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{"created":"2022-01-31T12:31:42.289973+00:00","id":"lit4135","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lange, Ludwig","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 2: 266-297","fulltext":[{"file":"p0266.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen Beharrungsgesetzes.\nVon\nLudwig Lange.\nDie letzten Jahrzehnte der exacten Wissenschaften sind durch eine ganze Reihe erfolgreicher Bem\u00fchungen ausgezeichnet, welche auf eine kritische Untersuchung und tiefere Durchdringung der grundlegenden Begriffe und Axiome gerichtet waren. Merkw\u00fcrdiger Weise ist hierbei der mechanische Grundbegriff der Bewegung trotz seiner hervorragenden Wichtigkeit verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig schlecht weggekommen, ohne dass man behaupten d\u00fcrfte, es sei schon fr\u00fcher eine auch nur ann\u00e4hernde Uehereinstimmung hinsichtlich seines Gehaltes erreicht worden. Ganz neuerdings ist nun auf diesen Mangel wieder mit dem n\u00f6thigen Nachdrucke hingewiesen worden. Streintz hat in einer besonderen Schrift \u00fcber \u00bbDie physikalischen Grundlagen der Mechanik\u00ab 1) die dogmatische und historische Bedeutung einer hierher geh\u00f6rigen Hauptfrage n\u00e4her er\u00f6rtert und dadurch f\u00fcr Jeden, welcher sich mit Mechanik besch\u00e4ftigt, die Nothwendigkeit dargethan, auf jene Grundfrage n\u00e4her einzugehen. Es ist die Frage nach der wissenschaftlichen Fassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes.\nDas Erscheinen der Streintz\u2019sehen Abhandlung gibt mir Veranlassung , meine Gedanken \u00fcber jene Sache der Oeffentlichkeit zu \u00fcbergeben. Dieselben weichen von allem, was bisher \u00fcber den Gegenstand geschrieben worden ist, in der einen oder anderen Beziehung ah. Am meisten noch, ja, was einige besondere Punkte anlangt, in geradezu auff\u00e4lliger Weise, stimmen sie mit den Ideen \u00fcberein, welche\n1) Leipzig, Teubner 1883.","page":266},{"file":"p0267.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Gaiilei\u2019schen \u00dfeharrungsgesetzes. 267\nCarl Neumann in seiner Leipziger akademischen Antrittsvorlesung (1869) \u00bbUeber die Principien der Galilei-Newton\u2019sehen Theorie\u00ab1) ge\u00e4u\u00dfert hat. Es gereicht mir dies zu um so gr\u00f6\u00dferer Befriedigung, als ich ohne Kenntniss der einschlagenden Literatur schon vor mehreren Jahren selbst\u00e4ndig zu meinen Ergebnissen gelangt hin, und durch Kenntnissnahme von der Neumann\u2019sehen Schrift wenigstens f\u00fcr einen Theil meiner Ueberzeugungen die willkommenste Best\u00e4tigung erhalten habe.\nIn neuester Zeit ist die Frage au\u00dfer von C. Neumann und von Streintz auf\u00fchrlicher nur von Ernst Mach2) behandelt worden. Was man vor der Neu mann\u2019sehen Antrittsvorlesung, welche den Ansto\u00df zu allen weiteren Ver\u00f6ffentlichungen gegeben, \u00fcber den Gehalt des Tr\u00e4gheitsgesetzes geschrieben hat, ist aus dem historischen Theile der angef\u00fchrten Schrift von Streintz zu ersehen; ein Bericht dar\u00fcber w\u00fcrde hier zu weit f\u00fchren. Dagegen ist wohl f\u00fcr den, der nicht im Zusammenh\u00e4nge des behandelten Gedankenkreises steht, eine Auseinandersetzung am Platze, wieso man zu der Frage nach einer wissenschaftlichen Fassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes \u00fcberhaupt kommt. Scheint es doch, als m\u00fcsste die \u00fcbliche Fassung, mit der sich zwei Jahrhunderte beholfen haben, v\u00f6llig zureichend sein.\nDem ist aber, wie wohl manche von den \u00e4lteren Physikern gef\u00fchlt, und gleichwohl erst Neumann und Mach ausdr\u00fccklich hervorgehoben haben, in der That nicht so. Die \u00fcbliche Fassung des Gesetzes w\u00e4re ausreichend f\u00fcr einen primitiven Standpunkt der Wissenschaft, von welchem aus man sich auf die Discussion der allern\u00e4chst liegenden Bewegungen beschr\u00e4nkte ; sie ist es nicht f\u00fcr den weiten Gesichtskreis der heutigen Naturbetrachtung, welcher uns Himmel und Erde als \u00bbKosmos\u00ab mit einem Blicke umspannen l\u00e4sst.\nGew\u00f6hnlich gibt man n\u00e4mlich dem Beharrungsgesetze diese Fassung: \u00bbJeder sich selbst \u00fcberlassene materielle Punkt beschreibt eine geradlinige Bahn, und zwar mit constanter Geschwindigkeit.\u00ab Indem man die Geschwindigkeit gleich Null setzt, gewinnt man den spe-ciellen Fall der Ruhe eines sich selbst \u00fcberlassenen Punktes, ein Fall.\n1)\tLeipzig, Teubner 1870.\n2)\tE. Mach, Die Geschichte und die Wurzel des Satzes von der Erhaltung der Arbeit. Prag, Calve 1872. S. 47\u201450. \u2014 Derselbe, Die Mechanik in ihrer Entwickelung historisch-kritisch dargestellt. Leipzig, Brockhaus 1883. S. 217 ff.","page":267},{"file":"p0268.txt","language":"de","ocr_de":"268\tLudwig Lange.\nden man manchmal auch f\u00fcr sich in den Ausdruck des Gesetzes einf\u00fchrt.\nDas Axiom von der Relativit\u00e4t aller Bewegung fordert nun eine Antwort auf die Frage: \u00bbWorauf bezieht sich die Bewegung oder Ruhe, von welcher das Tr\u00e4gheitsgesetz redet?\u00ab Dem naiven Standpunkte muss diese Frage \u00fcberfl\u00fcssig erscheinen, denn er versteht ein f\u00fcr alle Mal unter \u00bbBewegung\u00ab die Ortsver\u00e4nderung relativ zur Erde, d. h. Bewegung in der trivialsten Bedeutung des Wortes. Wollte aber die Wissenschaft das Tr\u00e4gheitsgesetz im Sinne dieser Auffassung in-terpretiren, so w\u00fcrde sie nicht weit kommen, sie w\u00fcrde schon bei Betrachtung des Foucault\u2019sehen Pendels auf Widerspr\u00fcche mit der Erfahrung gerathen, indem die Schwingungsebene desselben zufolge ihrem Tr\u00e4gheitsgesetze relativ zur Erde in Ruhe verharren m\u00fcsste. Unzweifelhaft w\u00fcrde sich sofort der geistige Process der \u00bbUmbildung und Anpassung\u00ab1) vollziehen. Man w\u00fcrde erkennen, wie sich jener Widerspruch leicht vermeiden l\u00e4sst, wenn man, ohne das Tr\u00e4gheitsgesetz zu verwerfen, ein anderes Bezugsobject w\u00e4hlt. N\u00e4mlich das Coordinatensystem, welches mit dem Erdmittelpunkte und mit dem Fixsternhimmel fest verbunden gedacht werden kann. Allein auch unter dieser Annahme w\u00fcrde man alsbald Widerspr\u00fcche der Theorie mit der Erfahrung constatiren m\u00fcssen. Seitdem man n\u00e4mlich die Bewegungen der Planeten analytisch behandelt hat, sieht man die elliptische Gestalt ihrer Bahnen als einfachen Ausfluss aus dem Tr\u00e4g-heits- und dem Gravitationsgesetz an. Elliptisch aber sind die Planetenbewegungen nicht in Bezug auf jenes System durch den Erdmittelpunkt, sondern in Bezug auf das Coordinatensystem des Copernicus , welches die Centren der Sonne und der \u00fcbrigen Fixsterne als wesentlich feste Punkte enth\u00e4lt. Daher ist man, um eine Ueber-einstimmung der Theorie mit den Thatsachen zu erzielen, gezwungen, von jenem geocentrischen Systeme abzugehen und das definirte helio-centrische System einzuf\u00fchren.\nHiermit w\u00e4re jede w\u00fcnschenswerthe und auch nur brauchbare Pr\u00e4cision in der Wahl des Bezugssystemes erreicht, soweit es eine Discussion der Bewegungen im Sonnensysteme anlangt. Denn, dass\n1) E. Mach, Ueber Umbildung und Anpassung im naturwissensch. Denken. Wien, Hartleben 1884.","page":268},{"file":"p0269.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen \u00dfeharrungsgesetzes.\n269\ndie gegenseitigen Fixstern\u00f6rter nicht unver\u00e4nderlich sind, dies kann die Bestimmung jenes heliocentrischen Syst\u00e8mes nicht derma\u00dfen willk\u00fcrlich machen, dass die ohnehin vorhandenen Beobachtungsfehler noch \u00fcberboten w\u00fcrden. Wenn es sich aber dermaleinst um eine n\u00e4here mechanische Untersuchung der Fixsterneigenbewegungen handeln wird, so ist das heliocentrische System unbedingt zu verwerfen ; denn in diesem subtilen Gegenst\u00e4nde w\u00e4ren die seiner Unbestimmtheit entspringenden minimalen Fehler unverh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig gro\u00df gegen die Beobachtungsergebnisse selbst.\nEs dr\u00e4ngt sich also das Bed\u00fcrfniss nach einer Fassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes auf, welche von den soeben angegebenen Bezugsobjecten keinen Gebrauch macht. Vielleicht wird in Jahrhunderten die Astronomie eine concrete, an die Materie gebundene Construction eines allen Anforderungen gerechten Bezugssystemes zu leisten im Stande sein. Jedenfalls aber muss ihr hier die abstracte Mechanik Vorarbeiten. Und diese wird mit Recht eine Fassung des Gesetzes verlangen, welche von den Zuf\u00e4lligkeiten des Weltalls unabh\u00e4ngig ist, welche sich an kein bestimmtes Object der physischen Astronomie anlehnt, sondern vielmehr aus rein dynamischen Begriffen sich zusammensetzt.\nDie hiermit geforderte Pr\u00e4cision bezieht sich wesentlich auf den r\u00e4umlichen Theil des Tr\u00e4gheitsgesetzes, welcher \u00fcber die Gestalt der Bahnen sich selbst \u00fcberlassener Punkte etwas aussagt. In der \u00fcblichen Fassung des Gesetzes ist aber auch der zeitliche Theil desselben zu kurz gekommen, welcher von der gleichf\u00f6rmigen Bewegung der sich selbst \u00fcberlassenen Punkte handelt. *) Der Angriffspunkt der Kritik liegt hier in dem Begriffe des Zeitma\u00dfes, des Bezugsobjectes einer zeitlichen Fixirung ; dort lag er in dem Bezugsobject der r\u00e4umlichen Fixirung. Zum Verst\u00e4ndnisse des zeitlichen Theiles wird n\u00e4m-\nlich die Definition des Begriffes \u00bbgleiche Zeiten\u00ab vorausgesetzt. Man k\u00f6nnte dieselbe auf die t\u00e4gliche Umdrehung der Erde gr\u00fcnden; allein es liegt im Interesse einer wissenschaftlichen Abrundung der Mechanik, neben dem praktischen Zeitma\u00dfe der Astronomie ein reines Zeitma\u00df zu unterscheiden, welches sich nicht auf astrophysischen, sondern auf rein dynamischen Begriffen aufbaut.\n1) Neumann, a. a. O.","page":269},{"file":"p0270.txt","language":"de","ocr_de":"270\nLudwig Lange.\nMit dieser Auseinandersetzung ist die Hauptaufgabe des vorliegenden Aufsatzes n\u00e4her gekennzeichnet. Es soll untersucht werden, wie am passendsten dem ger\u00fcgten Mangel der \u00fcblichen Fassung beider Theile abgeholfen werden kann.\nBevor wir uns jedoch hierzu wenden k\u00f6nnen, wird es n\u00f6thig sein, \u00fcber den erkenntnisstheoretischen Gehalt des Tr\u00e4gheitsgesetzes eine kurze Er\u00f6rterung vorauszuschicken.