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{"created":"2022-01-31T14:31:54.673478+00:00","id":"lit4150","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lange, Nicolai","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 4: 390-422","fulltext":[{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception.\nVon\nNicolai Lange\naus St. Petersburg.\nMit 1 Holzschnitt.\nDie active sinnliche Aufmerksamkeit bildet eine der Arten der activen Apperception im Allgemeinen. Besteht eine solche Apperception in der willk\u00fcrlichen Verst\u00e4rkung einer bestimmten Vorstellung oder eines Complexes von Vorstellungen, so ist die sinnliche Aufmerksamkeit eine entsprechende Verst\u00e4rkung der realen Empfindungen. Was den Ausdruck \u00bbactive\u00ab Verst\u00e4rkung anbetrifft, so muss man ihn vorl\u00e4ufig in einem ganz allgemeinen Sinne nehmen. Erfahrungsgem\u00e4\u00df k\u00f6nnen n\u00e4mlich die Vorstellungen eine bestimmte Stelle in unserem Bewusstsein entweder nach ihrer eigenen, so zu sagen ohjectiven Intensit\u00e4t einnehmen : so beherrscht z. B. ein st\u00e4rkeres Ger\u00e4usch mehr als ein schw\u00e4cheres, die Erinnerung an heftige Schmerzen mehr als ein schmerzloses Erinnerungsbild das Bewusstsein. Oder die Stelle, die eine Vorstellung in unserem Bewusstsein einnimmt, wird nicht durch ihre eigene Kraft, sondern durch etwas anderes bestimmt, was wir einen gewissen Zustand unserer Aufmerksamkeit nennen. Diese Aufmerksamkeit besitzt eine merkw\u00fcrdige und bis jetzt wenig begreifliche F\u00e4higkeit, die Vorstellungen zu verst\u00e4rken, und uns dadurch bis zu einem gewissen Grade von dem Wechsel der Verh\u00e4ltnisse der eigenen Kr\u00e4fte der Vorstellungen zu befreien. Dank dieser F\u00e4higkeit sind wir im Stande sehr kleine Empfindungen deutlicher aufzufassen, indem wir die st\u00e4rkeren vernachl\u00e4ssigen.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 391\nDass derartige Erscheinungen wirklich existiren, noch mehr dass hierin die M\u00f6glichkeit aller h\u00f6heren psychischen Erscheinungen begr\u00fcndet liegt, \u2014 ist eine unbestreitbare Thatsache ; w\u00fcrde eine solche specifische Kraft nicht existiren, so m\u00fcssten die realen Empfindungen alle Erinnerungen oder blo\u00df idealen Vorstellungen aus unserem Bewusstsein verdr\u00e4ngen, einfach weil diese als Abbildungen von der ersteren nat\u00fcrlich die schw\u00e4cheren sind. Man kann mehr sagen, in solchem Falle w\u00e4re das sinnliche Bewusstsein seihst ganz zusammenhangslos, weil die Empfindungen hei jedem Wechsel ihrer Intensit\u00e4t absolut verdr\u00e4ngt von einander werden m\u00fcssten.\nSo ist also die Thatsache der activen Aufmerksamkeit selbst unbestreitbar, sofern wir n\u00e4mlich darunter die allgemeine F\u00e4higkeit des Bewusstseins verstehen, nicht nur durch gegebene Intensit\u00e4ten der Vorstellung bestimmt zu werden, sondern auch diesen Vorstellungen eine besondere Intensit\u00e4t durch die so genannte Anspannung der Aufmerksamkeit zu verleihen. Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass diese Wirkung der Aufmerksamkeit kein urspr\u00fcnglich willk\u00fcrlicher Process ist, sondern durch Complexe von anderen Vorstellungen, W\u00fcnsche und Gef\u00fchle bedingt wird. Wollen wir eine schwache Empfindung wahrnehmen, so verst\u00e4rken wir dieselbe durch die Aufmerksamkeit ; dieses Wollen aber hat wieder seine bestimmten Motive. Wir k\u00f6nnen also sagen, in7 dem wir uns der allgemeinen psychologischen Ausdr\u00fccke bedienen, dass die active Aufmerksamkeit darin besteht einen Complex von Vorstellungen durch einen anderen zu verst\u00e4rken.\nEine solche Verst\u00e4rkung ist nun freilich eine ebenso bemerkens-werthe wie schwer begreifliche Erscheinung. Indem wir einen gewissen Umfang des Bewusstseins annehmen, k\u00f6nnen wir ungef\u00e4hr verstehen, wie eine Vorstellung eine andere verdunkeln oder verdr\u00e4ngen kann ; auf welche Weise aber die eine die andere zu verst\u00e4rken vermag, bleibt zun\u00e4chst dunkel. Unseres Wissens gibt es zwei Hypothesen \u00fcber das Zustandekommen dieser Erscheinung, f Die eine derselben vermuthet eine directe Wirkung des Willens auf die Vorstellung. Diese Annahme aber scheint mir keine eigentliche Erkl\u00e4rung der Sache zu geben, \u2014 sie ist vielmehr nur eine richtige Constatirung der ersten Ursache und der letzten Wirkung der ganzen Erscheinungsreihe. Eine directe verst\u00e4rkende Wirkung des Willens auf die Vorstellungen ist schon dadurch unm\u00f6glich anzunehmen, weil es unbestreitbaren psy-Wundt, Philos. Studien. IV.\t26","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nNicolai Lange.\nchischen Thatsachen widersprechen w\u00fcrde. Wenn wir z. B. etwas halbvergessenes ins Ged\u00e4chtniss zur\u00fcckrufen wollen, so m\u00fcssen wir uns immer der fr\u00fcheren Associationen bedienen, um mit H\u00fclfe derselben die Vorstellung zu klarem Bewusstsein zu bringen ; \u2014 sie aber unmittelbar zu verdeutlichen, falls sie sich etwa schon undeutlich in unserem Bewusstsein befindet, sind wir nicht im Stande. Sodann widerspricht einem solchen directen Einfl\u00fcsse des Willens auf die Vorstellungen eine Thatsache, welche wir noch einmal sp\u00e4ter erw\u00e4hnen wollen : es gibt Empfindungen, die wir unmittelbar durch die Aufmerksamkeit nicht verst\u00e4rken k\u00f6nnen. Existirte aber eine solche allgemeine directe Wirkung des Willens, so w\u00e4re es absolut unbegreiflich, warum sie bei einigen Empfindungen vorkommt, bei anderen nicht. Drittens k\u00f6nnen wir sagen, dass eine derartige Wirkung des Willens zu einer unwahrscheinlichen H\u00fclfshypothese f\u00fchren w\u00fcrde, n\u00e4mlich zur Annahme von zwei verschiedenartigen Formen des Willens: einer motorischen und einer apperceptiven. Denn, ist auch die bewusste Bewegung ein Process, welcher mit der klaren Vorstellung dieser Bewegung einigerma\u00dfen \u00fcbereinstimmt, so sind doch diese Vorstellungen und der Trieb zur Bewegung wenigstens zum Theil verschieden. So ist also der motorische Wille, wie weit wir auch den Ausdruck verstehen m\u00f6chten, doch etwas anderes als der Wille, welcher einfach die Vorstellung dieser Bewegung verst\u00e4rkt: der erste verst\u00e4rkt den Trieb, der zweite nur die Vorstellung der Bewegung. Hiernach m\u00fcssen wir schlie\u00dfen, dass diese erste Hypothese, so richtig sie auch den Einfluss des Willens auf die Vorstellungen constatirt, doch denselben nicht erkl\u00e4rt, sondern blo\u00df die zwei Endglieder dieses Processes n\u00e4her bestimmt, n\u00e4mlich das Motiv zur Lenkung der Aufmerksamkeit auf der einen Seite und die Verst\u00e4rkung der Vorstellung seihst auf der anderen.