie, aher auch nur dieser einen zugetheilt werden, dass also die thats\u00e4chlich auf gleicher Stufe stehenden, zu coordinirenden Begriffe im System wirklich gleichwerthig erscheinen. So einleuchtend diese Forderung theoretisch ist, so schwierig ist sie praktisch zu erf\u00fcllen. Linn\u00e9\u2019s Classen des Thier- und Pflanzenreichs waren noch in hohem Grade ungleichwerthig, indem sie nicht entfernt gleich gro\u00dfe Verwandtschaftsgebiete umfassen. Der","page":252},{"file":"p0253.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n253\nFehler beruhte theils auf Nichtbeachtung der logischen Forderung, theils auf mangelhafter Kenntniss der niederen Thier- und Pflanzengruppen. Die Erkenntniss und Beseitigung dieses Missverh\u00e4ltnisses erfolgte erst durch Cuvier\u2019s Aufstellung oberster gleich werthiger Abtheilungen des Thierreichs und mit dem durch De Candolle wenigstens angebahnten erwachenden Verst\u00e4ndniss f\u00fcr die gro\u00dfen nat\u00fcrlichen Classen des Pflanzenreichs. Mit der Feststellung der obersten systematischen Abtheilungen ging naturgem\u00e4\u00df die verbesserte Werthbestimmung der mittleren und unteren Hand in Hand.\nSehr wichtig f\u00fcr die Werthsch\u00e4tzung eines AllgemeinbegrifFs und besonders zu betonen ist die fr\u00fcher bereits herausgef\u00fchlte, aber erst durch Darwin\u2019s Theorie erkl\u00e4rte Thatsache, dass nicht der empirische Umfang, sondern allein der genealogische Divergenzgrad die Rangstufe bestimmt. So gibt es Gruppen im Werthe von Classen und Ordnungen, welche nur eine einzige oder ganz wenige lebende Arten enthalten, w\u00e4hrend die benachbarten coordinirten viele hunderte und tausende von Arten umfassen.\nIst es gleich der Wissenschaft bis heute gelungen, das Verh\u00e4ltniss der Kategorien zu den empirischen Allgemeinbegriffen der Hauptsache nach sachlich und logisch richtig zu stellen, so wird doch auch f\u00fcr dieses Problem erst durch die Enth\u00fcllung der au\u00dferordentlich zahlreichen, jetzt noch ganz dunklen verwandtschaftlichen Beziehungen eine befriedigende L\u00f6sung gewonnen werden k\u00f6nnen.\nEin ausf\u00fchrlicheres Eingehen auf die einzelnen Kategorien der systematischen Praxis w\u00fcrde mich in Fragen rein naturwissenschaftlicher Art verwickeln ; ich beschr\u00e4nke mich daher auf einige Bemerkungen, welche zu den logischen Principien in engerer Beziehung stehen.\nNichts hat die Systematiker von Linn\u00e9 bis auf unsere Zeit mehr besch\u00e4ftigt und zu fruchtloseren Streitigkeiten Veranlassung gegeben, als die Frage nach dem Werth und Kennzeichen der Species. Wenn auch die Feststellung der Einheitsstufe des Systems unleugbar von der gr\u00f6\u00dften Wichtigkeit ist, so l\u00e4sst sich doch nicht behaupten, dass die Frage aus diesem Grunde zu so beispiellos weitgreifenden Discussio-nen gef\u00fchrt h\u00e4tte. Des allgemeinen Sinnes, welchen das Alterthiun und Mittelalter dem Ausdruck sE3o\u00e7 (species) beilegte, ward bereits gedacht. Sp\u00e4ter wandte man ihn mehr nur f\u00fcr die kleinsten Gruppen","page":253},{"file":"p0254.txt","language":"de","ocr_de":"254\nReinhold K\u00f6rner.\nder einander \u00e4hnlichsten Individuen an, die mittleren und h\u00f6heren gemeiniglich als \u00bbkleine\u00ab und \u00bbgro\u00dfe Gattungen\u00ab bezeichnend. Dem zuerst von II a y wissenschaftlich definirten Artbegriff gab dann Linn\u00e9 noch jene Constanz und Unver\u00e4nderlichkeit, die bis in unser Jahrhundert unantastbarer Glaubenssatz war. Es war dies jedoch nicht eine neue, sondern offenbar eine schon l\u00e4ngst allgemeine und stillschweigende Annahme, welche er nur als wissenschaftlichen Lehrsatz aussprach. Aus diesem Dogma entsprang ganz nat\u00fcrlich die immer wiederkehrende Frage, oh eine bestimmte Form als selbst\u00e4ndige Art oder als Variet\u00e4t einer solchen aufzufassen sei, eine Frage, welche den Inhalt des ganzen ziel- und nutzlosen Species-streites bildete, der erst durch Darwin\u2019s \u00fcberzeugende Beweisf\u00fchrung beigelegt, weil in seiner v\u00f6lligen Gleichg\u00fcltigkeit und Fruchtlosigkeit blo\u00dfgestellt wurde. Dem genetischen Princip zufolge besteht zwischen individuellen Abweichungen, Variet\u00e4ten