\nF\u00fcr denjenigen, welcher von den soeben angeregten Zweifeln hinsichtlich des Bezugssystemes und des Zeitma\u00dfes noch nicht ergriffen worden ist, hat das Tr\u00e4gheitsgesetz etwas au\u00dferordentlich Evidentes, und insofern verdient es gewiss, in die Reihe der physikalischen Axiome gestellt zu werden. Der Grund jener Evidenz liegt in der nahen Beziehung zum Causalgesetze. So wie alle anderen Axiome bedarf aber auch das Tr\u00e4gheitsgesetz durchaus der Rechtfertigung durch die Erfahrung. *) Betrachten wir nun die Stellung des Gesetzes zu dem durch Beobachtung unmittelbar oder mittelbar gewonnenen empirischen Material, so erscheint es nicht correct, ihm den Charakter eines eigentlichen Erfahrungssatzes zuzusprechen. Vielmehr ist und bleibt das Tr\u00e4gheitsgesetz eine physikalische Hypothese, wenngleich sicher diejenige, welche am ersten den Anspruch auf Permanenz erheben darf. Denn da in der begrifflichen Vorstellung eines \u00bbsich selbst \u00fcberlassenen materiellen Punktes\u00ab neben einer mathematischen Abstraction noch die Voraussetzung einer niemals ganz erf\u00fcllten Bedingung enthalten ist, so erscheint der Inhalt des Gesetzes weder direct noch indirect als thats\u00e4chlich gegeben; er ist vielmehr nur ersonnen, um mit gutem Erfolg die F\u00fclle der mechanischen Ph\u00e4nomene unter einem gro\u00dfen Gesichtspunkte zu vereinigen. Demgem\u00e4\u00df kann es sich im vorliegenden Aufsatze nicht darum handeln, aus demGalilei\u2019schenPrincip eineThatsache zu machen; vielmehr soll nur, neben der vorhin versprochenen Vervollst\u00e4ndigung, eine Reinigung der Hypothese von \u00fcberfl\u00fcssigen Elementen erstrebt werden. Denn wo eine Hypothese erfordert wird, \u00bbda hat sie sich in allen F\u00e4llen auf diejenigen Voraussetzungen zu beschr\u00e4nken, die zur Herstellung der logischen Verbindungen erforderlich sind, sie soll denselben nichts \u00fcberfl\u00fcssiges hinzuf\u00fcgen\u00ab.1 2)\n1) W. Wundt, Logik I, S. 561.\u2014Ders., Die physikal. Axiome u. ihre Be-\nziehung zum (Jausalprincip. Erlangen, 1866.\t2) W. Wundt, Logik I, S. 402.","page":270},{"file":"p0271.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen Beharrungsgesetzes. 271\nFerner habe ich, um meinen Standpunkt von vornherein zu kennzeichnen, ein Wort \u00fcber die Bedeutung zu sagen, welche ich dem Ausdruck \u00bbsich selbst \u00fcberlassen\u00ab beigelegt wissen m\u00f6chte. Bei m\u00fcndlicher Besprechung des Gegenstandes ist mir mehr als einmal vorgehalten worden, man k\u00f6nne das \u00bbSich-selbst-\u00fcberlassen-sein\u00ab der Materie lediglich eben durch Umkehrung des Tr\u00e4gheitsgesetzes defi-niren. W\u00e4re dies richtig, so enthielte das Gesetz eine Tautologie. Ich glaube aber, dass man gem\u00e4\u00df einem Vorschl\u00e4ge von Ernst Mach diesen Scrupel am einfachsten erledigen kann, indem man als \u00bbsich selbst \u00fcberlassen\u00ab solche Materie bezeichnet, welche von anderer Materie hinreichend oder in der Ausdrucksweise der reinen Mathematik \u00bbunendlich\u00ab weit entfernt gedacht wird. Nur unwesentlich verschieden hiervon ist der Gedanke Maxwell\u2019s, dem Tr\u00e4gheitsgesetze eine negative Fassung zu verleihen, wonach wir erfahrungsgem\u00e4\u00df, so oft ein Punkt nicht geradlinig und gleichf\u00f6rmig bewegt ist, in seiner Umgebung irgend welche Materie vorfinden, deren Einfluss wir als Ursache der Abweichung ansehen d\u00fcrfen.\nNach diesen Vorbemerkungen kehre ich nun zur Hauptaufgabe zur\u00fcck, d. h. zu den Betrachtungen \u00fcber die Vervollst\u00e4ndigung des Tr\u00e4gheitsgesetzes.\nEine Kritik der neuesten, insbesondere der Streintz\u2019sehen Aufstellungen muss selbstverst\u00e4ndlich mit diesen Betrachtungen Hand in Hand gehen ; zweckm\u00e4\u00dfig wird es aber sein, die beiden Theile des Gesetzes getrennt, und zwar zun\u00e4chst den r\u00e4umlichen zu er\u00f6rtern.\nBetrachten wir zuerst Neumann\u2019s Verbesserungsvorschlag f\u00fcr diesen Theil. Neumann statuirt die Hypothese, es sei an irgend einer uns unbekannten Stelle des Weltraumes ein (absolut starrer) K\u00f6rper befindlich, auf den alle Bewegungen, so auch die geradlinigen des Galilei\u2019schen Princips bezogen werden m\u00fcssten ; diesen K\u00f6rper nennt er den K\u00f6rper Alpha. Demgem\u00e4\u00df zerf\u00e4llt er den r\u00e4umlichen Theil des Gesetzes in zwei Abschnitte, von denen der erste die Existenzhypothese des K\u00f6rpers a zum Ausdrucke bringt, und der zweite aussagt, dass die Bahnen sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper (d. i. materieller Punkte) relativ zum K\u00f6rper a geradlinig sind. Streintz bemerkt hierzu, in sachgem\u00e4\u00dfer Fortf\u00fchrung einer Kritik, welche schon Newton gegen einen eigenen verwandten Gedanken ge\u00fcbt hat : \u00bbWie sollte doch etwas \u00fcber die Bewegung irgend eines K\u00f6rpers","page":271},{"file":"p0272.txt","language":"de","ocr_de":"272\nLudwig Lange.\nbez\u00fcglich jenes uns ewig unbekannt bleibenden, ganz au\u00dferhalb des Bereiches unserer Sinneswahrnehmung liegenden, also transscendenten K\u00f6rpers Alpha ausgesagt werden? W\u00fcrde nicht die Behauptung, dass jeder unbeeinflusste materielle Punkt sich bez\u00fcglich jenes K\u00f6rpers Alpha in gerader Linie und mit constanter Geschwindigkeit bewegt, eine Ueberschreitung unserer Erfahrung enthalten?\u00ab (a. a. O. S. 9.)\nIn der That hat es seine gro\u00dfen Bedenken, in die Mechanik transscendente Elemente einzuf\u00fchren, wenn man sie irgend vermeiden kann. Es muss sogar sehr fraglich erscheinen, ob nicht hier f\u00fcr besser noch als ein solches Verfahren der einfache R\u00fcckgriff auf das helio-centrische System erachtet werden soll, welches gegenw\u00e4rtig f\u00fcr die Praxis wenigstens ausreicht.\nMach hat dem Tr\u00e4gheitsgesetze einen Ausdruck gegeben, dessen Schwerpunkt in dem folgenden Satze zu suchen ist : \u00bbSofern die K\u00f6rper so weit von einander entfernt sind, dass sie sich keine merklichen Beschleunigungen ertheilen, \u00e4ndern sich s\u00e4mmtliche Entfernungen einander proportional\u00ab.1) Was von der Stellung der Masse in Mach\u2019s fernerer Auseinandersetzung zu halten sei, dar\u00fcber zu reden ist hier nicht der Ort ; denn sie betrifft nicht sowohl die methodische Formulirung, als vielmehr den problematischen physikalischen Hintergrund des Tr\u00e4gheitsgesetzes. 2) Eigenthiimlich der Mach sehen Auffassung ist aber, wie man sieht, dass die Aufstellung eines gemeinsamen Bezugsk\u00f6rpers durch die Beziehung jedes materiellen Punktes auf jeden anderen ganz umgangen ist. An dem Inhalte der Mach sehen Fassung ist im Wesentlichen nichts auszusetzen ; unzweifelhaft aber ist sie zu analytischen Folgerungen ungeeignet, weil man zur Aufstellung der Bewegungsgleichungen eines einheitlichen Bezugssystems durchaus bedarf. Ich glaube, dass sich eine weit gr\u00f6\u00dfere \u00bbOekonomie des Denkens\u00ab im Mach\u2019sehen Sinne des Wortes auf dem sogleich anzugebenden Wege erreichen l\u00e4sst.\nBevor ich n\u00e4mlich an die Kritik der Streintz\u2019schen Fassung herantrete, wird es zweckm\u00e4\u00dfig sein, eine Auseinandersetzung und Begr\u00fcndung der meinigen vorangehen zu lassen.\nMeine Fassung entspricht im Ganzen dem Zerlegungsprincip,\n1)\tD. Gesch. und d. Wurzel d. Satzes v. d. Erh. d. Arb. S. 50.\n2)\tStreintz, a. a. O. S. 7.","page":272},{"file":"p0273.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen Beharningsgesetzes. 273\nwelches schon N eumann in Bezug auf das Tr\u00e4gheitsgesetz geltend gemacht hat (a. a. O.). Sie zerf\u00e4llt den r\u00e4umlichen Theil in eine Definition und eine Hypothese. N\u00e4mlich in die Definition des fraglichen Bezugssystemes und die Hypothese, dass r\u00fccksichtlich desselben die Hahnen sich selbst \u00fcberlassener Punkte geradlinig sind. Das Bezugssystem des Tr\u00e4gheitsgesetzes mag kurz als \u00bbInertialsystem\u00ab gekennzeichnet werden ').\nUm das Inertialsystem zu definiren, betrachte ich eine Gruppe sich selbst \u00fcberlassener Punkte, und nehme zwei beliebige, I\\ und P2, aus ihrer Mitte heraus. Man kann offenbar in Gedanken unz\u00e4hlige Coordinatensysteme von der Art construirai, dass P, einen ruhenden Punkt in ihnen bildet: diese \u00bbP,-Systeme\u00ab werden gegen einander alle m\u00f6glichen Drehungen ausf\u00fchren, und es ist klar, dass P2 in ihnen lauter verschiedene Bahnen beschreibt. Durch rein pho-ronomische Ueherlegungen kann man sich nun \u00fcberzeugen, dass es unter jenen unz\u00e4hligen P,-Systemen gewiss eines, /, gibt, worin die Bahn von P2 geradlinig ist. Setzen wir weiter voraus, dass diese /-Bahn des P2 nicht auf Pt gerichtet ist, so l\u00e4sst sich erkennen, dass jedes gegen / bewegte Pi-System eine krummlinige Bahn des Punktes P2 aufzuweisen hat. Folglich ist das System I, worin J\\ ruht, P2 geradlinig und nicht in der Richtung gegen 1\\ fortschreitet, ein unzweideutig bestimmtes mit Bezug auf die beiden Punkte Pt und P2.\nIch behaupte nun, dass das System/die Bedeutung einesInertial-systemes hat, und stelle als Aequivalent f\u00fcr den r\u00e4umlichen Theil des Tr\u00e4gheitsgesetzes die Hypothese (s. o.) auf:\n\u00bbMit Bezug auf das System / schreiten alle \u00fcbrigen Punkte der betrachteten Gruppe geradlinig fort.\u00ab Ich habe diese Behauptung mit dem wesentlichen Inhalte des Galilei\u2019schen Princips in Einklang zu setzen.\nDas Tr\u00e4gheitsgesetz involvirt die Annahme, dass sich ein Inertialsystem \u00fcberhaupt construirai l\u00e4sst: d. h. ein System, worin alle Bahnen sich selbst \u00fcberlassener Punkte geradlinig sind und proportional der Zeit wachsen. Gehen wir von dieser Voraussetzung aus\n1) Ein Name f\u00fcr das Fundamentalsystem aller mechanischen Betrachtungen wird k\u00fcnftighin unentbehrlich sein. Ob man dasselbe nun \u00bbFundamentalsystem\u00ab oder \u00bbInertialsystem\u00ab oder irgendwie anders nennen soll, f\u00fcr diese Entscheidung ist lediglich die Pr\u00e4gnanz des Ausdruckes ma\u00dfgebend.\nWundt, Philos. Studien. II.\n18","page":273},{"file":"p0274.txt","language":"de","ocr_de":"274\nLmlvvig Lange.