\nDie zweite Theorie bietet vielleicht noch mehr Schwierigkeiten. Sie entstand aus den physiologischen Thatsachen der Hemmung der Reflexe. Bekanntlich hat die in gewissen F\u00e4llen zu beobachtende Hemmung der Reflexbewegungen zur Lehre von den hemmenden Nerv\u00e8n-centren gef\u00fchrt. Das psychologische Correlat dieser Theorie ist die Annahme, dass der Wille die F\u00e4higkeit besitzt,.gewisse Vorstellungen zu unterdr\u00fccken und dadurch andere zu verst\u00e4rken. Was man nun auch \u00fcber den Werth der entsprechendenphysiologischen Theorie denken mag, diese psychologische Uebertragung begegnet jedenfalls un\u00fcber-","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 393\nwindlichen Schwierigkeiten. Erstens finden wir in unserem Bewusstsein nichts einer solchen Hemmung gleichendes ; noch mehr, dieser hemmende Zustand muss unbedingt au\u00dfer dem Bewusstsein liegen, weil \u00bbgehemmt zu sein\u00ab dem Begriff \u00bbim Bewusstsein zu sein\u00ab widerspricht. Entsteht aber der gehemmte Zustand der Vorstellungen nicht durch eine directe Wirkung des bewussten Willens auf dieselben, so sind wir gezwungen anzunehmen, dass der Wille nur gewisse an sich unbewusste physiologische Processe hervorruft, welche ihrerseits zur Hemmung der bestimmten Functionen des Gehirns f\u00fchren. Aber auch eine solche Erkl\u00e4rung f\u00fchrt, abgesehen davon dass sie sich ganz der Nachweisbarkeit entzieht, zu seltsamen Folgerungen. Da die Aufmerksamkeit nicht nur auf gewisse Arten von Empfindungen, sondern auch auf ganz bestimmte concrete Gegenst\u00e4nde concentrirt werden kann, so m\u00fcssten wir annehmen, dass in diesem letzten Falle alle Theile der Gro\u00dfhirnrinde oder doch der Sinnescentren mit Ausnahme der diesem bestimmten Complexe von Empfindungen entsprechenden gehemmt seien. Die M\u00f6glichkeit einer solch beschr\u00e4nkten Localisation der Functionen in der Rinde, bei der etwa eine Vorstellung an eine bestimmte Zelle oder einen bestimmten Zellencomplex gebunden w\u00e4re, ist bekanntlich sehr zweifelhaft. Zweitens m\u00fcssten, wenn diese Hypothese richtig w\u00e4re, alle Vorstellungen, bevor eine von ihnen klarer geworden w\u00e4re, aufeinmal ins Bewusstsein dringen, um nachher unterdr\u00fcckt zu werden; d. h. beim Uebergange der Aufmerksamkeit von einer Vorstellung zur anderen m\u00fcsste dieselbe, indem sie die erste Vorstellung sinken l\u00e4sst, sich auf den ganzen Inhalt des Bewusstseins erweitern, darauf alle Vorstellungen ausgenommen die zweite unterdr\u00fccken, um sich so auf diese zweite Vorstellung passiv zu concentriren. Und doch zeigt die gew\u00f6hnliche Selbstbeobachtung, dass ein directer Uebergang der Aufmerksamkeit von einer Vorstellung auf eine andere sehr wohl m\u00f6glich ist1).\n1) Wie bekannt, hat jedoch Prof. Wundt eine \u00e4hnliche Erscheinung der Erweiterung der Aufmerksamkeit beobachtet. In seiner Phys. Psych. (Cap. XVI, Bd_ II, S. 241 ff.) sagt er n\u00e4mlich, dass beim Uebergange der Aufmerksamkeit von einem Eindr\u00fccke zum andern das innere Blickfeld auf einen bedeutenden Theil des Bewusstseins sich erweitert und sich nachher wieder auf einer anderen Stelle dieses Feldes zusammenzieht. Diese Erscheinung existirt in Wirklichkeit, aber nur zu der Zeit wo wir noch die Vorstellung, auf welche wir unsere Aufmerksamkeit eoncon-\n26*","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"*394\nNicolai Lange.\nDabei ist leicht zu sehen, zu welchen seltsamen Annahmen diese psychologische Hemmungstheorie fuhren w\u00fcrde. Wollten wir z. B. unsere Aufmerksamkeit auf eine in unserem Bewusstsein befindliche Vorstellung concentriren , so m\u00fcssten wir diese Vorstellung selbst zun\u00e4chst ganz bei Seite lassen, alle andern Vorstellungen im Bewusstsein aber hemmen, um dadurch indirect der ersten Vorstellung die M\u00f6glichkeit zu geben, dass sie mit gr\u00f6\u00dferer Intensit\u00e4t zur\u00fcckkehre. Alles aber was wir aus der Selbstbeobachtung wissen weist im Gegentheil auf eine directe Verst\u00e4rkung der Vorstellungen durch die Aufmerksamkeit hin\nAlle diese Bemerkungen und manche andere, die wir leicht hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnten, haben nicht die Widerlegung der physiologischen Hemmungstheorie zum Ziel, sondern nur die ihres psychologischen Correlates. Es ist m\u00f6glich, dass die physiologischen Erscheinungen der Hemmung blo\u00df dem psychologischen Begriffe des beschr\u00e4nkten Umfangs des Bewusstseins entsprechen. Da dieser Umfang nur eine indirecte Bedingung der Aufmerksamkeit ist (insofern diese letzte darin besteht, dass wir einzelne Vorstellungen in den sehr beschr\u00e4nkten Blickpunkt des Bewusstseins \u00fcberf\u00fchren), so kann jene physiologische Theorie m\u00f6glicher Weise auch eine gewisse Bedeutung f\u00fcr die Psychologie besitzen; alle unsere Bemerkungen aber haben kein anderes Ziel, als zu beweisen, dass im Processe der activen Aufmerksamkeit diese Hemmung oder Beschr\u00e4nkung (mindestens im Bewusstsein) keine prim\u00e4re oder vorwaltende Erscheinung ist. Die \u00fcbrigen Vorstellungen verdunkeln sich, wenn einzelne durch die active Aufmerksamkeit verst\u00e4rkt werden, aber es werden nicht umgekehrt diese verst\u00e4rkt, weil die andern absichtlich verdunkelt werden.