und Arten kein principieller, sondern nur ein gradueller Unterschied, die Variet\u00e4ten sind nichts als \u00bbbeginnende Arten\u00ab. Trotzdem aber bleibt eine m\u00f6glichst allgemeing\u00fcltige Fixirung des Artbegriffes auch heutzutage eine unbedingte Forderung, um den ersten Schritt des Abstractions Verfahrens einigerma\u00dfen festzustellen, den nothwendigen Ausgangspunkt zum Aufbau der Kategorienscala zu gewinnen. Das wird indess nur vom genealogischen Gesichtspunkt aus und unter Zugrundelegung des Begriffes des \u00bbZeugungskreises\u00ab oder der \u00bbEntwicklungseinheit\u00ab geschehen d\u00fcrfen, wie er durch die sich erg\u00e4nzenden Untersuchungen Huxley\u2019s, Haeckel\u2019s1) und R. Leuckart\u2019s2) festgestellt worden ist. Danach bezeichne ich die organische Species als \u00bbInbegriff aller wesentlich gleichen Entwicklungseinheiten, abgesehen von der allm\u00e4hlichen zeitlichen Umbildung der Formen\u00ab. Die beigef\u00fcgte Beschr\u00e4nkung ist deshalb unerl\u00e4sslich, weil ein Begriff zwar eine gewisse Dehnbarkeit besitzen, niemals aber die allm\u00e4hliche Ver\u00e4nderung der Objecte ausdr\u00fccken kann. Es w\u00e4re jedoch irrig, zu glauben, die fr\u00fcheren Definitionen der Species h\u00e4tten das genealogische Moment nicht enthalten. Vielmehr ward es von allen bedeutenden Systematikern ausdr\u00fccklich betont3), weil ja von allen\n1)\tGenerelle Morphologie, bes. Bd. II, p. 323 ff.\n2)\tlieber den Polymorphismus, p. 1, 2, 30.\n3)\tVgl. Linn\u00e9, Classes plantarum, p. 5, und Philosophia botaniea, th. 270.","page":254},{"file":"p0255.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n255\ndie continuirliche Propagation der Arten anerkannt wurde. Der Unterschied der \u00e4lteren und neueren Definitionen liegt lediglich darin, dass die letzteren einmal nur relative Geltung beanspruchen und sodann nicht das concrete Einzelwesen, sondern die ideale Gesammt-heit der unter eine Entwicklungseinheit fallenden einzelnen Formen und Zust\u00e4nde als Repr\u00e4sentanten der Art hinstellen. Dagegen sehen sie von dem durch Darwin entkr\u00e4fteten physiologischen Moment der Erzeugung fruchtbarer Bastarde v\u00f6llig ab.\nDie systematische Praxis hat sich gen\u00f6thigt gesehen, der Kategorie der Species noch die drei weiteren Kategorien der Variet\u00e4t, Subspecies und Rasse unterzuordnen. Doch hat man sich bis jetzt weder \u00fcber die bestimmte Bedeutung, noch \u00fcber die gegenseitige Stellung derselben einigen k\u00f6nnen. Von diesem Missstande abgesehen und die logische Berechtigung des Verfahrens zugestanden, will es mich praktisch ganz unausf\u00fchrbar bed\u00fcnken, noch drei der Art gradweise subordinirte Kategorien mit Sicherheit zu unterscheiden. Bei der an sich schon so unsicheren Artbestimmung d\u00fcrfte eine einzige, passend als Variet\u00e4t bezeichnete, Unterkategorie v\u00f6llig gen\u00fcgen. Ueber-haupt muss der Systematiker sich h\u00fcten, allzu specialisirend zu Werke zu gehen. Um der Natur ganz gerecht zu werden, d\u00fcrfte man ja nicht einmal zwei Individuen mit demselben Namen belegen. Freilich wird derjenige, welcher ein kleines Specialgebiet bearbeitet, sehr leicht sich veranlasst f\u00fchlen, m\u00f6glichst allen auff\u00e4lligen Ab\u00e4nderungen durch begriffliche Fixirung in der systematischen Uebersicht Ansdruck zu geben. Solche Vorkommnisse mag man der typischen Normalform als Variet\u00e4ten anreihen, aber es empfiehlt sich wenig, die Zahl der niedersten Rangstufen um solcher Formen willen unn\u00fctz zu vermehren. Je mehr man specialisirt, um so mehr^entfernt man sich von der Aufgabe, eine \u00fcbersichtliche Darstellung der Gesammtheit zu gehen. Auch liegt es ja im Wesen der Allgemeinhegriffe, dass unbedeutende und individuelle Abweichungen im allgemeinen Bilde sich verwischen. Das specielle Studium der Variationen ist f\u00fcr die Biologie von h\u00f6chstem Werthe, f\u00fcr die Systematik dagegen von untergeordneter Bedeutung.\nArten und Gattungen haben eine gemeinsame Bedeutung f\u00fcr das System auch darin, dass an sie ganz ausschlie\u00dflich die Namen-\nJussieu, Genera plantarum, p. 44. Cuvier, R\u00e8gne animal, p. 19. De Candolle, Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire, p. 193.","page":255},{"file":"p0256.txt","language":"de","ocr_de":"256\nReinhold K\u00f6rner.