\nund wenden wir den bekannten kinematischen Satz \u00fcber die Zusammensetzung geradliniger gleichf\u00f6rmiger Bewegungen an, so folgt, dass es auch ein System gibt, worin P, ruht, P2 und alle anderen Punkte geradlinig fortschreiten. Diese Beschaffenheit besitzt n\u00e4mlich das System, welches ohne Drehung gegen das urspr\u00fcngliche in gleicher Richtung und gleicher Geschwindigkeit mit P, seine Lage ver\u00e4ndert. W\u00e4ren nun die Bahnen der P:(, P4............in Bezug auf / nicht gerad-\nlinig, so g\u00e4be es \u00fcberhaupt kein System, worin P, ruht, und P2, P3, P4.. . geradlinig fortschreiten: denn in Bezug auf jedes gegen / bewegte System ist, wie wir gesehen haben, wiederum die Bahn des Punktes P2 krummlinig. Eine solche Folgerung st\u00fcnde aber im Widerspruche mit dem, was wir eben als nothwendige Folge des Tr\u00e4gheitsgesetzes erkannt haben, daher muss die Pr\u00e4misse falsch, m. a. W. es muss die aufgestellte Hypothese richtig sein.\nDarnach w\u00fcrde man als \u00bbInertialsystem\u00ab ein jedes System / bezeichnen k\u00f6nnen, worin ein sich selbst \u00fcberlassener Punkt ruht, ein anderer in einer geraden Linie dahinschreitet, welche (verl\u00e4ngert) nicht jenen ruhenden Punkt trifft. Indessen w\u00e4re diese Definition zu eng. Geradlinige Bahnen legen die sich selbst \u00fcberlassenen Punkte (nq,ch dem soeben angewandten kinematischen Satze vom Parallelogramm der Bewegungen) zur\u00fcck auch in Bezug auf jedes System, welches ohne Drehung gegen / geradlinig-gleichf\u00f6rmig fortschreitet. Dem Begriffe durchaus congruent ist dementsprechend erst diese Definition des Inertialsystemes:\n\u00bbInertialsystem\u00ab nennen wir ein System, worin ein sich selbst \u00fcberlassener Punkt ruht, ein anderer in einer geraden Linie dahinschreitet, die den ersten nicht trifft ; oder auch ein System, welches zu einem von der angegebenen Art ohne Drehung geradlinig und gleichf\u00f6rmig fortschreitet.\nDer Begriff des Inertialsystemes ist hiernach unendlich vieldeutig1 *) und es bleibt sich ganz gleich, auf welches Inertialsystem man den r\u00e4umlichen Theil d. h. die ausgesprochene Hypothese bezieht. Streintz hat (a. a. O. S. 78f.) darauf aufmerksam gemacht,\n1) Die Mannigfaltigkeit ist, abgesehen von der Verlegbarkeit des nebens\u00e4chlichen Coordinatenursprunges und der Achsenrichtungen, OO3. Man erkennt dies,\nindem man ein Inertialsystem zu Grunde legt, und die Gesannntheit der \u00fcbrigen in\nihren Bewegungen gegen jenes betrachtet.","page":274},{"file":"p0275.txt","language":"de","ocr_de":"Deber die wissenschaftliche Fassung' des Galilei'schen Beharrungsgesetzes. 275\nwie M\u00e4nner von der hervorragenden Bedeutung eines Laplace und Poisson \u00fcberfl\u00fcssige Beweise f\u00fcr Tliatsachen geliefert haben, die ihnen hei tieferer Erkenntniss jener Vieldeutigkeit des Inertialsyste-mes als identisch mit ihren Pr\u00e4missen erschienen w\u00e4ren. Ganz nat\u00fcrlich erscheint eine solche Tautologie im Hinblick auf den gew\u00f6hnlichen Ausspruch des Tr\u00e4gheitsgesetzes, dessen sich jene M\u00e4nner bedienten.\nEs ist wohl nichts weniger als \u00fcberfl\u00fcssig, darauf hinzu weisen, wie es lediglich der ausgesprochenen dynamischen Hypothese halber gleichg\u00fcltig ist, welche zwei Individuen man der Gruppe sich seihst \u00fcberlassener Punkte entnimmt, um das Inertialsystem zu d\u00e9finirai. Von der Bedingung aber, dass die Inertialbahn des einen Punktes den anderen ruhenden verl\u00e4ngert nicht treffen soll, ist es offenbar nur ein anderer Ausdruck, wenn man verlangt, dass die beiden bestimmenden Punkte nicht zur gleichen Zeit den gleichen Ort eingenommen haben oder in Zukunft einnehmen sollen. Ganz entsprechend verlangt man z. B. von den drei Punkten, welche die Lage einer Ebene bestimmen sollen, dass nicht zwei von ihnen, geschweige denn alle drei denselben Ort einnehmen oder in einer Geraden liegen sollen : in der Mechanik, der \u00bbGeometrie von vier Dimensionen\u00ab kommt eben noch die vierte Dimension \u00bbZeit\u00ab ins Spiel.\nDie im Vorigen gegebene Definition des Inertialsystemes enth\u00e4lt keine Existenzhypothese wie die Neumann\u2019sehe und erm\u00f6glicht im Gegens\u00e4tze zur Mach\u2019sehen Fassung eine einheitliche Beziehung aller Bewegungen sich seihst \u00fcberlassener K\u00f6rper. Sie ist eine rein dynamische Definition, d. h. sie gen\u00fcgt den im Eing\u00e4nge gestellten Anforderungen in vollem Ma\u00dfe. Charakteristisch f\u00fcr sie ist, dass sie einer Gruppe von Individuen, \u00fcber deren Gesammtheit sp\u00e4ter etwas gemeinsames ausgesagt werden soll, zwei entnimmt und zur Bestimmung des erforderlichen, aber noch nicht festgestellten Grundbegriffes verwendet. Dieser Grundbegriff wird dann in dem sich anschlie\u00dfenden (hypothetischen) Satze auf die \u00fcbrigen Individuen der Gruppe bezogen.\nIrre ich nicht, so haben wir hier nur eine einzelne Anwendung eines allgemeineren Verfahrens, welches ich mit einem terminus tech-nicus als \u00bbPrincip der Particulardetermination\u00ab kennzeichnen m\u00f6chte. Ich darf behaupten, dass dies Princip in den Grund-","page":275},{"file":"p0276.txt","language":"de","ocr_de":"276\nLudwig Lange.\nbegriffen der Mechanik und \u00fcberhaupt der mathematischen Physik eine au\u00dferordentlich wichtige Rolle spielt. So beruht der von Neunrann (a. a. O.) vorgeschlagene Ausdruck f\u00fcr den zeitlichen Theil des lleharrungsgesetzes \u2014 ein Ausdruck \u00fcbrigens, welcher mit meinem eigenen ganz \u00fcbereinstimmt \u2014 wesentlich auf einer Anwendung des genannten methodologischen Grundgesetzes.\nOhne dem zweiten Abschnitte dieses Aufsatzes wesentlich voraus zu greifen, will ich hier meine vollst\u00e4ndige Fassung des Tr\u00e4gheitsgesetzes mittheilen, weil dadurch die eigenthiimliche, in der Anwendung jenes Princips bestehende Analogie beider Theile aufs unverkennbarste hervortritt.\nMeine Fassung besteht aus vier organisch zusammenh\u00e4ngenden St\u00fccken :\n1. Definition des Inertialsystemes auf Grund zweier sich selbst \u00fcberlassener Punkte, welche aus der betrachteten Gruppe nach Belieben ausgew\u00e4hlt werden : wie oben.\n1.\tHypothese: Die Bahn eines jeden anderen sich selbst \u00fcberlassenen Punktes der Gruppe in Bezug auf das defmirte Inertialsystem ist geradlinig.\n2.\tDefinition1): \u00bbGleiche Zeitabschnitte\u00ab hei\u00dfen solche, worin ein sich selbst \u00fcberlassener Punkt der Gruppe gleiche Inertialwege zur\u00fccklegt. Der Punkt kann ganz nach Belieben gew\u00e4hlt sein.\n2. Hypothese: In gleichen Zeiten legt auch jeder andere Punkt der Gruppe gleiche Inertialwege zur\u00fcck.\nIn der zweiten Hypothese wird, wie man in der That mit einem Blicke sieht, die Particulardetermination der zweiten Definition in derselben Weise angewandt, wie in der ersten Hypothese diejenige der ersten Definition. Es ist zweimal dieselbe Sache, nur das eine Mal im Raume, das andere Mal in der Zeit2). Dass die erste Particular-\n1)\tDiese Definition stimmt mit der N eu mann\u2019sehen vollst\u00e4ndig \u00fcberein.'\n2)\tEine Zusammenziehung des Tr\u00e4gheitsgesetzes in einen einzigen Satz lie\u00dfe sich wie folgt geben : \u00bbRelativ zu einem Coordinatensysteme, worin von einer Gruppe sich selbst \u00fcberlassener Punkte einer, P\\, ruht, ein anderer, P2, geradlinig, jedoch nicht auf Pi zu fortsehreitet, beschreibt auch jeder dritte Punkt der Gruppe eine geradlinige Bahn und gleichen Wegstrecken eines Punktes entsprechen zeitlich auch gleiche Wegstrecken jedes anderen\u00ab. Die obige Fassung ist jedoch vorzuziehen, um so mehr als die darin vorkommenden Definitionen doch unentbehrlich sind.","page":276},{"file":"p0277.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen Behammgsgesetzes.\n277\ndetermination mehr Individuen beansprucht, als die zweite, erkl\u00e4rt sich naturgem\u00e4\u00df aus der verschiedenen Anzahl der Dimensionen, welche beiden Anschauungsformen eigenth\u00fcmlich sind.\nUm die Anwendung des Princips der particularen Determination auf den r\u00e4umlichen Theil des Tr\u00e4gheitsgesetzes noch eingehender zu rechtfertigen, will ich nur auf einige weitere \u00e4hnliche F\u00e4lle hinweisen, wo seine Verwendung durchaus dem Geiste der Wissenschaft entspricht und theilweise auch l\u00e4ngst in ihrem ganzen methodologischen Werthe anerkannt worden ist. Die neuesten Aufstellungen \u00fcber die reinen Ma\u00dfe der Kraft und Masse finden z. 15. ihren wesentlichen Ausdruck in der folgenden Exposition des Satzes, dass gleiche Kr\u00e4fte gleichen Massen gleiche Beschleunigungen (gegen ein Inertialsystem) ertheilen.\n1. Definition: Zwei Kr\u00e4fte werden \u00bbgleich\u00ab genannt, wenn sie irgend einer besonders gew\u00e4hlten aber beliebigen Masse dieselbe Beschleunigung ertheilen.\n1.\tLehrsatz1): \u00bbGleiche Kr\u00e4fte\u00ab ertheilen auch jeder anderen Masse dieselbe Beschleunigung.\n2.\tDefinition: Zwei Massen werden gleich genannt, wenn sie von einer nach Belieben gew\u00e4hlten Kraft gleiche. Beschleunigungen empfangen.\n2. Lehrsatz1): \u00bbGleiche Massen\u00ab empfangen auch von jeder anderen Kraft gleiche Beschleunigungen.\nSchlusssatz: \u00bbGleiche Kr\u00e4fte\u00ab ertheilen \u00bbgleichen Massen\u00ab gleiche Beschleunigungen.\nEs versteht sich , dass hier \u00bbBeschleunigung\u00ab so viel als \u00bbInertial-beschleunigung\u00ab, d. h. Beschleunigung gegen ein Inertialsystem bedeutet. Die Inertialbeschleunigung ist f\u00fcr die dreifach unendliche Mannigfaltigkeit der Inertialsysteme nur eine ; denn sie ist Ableitung der Inertialgeschwindigkeit, die sich hei verschiedenen Inertialsystemen nur um ein constantes unterscheidet.\nAus der mathematischen Physik will ich als Beispiel f\u00fcr das Princip nur den Satz anf\u00fchren, dass gleiche W\u00e4rmemengen \u00fcberall\n1) Auch diese Lehrs\u00e4tze sind, wie die beidenTheile des Tr\u00e4gheitsgesetzes, nicht Resultate der unmittelbaren Erfahrung oder einer zwingenden Schlussfolgerung, sondern Hypothesen.","page":277},{"file":"p0278.txt","language":"de","ocr_de":"278\tLudwig Lange.\nden gleichen Effect erzielen. N\u00e4her darauf einzugehen ist hier nicht der Ort.