\ntriren wollen, suchen ; z. B. wenn wir noch nicht wissen, welcher von unseren Sinnen zun\u00e4chst durch einen schwachen Reiz afficirt wird. Wenn wir nun diese noch bevorstehende Empfindung sogleich nachdem sie stattgefunden registriren \u25a0wollen, so erweitert sich wirklich unsere Aufmerksamkeit, und es werden dadurch alle schon existirenden Empfindungen so zu sagen nivellirt. Dies ist aber nur ein secund\u00e4rer Process, und zwar das Resultat einer sehr raschen Bewegung der Aufmerksamkeit durch die verschiedenen Sinnesgebiete. Die Erscheinung ist so klar, dass wir den Uebergang direct beobachten k\u00f6nnen; f\u00fcr mich z. B. hat er folgende Stufen: optische Empfindungen, dann tactile (welche ihrerseits eine bestimmte Reihenfolge nach verschiedenen K\u00f6rpertheilen haben), endlich akustische ; dann wieder optische u. s. w. So haben wir auch hier keine directe Hemmung sondern nur eine indirecte, durch einen raschen Uebergang der Aufmerksamkeit.","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00fcge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 395\nSo kommen wir zum Endresultate, dass jene beiden psychologischen Theorien, die Theorie der directen Wirkung des Willens auf die Vorstellungen und die Hemmungstheorie, unzuverl\u00e4ssig oder wenigstens unvollst\u00e4ndig sind. Und doch ist diese Frage eine der wichtigsten in der Psychologie. Man k\u00f6nnte sogar behaupten, dass der letzte wichtige Schritt in dieser Wissenschaft von dem Momente herr\u00fchrt, als die Unvollst\u00e4ndigkeit der englischen Associationstheorien, welche die Erscheinungen der activen Apperception vernachl\u00e4ssigten, festgestellt war. Diese Unvollst\u00e4ndigkeit wurde aber zum ersten Mal von Prof. Wundt nachgewiesen ').\nUm die oben erw\u00e4hnten Fragen, welche aus den unbestreitbaren Erscheinungen der activen sinnlichen Aufmerksamkeit entstehen, zu entscheiden, habe ich im psychologischen Laboratorium der Leipziger Universit\u00e4t Versuche unternommen, welche mich zu der unten dargestellten Theorie f\u00fchrten. Diese Versuche wurden im Wintersemester 1886/87 ausgef\u00fchrt. Alle erhaltenen Resultate habe ich den Rathschl\u00e4gen von Prof. Wundt zu verdanken, sowie auch der freundlichen Mitwirkung des Herrn Dr. L. Lange, Assistent des psychologischen Laboratoriums, und des H\u00e9rrn J. Kolubowsky, cand. phil., denen ich hier meinen verbindlichsten Dank ausspreche.\nI. Die Schwankungen der Aufmerksamkeit.\nDie erste Reihenfolge meiner Versuche hatte die Absicht, die periodischen Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit mit Bezug auf ihre Dauer zu untersuchen. Dass solche Schwankungen wirklich existiren, beweisen folgende Erscheinungen.\nWenn wir irgend einen sehr schwachen Sinneseindruck, welcher unweit der Reizschwelle liegt, beobachten, so beobachten wir, dass derselbe bald im Bewusstsein erscheint (bei maximaler Aufmerksamkeit), bald wieder verschwindet (bei minimaler). Durch die Beobachtung und Registrirung solch\u2019 periodischen Erscheinens und Verschwindens werden wir daher offenbar gleichsam die Dauer der Wellen der Aufmerksamkeit bestimmen k\u00f6nnen.\n1) Fast gleichzeitig war dasselbe, von einem anderen Standpunkte aus, in Russland von Prof. Wladislavlew in seiner \u00bbPsychologie\u00ab geschehen.","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nNicolai Lange.\nDie hier erw\u00e4hnten Schwankungen der minimalen optischen und akustischen Empfindungen wurden schon l\u00e4ngst bemerkt. So hat v. Helmholtz solche Erscheinungen auf optischem Gebiet hei den Masson\u2019schen Scheiben beschrieben. \u00bbMan ziehe\u00ab, sagt derselbe, \u00bbl\u00e4ngs eines Radius (einer wei\u00dfen Rotationsscheibe) einen unterbrochenen Strich, dessen Theile alle die gleiche Dicke haben. Bei der Rotation der Scheibe geben diese schwarzen Striche graue Kreise auf der Scheibe. Ist d die Breite der Striche, r die Entfernung eines Punktes eines schwarzen Striches vom Mittelpunkte der Scheibe, so ist die Helligkeit h des grauen Streifens, der bei der Rotation entsteht, wenn 'wir die\nHelligkeit der Scheibe gleich 1 setzten, h= 1 \u2014Die grauen Streifen\nunterscheiden sich also desto weniger von der Helligkeit der Scheibe r je gr\u00f6\u00dfer r ist; die inneren sind dunkler, die \u00e4u\u00dferen heller, und man erh\u00e4lt eine Folge sehr zarter Abstufungen. Beim Versuche hat man nur zu untersuchen, wie weit die R\u00e4nder der grauen Streifen noch zu erkennen sind\u00ab. Dabei ergibt sich nun, wie Helmholtz weiter bemerkt hat, dass diese Schwelle der Unterscheidung der dunkeln Kreise von den wei\u00dfen nicht constant bleibt, sondern dass wir zeitweise auch die viel helleren Kreise unterscheiden !).\nEs entsteht jetzt die Frage, wo die Ursache dieser Erscheinung liegt, d. h. ob sie in der Erm\u00fcdung der peripherischen percipirenden Sinneswerkzeuge liegt, oder ob sie centralen Ursprungs ist und der Erm\u00fcdung der Aufmerksamkeit entspricht. Wir werden weiterhin eine Reihe von Versuchen ausf\u00fchren, welche unbestreitbar beweisen, dass wir es hier mit einer Erscheinung centr alenUrsprungs zuthun haben. Aber schon hier k\u00f6nnen wir drei Gr\u00fcnde anf\u00fchren, aus denen jede Erkl\u00e4rung derselben aus irgend einer Erm\u00fcdung der peripherischen Organe sehr zweifelhaft w\u00e4re. Erstens haben wir gar keinen experimentalen Grund anzunehmen , dass die sensibeln Nerven so rasch und bei einem so schwachen Reize erm\u00fcden. Im Gegentheil, soviel wir nach Analogie mit den motorischen Nerven urtheilen k\u00f6nnen, kommt die Erm\u00fcdung bei schwachen Reizen nur nach einer sehr langen Wirkung vor. Zweitens, w\u00e4re die oben erw\u00e4hnte Zunahme der Reiz-\n1) Physiol. Optik, S. 314 f. Vgl. auch \u00bbZur Grundlegung der Psychophysik\u00ab von G. E. M\u00fcller, S. 124 f.","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 397\nschwelle eine Folge der Erm\u00fcdung der peripherischen Nerven, so w\u00fcrde es absolut unbegreiflich sein, wie diese Erm\u00fcdung von neuem verschwinden k\u00f6nnte, obgleich der \u00e4u\u00dfere Reiz fortdauert. Und doch existirt dieses Verschwinden unbestreitbar: die wenig bemerkbaren Kreise in derHelmholtz\u2019schenScheibeerscheinen, verschwinden, und erscheinen wieder, w\u00e4hrend wir ununterbrochen die Scheibe beobachten. W\u00e4re also diese Erscheinung peripherischen Ursprungs, so m\u00fcssten wir annehmen, dass der Nerv sich ausruhen kann , w\u00e4hrend doch fortw\u00e4hrend der Reiz auf ihn einwirkt. (Auf welche Weise ein \u00e4hnliches Bedenken, wenn man es in Bezug auf die centrale Erm\u00fcdung geltend machen wollte, beseitigt werden kann, werden wir sp\u00e4ter sehen.) Endlich drittens, h\u00e4tten wir es hier mit einer Erscheinung peripherischer Erm\u00fcdung zu thun, so w\u00e4re es unbegreiflich, weshalb sie besonders und sogar ausschlie\u00dflich bei schwachen Reizen zu beobachten ist1), obgleich der Nerv hei denselben am wenigsten leidet. Anderseits ist es ganz nat\u00fcrlich, dass der centrale Process der activen Apperception bei minimalen Reizen um so erm\u00fcdender ist, j e s chw \u00e4cher der Reiz, weil die Spannung der activen Aufmerksamkeit in solchem Falle gr\u00f6\u00dfer ist.