\ngebung der organischen Wesen sich anlehnt, v\u00f6llig im Sinne der logischen Definitionen, welche neben dem artbildenden Unterschiede (differentia specifica) auch die Angabe des n\u00e4chsth\u00f6heren Gattungsbegriffes (genus proximum) erfordern.\nLinn\u00e9 wird mit Recht der Begr\u00fcnder, wenn auch nicht Erfinder dieser \u00bbbin\u00e4ren Noinenclatur\u00ab genannt, da er sie zum ersten Male zu allgemeiner Anwendung brachte und in seiner \u00bbPhilosophia botanica\u00ab mit Sorgfalt und Gewissenhaftigkeit eine gro\u00dfe Anzahl der vortrefflichsten Regeln daf\u00fcr aufstellte.\nErw\u00e4hnenswerth ist Lotze\u2019s eigenth\u00fcmlicher Versuch, die Grenze zwischen Art und Gattung auf logischem Wege zu bestimmen1). Die F\u00e4higkeit des Menschen, sich von dem betreffenden Allgemeinen ein anschauliches Bild zu entwerfen, soll den Ausschlag geben. Die naturgeschichtlichen Abbildungen, meint Lotze, zweifeln nicht daran, durch einen Menschen, ein Pferd u. dergl. alle Menschen, Pferde u. s. w. in einer Anschauung deutlich darzustellen; diese M\u00f6glichkeit aber verschwinde, wenn man zu h\u00f6heren Allgemeinheiten aufsteige, welche sich nur noch in einen Gedanken, eine Formel zusammenfassen lie\u00dfen. Weiter hei\u00dft es w\u00f6rtlich: \u00bbDasjenige Allgemeine nun, das noch ein Bild gew\u00e4hrt, w\u00fcrde ich eine Art, das erste von denen aber, die nur noch eine Formel m\u00f6glich machen, die Gattung nennen, in Uebereinstimmung mit dem Sprachgef\u00fchl und den Bestimmungen des Aristoteles\u00ab. Dieser Ansicht des scharfsinnigen Denkers vermag ich durchaus nicht beizupflichten.\nWahr ist es freilich, dass man alle Individuen einer Art in ein repr\u00e4sentatives, anschauliches Bild zusammenfassen kann. Ist das aber bei systematischen Gruppen h\u00f6heren Ranges unm\u00f6glich ? Es lie\u00dfen sich eine gro\u00dfe Anzahl von Gattungen und Familien, ja selbst Ordnungen und Classen der Thiere und Pflanzen anf\u00fchren, von denen man sehr gut anschauliche Bilder entwerfen kann. Die von Lotze als Beleg angef\u00fchrte Classe der S\u00e4ugethiere l\u00e4sst allerdings kaum ein solches zu; viel eher aber sind z. B. V\u00f6gel und Fische, K\u00e4fer und Schmetterlinge und zahlreiche Pflanzen- und Thier gattun gen in nicht zu verkennenden Bildern anschaulich darzustellen. F\u00fcr diese M\u00f6glichkeit scheint mir zweierlei ma\u00dfgebend zu sein. Erstens wird das Bild\n1) Logik, p. 49 ff.","page":256},{"file":"p0257.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\t257\nallgemein bei der Art am bestimmtesten sein, und seine Deutlichkeit proportional dem Umfang der h\u00f6heren Allgemeinbegriffe abnehmen, bis es auf gewisser Stufe geradezu unm\u00f6glich wird, eine bildliche Darstellung zu liefern ; zweitens aber wird es sich ganz nach der bei den einzelnen Abtheilungen au\u00dferordentlich verschiedenen Compli-cirung der \u00e4u\u00dferen Form richten, ob die M\u00f6glichkeit bereits auf niederer oder erst auf h\u00f6herer Stufe erlischt. Zugegeben muss daher werden, dass das Artbild unter den \u00fcbrigen stets die gr\u00f6\u00dfte Bestimmtheit besitzt ; aber es muss bestritten werden, dass in vielen F\u00e4llen nicht wenigstens auch Gattungsbilder entworfen werden k\u00f6nnten. Wollte man demgegen\u00fcber einwenden, die Gattungsbilder und die der h\u00f6heren Gruppen seien im Grunde nicht anschaulich, sondern nur schematisch, so ist das allerdings v\u00f6llig richtig; dann darf man aber auch die Artbilder nicht als anschaulich bezeichnen. Denn\u2019nicht die Art, nicht einmal die Variet\u00e4t, sondern nur das Individuum l\u00e4sst sich in einem anschaulichen Bilde darstellen; Variet\u00e4t und Art ignoriren bereits alle individuellen Abweichungen, oder stellen, genauer gesagt, irgend eine derselben als Repr\u00e4sentantin der \u00fcbrigen hin. Wie aber in dem Artbilde die individuellen, so gehen im Gattungsbild die specifischen, im Familienbild die generellen Unterschiede auf u. s. w. Es sind also die Bilder der Arten, Gattungen, Familien u. s. w. schlie\u00dflich alle schematisch, die der Arten indessen am bestimmtesten und der wirklichen Anschauung am meisten gen\u00e4hert. Mithin kann das Lotze\u2019sche Kriterium der Art und Gattung auf die Systematik der Organismen keine Anwendung finden.