\nDer allgemeine Charakter des Princips der particularen Determination l\u00e4sst sich offenbar kurz dadurch kennzeichnen :\nEs definirt gewisse einem Lehrs\u00e4tze voranzustellende Relationsobjecte derma\u00dfen, dass der Lehrsatz conventioneil f\u00fcr einen m\u00f6glichst kleinen Theil seiner Gegenst\u00e4nde gilt: der Inhalt des Lehrsatzes bezieht sich dann, soweit er mehr als blo\u00dfe Convention, soweit er ein neues Ergebniss der Forschung ausdr\u00fccken soll, nur auf die Gesammtheit der \u00fcbrigen. So definiren wir unser Inertialsystem, das Bezugsobjeet, einer r\u00e4umlichen Fixirung, so, dass der r\u00e4umliche Theil des Tr\u00e4gheitsgesetzes mit Bezug darauf f\u00fcr zwei sich selbst \u00fcberlassene materielle Punkte gilt ; er gilt dann, wie die darauf folgende Hypothese aussagt, von seihst f\u00fcr die \u00fcbrigen. Wir definiren unser Zeitma\u00df, das Bezugsobject einer zeitlichen Fixirung, so, dass der zeitliche Theil des Gesetzes f\u00fcr einen sich seihst \u00fcberlassenen Punkt richtig ist; er ist es dann von selbst f\u00fcr alle \u00fcbrigen. Wir definiren ein Kraftma\u00df so, dass der Satz : \u00bbGleiche Kr\u00e4fte ertheilen derselben Masse gleiche Beschleunigung\u00ab, in Bezug auf eine bestimmte Masse wahr ist; er ist dann von selbst f\u00fcr alle \u00fcbrigen wahr. Wir definiren endlich ein Ma\u00df der Masse so, dass der Satz ; \u00bbGleiche Massen erhalten von derselben Kraft gleiche Beschleunigungen\u00ab, mit Bezug auf eine bestimmte Kraft erf\u00fcllt ist; er besteht dann von selbst f\u00fcr alle \u00fcbrigen Kr\u00e4fte.\nDer Zweck des Princips der Particulardetermination und sein unsch\u00e4tzbarer Erfolg liegt in der Umgehung jeglicher absoluten Begriffe. Durch das Inertialsystem vermeidet man die Bezugnahme auf Newton\u2019s absoluten Raum, durch den Nenmann\u2019schen Begriff \u00bbgleicher Zeitabschnitte\u00ab Newton\u2019s absolute Zeit, h Durch den oben gegebenen Begriff \u00bbgleicher Kr\u00e4fte\u00ab die absolute Kraft (\u00bbUrsache der Bewegung\u00ab), durch den Begriff \u00bbgleicher Massen\u00ab die absolute Masse (\u00bbQuantit\u00e4t der Materie\u00ab, vgl. Streintz, S. 109). Ich komme auf diesen Punkt in einem zweiten Aufsatze ausf\u00fchrlich zur\u00fcck. Ein logischer Cirkel liegt in dem Princip der Particulardetermination deshalb nicht, weil es den gewonnenen Begriff nicht auf diejenigen Indi-\n1) Newton, Philos, nat. princ. math., Schol. ad definitiones.","page":278},{"file":"p0279.txt","language":"de","ocr_de":"(Jeber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen \u00dfeharrungsgesetzes. 279\nduen der betrachteten Gruppe anwendet, worauf es jenen Begriff zuvor gegr\u00fcndet hat.\nIn einer oben eingeschobenen Bemerkung haben wir uns \u00fcber die Bedeutung des Ausdruckes \u00bbsich selbst \u00fcberlassen\u00ab vorl\u00e4ufig verst\u00e4ndigt. Im Sinne dieser Verst\u00e4ndigung mag hier nur bemerkt werden , dass sich jener Ausdruck recht wohl aus unserer Fassung des Gesetzes eliminiren l\u00e4sst, wenn man die Forderung voranschickt, dass alle Funkte, die Fundamentalpunkte des Inertialsystemes eingeschlossen, hinreichend weit von einander entfernt sein sollen. Sind die Punkte dies nicht und construirt man das Fundamentalsystem mit Hilfe zweier von ihnen, so beschreiben die \u00fcbrigen Punkte keine geraden Linien. Die Abweichung ist aber beliebig gering, wenn die Abst\u00e4nde der Punkte hinreichend gro\u00df sind.\nIm Anschl\u00fcsse an die Definition des Inertialsystemes d\u00fcrfte es sich empfehlen, eine neue Nomenclatur in Vorschlag zu bringen. Wir haben gesehen, dass der Begriff des Inertialsystemes seiner Natur nach ein unendlich vieldeutiger ist. Man erkennt nun die \u00dfichtigkeit folgender Behauptungen :\n1.\tEin Punkt mit geradliniger gleichf\u00f6rmiger Bewegung zu einem Inertialsysteme kann auch \u2014 mit R\u00fccksicht auf ein bestimmtes anderes Inertialsystem \u2014 als inertiell-ruhig betrachtet werden.\n2.\tEin Punkt mit krummliniger Bewegung gegen ein Inertialsystem kann nicht als inertiell-ruhig in Bezug auf ein anderes gelten, ebensowenig ein Punkt, der geradlinig, aber ungleichf\u00f6rmig, gegen ein Inertialsystem bewegt ist. Dagegen kann der letztere als krummlinig bewegt gegen ein anderes Inertialsystem, als inertiell-ge-dreht angesehen werden. M. a. W. dem Inbegriffe der inertiell-ge-drehten K\u00f6rper lassen sich auch die geradlinig-ungleichf\u00f6rmig in Bezug auf ein Inertialsystem fortschreitenden K\u00f6rper unterordnen.\nIch gehe nun von der schon oben gemachten Bemerkung aus, dass es ganz gleichg\u00fcltig ist, welches Inertialsystem man der Betrachtung zu Grunde legt, und nenne dementsprechend jeden Punkt von geradlinig - gleichf\u00f6rmiger Bewegung gegen ein Inertialsystem kurz \u00bbinertiell-ruhig\u00ab , jeden Punkt von anderer Bewegung \u00bbinertiell-gedreht\u00ab. Ich darf wohl behaupten, dass in dieser Nomenclatur die eigentlichen dynamischen Gegens\u00e4tze viel unzweideutiger zum Ausdrucke gelangen, als in den Bezeichnungen \u00bbIluhe\u00ab und \u00bbBe-","page":279},{"file":"p0280.txt","language":"de","ocr_de":"280\nLudwig Lange.\nwegung\u00ab schlechthin. In der That ist das einzig Wesentliche der Erdbewegung, gegen\u00fcber der Ruhe des Firmamentes, wie \u00fcberhaupt das Wesentliche jeder sog. \u00bbabsoluten Bewegung\u00ab eine Inertialdrehung : eine Behauptung, auf welche ich in dem schon angek\u00fcndigten zweiten Aufsatze ausf\u00fchrlicher zur\u00fcckzukommen gedenke. Dass zwei \u00bbiner-tiell-ruhige\u00ab Funkte ihre Distanz sollen ver\u00e4ndern k\u00f6nnen, dies ist eben nicht wunderbarer, als dass dem Astronomen die Sonne bald wie in Ruhe, bald wie in Translation befindlich vor Augen schwebt. Man kann aber zweifelhaft sein, ob eine derartige Nomenclatur \u00fcberhaupt erforderlich ist. Allein ich werde sp\u00e4ter (a. a. O.) zu zeigen Gelegenheit haben, dass der bisherige Mangel daran selbst Gelehrte von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr ihre Wissenschaft zu irrth\u00fcmlichen Schlussfolgerungen zu verleiten vermocht hat.\nWas nun den reellen Gehalt der gemachten dynamischen Unterscheidung anlangt, so gibt es vollst\u00e4ndig inertiell-ruhigeK\u00f6rper nicht, sie sind vielmehr nichts als mathematische Abstractionen. Wir machen wiederholt die Erfahrung, dass eine Modification der Inertial-ruhe, eine Ueberf\u00fchrung in den Zustand der Inertialdrehung bestimmt wird durch die Anwesenheit fremder K\u00f6rper, und dass sie, je nach der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Entfernung der letzteren oder nach anderen begleitenden Umst\u00e4nden, mehr oder weniger betr\u00e4chtlich ist. Sobald wir die Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit in dieser quantitativen Mannigfaltigkeit erkannt haben \u2014 was z. B. Newton hinsichtlich der Inertialdrehung der Planeten geleistet hat \u2014 so ist ein wesentlicher Schritt in der Erkenntniss der Naturvorg\u00e4nge gethan ; wir d\u00fcrfen dann von \u00bbKr\u00e4ften\u00ab reden, gewisserma\u00dfen, um eine weitl\u00e4ufige Auseinandersetzung von rasch gel\u00e4ufigem Gedankeninhalte abzuk\u00fcrzen. \u2019) Die \u00bbInertialbeschleunigung\u00ab sieht man als Ma\u00df der Inertialdrehung an und f\u00fchrt conventionell ihr Product in die Masse des bewegten Punktes als Ma\u00df der \u00bbKraft\u00ab ein. Dies geschieht in einfacher Ausf\u00fchrung der obigen Andeutungen \u00fcber das Kraftma\u00df , wobei allerdings noch der Satz von der Unabh\u00e4ngigkeit der Kraftwirkungen hinzugenommen werden muss. Es w\u00fcrde hier zu weit f\u00fchren, n\u00e4her darauf einzugehen. Wie die Inertialdrehung eines K\u00f6rpers als eine Folge von Krafteinwirkungen auf denselben erscheint, so erzeugen sich um-\n1) Streintz, 1. c. V. Cap.","page":280},{"file":"p0281.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019scheti Beharrungsgesetzes. 281\ngekehrt durch k\u00fcnstliche, den virtuellen Bedingungen eines K\u00f6rpers entspringende Inertialdrehungen \u00bbtodte\u00ab Zug- oder Druckkr\u00e4fte, z.B. sogenannte Centrifugalkr\u00e4fte, welche der Inertialruhe fehlen. Sie haben, wie wir (a. a. O.) sehen werden, den Grundstein zur dogmatischen Fundirung der Idee einer \u00bbabsoluten Bewegung\u00ab abgegeben.\nIch kann die Reihe dieser didaktischen Betrachtungen nicht abschlie\u00dfen, ohne darauf hingewiesen zu haben, dass au\u00dfer der gegebenen dynamischen Definition des Iuertialsystemes auch noch andere von \u00e4hnlicher Art denkbar sind. So ergibt sich durch einfache Ausf\u00fchrung eines Thoms on -Tai t\u2019sehen Gedankens die folgende Definition : \u00bbInertialsystem\u00ab hei\u00dft ein System, welches dadurch bestimmt wird, dass ein sich selbst \u00fcberlassener Punkt in ihm ruht und dass seine Verbindungen mit zwei anderen gleichzeitig am gleichen Orte mit ihm gewesenen Punkten in Bezug darauf feste Richtungen einnehmen, u. s. w. ; doch d\u00fcrfen diese Verbindungen nicht in einer Geraden zusammenfallen. ]) Kraft des \u00bbprincipium simplicitatis\u00ab d\u00fcrfte aber vor allen anderen Definitionen \u00e4hnlicher Art die oben gegebene den Vorzug verdienen, welche sich auf ein Minimum sich selbst \u00fcberlassener Punkte st\u00fctzt.\nIch wende mich nun zur kritischen Betrachtung der Fassung, welche Streintz dem r\u00e4umlichen Theile des Tr\u00e4gheitsgesetzes gegeben hat.\nStreintz bedient sich f\u00fcr den Begriff, welchen wir als \u00bbInertialsystem\u00ab gekennzeichnet haben, des Ausdruckes \u00bbFundamentalsystem\u00ab, welchen er mit folgenden Worten erkl\u00e4rt (S. 24f.) :\n\u00bbZur Vereinfachung der Ausdrucksweise werde ich k\u00fcnftig einen K\u00f6rper, der keine Rotation ausf\u00fchrt und der als vollkommen unabh\u00e4ngig von allen umgebenden K\u00f6rpern betrachtet werden kann, als \u00bb\u00bbFundamentalk\u00f6rper\u00ab\u00ab (FK) bezeichnen. Unter \u00bb\u00bbFundamental-Coordinatensystem\u00ab\u00ab (FS) soll analog ein solches verstanden werden, das mit einem Fundamentalk\u00f6rper in fester Verbindung ist oder in solcher gedacht werden kann\u00ab.\nEs w\u00e4re ungerechtfertigt, dieser aus dem Zusammenh\u00e4nge gerissenen Definition den Vorwurf einer an sich unverst\u00e4ndlichen Ausdrucksweise zu machen, weil sie als wesentliches Kennzeichen des\n1) Thomson-Tait, Handb. d. theor. Phys. I. \u00a7 249. Vgl. Streintz, S. 63.","page":281},{"file":"p0282.txt","language":"de","ocr_de":"282\nLudwig Lange.