\nGanz \u00e4hnliche Schwankungen, wie sie oben bei Gesichtseindr\u00fccken geschildert wurden, sind nun auch bei akustischen Eindr\u00fccken zu bemerken. Diese Erscheinung wurde zuerst von Dr.Urbantschitsch beim Tiktak der Taschenuhr beobachtet. H\u00f6ren wir mit Aufmerksamkeit in einer gewissen Entfernung und w\u00e4hrend der n\u00e4chtlichen Stille diesem Schall zu, so erreicht die Erscheinung der Schwankungen eine merkw\u00fcrdige Deutlichkeit: bald verschwindet das Ger\u00e4usch vollst\u00e4ndig, bald erscheint es wieder au\u00dferordentlich stark. Hier, wie hei den optischen Empfindungen, werden wir nachzuweisen haben, dass wir es mit den Schwankungen der Aufmerksamkeit zu thun haben, d. h. dass die Erscheinung centralen Ursprungs ist und keineswegs die Folge der Erm\u00fcdung des N. acusticus. Bevor wir aber zur Er\u00f6rterung dieser Frage \u00fcbergehen, wollen wir zeigen, dass die Ursache der Schwankungen nicht noch irgendwo anders liegt, also insbesondere\n1) Es ist selbstverst\u00e4ndlich, dass wir diese Erscheinungen von den Erscheinungen unzweifelhaft peripherischer Erm\u00fcdung bei starken Reizen streng unterscheiden : zwischen diesen und jenen liegt das Gebiet der mittleren St\u00e4rke des Reizes, bei der man weder die eine Erscheinung noch die andere bemerkt.","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nNicolai Lange.\nweder in den Ver\u00e4nderungen des objectiven Ger\u00e4usches noch in den Processen der Fortpflanzung des Schalls im Ohr. In dieser Hinsicht k\u00f6nnen wir einfach auf die Er\u00f6rterungen von Urbant'schitsch hin-weisen. Was die M\u00f6glichkeit der Ver\u00e4nderungen der objectiven St\u00e4rke des Ger\u00e4usches anbelangt, so hat derselbe gefunden, dass die erw\u00e4hnten Schwankungen auch beim leisen Ton einer elektrischen Stimmgabel Vorkommen, wo selbstverst\u00e4ndlich jede M\u00f6glichkeit von periodischen Schwankungenausgeschlossen ist. Das wurde auch in unseren Versuchen best\u00e4tigt. Es ist ferner bemerkenswerth, dass die Schwankungen bei verschiedenartigen Taschenuhren ganz dieselbe Dauer behalten , was gleichfalls auf die subjective Natur der Schwankungen hinweist.\nEndlich hat Urbantschitsch dieselben periodischen Schwankungen bei stetigem Ger\u00e4usche eines kleinen Wasserstromes beobachtet. Die Aehnlichkeit der Erscheinungen bei so verschiedenartigen Umst\u00e4nden beweist klar genug, dass die Ursache davon keinesfalls in der Ver\u00e4nderung des objectiven Ger\u00e4usches liegen kann.\nHinsichtlich der Annahme , dass dieselbe in den schallleitenden Apparaten des Ohres liegen, also entweder die Wirkung des M. tensor tympanioder desM. stapedius seinm\u00f6chte, bemerktUrbantschitsch folgendes: \u00bbVon Seiten des schallleitenden Apparates kann die Perception von der Spannung des Trommelfelles und der Geh\u00f6rkn\u00f6chelchen ab-h\u00e4ngen, welche physiologischer Weise derMusc. tensor tympani und der Muse, stapedius beeinflussen. Wie ich wiederholt zu constatiren Gelegenheit hatte, finden die hier beschriebenen Schwankungen in der Geh\u00f6rsperception bei den verschiedenen Spannungsverh\u00e4ltnissen des Trommelfells in gleicher Weise statt *), indem selbst in F\u00e4llen vonPerfora-tion der Membrana tympani die Schallempfindungen sich ebenso inconstant verhielten, wie bei intactem Trommelfelle. Ferner fand ich dasselbe Geh\u00f6rsph\u00e4nomen auch bei einer Frau, bei welcher der Steigb\u00fcgel au\u00dfer Verbindung mit dem Ambosschenkel stand, also jeder Einwirkung des Trommelfellspanners entzogen war. In diesem Fall wurde die Uhr 1/2 cm weit vom Ohre geh\u00f6rt, wobei Patientin stets ein allm\u00e4hliches Verschwinden und Wiederauftreten des Tickens angab.\u00ab \u00bbSeitens des schallleitenden Apparates k\u00f6nnte also die Schallempfindung nur durch den M. stapedius alterirt werden und zwar, wenn wir uns der Ansicht\n1) Wir haben dies ebenfalls (mit H\u00fclfe eines kleinen Manometers) beobachtet.","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 399\nToynbee\u2019s \u00fcber die physiologische Bedeutung desM. stapedius*) an-schliessen, etwa folgenderma\u00dfen: Ist der Steigb\u00fcgelmuskel, wie Toynbee annimmt, als ein Lauschmuskel zu betrach ten, vermag er n\u00e4mlich in der That bei seinen Contractionen die Steigb\u00fcgelplatte aus dem ovalen Fenster herauszuheben und f\u00fcr die kleinsten Schwingungen empf\u00e4nglich zu machen, so bilden seine periodischen Contractionen die Ursache unserer Erscheinung\u00ab. \u00bbGegen diese Anschauung spricht allerdings der Umstand, dass die Unterbrechungen in der Schallempfindung nicht von suhjectiven Geh\u00f6rssensationen begleitet werden, welche bei clonischen Kr\u00e4mpfen des Steigb\u00fcgelmuskels h\u00f6chst wahrscheinlich erfolgen m\u00fcssten, indem ein abwechselnd vermehrter und verminderter Druck der Stapesplatte auf die Labyrinthfl\u00fcssigkeit durch Erregung der peripheren Acusticusz-weige bekanntlich subjective Geh\u00f6rsempfindungen hervorruft\u00ab1 2).\nVielleicht sind aber diese Erscheinungen zu schwach um bemerkt zu werden. \u00bbNun kommt jedoch\u00ab, f\u00e4hrt U. fort, \u00bbeine Erregung des N. acusticus, au\u00dfer durch Luftleitung, noch durch die sogenannte Knochenleitung zu st\u00e4nde, und zwar in Folge Ber\u00fchrung eines t\u00f6nenden K\u00f6rpers mit den Kopfknochen, welche einen Theil der Schallwellen direct zum Felsenbeine resp. zum Labyrinthe gelangen lassen\u00ab. Auch bei diesem Leitungswege des Schalls bemerkt man dieselben Schwankungen : bei kopfdichtem Verschl\u00fcsse beider \u00e4u\u00dferen Geh\u00f6rg\u00e4nge wurde n\u00e4mlich eine im Verklingen befindliche Stimmgabel sowie die an den Kopfknochen angelegte Uhr nicht continuirlich, sondern nur inter-mittirend geh\u00f6rt\u00ab3).\nAus dieser ganzen Er\u00f6rterung zieht Urbantschitsch folgenden Schluss: Da die Ursache dieser Schwankungen der schwachen akustischen Empfindungen weder in den objectiven Ver\u00e4nderungen des Schalls, noch in der Wirkung des M. tensor tympani noch des M. stapedius liegt, \u2014 so bleibt uns nichts \u00fcbrig als anzunehmen , sie r\u00fchre von der Erm\u00fcdung des N. acusticus her. Wir haben aber schon vorhin (bei der Analyse der Schwankungen der optischen Empfindungen) auf die drei Gr\u00fcnde hingewiesen, welche a priori eine derartige Er-\n1)\tToynbees Lehrbuch der Ohrenheilkunde, S. 175 (Uebersetzung).\n2)\tWreden, Petersb. med. Zeitschrift. 