\nAu\u00dfer den sechs Hauptkategorien haben neben den der Art untergeordneten noch eine weitere Anzahl sogenannter Zwischenstufen oder Unterkategorien, alsz.B.: Unterclasse, Unterordnung, Unterfamilie (Tribus), Untergattung u. a., zum Theil schon seit Cuvier in der systematischen Praxis allgemeine Geltung gewonnen ; Haeckel hat sogar 24 Kategorien in bestimmter Reihenfolge aufgestellt '). Theoretisch l\u00e4sst sich zwar eine so hohe Anzahl der Rangstufen rechtfertigen, praktisch aber ist sie, je gr\u00f6\u00dfer, mit um so erheblicheren Schwierigkeiten verbunden, weil man daf\u00fcr den relativen Umfang der empirischen Allgemeinbegriffe \u00e4u\u00dferst genau zu messen im Stande sein\n1) Generelle Morphologie, Bd. II, p. 400.\nWundt, Philos. Studien. II.\n17","page":257},{"file":"p0258.txt","language":"de","ocr_de":"258\nReinhold K\u00f6rner.\nm\u00fcsste. Auch d\u00fcrfte um der Uebersichtlichkeit des Syst\u00e8mes willen eine m\u00f6glichste Beschr\u00e4nkung in der Vermehrung der Kategorien geboten sein.\nC. Die Bedeutung der systematischen Kategorien und Allgemeinheg ri ff e.\nDie an letzter Stelle noch zu er\u00f6rternde wichtige Frage nach der Bedeutung der systematischen Kategorien und Allgemeinbegriffe hat die verschiedenste Beantwortung erfahren.\nAuch hier tritt wiederum die realistische Auffassungsweise des Jussieu und Cuvier der idealistischen des Linn\u00e9, De Candolle und Agassiz deutlich gegen\u00fcber, indem die ersteren den Kategorien und Allgemeinbegriffen eine vorwiegend formale, die letzteren denselben eine mehr oder weniger reale Bedeutung zuerkannten, Extreme, welche erst durch das genetische Princip Darwin\u2019s zum endg\u00fcltigen Ausgleich gebracht werden konnten.\nJussieu l\u00e4sst sich zwar theoretisch \u00fcber diese Frage nicht aus ; sein Verfahren aber, dass er die Zahl der Classen aus praktischen Gr\u00fcnden willk\u00fcrlich vermehrte, sowie der Umstand, dass er durch ihren v\u00f6llig ungleichen Werth nicht ber\u00fchrt ward, beweist, dass er sie f\u00fcr Hilfsmittel rein subjectiver Art hielt, f\u00fcr die wenigstens zwingende objective Gr\u00fcnde nicht vorl\u00e4gen.\nCuvier bringt die Kategorien in etwas genauere Beziehung zur Natur der Objecte; denn er sagt: \u00bbJe n\u2019ai consid\u00e9r\u00e9 mes divisions et subdivisions que comme l\u2019expression gradu\u00e9e de la ressemblance des \u00eatres qui entrent dans chacune\u00ab l). Sehr bemerkenswerth ist bei ihm die h\u00e4ufige L\u00fcckenhaftigkeit des Begriffsgeb\u00e4udes, insofern an vielen Stellen des Systems gewisse Rangstufen v\u00f6llig fehlen, so dass z. B., w\u00e4hrend ein Theil der Classen der Reihe nach in Ordnungen, Familien, Tribus und Genera getheilt ist, andere, unter Ueberspringung der Zwischenstufen, sogleich in Genera zerfallen, und die letzteren bald nur die einzelnen Species, bald als \u00bbgrands genres\u00ab zun\u00e4chst verschiedene Subgenera unter sich befassen. Muss dies gleich als logisch mangelhaft bezeichnet werden, so ist es doch zum gro\u00dfen Theil das Resultat des durchaus richtigen Strebens, durch die Kategorien das\n1) R\u00e8gne animal, Pr\u00e9face p. 20.","page":258},{"file":"p0259.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n259\nMa\u00df der Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten zu bezeichnen, zum Theil freilich auch des praktischen Bed\u00fcrfnisses, Gruppen mit sehr zahlreichen Einzelformen der Uebersichtlichkeit halber in verschiedene Untergruppen zu zerfallen. Immerhin ist es gerade Cuvier, welcher in seiner von supranaturalistischen Elementen v\u00f6llig freien Auffassung und Anwendung der Kategorien der richtigen mit am n\u00e4chsten kommt. Linn\u00e9, De Candolle, Agassiz aber sind von ihr um so weiter entfernt, je ausgesprochener bei ihnen die Objecti-virung der Begriffe als realer Existenzen hervortritt.