\nFK s den Mangel einer Rotation einf\u00fchrt, von der man fragen kann, auf was f\u00fcr einen Rezugsk\u00f6rper sie sich beziehen sollte. Streintz gibt n\u00e4mlich ausf\u00fchrlich an, aus welchen Merkmalen auf den Mangel an Rotation oder die \u00bbdirectioneile Ruhe\u00ab eines K\u00f6rpers geschlossen werden k\u00f6nne. Es ist dies in erster Linie das Nicht-Vorhandensein jener \u00bbFliehkr\u00e4fte von der Achse der Bewegung\u00ab (vires recedendi ah axe motus circularis), welche unter diesem Namen und in demselben Sinne schon Newton (a. a. O.) betrachtet hatte. Allgemeiner l\u00e4sst sich sagen, es st\u00fctzen sich jene Merkmale auf die gesammten/ mit der Inertialdrehung eines K\u00f6rpers verkn\u00fcpften charakteristischen \u00bbGyral-erscheinungen\u00ab, z. B. auch auf den Widerstand, welchen eine Inertial-drehungsachse dem Bestreben entgegensetzt, ihre Inertialrichtung zu ver\u00e4ndern.\nEine Erw\u00e4gung der Frage, oh die angewandten Erkennungsmittel der directionellen Ruhe wirklich das leisten, was Streintz ihnen zuschreibt , geh\u00f6rt in das Capitel von der absoluten Bewegung, welches mit der Discussion verwandter Fragen zusammen den erw\u00e4hnten zweiten Aufsatz bilden soll. Es gen\u00fcgt uns hier zu wissen, dass Streintz als FK einen K\u00f6rper gelten l\u00e4sst, der keine Fliehkr\u00e4fte oder \u00fcberhaupt keine Gyralerscheinungen aufweist ; dass er als physikalischen Apparat zur genaueren Fixirung eines FK s z. B. das Foucault\u2019sehe Gyroskop *) oder \u00e4hnliche Instrumente empfiehlt. Mittelbar wird also die Definition des FS's auf die mechanischen S\u00e4tze von der Centri-fugalkraft und von der Erhaltung der Rotationsachse gegr\u00fcndet. Niemand wird bezweifeln, dass diese S\u00e4tze der Mechanik auf das Gesetz der Tr\u00e4gheit zur\u00fcckzuf\u00fchren, dass sie gleichsam als Ausfluss dieses Gesetzes zu betrachten sind. H\u00e4lt man aber daran fest, so erscheint die Streintz\u2019sehe Definition des Fundamentalsystemes, soweit sie wenigstens zur Grundlage der Mechanik dienen soll, in einem eigenth\u00fcmlichen Lichte. Es werden zur Definition eines Grundbegriffes Ph\u00e4nomene herangezogen, die nachher wieder als abgeleitete Lehrs\u00e4tze vor unser Auge treten; abgeleitet unter best\u00e4ndiger Anwendung jenes Grundbegriffes. Diese Methodik wird von denselben Vorw\u00fcrfen getroffen, wie wenn man z. B. die gerade Linie\n1) Vgl. Ar ago, Popul\u00e4re Astronomie III, 42 f. (Deutsche Ausgabe, \u00fcbersetzt von W. Hankel.)","page":282},{"file":"p0283.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen Beharrungsgesetzes. 283\nals den \u00bbk\u00fcrzesten Weg zwischen zwei Punkten\u00ab definirt, und nachher durch Variationsrechnung zeigt, dass die gerade Linie der k\u00fcrzeste Weg zwischen zwei Punkten sein m\u00fcsse.\nStreintz hat das selbst sehr wohl empfunden und, um diesen Vorwurf von seiner Definition abzuleiten, ein Raisonnement angestellt, welches ich nicht wohl umhin kann w\u00f6rtlich zu citiren :\n(S. 31.) \u00bbBevor ich dieses Capitel verlasse, muss ich noch eines Einwandes Erw\u00e4hnung thun , der vielleicht gegen die Definition des F uudainentalsys ternes gemacht werden k\u00f6nnte und der, falls erbe-gr\u00fciulet w\u00e4re, eine andere Formulirung des Galilei\u2019schen Princips nach sich ziehen m\u00fcsste\u00ab.\n\u00bbEs k\u00f6nnte n\u00e4mlich vielleicht die Behauptung aufgestellt werden, dass die Experimente, durch welche die Drehung eines K\u00f6rpers physikalisch erkannt wird, nothwendig an die G\u00fcltigkeit des Galilei\u2019schen Princips gebunden seien, so dass gewisserma\u00dfen die Bewegung des unbeeinflussten Punktes dar\u00fcber entscheiden w\u00fcrde, ob wir den K\u00f6rper, auf welchen die Bewegung bezogen wird, als drehend oder directionell ruhend ansehen ; die angef\u00fchrten complicirten Experimente w\u00fcrden dann nur als Einkleidungen dieses einfachen Grundsatzes erscheinen, welche f\u00fcr die bequeme experimentelle Ausf\u00fchrung erdacht worden sind. Nach dieser Ansicht w\u00fcrde in den Centrifugal-erscheinungen, in dem gyroskopischen Compass\u00e9 versteckter Weise doch nur das Galilei\u2019sche Princip selbst dazu verwandt werden, um diejenigen K\u00f6rper aufzufinden, von welchen wir nachtr\u00e4glich behaupten, dass f\u00fcr sie als Bezugsk\u00f6rper das Galilei\u2019sche Princip gilt. Das Gerippe der Argumentation w\u00e4re demnach folgendes : Durch die Bewegung des unbeeinflussten Punktes erkennen wir K\u00f6rper, f\u00fcr welche als Bezugsk\u00f6rper die Bewegung des Punktes geradlinig ist (dieses begrifflich einfache , aber schwer auszuf\u00fchrende Experiment kann auch durch andere, leichter auszuf\u00fchrende, mit dem einfachen gleichwertige, ersetzt werden) ; solche Bezugsk\u00f6rper, f\u00fcr welche die Bewegung geradlinig ist, nennen wir directionell ruhende ; von diesen k\u00f6nnen wir dann (Galilei\u2019sches Princip) aussagen, dass ein nicht beeinflusster Punkt sich in Bezug auf sie in gerader Linie bewegt\u00ab.\n\u00bbDie Argumentation w\u00e4re daher in dieser Form eine Selbstt\u00e4uschung, n\u00e4mlich ein logischer Cirkel\u00ab.\n\u00bbUm denselben zu vermeiden, m\u00fcsste das Galilei\u2019sche Princip","page":283},{"file":"p0284.txt","language":"de","ocr_de":"284\nLudwig Lange.\numgekehrt und folgenderma\u00dfen gefasst werden : \u00bb \u00bbUnter den K\u00f6rpern, welche keiner fremden Einwirkung unterworfen sind, gibt es solche, bez\u00fcglich deren sich ein materieller Punkt, der gleichfalls keinerlei Einwirkung unterworfen ist, in gerader Linie bewegt; solche K\u00f6rper nennen wir direction eil ruhende. Die Geschwindigkeit des Punktes ist constant\u00ab\u00ab.\n\u00bbIch halte jedoch diese Abweichung von der Newton\u2019schen Fun-dirung der Mechanik f\u00fcr nicht geboten, und zwar scheinen mir f\u00fcr diese Ansicht die folgenden Gesichtspunkte ma\u00dfgebend\u00ab.\n\u00bbDass derjenige Theil des Galilei\u2019schen Principe, welcher die constante Geschwindigkeit des Punktes ausspricht, mit der Richtungsbestimmung nichts zu thun, hat, leuchtet sofort ein und lie\u00dfe sich auch auf einfache Weise begr\u00fcnden. Ich habe deshalb in der zuletzt gegebenen umgekehrten Form des Galilei\u2019schen Princips die Thatsache der constanten Geschwindigkeit getrennt von dem sich auf die Richtungsbestimmung beziehenden Theile hingestellt\u00ab.\n\u00bbEs kann sich also nur darum handeln, zu \u00fcberlegen, oh die Richtungsbestimmung z. B. durch den gyroskopischen Compass noth-wendig an die Bedingung gekn\u00fcpft ist, dass ein sich seihst \u00fcberlassener materieller Punkt sich in Bezug auf einen durch den gyroskopischen Compass als directionell ruhend erkannten K\u00f6rper in gerader Linie bewegt\u00ab.\n\u00bbDass diese Abh\u00e4ngigkeit jedoch nicht vorhanden ist, l\u00e4sst uns sogleich der Umstand erkennen, dass wir ja das Experiment mit dem gyroskopischen Compass\u00e9 stets in einem Reviere vornehmen, in welchem das Galilei\u2019sehe Princip nur in der Abstraction g\u00fctig ist. W\u00fcrden sich Punkte von der rotirenden Scheibe lostrennen, so w\u00fcrden sich dieselben nicht galileisch (geradlinig-gleichf\u00f6rmig), sondern in Parabeln weiter bewegen\u00ab.\n\u00bbVon diesem Gedanken ausgehend k\u00f6nnte man leicht die Phantasie Weltsysteme construiren lassen, in welchen andere Naturgesetze gelten und dennoch eine Richtungsfixirung durch den gyroskopischen Compass oder die Centrifugalerscheinungen m\u00f6glich w\u00e4re\u00ab.1)\n1) In einer Anmerkung hierzu f\u00fchrt Streintz eine derartige Fiction bis in\u2019s Einzelnste durch.","page":284},{"file":"p0285.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen \u00dfeharrungsgesetzes. 285\n\u00bbWir werden dann zu folgern haben, dass die Centrifugalerschei-nungen wohl aus dem Galilei\u2019schen Principe abgeleitet werden k\u00f6nnen, dass jedoch der umgekehrte Weg nicht m\u00f6glich ist, weil sich andere von dem Galilei\u2019 sehen Principe verschiedene Naturgesetze aufstellen lie\u00dfen, bei welchen diese Erscheinungen gleichfalls auftreten w\u00fcrden\u00ab.\nZun\u00e4chst erinnere ich daran, dass der bewusste logische Cirkel in meiner Fassung vermieden ist (s. o.).\nSodann habe ich zur Kritik der angef\u00fchrten Streintz\u2019schen Betrachtung folgendes zu bemerken: Um den methodologischen Fehler zu erkennen, welcher in der Definition des FTf\u2019s und der darauf folgenden Anwendung desselben liegt, braucht gar nicht angenommen zu werden, dass die Gyralph\u00e4nomene nothwendig an die G\u00fcltigkeit des Galilei\u2019schen Princips gekn\u00fcpft seien. Es gen\u00fcgt vielmehr zu wissen, dass man diese Ph\u00e4nomene aus dem Tr\u00e4gheitsgesetze t hat s\u00e4chlich entwickelt, dass man sie als ableitbare Ph\u00e4nomene hinstellt, nachdem man sie vorher zu grundlegenden Definitionen herangezogen hat. Z. B. Die directionelle Richtungsfixirung durch den gyroskopischen Compass ist eine eindeutige, d. h. je zwei durch seine Anwendung erkannte FK besitzen keine gegenseitige Drehung ; denn w\u00e4re dies der Fall, so k\u00f6nnte \u00fcberhaupt von einer directionellen Richtungsfixirung nicht die Rede sein. Kann man sich nun etwas selbstverst\u00e4ndlicheres vorstellen, als die Behauptung, es werde die Drehung eines K\u00f6rpers gegen einen FK hinreichende Bedingung f\u00fcr das Auftreten von Gyralkr\u00e4ften an ihm sein ? Sie besagt ja nichts anderes als der soeben mit logischer Nothwen-digkeit aus der Voraussetzung der Brauchbarkeit des FS's abgeleitete Satz. Die hierin enthaltene Erkenntniss aber, die schon hei Grundlegung der Mechanik zum Ausdrucke gelangen m\u00fcsste , wollen wir doch nicht sp\u00e4ter noch einmal aus dem Galilei\u2019schen Principe deducirt sehen. Wir w\u00fcrden ja den methodischen Fehler des Laplace und Poisson (s. o.) wiederholen. Andererseits aber w\u00e4re es unstatthaft, in den Principien die gesammten Gyralerschei-nungen zu behandeln ; kurz, man m\u00fcsste zerrei\u00dfen, was zusammengeh\u00f6rt, wollte man von der Definition des FK\u2019s im Streintz\u2019schen Sinne ausgehen. In Hinsicht auf die Eleganz der Systematik","page":285},{"file":"p0286.txt","language":"de","ocr_de":"286\nLudwig' Lauge.