1870. N. F. I. 13.\n3)\tCentralbl. f. d. medic. Wissenseh. 1875, S. 626 ff.","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\n-Nicolai Lange.\nm\u00fcdung zweifelhaft machen. Freilich bem\u00fcht sich Urbantschitsch in einer anderen Abhandlung experimentell zu beweisen, dass wir es in der That mit der Erm\u00fcdung des N. acusticus zu thun haben. Doch m\u00fcssen wir sagen, dass die Erscheinungen, welche er in dieser zweiten Abhandlung studirt, ganz anderer Art sind als diejenigen, von denen jetzt hier die Rede' ist. Hatte er es im einen Falle, ebenso wie wir, mit sehr geringen Empfindungen zu thun gehabt, so benutzte er im andern eine \u00e4u\u00dferst starke Stimmgabel; waren im ersten die Schwankungen schon von Anfang an zu beobachten, so erschienen sie im zweiten erst nach 10\u201415\" des starken Ger\u00e4usches. Haben wir also in diesem zweiten Falle wirklich die Erm\u00fcdung des N. acusticus vor uns, so haben diese Erscheinungen mit den Schwankungen der minimal kleinen Empfindungen , welche wir hier studiren, gar nichts gemeinschaftliches, weder den Bedingungen der Entstehung noch der Form der Schwankungen nach.\nDies f\u00fchrt uns darauf, endlich auf unser letztes und wichtigstes Argument aufmerksam zu machen, ein Argument, welches so zu sagen unser experimentum crucis in der Frage nach der Ursache dieser Schwankungen, der optischen wie der akustischen, bildet. Wir werden sogleich sehen, dass die Dauer der optischen Schwankungen k\u00fcrzer als diejenige der akustischen ist. Sind z. B. die ersten 3,4\" lang, so werden die zweiten nicht weniger als 4,0\" betragen. Lassen wir nun beide Arten schwacher Reize gleichzeitig auf uns wirken, d. h. wollen wir gleichzeitig mit Aufmerksamkeit die schwachen Tiktak der Uhr, wie die Kreise der Helmholtz\u2019schen Scheibe beobachten, so werden, wenn die erw\u00e4hnten Schwankungen eine peripherische Ursache haben, dieselben f\u00fcr verschiedene Sinneswerkzeuge unabh\u00e4ngig von einander sein. Sie werden also ihrer verschiedenen Dauer wegen bald zusammenfallen , bald wieder auseinandergehen. Und doch ergibt es sich aus den Experimenten, dass dies nicht der Fall ist. Die beiden Arten der Schwankung fallen niemals zusammen, nachdem sie ab er ihre Periode ge wechselt haben, sind sie immer von einander durch eine ganz bestimmte Zwischendauer abgesondert, so dass z. B. vom Maximum der Geh\u00f6rs- bis zu dem der Gesichtsempfindung immer 2,3\" vergehen, und vom zweiten\n1) Pfl\u00fcger\u2019s Archiv, Bd. 24, S. 574\u2014595.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 401\nbis zum ersten immer 1,6\". Wir haben eine ziemlich gro\u00dfe Anzahl solcher Versuche gemacht; die entsprechende Tabelle lasse ich hier sogleich folgen. Die Zeiten sind Zehntelsecunden.\nMittlere Periodicit\u00e4t der Maxima der Aufmerksamkeit bei zwei gleichzeitigen und disparaten Sinneseindr\u00fccken.\n\t\tVersuchsperson -V. L.\t\t\t\tArithm. Mittel\tVersuchsperson J. K.\t\t\t\tArithm. Mittel\nMittl. Zeiten von dem optisch. Maximum bis zum akustischen.\t15\tn\t20\t13\t10\t16\t14\t11\t11\t14\t12\nMittl. Zeiten von dem akust. Maximum bis zum optischen.\t26\t22\t23\t21\t23\t23\t20\t14\t14\t18\t16\nDie Zahl der Ueber-g\u00e4nge der Aufmerksamkeit\t6\t10\t5\t5\t5\t31\t12\t18\t17\t11\t58\nMeiner Meinung nach beweist diese Erscheinung unbestreitbar, dass ihre Ursache nicht in den von einander unabh\u00e4ngigen peripherischen Organen oder Nerven liegt, sondern dass unsere Periodicit\u00e4t f\u00fcr disparate Sinnesempfindungen ein gemeinschaftlichesCentrum hat, d. h. dass wir es hier mit einer centralen Erscheinung zu thun haben.\nAu\u00dfer den Schwankungen der optischen und akustischen Empfindungen habe ich die n\u00e4mliche Erscheinung auch bei schwachen tac-tilen Empfindungen, auf welche die Aufmerksamkeit gelenkt wurde, beobachtet. Hier ist aber die Erscheinung nicht so deutlich, und kann nur bei einer gewissen Uebung constatirt werden. Die Ursache davon ist wahrscheinlich die, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf tactile Empfindungen zu lenken am wenigsten gewohnt sind1).\nDas Resultat dieser s\u00e4mmtlichen Versuche kann demnach folgenderma\u00dfen ausgedr\u00fcckt werden : Schwache Empfindungen, wenn wir sie\n1) Um schwache tactile Empfindungen hervorzurufen, bediente ich mich des Pu Boys Reymond\u2019schen Schlittenapparats, mit H\u00fclfe dessen es bekanntlich sehr eicht ist die St\u00e4rke des inducirten Stromes zu reguliren. Einer der Leiter wurde in die vorher nassgemachte Hand genommen, der andere, welcher eine flache Form atte, in ein Gef\u00e4\u00df mit lauwarmem Wasser gelegt. Indem wir einen Finger der anderen Hand in dieses Gef\u00e4\u00df bis zu einer gewissen Tiefe hineinsteckten, erhielten Wlr den n\u00f6thigen minimalen Reiz.","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nNicolai Lange.\nmit starker Spannung der Aufmerksamkeit beobachten, erfahren bemerkbare Schwankungen : sie erscheinen bald ziemlich deutlich, bald verschwinden sie ganz aus dem Bewusstsein. Diese Eigenschaft ist den optischen, akustischen und tactilen Empfindungen eigen, und sie ist centralen Ursprungs, d. h. diese Schwankungen sind durch entsprechende Schwankungen desjenigen Zustandes, welchen wir die sinnliche Aufmerksamkeit nennen, bedingt.\nII. Die Methode der Beobachtungen und die Periodicit\u00e4t der Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit.\nBevor wir weiter gehen, seien einige Bemerkungen \u00fcber unsere Methode der Beobachtungen vorausgeschickt. Was erstens die Regi-strirung der zeitlichen Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit bei den optischen, akustischen und tactilen Empfindungen anlangt, so habe ich dazu ein Hipp\u2019sches Chronoskop \u00e4lterer Einrichtung gebraucht, welches, wie bekannt, die Dauer zwischen der Oeffnung und der Schlie\u00dfung eines Stromes, oder in einer Nebenschlie\u00dfung die Zeit zwischen der Oeffnung und der neuen Schlie\u00dfung bis auf 0,001\" anzeigt. Es ergab sich w\u00e4hrend der Versuche, dass die registrirten Zeiten viel gr\u00f6\u00dfer als 1\" sind, so dass wir ruhig die Tausendstel und die Hundertstel der Secunde vernachl\u00e4ssigen konnten. Daher sind auch in den folgenden Tabellen die Zeiten nur bis auf 0,1\" angegeben. Die Einrichtung der Registrirapparate war die gew\u00f6hnliche, wie sie in der \u00bbPhysiol. Psychologie\u00ab von Prof. Wundt und in den \u00bbPsychometrischen Untersuchungen\u00ab von Dr. Cattell1) beschrieben ist. Die Registrirapparate waren in einem abgesonderten Zimmer aufgestellt, so dass das reagirende Subject vor jedem Ger\u00e4usch und anderen Einfl\u00fcssen vollst\u00e4ndig gesch\u00fctzt war. Die Versuche wurden am Abend gemacht,, wo der Stra\u00dfenl\u00e4rm aufh\u00f6rte; das Zimmer, in dem der Reagirende sich befand, wurde nur schwach beleuchtet. Sobald derselbe eine Zunahme der Reizschwelle bemerkte, \u00f6ffnete er allemal den elektrischen Schl\u00fcssel und setzte dadurch die Zeiger des Chronoskopes in Bewegung; bei der folgenden Zunahme schloss er den Schl\u00fcssel, wodurch die Zeiger stehen\n1) \u00bbPhysiol. Psychol.