\nVon Linn\u00e9\u2019s darauf bez\u00fcglichen Thesen f\u00fchre ich die folgenden an1): Genus omne est naturale, in primordio tale creatum. \u2014 Naturales dari classes ita creatas patet ex plurimis : Umbellatis, Siliquosis, Compositis, Graminibus etc. \u2014 Naturae opus semper est species et genus, culturae saepius varietas, naturae et artis classis et ordo. Classes et ordines plerasque naturales esse docent ordines naturales. Aus diesen S\u00e4tzen geht so viel mit Sicherheit hervor, dass nach Linn\u00e9\u2019s Meinung nicht nur die Arten, sondern auch die den h\u00f6heren Kategorien angeh\u00f6renden Gruppen als solche erschaffen wurden. Zu dieser Annahme ward er offenbar durch die eigenth\u00fcmliche, nach dem fr\u00fcher Gesagten aber ganz selbstverst\u00e4ndliche Thatsache verleitet, dass unser Denken unmittelbar sich gen\u00f6thigt sieht, bestimmte Formen in Gattungen, Familien u. s. w. zusammenzufassen, woraus damals sehr leicht der Gedanke einer objectiven Existenz der systematischen Allgemeinhegriffe in dieser bestimmten Stufenordnung entstehen konnte ; als ob der Sch\u00f6pfer bei Erschaffung der Arten das Bild der Gattungen, Familien u. s. w. im Auge gehabt und danach die Arten modellirt habe. Wenn L inn\u00e9 die Classen und Ordnungen als Werke der Natur und der Kunst betrachtet, so meint er dies augenscheinlich nur in dem Sinne, dass blo\u00df ein Theil der von den Systematikern aufgestellten Classen und Ordnungen nat\u00fcrlich sei, d. h. die von Natur als solche geschaffenen richtig bezeichne, w\u00e4hrend ein andrer Theil bislang noch nicht objectiv Zusammengeh\u00f6riges bezeichne, sondern k\u00fcnstliche Vereinigungen repr\u00e4sentire. Er f\u00fchlte aber richtig heraus, dass viele der damals aufgestellten Allgemeinhegriffe Formen unter sich befassten, welche keine durchgreifende Verwandtschaft besa\u00dfen, w\u00e4hrend die\n1) Philosophia botanica, th. 159\u20141(12.\n17*","page":259},{"file":"p0260.txt","language":"de","ocr_de":"260\nReinhold K\u00f6rner.\nArten und Gattungen durchweg nur Verwandtes enthielten. Deutlich liegt also schon der Linn\u00e9ischen Auffassung der systematischen Begriffe und Gruppenstufen die Idee eines Sch\u00f6pfungsplanes zu Grunde. Bei De Candolle gibt sich diese Idee mit voller Bestimmtheit in der Auffassung der Familien als nach gewissen Symmetriepl\u00e4nen geschaffener Gruppen zu erkennen. Was er aber von den Kategorien im allgemeinen sagt, ist unm\u00f6glich- aus einem Gesichtspunkte zu begreifen. Die Vermischung der supranaturalistischen Anschauungsweise mit den auf Grund der morphologischen Studien gewonnenen Ansichten mag den ziemlich langen Auseinandersetzungen1) das Gepr\u00e4ge der Unbestimmtheit aufgedr\u00fcckt haben, welches dieselben als die schw\u00e4chsten des ausgezeichneten Werkes erscheinen l\u00e4sst. Das Schlussergehniss 2) ist unklar und d\u00fcrftig genug.\nAgassiz hat das gro\u00dfe Verdienst, was bei De Candolle und Anderen gleichsam nur im Keime vorbereitet ist, mit einzig dastehender Vollst\u00e4ndigkeit, Klarheit und Consequenz entwickelt zu haben, indem er es unternahm, das System und seine Kategorien als die Verwirklichung eines urspr\u00fcnglichen, nach bestimmter Regel bis ins kleinste durchdachten Sch\u00f6pfungsplanes darzustellen3). Die sechs Hauptkategorien : Typus (Branch), Classe, Ordnung, Familie, Gattung, Art h\u00e4lt er, als Verk\u00f6rperungen bestimmter Sch\u00f6pfungsgedanken, f\u00fcr ebenso ideale als reale Existenzen, deren Urbilder ewig und unverg\u00e4nglich sind, im Gegensatz zu den verg\u00e4nglichen sie verk\u00f6rpernden Individuen: \u00bbAll the more comprehensive groups, equally with Species, are based upon a positive, permanent, specific principle, maintained generation after generation with all its essentiel characteristics. Individuals are the transient representatives of all these organic principles, which certainly have an independent, immaterial existence, since they outlive the individuals that embody them, and are no less real after the generation that has represented them for a time has passed away, than they were before\u00ab4).