\nmag sich die Mechanik ein Beispiel an der projectiven Geometrie nehmen. 1)\nUebrigens glaube ich nicht, es werde sich durch die Streintz\u2019-sclie Argumentation Jemand \u00fcberzeugen lassen, dass nicht in dem gyroskopischen Compass\u00e9 versteckterWeise doch das Galilei\u2019sehe Princip zur Bestimmung des Fundamentalk\u00f6rpers verwendet werde. Ich stehe, wie ich bemerken will, vollst\u00e4ndig auf dem kritisch-empirischen Standpunkte, den erst neulich wieder mit specieller R\u00fccksicht auf die Mechanik Mach (Die Mechanik, 1883) in au\u00dferordentlich \u00fcberzeugender Weise geltend gemacht hat. Ich betrachte keine mechanisch-analytische Deduction als den Ausdruck eines tief innerlichen transscendenten Zusammenhanges, ich halte es durchaus nicht f\u00fcr unm\u00f6glich, andere Principien als die gebr\u00e4uchlichen zur Grundlage der Mechanik zu machen : eine andere Frage freilich ist die, oh nicht die bestehende Principiensetzung die einfachste und darum zweckm\u00e4\u00dfigste ist von allen, die gegenw\u00e4rtig in\u2019s Bereich unserer Gedanken fallen. Ich sehe es demgem\u00e4\u00df auch blo\u00df als einen dem Ein-fachheitsprincipe2) entsprechenden Akt unserer combinirenden Verstan-desth\u00e4tigkeit an, wenn wir die erw\u00e4hnten Gyralph\u00e4nomene aus dem Tr\u00e4gheitsgesetze ableiten. Aber ich meine, dass man in der Befolgung jenes Princips ebenso consequent sein solle, wie von dem entgegengesetzten metaphysischen Standpunkte aus betrachtet die Natur es zu sein scheint. \u00bbWeltsysteme, in welchen andere Naturgesetze gelten und dennoch eine Richtungsfixirung durch den gyroskopischen Compass oder die Centrifugalerscheinungen m\u00f6glich w\u00e4re\u00ab, sind, wie Streintz seihst zugibt, nur Gegenstand der Phantasie ; m. a. W. ein Ding, womit sich die reale Physik nicht zu befassen, auf dessen Absonderlichkeiten sie keine R\u00fccksicht zu nehmen braucht, wenn es gilt, ihre Er-kenntnissprincipien festzustellen.\nObwohl ich nun die Heranziehung der Gyralph\u00e4nomene zur grundlegenden Definition des Inertialsystem.es nicht f\u00fcr angebracht\n1)\tVgl. H. Hankel, Die Entwickelung der Mathematik in den letzten Jahrhunderten. Antrittsvorlesung, zu T\u00fcbingen gehalten 1869.\n2)\tBei Galilei selbst erscheint das \u00bbprincipium simplicitatis\u00ab nicht allein als methodologischer Grundsatz, sondern auch als metaphysisches Axiom. Es versteht sich, dass ihm die letztere Bedeutung oben nicht beigelegt wird. Vgl. W. Wun d t, Logik II, S. 242 ff.","page":286},{"file":"p0287.txt","language":"de","ocr_de":"\u00fceber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen \u00dfeharrungsgesetzes. 287\nhalte, bin ich doch der Meinung, dass dieselben au\u00dferordentlich instructive Beispiele liefern, um daran die beiden Theile des Bell arrungsgesetzes erfahrungsgem\u00e4\u00df zu best\u00e4tigen: um zu zeigen, wie sich eine h\u00fclle von Thatsachen qualitativ und quantitativ vollst\u00e4ndig aus der einen Annahme erkl\u00e4rt, dass relativ zu einem gewissen Co-ordinatensysteme die Bewegungen sich selbst \u00fcberlassener Punkte geradlinig und gleichf\u00f6rmig vor sich gehen. Die Definition jenes \u00bbinertiellen\u00ab Syst\u00e8mes wird aber wohl am einfachsten, wie angegeben, durch Anwendung des Principes der Particulardetermination geleistet werden.\nDie vernehmlichsten Ergebnisse meiner Untersuchungen \u00fcber den r\u00e4umlichen Theil des Tr\u00e4gheitsgesetzes d\u00fcrften hiermit zum Ausdrucke gelangt sein. Trotzdem werde ich noch bei anderer Gelegenheit auf gewisse Einzelheiten eingehen m\u00fcssen, deren Besprechung man vielleicht schon im Vorhergehenden erwartet hat. In einem Untersuchungsgebiete, dessen einzelne Theile der Uebersicht-lichkeit wegen eine so strenge Sonderung beanspruchen und andererseits doch in so engem organischen Zusammenh\u00e4nge stehen, ist es schwer, eine tadellose Disposition zu treffen.\nIch wende mich nun zu einer analogen kritischen Besprechung der Fassungen, welche man dem zweiten zeitlichen Theile des Tr\u00e4gheitsgesetzes gegeben hat. Denn in didaktischer Hinsicht habe ich hier den im vorigen Abschnitte gemachten Andeutungen nur wenig mehr hinzuzuf\u00fcgen. Wie bereits erw\u00e4hnt, bin ich riicksichtlich der diesem Theile voranzustellenden Definition des Zeitma\u00dfes von selbst-ganz zu der gleichen Meinung gelangt, wie Neu mann; ich habe als \u00bbgleiche Zeiten\u00ab solche definirt, worin ein besonderer aber beliebiger sich selbst \u00fcberlassener Punkt gleiche Inertialwege zur\u00fccklegt. Auch habe ich darauf hingewiesen, dass diese Definition f\u00fcr die Zeit etwas analoges leistet, wie die Definition des Inertialsystemes f\u00fcr den Raum : ja wie beide Definitionen eigentlich denselben Gedanken in den beiden verschiedenen Anschauungsformen repr\u00e4sentiren,\nNeumann steht mit seiner Convention schon lange nicht mehr vereinzelt da. Streintz spricht (S. 94) seine Verwunderung dar\u00fcber aus, dass Maxwell in seinem Werkchen \u00bbMatter and Motion\u00ab nicht","page":287},{"file":"p0288.txt","language":"de","ocr_de":"288\nLudwig Lange.\ndas von d\u2019Alembert und Poisson vorgeschlagene und von ihm, Streintz, bef\u00fcrwortete allgemeine Identit\u00e4tszeitma\u00df zu Grunde lege. In der That hei\u00dft es daselbst : 4)\n\u00bbLassen wir das materielle System aus zwei K\u00f6rpern bestehen, welche nicht aufeinander wirken, und auf welche auch kein au\u00dferhalb des Systems befindlicher K\u00f6rper wirkt. Wenn der eine von diesen K\u00f6rpern in Beziehung auf den anderen in Bewegung ist, so wird seine relative Geschwindigkeit, nach dem ersten (Galilei\u2019sehen) Bewegungsgesetze, constant und geradlinig sein. Demnach sind Zeitintervalle gleich, wenn die relativen Dislocationen w\u00e4hrend dieser Intervalle gleich sind\u00ab, u. s. w.1 2)\nEs kann kein Zweifel sein, dass in dieser Betrachtung Maxwell wesentlich auf dem Neumann\u2019sehen Standpunkte steht. Die For-mulirung aber, die Maxwell seinen Gedanken gibt, ist nicht ganz correct. Dass er n\u00e4mlich das Wort \u00bbK\u00f6rper\u00ab hier als Synonym f\u00fcr \u00bbmaterielle Punkte\u00ab gebraucht hat, ist verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig noch die nat\u00fcrlichste und g\u00fcnstigste Annahme. Denken wir uns nun zwei materielle Punkte sich selbst \u00fcberlassen, so beschreiben sie nach dem Galilei\u2019schen Gesetze in Bezug auf ein Inertialsystem orthogonaler Parallelcoordinaten geradlinige Bahnen , etwa von den Gleichungen :\nx\\ \u2014 ai + ui t y, = \u00f6i \u2014f\u2014 \u00bbj t z, = ct -f- w^t und x2 \u2014 a2 -f- '\u00ab21 y2 \u2014 b2 -|- v2t z2 = c2 -f- w21, worin t den variabeln Parameter \u00bbZeit\u00ab darstellt. Ihre relative Dislocation wird lediglich durch die Ver\u00e4nderung ihrer gegenseitigen Entfernung r bestimmt, deren Quadrat :\nr2 = (%\u2014\u00ab2)2 + {Vi\u2014 y2)2 + (\u00ab1\u2014\u00ab2)2 ist. Man erh\u00e4lt nun durch Differentiation nach t: dr\nr j-t = (xi\u2014x2){u1\u2014u2) + (y,\u2014y2) (\u00bb1\u2014\u00bb2) + (\u00abi\u2014 \u00bb2) K\u2014 w2j ;\ndurch nochmalige Differentiation nach t :3)\nrji + % = (wi\u2014m2)2 + (\u00bb1\u2014\u00bb2)2 + (\u00ab\u00bbi\u2014w2y.\nEs folgt hieraus nach einigen Umformungen :\n1)\tDeutsche Uebers. v. E. v. Fleischl, Braunschweig 1881. Artikel XLIII.\n2)\tEs folgt ein ausdr\u00fccklicher Hinweis auf dasThe orem, welches die getroffene Convention erst als eine eindeutige, brauchbare erscheinen l\u00e4sst.\n3)\tVgl. Mach, Mechanik, S. 218.","page":288},{"file":"p0289.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen Beharriingsgesetzcs.\n289\n\u00bb\u20193 JJi = [(\u00ab1\u2014 \u00ab2)(\u00ffl\u2014V\u00ef\\ \u2014 (\u00ae1\u2014P\u00ee)(\u00abl\u2014\u00ab2>]2\n+ [(\u00bb1\u2014 \u00ae2) (\u00ab1\u201422) \u2014(w,\u2014w2) (yi\u2014 y2)]2\n+ [(\u00ab>!\u2014w2) (\u00abi\u2014,a:2)\u2014(\u00ab1\u2014 m2) (\u00ab!\u2014 s2)]2.\nSoll bei endlicher Entfernung r die zweite Fluxion constant\n\u00b0\tdt2\ngleich Null sein, so muss die rechts stehende Quadratsumme ver-schwinden, woraus als nothwendige Bedingung folgt:\n[uy\u2014u2] : (\u00bb!\u20141>2) : [wy\u2014w2) \u2014 (xt \u2014x2) : (y, \u2014 y2) : (\u00abi\u2014.r2).\nDiese Proportion f\u00fchrt nun zu der Forderung, dass beide Punkte einmal zu gleicher Zeit am gleichen Orte gewesen sein oder in Zukunft werden sein m\u00fcssen. Abgesehen von dem hierin ausgesprochenen besonderen Falle ist demnach der Maxwell\u2019sche Satz nicht richtig, wonach die relative Dislocationsgeschwindigkeit zweier sich selbst \u00fcberlassener (um ein Endliches von einander entfernter) Punkte constant sein soll. Und verkehrt ist deshalb in dieser Formulirung auch die Definition des Zeitma\u00dfes, welche Maxwell an jenen Satz angeschlossen hat.\nMach vermeidet den Fehler Maxwell\u2019s, indem er (unter Beibehaltung endlicher Werthe u, v, w) r = oo d. h. hinreichend gro\u00df setzt ; was er schon aus dem Grunde f\u00fcr zweckm\u00e4\u00dfig erachtet, weil nur dadurch eine vollst\u00e4ndige dynamische Unabh\u00e4ngigkeit der K\u00f6rper erreicht werden kann. Der Hauptsache nach steht auch Mach auf dem von Neumann vertretenen Standpunkte. Denn wenn es z. B. hei\u00dft (s. o.) : \u00bbEin anderer Ausdruck w\u00e4re dieser: Sofern die K\u00f6rper so weit von einander entfernt sind, dass sie sich keine merklichen Beschleunigungen ertheilen, \u00e4ndern sich s\u00e4mmtliche Entfernungen einander proportional\u00ab\u2014, und wenn Mach diesen Ausdruck mit dem reellen Inhalte des Tr\u00e4gheitsgesetzes in Einklang setzt, so ist wenigstens implicite damit die Definition des Zeitma\u00dfes gegeben, welche Maxwell, durch ein Versehen leider in falscher Formulirung, aufgestellt hat. Uebrigens sprechen daf\u00fcr noch manche Stellen der \u00bbMechanik\u00ab und der anderen citirten Abhandlung Mach\u2019s.\nAuchThomson undTait definiren, wie Streintz kurz anf\u00fchrt, als \u00bb gleiche Zeitabschnitte \u00ab solche, in denen von einem sich selbst \u00fcberlassenen K\u00f6rper gleiche Wege zur\u00fcckgelegt werden. Die be-treffende Stelle lautet (Handbuch der theoretischen Physik I) :\nWundt, Philos. Studien. II.