\u00ab, Cap. XVI; \u00bbPsychometr. Unters.\u00ab von Dr. Cattell. Philosoph. Stud., Bd. III.","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 403\n\"blieben; auf diese Weise konnte man die Zeit zwischen den beiden Zunahmen oder die Dauer einer Schwankung genau feststellen. Wie sich von selbst versteht, waren die Schl\u00fcssel so eingerichtet, dass sie keinen L\u00e4rm machten.\nDie Einrichtung der Versuche bei Registrirung von zwei gleichzeitigen Empfindungen war etwas complicirter. Lei diesen Versuchen benutzte ich einen von Prof. Wundt construirten Chronographen, welcher die Zeiten mit einer au\u00dferordentlichen Genauigkeit verzeichnet. Derselbe besteht im wesentlichen aus einem Cylinder, der mit einem beru\u00dften Papier umh\u00fcllt und in eine constante Bewegung durch ein Uhrwerk gesetzt wird. Auf diesen Cylinder zeichnet eine Stimmgabel ihre Schwingungen und verzeichnen drei Hebel, -welche die Anker von drei Elektromagneten bilden, drei beliebige zu registri-rende Zeitmomente. Jeder dieser Hebel wird bei Schlie\u00dfung eines entsprechenden Telegraphenschl\u00fcssels momentan angezogen, wobei die von ihm gezeichnete Linie eine entsprechende Kr\u00fcmmung macht. Auf diese Weise k\u00f6nnen sowohl die Zeiten zwischen zwei Schlie\u00dfungen eines und desselben Schl\u00fcssels, wie auch die zwischen den Schlie\u00dfungen von zwei oder drei Schl\u00fcsseln durch die Zahl der Schwingungen der Stimmgabel einfach bestimmt werden. Ich benutzte nur zwei der Hebel, wobei der eine zur Registrirung der Maxima der Geh\u00f6rsempfindungen , der andere zur Registrirung der Maxima der Lichtempfindungen diente. Die Versuche haben im Anfang f\u00fcr den Experimentator manche Schwierigkeiten und f\u00fchren daher erst nach einer bedeutenden Uebung zu vollkommeneren Ergebnissen. Ich weise hierauf hin, weil einige der beschriebenen Erscheinungen einem wenig ge\u00fcbten Experimentator, der unsere Versuche wiederholen wollte, leicht entgehen k\u00f6nnten.\nDie Resultate der ersten Reihe von Versuchen, welche die Intervalle zwischen den Schwankungen der Aufmerksamkeit (resp. der Maxima derselben) bei einer einzigen Empfindung enthalten, sind in den drei folgenden Tabellen aufgef\u00fchrt. Die Werthe sind immer in Zehntelsecunden angegeben.","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nNicolai Lange.\nTabelle I.\nGeh\u00f6rempfindungen (Tiktak der Uhr).\n\tVersuchsperson N. L.\t\t\t\t\t\t\t\tVersuchsperson J. K.\t\t\t\t\t\t\t\t\nArithm. Mittel\t38\t35\t43\t42\t39\t41\t40\t38\t32\t43\t36\t43\t30\t29\t29\t37\t35\nMittL Variation\t8\t8\t10\t13\t8\t6\t9\t7\t5\t7\t8\t5\t3\t2\t2\t8\t7\nVersuchs- Zahl\t24\t12\t19\t14\t16\t27\t110\t100\t28\t29\t21\t22\t10\t15\t17\t110\t100\nTabelle II.\nLichtempfindungen (Helmholtz\u2019sche Scheibe).\n\tVersuchsperson N.L.\t\t\t\t\t\t\t\tVersuchsperson J. K.\t\t\t\t\t\t\t\t\nAr. M.\t33\t35\t38\t33\t30\t30\t34\t34\t33\t25\t35\t32\t32\t27\t28\t31\t30\nM. Var.\t8\t6\t7\t7\t4\t4\t5\t4\t6\t4\t6\t7\t5\t3\t3\t6\t5\nV. Zahl\t22\t7\t10\t22\t27\t22\t110\t100\t27\t1.9\t24\t38\t32\t17\t10\t110\t100\nTabelle III.\nElektrische Empfindungen.\nVersuchsperson N. L.\nAr. M.\t28\t24\t31\t23\t26\t25\nM. Var.\t5\t3\t5\t4\t5\t4\nV. Zahl\t13\t22\t11\t13\t55\t50\nDie erste horizontale Reihe der Tabellen zeigt die \u00e0rithmetischen Mittel der Dauer der Schwankungen, die zweite die Zahl der Versuche f\u00fcr jeden Tag, die dritte die mittlere arithmetische Variation. Die zwei letzten verticalen Reihen zeigen f\u00fcr jede Versuchsperson die erste die allgemeinen arithmetischen Mittel aus den letzten 110 Versuchen, die zweite dieselbe nach der Eliminirung der 10 am meisten","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 405\nabweichenden Werthe. Diese letzten Werthe zeigen folglich am besten die allgemeinen Resultate der Versuche. Was die elektrischen Empfindungen anlangt, so ist, ihrer Schwierigkeit und besonders des Mangels an Zeit wegen, die Anzahl derselben eine verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringe.\nAus diesen drei Tabellen kann man sehen :\n1)\tdass die Schwankungen der Aufmerksamkeit eine allgemeine Erscheinung f\u00fcr die verschiedensten Arten von Empfindungen bilden ;\n2)\tdass sie f\u00fcr verschiedene Empfindungen verschieden sind : sie sind am langsamsten bei den Geh\u00f6rsempfindungen, schneller bei den Gesichts- und am schnellsten hei den elektrischen Tastempfindungen ;\n3)\tdass bei jeder Art der Empfindungen diese Schwankungen ziemlich constant sind, und zwar bildet ihre mittlere Variation nur den vierten Theil der ganzen Periode. Diese Variation m\u00fcssen wir bei der gro\u00dfen Schwierigkeit der Registrirung so schwacher Empfindungen als eine sehr geringe betrachten. Denn es kann sehr leicht begegnen, dass der Experimentator die Registrirbewegung um 0,5\u20141\" sp\u00e4ter macht, im Falle er nicht momentan den Anfang der Zunahme der Empfindung bemerkt. Au\u00dferdem ist es leicht, besonders bei den ersten Versuchen, ein Maximum vollst\u00e4ndig zu \u00fcbersehen, wodurch die L\u00e4nge der Periode verdoppelt wird.\nIII. Periodische Schwankungen der Erinnerungsbilder und Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit.\nNachdem die Periodicit\u00e4t der Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit experimentell festgestellt war, entstand von selbst die Frage nach ihrer Ursache. Diese Erscheinung ist in der That so merkw\u00fcrdig, sie besitzt eine solche Allgemeinheit und Constanz, dass die Erkl\u00e4rung derselben unbedingt auf das dunkle Gebiet der sinnlichen Aufmerksamkeit Licht werfen und dadurch auch zur Erkl\u00e4rung der Frage nach der M\u00f6glichkeit einer Wirkung des Willens auf die Vorstellungen, die wir im Anf\u00e4nge dieser Abhandlung gestellt, beitragen muss.