\nIn dieser Anschauung ist die engste Verwandtschaft mit der Ideenlehre Plato\u2019s unm\u00f6glich zu verkennen, mit welcher ihr auch das religi\u00f6se Gem\u00fcthsbed\u00fcrfniss als Quelle gemeinsam ist. Daraus\n1) Th\u00e9orie \u00e9l\u00e9mentaire, p. 191\u2014227.\t2) Ibid. p. 227.\n3)\tVgl. auch Haeckel, Generelle Morphologie, Bd. II, p. 379ff.\n4)\tMethods of study, p. 136.","page":260},{"file":"p0261.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n261\nallein begreift es sich \u00fcbrigens, wie die Wiedererneuerung solch einer metaphysischen Theorie in einer Zeit stattfinden konnte, wo in der Philosophie der Glaube an die reale Existenz der Begriffe so stark ersch\u00fcttert worden war, und in der Naturwissenschaft die nat\u00fcrlich-causale Erkl\u00e4rungsweise bereits so gro\u00dfen Raum gewonnen hatte.\nDie solcherart aufgefassten Kategorien sind nun aber nach Agassiz\u2019 Theorie gekennzeichnet durch Charaktere nicht von quantitativer, sondern von qualitativer Verschiedenheit, wobei diese Qua lit\u00e4ten eine Rangordnung derart zeigen, dass dieselben von der h\u00f6chsten bis zur niedersten Kategorie an Umfang und Bedeutung stufenweise sich verringern: \u00bbBranches or types are characterized by the plan of their structure, Classes by the manner in which that plan is executed, as far as ways and means are concerned, Orders by the degrees of complication of that structure, Families by their form, as far as determined by structure, Genera by the details of the execution in special parts, and Species by the relations of individuals to one another and to the world in which they live, as well as by the proportions of their parts, their ornamentation etc.\u00ab1)\nDamit ist allerdings jede Kategorie durch eine besondere Qualit\u00e4t der Merkmale charakterisirt. Es ist aber ersichtlich und von Haeckel ausf\u00fchrlich nachgewiesen worden, dass deren keines stichhaltig, weil nicht ausschlie\u00dflich f\u00fcr die bestimmte Kategorie g\u00fcltig ist. W\u00e4re des Agassiz Behauptung richtig, so h\u00e4tte man freilich den Schl\u00fcssel zu einer vollkommenen Classification in H\u00e4nden, indem es sich nur darum handelte, f\u00fcr jedes Individuum nach dem gegebenen allgemeinen Schema die besonderen Charaktere der Art, Gattung, Familie, Ordnung, Classe und des Typus zu ermitteln. Mit der Richtigkeit der Voraussetzung f\u00e4llt auch die Nothwendigkeit der daran gekn\u00fcpften Folgerungen.\nForscht man nun nach der eigentlichen Basis des mit dem Auf-wande aller dialektischen Kunst ausgef\u00fchrten philosophischen Geb\u00e4udes, so stellt sie sich als ein echt scholastischer Trugschluss dar, f\u00fcr welchen allerdings das Ziel, welches der Meister vor Augen hatte, als wesentliches Motiv mitwirkte und als entlastender Erkl\u00e4rungsgrund nicht \u00fcbersehen werden darf. Aus dem allgemeinen Ge-\nll Essay on classification, p. 170,","page":261},{"file":"p0262.txt","language":"de","ocr_de":"262\nReinhold K\u00f6rner.\nbrauche der Ausdr\u00fccke Typus, Classe, Ordnung u. s. w. in allen zoologischen und hotanischen Systemen folgert Agassiz zun\u00e4chst ganz richtig, dass dieselben irgendwie in der Natur der Objecte begr\u00fcndet sein m\u00fcssten. Statt nun aber inductiv zu untersuchen, wie man an der Hand der Objecte zur Bildung derartiger Begriffskategorien gelangte, geht er in grundfalscher Weise von den Kategorien selbst aus. diese, oder vielmehr nur jene ausgew\u00e4hlten sechs derselben, als gegeben voraussetzend, um f\u00fcr sie in jahrelanger, m\u00fchevoller Arbeit, wie er berichtet, die wahren unterscheidenden Kennzeichen zu ermitteln1). Dieser Schluss von den Begriffen auf die Objecte w\u00e4re selbst dann falsch gewesen, wenn die Allgemeing\u00fcltigkeit der ersteren verb\u00fcrgt w\u00e4re; er ist aber um so falscher, als, wie Agassiz selbst erkl\u00e4rt, die Anwendung der Kategorien keineswegs sicher, sondern den gr\u00f6\u00dften Schwankungen unterworfen ist, und die von ihm in den Vordergrund gestellten rein willk\u00fcrlich, wohl ihrer einfacheren Bezeichnung und allgemeineren Anwendung halber, aus der Zahl derselben herausgegriffen sind.