\tiq","page":289},{"file":"p0290.txt","language":"de","ocr_de":"290\nLudwig Lange.\n\u00a7 246. \u00bbDie Zeiten, w\u00e4hrend welcher irgend ein besonderer K\u00f6rper, der durch keine Kraft angetrieben wird, die Geschwindigkeit seiner Bewegung zu \u00e4ndern, gleiche Wege durchl\u00e4uft, sind einander gleich. Jeder andere K\u00f6rper im Weltall, der durch keine Kraft angetrieben wird, die Geschwindigkeit seiner Bewegung zu \u00e4ndern, bewegt sich durch gleiche Wege hindurch w\u00e4hrend einer Reihe von Zeitr\u00e4umen, in denen der gew\u00e4hlte besondere K\u00f6rper gleiche Wege beschreibt\u00ab.\n\u00a7 247. \u00bbDer erste Satz des vorigen Paragraphen dr\u00fcckt blo\u00df die f\u00fcr die Messung der Zeit allgemein getroffene Uebereinkunft aus . . . ....................................\u00ab\n\u00a7 248. \u00bbDer andere Theil des \u00a7 246 ist nicht eine Uebereinkunft, sondern eine gro\u00dfe Naturwahrheit.\u00ab\nDurch die Gegen\u00fcberstellung des \u00bbgew\u00e4hlten besonderen\u00ab und eines \u00bbjeden anderen\u00ab K\u00f6rpers wird die Anwendung des Princips der particularen Determination in ausgezeichnet deutlicher Weise hervorgehoben. Streintz bemerkt zu dieser Stelle (S. 90): \u00bbThomson-Tait kennen den logischen Cirkel\u00ab \u2014 n\u00e4mlich der darin liegen w\u00fcrde, wenn man das Zeitma\u00df an den sich selbst \u00fcberlassenen K\u00f6rpern de-finiren, und dann r\u00fcckw\u00e4rts auf di .eiben an wenden wollte \u2014 \u00bbwollen ihn aber dadurch schadlos machen, dass sie in Bezug auf die gleichf\u00f6rmige Bewegung das Galilei\u2019sche Princip nicht als Erfahrungssatz hinstellen, sondern es als Sache der Convention betrachten, dass wir gleiche Zeiten solche nennen, in denen von einem K\u00f6rper, der sich seihst \u00fcberlassen ist, gleiche Wege zur\u00fcckgelegt werden\u00ab.\nDiese Convention wird aber eine eindeutige, d. h. wissenschaftlich brauchbare doch nur durch den Lehrsatz, dass gleichen Wegstrecken eines beliebigen sich seihst \u00fcberlassenen K\u00f6rpers gleiche Wegstrecken jedes anderen entsprechen. Und diesen Lehrsatz, diese \u00bbgrosse Naturwahrheit\u00ab haben Thomson und Tait mit allem Nachdrucke von der gemachten Convention geschieden. Es ist wohl nicht \u00fcberfl\u00fcssig, diesen Umstand im Gegens\u00e4tze zur Streintz\u2019sehen Darstellung besonders zu betonen.\nMerkw\u00fcrdigerweise scheint Streintz die Identit\u00e4t des Thomson - Tait \u2019 sehen und des Neumann \u2019 sehen Zeitma\u00dfes sowie die nahe Verwandtschaft derselben mit dem verbesserten Maxwell\u2019schen und dem Mach\u2019sehen Zeitma\u00dfe gar nicht bemerkt zu haben. Die","page":290},{"file":"p0291.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen Beharrnngsgesetzcs. 291\nUrsache ist dieselbe, wie diejenige der ganzen Kritik der Neumann\u2019-schen Definition, n\u00e4mlich ein v\u00f6lliges Missverst\u00e4ndnis der letzteren. F\u00fchren wir die betreffende Stelle (S. 87 f.) w\u00f6rtlich an :\n\u00bbZur Charakterisirung der gleichf\u00f6rmigen Bewegung soll nach Neumann der schon fr\u00fcher angef\u00fchrte Satz dienen: \u00bb\u00bbZwei materielle Punkte, von denen jeder sich seihst \u00fcberlassen ist, bewegen sich in solcher Weise fort, dass gleiche Wegabschnitte des einen immer mit gleichen Wegabschnitten des anderen correspondiren \u00ab \u00ab.\u00ab\nIch bemerke dazwischen Folgendes : Die betonte Correspondenz soll nicht zur \u00bbCharakterisirung der gleichf\u00f6rmigen Bewegung\u00ab dienen, sondern sie soll die nachher zu treffende Convention als eine eindeutige, wissenschaftlich brauchbare erscheinen lassen, m. a. W. vorbereiten.\n\u00bbDie Ilichtigkeit dieses Satzes ist nicht zu bezweifeln. Da jedoch Neu mann auf Grund desselben aus der Bewegung der Punkte das Zeitma\u00df ableitet, n\u00e4mlich solche Zeiten f\u00fcr gleich erkl\u00e4rt, innerhalb welcher diese Punkte gleiche Wege zur\u00fccklegen, so w\u00e4re zu verlangen, dass das Merkmal der Correspondenz der gleichen Wegabschnitte die Bewegung der Punkte hinsichtl\u2019 h ihrer Geschwindigkeit ausschlie\u00dflich charakterisirte. Es m\u00fcsste, sobald wir an zwei Punkten consta-tiren, dass jene Correspondenz stattfindet, jeder der Punkte sich gleichf\u00f6rmig bewegen, also jene Zeitabschnitte als gleich lang zu betrachten sein, innerhalb welcher gleiche Wege zur\u00fcckgelegt werden\u00ab.\n\u00bbNun l\u00e4sst sich aber zeigen, dass das Neumann\u2019sehe Merkmal auch in F\u00e4llen zutrifft, in welchen die Bewegung von ungleichf\u00f6rmiger Geschwindigkeit ist. Die Definition ist daher zu weit\u00ab.\nEs folgt zur Erl\u00e4uterung der zuletzt ausgesprochenen Behauptung die Betrachtung zweier Punkte von den Bahngleichungen :\nX = Ef (t),\tx \u2014 ef [t].\nAus der Neumann\u2019sehen Schrift geht aber ganz unzweideutig hervor, dass ihr Verfasser das Hauptgewicht auf die Worte \u00bbsich seihst uberlassen\u00ab gelegt wissen will. Sagt er doch : \u00bbzwei materielle Punkte, von denen jeder sich selbst \u00fcberlassen ist\u00ab und nicht schlechthin : \u00bbzwei sich selbst \u00fcberlassene Punkte\u00ab, was k\u00fcrzer gewesen w\u00e4re. Nun f\u00fchrt Streintz gegen Neumann an: \u00bb. ... Es m\u00fcsste, sobald wir an zwei Punkten constatiren, . . . .\u00ab und hierin unterdr\u00fcckt er die mit allem Nachdrucke betonte Determination Neumann\u2019s. Da sich\n19*","page":291},{"file":"p0292.txt","language":"de","ocr_de":"292\nLudwig Lange.\ndie ganze weitere Argumentation eben auf diese Unterlassung gr\u00fcndet, so f\u00e4llt sie hinweg, sie kann Neumann's Auffassung nicht im mindesten treffen.\nDa die T h o m s o n - T a i t \u2019 sehe Convention mit der Neumann schen identisch ist, so muss die von Streintz gegen die erstere gerichtete Kritik auch der letzteren gelten, wenngleich sie nicht unmittelbar gegen dieselbe gerichtet ist. An einer passenderen Stelle werde ich auf den Grundgedanken jener Kritik zur\u00fcckkommen (s. u.).\nDas von Streintz selbst neuerdings wieder vorgeschlagene d\u2019Alembert-Poisson\u2019sehe allgemeine Identit\u00e4tszeitma\u00df gr\u00fcndet sich nun auf eine Ueberlegung von folgendem Inhalte (vgl. S.83 u. 90) :\nWenn ein Vorgang sich unter absolut unver\u00e4nderten \u00e4u\u00dferen Umst\u00e4nden wiederholt, so kann seine Zeitdauer das zweite Mal keine andere sein, als das erste Mal. Die Annahme, \u00bbdass vollkommen\u00ab (sc. in den \u00e4u\u00dferen Bedingungen des Geschehens) \u00bbidentische Vorg\u00e4nge verschiedene Dauer haben k\u00f6nnen\u00ab, \u00bbwerden wir als eine mit unserem gesammten Denkprocesse in Widerspruch stehende zur\u00fcckweisen, denn sie w\u00fcrde einer Leugnung des Causalgesetzes gleich kommen\u00ab.\nHiermit deducirt \u2014 trotz einiger gegenteiliger Betrachtungen, von denen ich noch zu reden haben werde \u2014 implicite Streintz den, zeitlichen Theil des Tr\u00e4gheitsgesetzes aus dem Causalit\u00e4tsprincip. Denn ein best\u00e4ndig sich selbst \u00fcberlassener Punkt bleibt in jeder Hinsicht identisch, und wenn er in zwei auf einander folgenden Zeitinter-vallen auch noch gleiche Wege zur\u00fccklegt, so haben wir es mit identischen Vorg\u00e4ngen zu thun, welche gleichviel Zeit beanspruchen \u00bbm\u00fcssen\u00ab. Im Gegens\u00e4tze hierzu verwahrt sich Streintz ganz energisch gegen die Zumuthung, den r\u00e4umlichen Theil des Beharrungsgesetzes als Folgerung aus dem Satze vom zureichenden Grunde anzuerkennen. Wie sehr die Wissenschaft dem subjectiven F\u00fcrguthalten des Einzelnen preisgegeben ist, sobald sie sich von dem \u00bbesprit m\u00e9taphysique\u00ab leiten l\u00e4sst, dies kann man daran sehen, dass Laplace umgekehrt die geradlinige Richtung der Bewegung resp. die Ruhe sich selbst \u00fcberlassener K\u00f6rper aus dem Causalgesetze abgeleitet wissen will, w\u00e4hrend er den analogen Schluss auf die Gleichf\u00f6rmigkeit der Bewegung nicht f\u00fcr ebenso evident h\u00e4lt (Streintz, S. 53). Und schlie\u00dflich hat man es doch in beiden Theilen des Tr\u00e4gheitsgesetzes","page":292},{"file":"p0293.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen Beharrungsgesetzes. 293\ngleichsam mit derselben Sache, das eine Mal freilich im Raume, das andere Mal in der Zeit zu thun.\nEs soll damit weder der heuristische Werth des Causalit\u00e4tsgesetzes geleugnet, noch etwa die Meinung geltend gemacht werden, als sei das Tr\u00e4gheitsgesetz nicht wie ein \u00bbCorollarsatz des allgemeinen Causal-gesetzes\u00ab1) zu betrachten. Das Causalprincip geht nur in unsere Betrachtungen nicht ein als ein Theorem, aus dem man die Wahrheit anderer abzuleiten h\u00e4tte, sondern vielmehr wie ein oberster methodologischer Gesichtspunkt, welcher uns in der Wahl der Nomenclatur, der Convention bestimmt : wir passen unsere Conventionen \u00fcber das Zeitma\u00df und das r\u00e4umliche Bezugssystem dem Causalprincip an, um eine aus methodologischen R\u00fccksichten w\u00fcnschenswerthe Gleichm\u00e4\u00dfigkeit unseres Vorstellungsgebietes zu erzielen.\nWenngleich ich darnach aus dem Identit\u00e4tszeitma\u00dfe keine mit Denknothwendigkeit (und ausschlie\u00dflich) richtige Definition gemacht wissen m\u00f6chte, so halte ich doch die d\u2019 Alembert-Poisson\u2019 sehe Convention als solche keineswegs f\u00fcr theoretisch falsch. Nichts desto weniger behaupte ich, dass es ein R\u00fcckschritt w\u00e4re, diese Convention anstelle der Neumann\u2019schen einzuf\u00fchren. Die erstere leidet n\u00e4mlich an genau den gleichen methodologischen Mi\u00dfst\u00e4nden, wie die Streintz\u2019sche Definition des FITs ; einUmstand, worin sich abermals die merkw\u00fcrdige Analogie beider Theile des Tr\u00e4gheitsgesetzes offenbart.\nSoll ich mit einem Worte das Verh\u00e4ltniss kennzeichnen, worin die beiden Conventionen, das Neumann\u2019sche inertielle Zeitma\u00df und das Streintz\u2019sche allgemeine Identit\u00e4tszeitma\u00df stehen, so m\u00f6chte ich sagen :\nIm Zusammenh\u00e4nge der Naturvorg\u00e4nge betrachtet erscheint das erstere als prim\u00e4r, das letztere als secund\u00e4r, insofern es als eine specielle Anwendung des einfachen inertieilen Zeitma\u00dfes auf beliebige zusammengesetzte Bewegungsvorg\u00e4nge betrachtet werden kann.