\nDen ersten Leitfaden zur Entscheidung dieser Frage hat mir folgende Beobachtung gegeben. Wie bekannt, kann die Zeichnung eines dreidimensionalen Winkels in doppeltem Sinne gedeutet werden : als","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nNicolai Lange.\neine concave und als eine convexe. Noch deutlicher sieht man dies an der sogenannten Treppenfigur Schroder\u2019s. Diese Z\u00e9ichnung k\u00f6nnen wir uns hei einer gewissen Uebung entweder als eine Treppe oder als eine halbzerst\u00f6rte Mauer, woraus mehrere Steine herausgefallen sind, vorstellen. Indem wir nun die Zeichnung fixiren, k\u00f6nnen wir leicht beobachten, dass die Treppe und die Mauer unaufh\u00f6rlich wechseln, so viel wir uns auch bem\u00fchen m\u00f6chten eine von ihnen festzuhalten. Es fragt sich, worin die Ursache dieser Periodicit\u00e4t liegt?\nBei der genannten Erscheinung haben wir ohne Zweifel zwei Theile zu unterscheiden : eine reelle optische Empfindung der Zeichnung und eine gewisse subjective Vorstellung, welche dem Ganzen einen illusorischen Charakter (des Concaven oder des Convexen) mittheilt. Indem die reelle Empfindung unver\u00e4ndert bleibt1), wechseln die zwei hinzutretenden subjectiven Vorstellungen. Dieser Wechsel geschieht nun mit au\u00dferordentlicher Regelm\u00e4\u00dfigkeit. Ich habe eine bedeutende Zahl vonRegistrirun-gen desselben vorgenommen, und die folgende Tabelle gibt die mittleren Zeiten der Dauer einer jeden der zwei Vorstellungen (der concaven und convexen).\na\n\nTabelle IV.\n\tVersuchsperson N. L.\t\t\t\t\t\tVersuchsperson J. K.\t\t\t\t\nAr. M.\t30\t37\t33\t34\t'35\t35\t38\t36\t30\t35\t31\nM. Var.\t4\t5\t4\t5\t' 5\t4\t6\t5\t2\t5\t4\nV. Zahl\t30\t21\t15\t18\t55\t50\t22\t26\t15\t55\t50\nBei der Betrachtung dieser Tabelle bemerkt man sogleich, dass\n1) Wie wir sp\u00e4ter sehen werden, assimiliren sich diese Vorstellungen nicht einfach mit der reellen Empfindung, sondern verlangen zuerst besondere Augenbewegungen. Der Klarheit wegen aber lassen wir dies einstweilen bei Seite.","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00fcge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 407\ndie Periodicit\u00e4t dieser Erscheinung fast vollst\u00e4ndig mit der oben (Tab. XI) angef\u00fchrten Periodicit\u00e4t der Schwankungen der Gesichtsempfindungen \u00fcbereinstimmt. Die corrigirten Werthe sind f\u00fcr N. L. 34 und 35, f\u00fcr J. K. 30 und 31.\nWorin liegt hiernach die Ursache der Periodicit\u00e4t in den Erscheinungen der Treppenfigur ? Da die reelle Empfindung an sich immer unver\u00e4ndert bleibt, so k\u00f6nnen es nur die reproducirten k\u00f6rperlichen Vorstellungen sein, welche hier hinzutreten und sich ver\u00e4ndern, indem jede derselben (die des Convexen wie die des Concaven) , wenn wir uns auch M\u00fche geben sie festzuhalten, verdunkelt und nach einem gewissen Zeitraum (von durchschnittlich 3\") von der anderen verdr\u00e4ngt wird. Die Analogie der Erscheinung mit den oben erw\u00e4hnten einfachen Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit ist augenscheinlich: 1) bei beiden sehen wir dieselbe Periodicit\u00e4t, 2) bei beiden bleibt eine bestimmte peripherische Sinneserregung unver\u00e4ndert (da, wie schon oben nachgewiesen wurde, eine Ver\u00e4nderung der Erregung in peripherischen Organen nicht stattfindet), und 3) in beiden F\u00e4llen tritt zu dieser realen Erregung etwas weiteres hinzu. Im Falle der Treppenfigur sind dies die Erinnerungsbilder fr\u00fcher gesehener Treppen oder zerst\u00f6rter Mauern. Es liegt nahe zu vermuthen, dass auch bei dem, was wir die sinnliche Aufmerksamkeit nennen, zur realen und constant bleibenden Empfindung einfach ihr Erinnerungsbild hinzutrete , welches, indem es die actuelle Empfindung assimilirt, dieselbe verst\u00e4rkt. Dieses Erinnerungsbild beh\u00e4lt, wie uns die wechselnden Erscheinungen der Treppenfigur lehren (nach einem Gesetze, das wir unten erw\u00e4hnen wollen), seine Klarheit nicht immerfort, sondern wird bald dunkler, bald durch die Wirkung der activen Erinnerung wieder klarer, und dadurch wird dieses Erinnerungsbild die schwache reale Empfindung entweder verst\u00e4rken oder unver\u00e4ndert lassen.\nWir werden schon jetzt die;'Einfachheit und Nat\u00fcrlichkeit einer solchen Erkl\u00e4rung anerkennen. Das Erste, worin der Process der sinnlichen Aufmerksamkeit bestehen muss, ist die Einf\u00fchrung der gegebenen Empfindung in den Blickpunkt des Bewusstseins, d. h. die Bestimmung ihrer Stelle in der Reihe anderer Vorstellungen und ihre Assimilation durch fr\u00fchere \u00e4hnliche Vorstellungen. W\u00e4hrend jede andere Theorie noch irgend welche Voraussetzungen hinzuf\u00fcgen m\u00fcsste, begn\u00fcgen wir uns mit diesem unbestreitbaren Process : die hervorgerufenen Erinne-Wundt, Philos. Stud. IV.\t27","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nNicolai Lange.\nrungsbilder assimiliren sich nach dem Associationsgesetze mit der ihnen entsprechenden realen Empfindung, daher die Summe dieser Erregungen st\u00e4rker wird als jeder ihrer Bestandtheile, d. h. einerseits st\u00e4rker als die reale Empfindung, anderseits st\u00e4rker als das Erinnerungsbild. Noch mehr, diese Bestandtheile erg\u00e4nzen zugleich einander, wie es besonders bei den Erscheinungen der Treppenfigur deutlich wird. Das Erinnerungsbild verdeutlicht die schwachen Empfindungen, die letzteren aber geben dem Erinnerungsbild eine reale Unterlage. Diese gegenseitige Assimilationsh\u00fclfe der realen Empfindung und des activ hervorgerufenen Erinnerungsbildes bildet also das was wir sinnliche Aufmerksamkeit nennen.\nEs versteht sich von selbst, dass diese Hypothese, so klar und einfach sie auch erscheinen mag, einen experimentellen Beweis verlangte. Ich hoffe, dass folgende Versuche denselben liefern werden.\nBesteht der Process der sinnlichen Aufmerksamkeit wirklich in der einfachen Assimilation der realen Empfindung durch das ent* sprechende Erinnerungsbild, sind weiter die oben erw\u00e4hnten Schwankungen der mit Aufmerksamkeit beobachteten Empfindungen centralen Ursprungs, so m\u00fcssen wir nothwendig annehmen, dass diese Schwankungen nicht zum realen, sondern zum idealen Bestandteil der Aufmerksamkeit geh\u00f6ren; klarer gesagt, diese Hypothese f\u00fchrt nothwendig zur Annahme der entsprechenden Schwankungen der Erinne-rungsb ilder.