\nDiese scholastische Deduction ist der Grundfehler der Theorie des Agassiz, der alle \u00fcbrigen erkl\u00e4rlich macht und das Vertrauen zu der Wahrheit des Ganzen stark ersch\u00fcttert. V\u00f6llig unbeachtet l\u00e4sst Agassiz die \u00fcbrigen Kategorien, wie Unterclasse, Unterordnung, Unterfamilie u. s. w. allerdings nicht, aber er erw\u00e4hnt sie erst, nachdem jene sechs in aller Ausf\u00fchrlichkeit behandelt sind, ihre Bedeutung festgestellt ist ; auch klingt es unsicher genug, wenn er sagt : \u00bbI must confess, that I have not yet been able to discover the principle which obtains the limitation of their respective subdivisions. All I can say is, that all the different categories considered above .... have their degrees, and upon these degrees subclasses, suborders, subfamilies and subgenera have been etablished. For the present these subdivisions\nmust be left to arbitrary estimations. I hope, nevertheless, that\nsuch arbitrary estimations are for ever removed from our science, as far as the categories themselves are concerned\u00ab2). Selbst in der Deutung dieser Kategorien geht Agassiz ersichtlich vom fertigen Begriff, nicht von seinem Ursprung aus. Denn offenbar veranlasste ihn nur dieBezeichnung derselben als U n t e r kategorien, sie f\u00fcr Grad-\n1) Ibid. p. 137ff.\n2) p. 171.","page":262},{"file":"p0263.txt","language":"de","ocr_de":"Die logische\u00bb Grundlagen der Systematik der Organismen.\n263\nabstufungen der anderen zu halten, obschon diese in Wahrheit nur durch ihr sp\u00e4teres Auftreten hervorgerufen wurde. Ein logischer Fehler liegt freilich in der Annahme quantitativer Abstufungen f\u00fcr bestimmte Qualit\u00e4ten nicht ; indessen tritt die Unhaltbarkeit der Theorie an dieser Stelle am olfenkundigsten zu Tage. Denn das Zugest\u00e4ndnis der Willk\u00fcrlichkeit einiger Kategorien muss die objective Existenz der \u00fcbrigen um so zweifelhafter erscheinen lassen, je weniger die Gegen\u00fcberstellung beider begr\u00fcndet ist.\nDie richtige L\u00f6sung des Probl\u00e8mes war lediglich auf inductivem Wege zu erreichen. Darwin schlug denselben ein und f\u00fchrte den unumst\u00f6\u00dflichen Nachweis, dass die Kategorien eine reale Bedeutung nicht beanspruchen k\u00f6nnen, dass sie nichts als \u00bbKunstausdr\u00fccke\u00ab seien f\u00fcr das \u00bbMa\u00df der Modificationen, welche die verschiedenen Gruppen durchlaufen haben\u00ab, f\u00fcr die \u00bbGrade der Verschiedenheiten, in welche die einzelnen Verzweigungen auseinander gelaufen sind\u00ab.\nSo r\u00fcckhaltslos ich mich zu diesem Urtheil bekenne, so wenig einverstanden kann ich mich mit der sp\u00e4ter auftauchenden und auch bei Haeckel h\u00e4ufig wiederkehrenden Fassung erkl\u00e4ren, dass die Kategorien nichts als \u00bbwillk\u00fcrliche Abstractionen\u00ab seien. T\u00e4usche ich mich nicht ganz in der Bedeutung des Begriffes \u00bbKategorie\u00ab, so schlie\u00dft die letztgenannte Ausdrucksweise eine logische Ungenauigkeit ein, die leider zugleich ihren Sinn unbestimmt und zweifelhaft macht. Denn die Kategorien sind, meine ich, \u00fcberhaupt keine Abstractionen; solche sind nur die empirischen Allgemeinhegriffe, jene aber nichts als begriffliche Bezeichnungen f\u00fcr bestimmte Grade des Abstractionsverfahrens. Mit Recht darf man sagen, die Arten, die Gattungen, Familien u. s. w. seien Abstractionen, weil damit die einzelnen Gruppen, die Allgemeinbegriffe selbst gemeint sind, nicht aber darf man die Kategorie der Art, Gattung, Familie u. s. w. f\u00fcr Abstractionen erkl\u00e4ren wollen. Darwin selbst hat, wie die angef\u00fchrten Worte beweisen, den Unterschied sehr wohl erkannt und festgehalten. In jenem ungenauen Ausdruck aber scheint mir der Begriff \u00bbKategorie\u00ab doppelsinnig sowohl f\u00fcr die Rangstufen der Erfahrungsbegriffe als f\u00fcr die einzelnen Erfahrungsbegriffe von bestimmter Rangstufe gebraucht zu sein. Um jedem Missverst\u00e4ndnis vorzubeugen, will ich mein Urtheil \u00fcber die Bedeutung der Kategorien und der empirischen Allgemeinbegriffe gesondert aussprechen.","page":263},{"file":"p0264.txt","language":"de","ocr_de":"264\nReiiihold K\u00f6rner.