\nStreintz erl\u00e4utert die Poisson\u2019sche Aufstellung mit folgenden Worten (S. 84):\n\u00bbEine Kugel, die auf einer Ebene fortrollt und durch Reibung\n1) W. Wundt, Logik, I, S. 556. Vgl. Wundt, Die physikalischen Axiome und ihre Beziehung zum Causalprincip, S. 42\u201452.","page":293},{"file":"p0294.txt","language":"de","ocr_de":"294\nLudwig Lange.\nendlich zur Ruhe gelangt, ein Pendel, das um einen Winkel a aus seiner Ruhelage herausgezogen auf die entgegengesetzte Seite in Folge der Bewegungshindernisse nur mehr bis zur Amplitude \u00df < a ausschwingt, kann, falls wir nur diesen Vorgang unter den gleichen Umst\u00e4nden wieder einzuleiten verm\u00f6gen, als Zeitma\u00df dienen\u00ab.\nWenn es Aufgabe der Wissenschaft war, die Gyralerscheinungen, worauf Streintz seine Definition des FKs gr\u00fcndete, auf das Galilei\u2019sehe Princip zur\u00fcckzuf\u00fchren, so erscheint es analog auch als unabweisbare wissenschaftliche Anforderung , die zum Beispiele f\u00fcr das \u00bbPrincip der identischen Vorg\u00e4nge\u00ab dienenden und \u00e4hnliche isochrone Ph\u00e4nomene aus den Principien der Mechanik d. h. in erster Linie auch aus dem Galilei\u2019schen Princip ahzuleiten. In der That pflegt dies f\u00fcr den Fall des Pendels und in allgemeinerer Form auch f\u00fcr den Fall der rollenden Kugel zu geschehen. Ein Gleiches ist wenigstens m\u00f6glich f\u00fcr die Sanduhr; und insbesondere von der praktisch-astronomischen Zeitmessung kann nicht geleugnet werden, dass sie auf dem Galilei\u2019schen Princip basirt.\nEs findet sich demnach in der Poisson\u2019schen Convention wiederum eine Anwendung des methodologisch verfehlten Verfahrens , dass man zur Fundirung der Wissenschaft einen Begriff einf\u00fchrt, dessen eigentlichen Inhalt man dann sp\u00e4ter nicht umhin kann in Form eines abgeleiteten Lehrsatzes mitzutheilen. M\u00e4n definirt als \u00bbgleiche Zeitintervalle\u00ab solche, in denen identische Vorg\u00e4nge ablaufen, und zeigt in der weiteren Entwickelung des Lehrsystemes, dass identische Vorg\u00e4nge gleich viel Zeit beanspruchen m\u00fcssen.\nUebrigens ist diese wissenschaftliche Dissonanz Streintz nicht entgangen. Um sich dar\u00fcber weg zu helfen, fingirt er abermals eine Welt, welche von der unsrigen verschieden sein und worin das allgemeine Identit\u00e4tszeitma\u00df mit dem inertiellen Zeitma\u00dfe in Widerspruch stehen soll : was das hei\u00dft, kann man sich nach dem oben Gesagten denken. Die betreffende Stelle findet sich in der schon erw\u00e4hnten Kritik der Thomson-Tait\u2019sehen Aufstellung und lautet (S. 90):\n\u00bbEs kann keinem Zweifel unterliegen, dass es erlaubt ist anzunehmen, die Zeitmessung, welche auf die identischen Vorg\u00e4nge basirt ist, und diejenige, welche sich auf die Bewegung des sich selbst \u00fcberlassenen K\u00f6rpers gr\u00fcndet, lieferten verschiedene Resultate, z. B. in der Art, dass auf Grundlage der identischen Vorg\u00e4nge wir die Er-","page":294},{"file":"p0295.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei'schen Beharrungsgesetzes. *295\nfahrung machten, ein sich seihst \u00fcberlassener Punkt bewege sich mit abnehmender Geschwindigkeit. Die Berechtigung zu dieser Annahme folgt aus dem Umstande, dass das Princip der identischen Vorg\u00e4nge von der G\u00fcltigkeit des Galilei\u2019schen Princips unabh\u00e4ngig ist\u00ab.\nSieht man davon ab, dass eine derartige Incongruenz beider Zeitma\u00dfe im eigentlichen Sinne des Wortes \u00bbaus der Luft gegriffen\u00ab ist, so erscheint sie auch rein logisch betrachtet geradezu unm\u00f6glich. Denn wir haben gesehen, dass man das inertielle Zeitma\u00df als ein specielles Identit\u00e4tszeitma\u00df aufzufassen hat (S. 292), und ist das allgemeine Identit\u00e4tszeitma\u00df \u00fcberhaupt ein eindeutiges, brauchbares, so kann es mit keinem besonderen Identit\u00e4tszeitma\u00dfe in Conflict gerathen.\nDie Gr\u00fcnde, welche gegen die Annahme des allgemeinen Identit\u00e4tszeitma\u00dfes sprechen und diejenige des inertiellen Zeitma\u00dfes em-pfehlenswerth machen, entspringen wesentlich aus dem seit Galilei allgemein anerkannten methodologischen \u00bbprincipium simplicitatis\u00ab.1) Man erkennt, dass das inertielle Zeitma\u00df ein m\u00f6glichst einfaches, dass dagegen das allgemeine Identit\u00e4tszeitma\u00df ein ganz zusammengesetztes ist, und zieht den Ausgang von der physikalisch grundlegenden Wahrnehmung dem Ausgange von einer F\u00fclle ableitbarer Beobachtungen vor.\nStreintz f\u00fchrt (S. 88) noch ein drittes Merkmal der gleichf\u00f6rmigen Bewegung an, weiches d\u2019Alembert im Anschluss an das schon besprochene, aus dem Identit\u00e4tszeitma\u00dfe flie\u00dfende und ein zweites weniger belangreiches Merkmal angegeben hat. Es scheint mir sehr instructiv, den h\u00f6chst eigenth\u00fcmlichen Gehalt jenes Merkmales der Analyse zu unterwerfen.\nEs soll nach d\u2019Alembert (Traite de Dynamique, 1758, p. 14) die gleichf\u00f6rmige Bewegung der nothwendigen und hinreichenden Bedingung unterworfen sein, dass zwei gleichf\u00f6rmig bewegte Punkte, wenn man ihre Bewegungsanf\u00e4nge, ihre \u00bbEpochen\u00ab im astronomischen Sinne, zeitlich in beliebiger Weise verlegt, in steter Correspondenz verbleiben; derart, dass stets gleichen Wegstrecken des einen Punktes gleiche Wegstrecken des anderen, und zwar von bestimmtem Verh\u00e4ltnisse zu jenen, entsprechen.2) Man kann diese Bedingung einfach auf\n1)\tVgl. die Anm. S. 286.\n2)\tWenn Streintz hierzu bemerkt, dies sei derselbe Grundgedanke wie der Neumann\u2019sehe, d\u2019Alembert habe aber den Fehler Neumann\u2019s durch die","page":295},{"file":"p0296.txt","language":"de","ocr_de":"296\nLudwig Lange.\neine analytische Form bringen und pr\u00fcfen, ob sie wirklich hinreichend ist; denn ihre Nothwendigkeit kann ja auch ohne Rechnung eingesehen werden.\nEs seien die Bewegungen zweier geradlinig fortschreitender Punkte den Gleichungen:\nsi =/i [t)\ts2 W\nunterworfen. Wenn wir die einfache Forderung aussprechen, dass das Verh\u00e4ltniss der in einer beliebigen Zeit von beiden Punkten zur\u00fcckgelegten Wege in jedem Augenblicke ein constantes sei, so hei\u00dft das analytisch, es sollen die Functionsdifferenzen :\nA [t +4t)\u2014A (t) und f2 (t + Jt) \u2014 f2 (t) einen unver\u00e4nderlichen Quotienten besitzen, welche Werthe auch die verflossene Zeit t und das Vergleichsintervall z1t annehmen m\u00f6gen. Das d\u2019Alemhert\u2019sche Merkmal enth\u00e4lt aber au\u00dferdem noch die Forderung, es solle jener Quotient seinen constanten Werth auch behalten, nachdem die Zeitanf\u00e4nge beliebig gegen einander verschoben worden sind, d. h., indem man mit T eine variable Epochendiflerenz bezeichnet, es solle :\nsein, worin\nA [T + t + M)-Jj [T + t) A {t + 4t) \u2014A (t)\n= const.\nT, t und z/ t\nunabh\u00e4ngig von einander alle m\u00f6glichen Werthe annehmen k\u00f6nnen. Aus dieser Functionalgleichung folgt aber, dass die Fluxion der linken Seite nach T verschwindet, mithin dass :\nf\\ [T + t + z/ t) \u2014f\u00ee (T + t) = 0 ist ; denn ein Unendlichwerden des Nenners ist wegen der Endlichkeit der Bewegung (des zweiten Punktes) unm\u00f6glich. Die zuletzt gewonnene Gleichung sagt aber aus, dass^)' von z/1, mithin von ihrem Argumente \u00fcberhaupt unabh\u00e4ngig, constant, ist. Ne\u2019nnen wir ihren constanten Werth o1; so ergibt sich :\nAehnlich folgt\nS] = \u00bbj t,\nS2 \u2014 \u00bb2 t.\nForderung einer Verlegbarkeit der Epochen vermieden, so tritt uns hier wieder klar entgegen, dass Streintz das Neumann\u2019sche Pr\u00e4dicat \u00bbsich selbst \u00fcberlassen\u00ab \u00fcbersehen hat; denn in der ganzen d\u2019Alembert\u2019schen Auseinandersetzung kommt dies Pr\u00e4dicat nicht ein einziges Mal vor.","page":296},{"file":"p0297.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2019schen Beharrungsgesetzes. 297\nIn der That gibt also das d\u2019Alembert\u2019sche Merkmal auch die hinreichenden Bedingungen der gleichf\u00f6rmigen Bewegung an.\nDemnach darf seine Richtigkeit nicht bestritten werden. Eine andere Frage aber ist die , ob man \u2014 auch abgesehen von der praktischen Unm\u00f6glichkeit einer Anwendung \u2014 dies Merkmal zu der grundlegenden Definition des Zeitma\u00dfes heranzuziehen berechtigt w\u00e4re (vgl. Streintz S. 89). Mit der Bedingung einer Yerlegbarkeit der Epochen ist die Vorstellung von der congraenten zeitlichen Ueber-tragung der einen Bewegung eingef\u00fchrt. Diese Uebertragung aber setzt entweder eine bestimmte Convention \u00fcber das Zeitma\u00df schon voraus, oder, wenn sie etwa aufgefasst wird als zeitliche Uebertragung eines Vorganges ohne Aenderung der \u00e4u\u00dferen Bedingungen seines Geschehens, so bedient man sich dabei des Princips der identischen Vorg\u00e4nge, von dem man doch viel unmittelbarer zu einer Zeitconvention gelangen kann.\nEs er\u00fcbrigt noch, zu den beiden vorangegangenen Abschnitten eine gemeinsame Anmerkung hinzuzuf\u00fcgen. Was man unter dem Bezugssysteme und dem Zeitma\u00dfe des Tr\u00e4gheitsgesetzes zu verstehen hat, habe ich im Vorigen ausf\u00fchrlich klar zu legen versucht. Dabei wurden aber zwei Vorstellungen vorausgesetzt, deren weitere Zergliederung zu nichts f\u00fchren k\u00f6nnte, auch unn\u00f6thig w\u00e4re. Es sind dies die Jedermann gel\u00e4ufigen Vorstellungen \u00bbgleichzeitigen\u00ab resp. \u00bbungleichzeitigen Geschehens\u00ab zweier Ereignisse und \u00bbgleicher\u00ab resp. \u00bbverschiedener Oertlichkeit\u00ab zweier Dinge. Sie sind von der Annahme eines Bezugssystemes oder Zeitma\u00dfes, wohl zu merken, unabh\u00e4ngig, dagegen zur Anwendung eines Bezugssystemes oder Zeitma\u00dfes, wie man leicht zeigen k\u00f6nnte, erforderlich. Die Grenzen der gewonnenen Erkenntniss d\u00fcrften hiermit in der w\u00fcnschenswerthen Weise festgestellt sein.","page":297}],"identifier":"lit4135","issued":"1885","language":"de","pages":"266-297","startpages":"266","title":"Ueber die wissenschaftliche Fassung des Galilei\u2018schen Beharrungsgesetzes","type":"Journal Article","volume":"2"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:31:42.289978+00:00"}