\nDie letzteren sind Abstractionen des menschlichen Denkens und auch willk\u00fcrliche Abstractionen insofern, als sie keine objectiv fest begrenzten Gebiete umfassen, \u2014 aber auch nur in dieser Hinsicht. Denn es sind ja die Organismen eines Allgemeinbegriffes nicht, einander fremd, nach blo\u00df subjectiven Gr\u00fcnden unter diesen vereinigt, sondern in absolut bestimmter, h\u00f6chstens f\u00fcr unsere mangelhafte Kenntniss vieldeutig erscheinender Weise durch das objective Band der Stammesverwandtschaft mit einander verbunden. Deshalb bleiben die AllgemeinbegrifFe zwar immerhin subjective Abstractionen und Producte unsres Denkens, besitzen aber zugleich die vollste obj ective Begr\u00fcndung.\nNun besitzen diese Allgemeinbegriffe einen bestimmten Umfang, insofern sie engere oder weitere Yerwandtschaftsgebiete umfassen, ein engeres oder weiteres \u00bbMa\u00df der Modificationen\u00ab enthalten. Dies Ma\u00df aber ist nicht bei jedem der \u00e4u\u00dferst zahlreichen Begriffe ein anderes, sondern immer f\u00fcr eine gewisse Anzahl derselben ein gleiches oder nahezu gleiches, und die allgemeinen Bezeichnungen dieser Weitegrade sind die Kategorien. Sie sind daher keinesfalls objective, wenn auch ideale Wesenheiten, welche gleichsam das Bildungsgesetz f\u00fcr die unter die ihnen zugeh\u00f6rigen Gruppen vereinigten Organismen verk\u00f6rperten, sondern haben gleich den Erfahrungsbegriffen nur subjective Existenz in unsrem Geiste, sind aber gleich diesen auch objectiv wohl begr\u00fcndet. Man kann sich die Sache so veranschaulichen, dass die empirischen Allgemeinbegriffe all\u2019 die einzelnen Aeste und Aestchen des bildlich entworfenen Stammbaumes, die Kategorien hingegen das Ma\u00df des Umfanges der mannigfachen Verzweigungscomplexe bezeichnen.\nZum Schluss noch ein Wort \u00fcber die befremdende Ansicht Haeckel\u2019s, nach welcher der Typu soder das Phylum die \u00bbeinzige reale Kategorie\u00ab, die St\u00e4mme allein \u00bbreale Einheiten\u00ab im Gegensatz zu den \u00fcbrigen Kategorien vorstellen sollen. Da H a e c k e 1 auch hier den Ausdruck \u00bbKategorie\u00ab als gleichbedeutend mit \u00bbGruppe\u00ab verwendet, so will ich mich hei der Widerlegung seiner Ansicht, da es ohne Einfluss auf das \u00fcrtheil ist, auf den gleichen Standpunkt stellen. Es besteht ein strenger Unterschied zwischen der Summe der concreten unter einen Allgemeinbegriff fallenden Objecte, die in ihrer Gesammtheit allerdings gewisserma\u00dfen eine \u00bbreale Einheit\u00ab bilden,","page":264},{"file":"p0265.txt","language":"de","ocr_de":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen.\n265\nund dem Allgemeinbegriff selbst, der in jedem Falle eine Abstraction ist und bleibt. Demnach stellt nun zwar ein jedes Phylum eine solche reale Einheit dar, doch aber in gleicher Weise auch alle \u00fcbrigen Systemgruppen. Oder bilden beispielsweise die Classen der S\u00e4uge-thiere und V\u00f6gel weniger reale Einheiten, leiten sie sich weniger von je einer gemeinsamen Stammform ab, als der Typus der Wirbelthiere? die Classe der Insecten, die Ordnung der Schmetterlinge weniger als der Typus der Gliederthiere ? Gewiss darf jede Gruppe des Systems in gleichem Sinne und mit gleichem Rechte eine reale Einheit genannt werden als die Typen.\nHinwiederum aber als Begriff ist jedes Phylum eine genau solche Abstraction wie die einzelne Art, Gattung, Familie u. s. w. Dass die Phylen sich im allgemeinen bestimmter begrenzen lassen \u2014 dies \u00fcbrigens nur auf Grund der polyphyletischen Descendenzhypothese, von welcher Haeckel selbst allm\u00e4hlich zur\u00fcckgekommen ist, \u2014 ist eine Sache ganz f\u00fcr sich. Ob die Abstraction auf einen wohlbegrenzten Complex von Objecten sich st\u00fctzt, ob sie an einer gewissen Unsicherheit der Grenzen leidet, eine Abstraction bleibt sie doch immer.\nDiese Erw\u00e4gungen n\u00f6thigen zu der Annahme, dass die einzelnen Phylen genau solche Abstractionen darstellen wie die \u00fcbrigen Systemgruppen, und das Phylum als Kategorie keine andere Bedeutung als die \u00fcbrigen Kategorien beanspruchen kann.","page":265}],"identifier":"lit4134","issued":"1885","language":"de","pages":"194-265","startpages":"194","title":"Die logischen Grundlagen der Systematik der Organismen","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:28:56.803574+00:00"}