\nDass die Erinnerungsbilder gewisse Schwankungen zeigen, war schon fr\u00fcher, z.B.vonFechnerbemerkt worden. Diese Schwankungen kann ein Jeder leicht beobachten, wenn er die Augen zumacht und sich M\u00fche gibt irgend einen Gegenstand, z. B. ein Haus, sich m\u00f6glichst klar concret vorzustellen. Das Erinnerungsbild wird auf einen Augenblick mit einer au\u00dferordentlichen Klarheit erscheinen, dann sich verdunkeln, und dann wieder durch neue Bem\u00fchungen hervorgerufen werden.\nIch habe eine bedeutende Anzahl von Registrirversuchen solcher periodischen Schwankungen der Erinnerungsbilder ausgef\u00fchrt, und die Resultate beweisen, meiner Meinung nach, mit Augenscheinlichkeit die Richtigkeit meiner Hypothese: die Erinnerungsbilder des Tiktaks der Uhr, der Helmholtz\u2019schen Scheibe und der tactilen Empfindungen zeigen Schwankungen, welche vollst\u00e4ndig den oben beschrie-","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activcn Apperception. 409\nbenen Schwankungen der realen Empfindungen entsprechen. Die Resultate gehe ich in den folgenden Tabellen.\nTabelle V.\nErinnerungsbilder von Geh\u00f6rempfindungen.\n\tVersuchsperson N. L.\t\t\t\t\t\tVersuchsperson J. K.\t\t\t\t\t\t\nAr. M.\t37\t37\t41\t33\t37\t36\t34\t32\t27\t26\t24\t28\t28\nM. Var.\t4\t6\t4\t3\t6\t5\t3\t3\t4\t2\t2\t4\t3\nY. Zahl\t20\t40\t27\t30\t110\t100\t20\t19\t32\t26\t19\t110\t100\nTabelle VI.\nErinnerungsbilder von Lichtempfindungen.\n\tVersuchsperson N.L.\t\t\t\t\t\t\tVersuchsperson J. K.\t\t\t\t\t\t\nAr. M.\t29\t38\t33\t28\t28\t31\t30\t30\t30\t26\t22\t25\t26\t25\nM. Var.\t6\t4\t6\t4\t3\t6\t5\t4\t3\t3\t2\t2\t4\t3\nV. Zahl\t23\t15\t31\t27\t17\t110\t100\t23\t14\t24\t29\t27\t110\t100\nTabelle VII.\nErinnerungsbilder von elektrischen Empfindungen.\n\tVersuchsp. . N. I.\t\t\t\nAr. M.\t20\t21\t21\t21\nM. Var.\t2\t2\t2\t1\nV. Zahl\t25\t35\t55\t50\nUm die Resultate dieser Tabellen mit denen der I., II. und III. Tabelle leichter vergleichen zu k\u00f6nnen, gebe ich folgende Zusammenstellung.\n27*","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nNicolai Lange.\nTabelle VIII.\n\tYersuchsp. N. L.\t\tVersuchsp. J. K.\t\n\tReale Empfin- dungen\tErinne- rungs- bilder\tReale Empfin- dungen\tErinne- rungs- bilder\nAkustische\t38\t36\t35\t28\nOptische\t34\t30\t30\t25\nElektrische\t25\t21\t\u2014\t\u2014\nAus dieser kleinen Tabelle sowie aus der Vergleichung der Einzeltabellen k\u00f6nnen wir leicht folgende allgemeine Thatsachen erschlie\u00dfen:\n1)\tDie Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit sind bei den Gesichtsempfindungen k\u00fcrzer als bei den Geh\u00f6rempfindungen, bei den elektrischen Tastempfindungen aber noch k\u00fcrzer als bei den Gesichtsempfindungen.\n2)\tDenselben Unterschied finden wir bei den Schwankungen in der Wiederkehr der Erinnerungsbilder.\n3)\tDie Schwankungen der Erinnerungsbilder sind immer etwas k\u00fcrzer, als die der realen Empfindungen (um 0,2\" bis 0,7\"). Die Ursache hiervon ist klar : in den realen Empfindungen, welche wir mit Aufmerksamkeit beobachten, verst\u00e4rken sich ihre beiden Bestandtheile (reale Empfindungen und Erinnerungsbilder) gegenseitig, und dadurch dauert jedes Maximum l\u00e4nger. Dabei verlangt auch die Assimilation dieser Bestandtheile eine gewisse Zeit, wodurch hier die Zwischenr\u00e4ume der Maxima etwas l\u00e4nger werden.\n4)\tDie Werthe sind in beiden Classen f\u00fcr N. L. etwas gr\u00f6\u00dfer als f\u00fcr J. K. (um 0,3\" bis 0,8\").\n5)\tDie mittleren Variationen der Schwankungen der Erinnerungsbilder sind im allgemeinen und relativ k\u00fcrzer als diejenigen der realen Empfindungen1). Indem die mittlere Variation fast immer der Complication des psychischen Actes proportional ist (je complicirter der Act, desto gr\u00f6\u00dfer ist die Zahl der m\u00f6glichen Abweichungen) , k\u00f6nnen wir\n1) In einem von f\u00fcnf F\u00e4llen ist sie ausnahmslos l\u00e4nger, um 0,1\" (optische Empfindungen f\u00fcr N. L.). Die Ursache davon ist zweifellos eine sehr schlecht gelungen\u00bb Beobachtungsreihe (die dritte der II. Tabelle).","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 411\nhier auch einen gewissen experimentellen Grund f\u00fcr die Richtigkeit unserer Annahme finden, dass der Act der Aufmerksamkeit eine com-plicirtere Erscheinung als der einfache Act der Erinnerung ist.\nSo m\u00fcssen wir also im ganzen annehmen, dass die Schwankungen der Erinnerungsbilder vollst\u00e4ndig den oben erw\u00e4hnten Schwankungen der Empfindungen beim Processe der sinnlichen Aufmerksamkeit entsprechen. Dieser Umstand beweist meiner Ansicht nach gen\u00fcgend die Richtigkeit der Hypothese, dass die sinnliche Aufmerksamkeit eine einfache Assimilation ist der realen Empfindung, welche unver\u00e4ndert bleibt, durch das entsprechende Erinnerungsbild, welchem die Schwankungen zukommen. Diese merkw\u00fcrdige Uebereinstimmung der Zeiten der Schwankungen beider, der sinnlichen Aufmerksamkeit und der Erinnerungsbilder , als blo\u00dfen Zufall anzusehen, ist g\u00e4nzlich unm\u00f6glich, wenn wir die Zahl der gemachten Versuche in Betracht ziehen.\nUnd doch k\u00f6nnte man gegen diese Erkl\u00e4rung der sinnlichen Aufmerksamkeit einen Einwand erheben, welcher beim ersten Anblick sehr wichtig zu sein scheint. Ist die Aufmerksamkeit eine Assimilation der realen Empfindungen durch das Erinnerungsbild, so k\u00f6nnen wir sie nicht auf uns unbekannte Objecte lenken, weil wir von solchen noch keine Erinnerungsbilder haben. Gleichwohl gibt eben dieser Einwand bei einer tieferen psychologischen Analyse den besten Beweis f\u00fcr die Theorie. Erstens m\u00fcssen wir zugeben, dass auf die Gegenst\u00e4nde , welche uns wenig bekannt sind, wir unsere Aufmerksamkeit schwerlich concentriren k\u00f6nnen. Einem Jeden ist die Thatsache bekannt , dass ein Botaniker oder Zoologe auf einmal viel mehr an einer Pflanze oder an einem Thiere bemerken kann, wenn er es will, als ein Unwissender, so viel auch der letztere sich M\u00fche geben mag seine Aufmerksamkeit auf den Gegenstand zu concentriren: der Botaniker und Zoologe haben bereits die entsprechenden Erinnerungsbilder. Weiterhin ist es bekannt, dass wir uns darin eine Uebung verschaffen k\u00f6nnen, einen bekannten Gegenstand von einer gewissen Seite mit Aufmerksamkeit zu beobachten (d. h. vieles an demselben zu bemerken) ; dadurch aber erlangen wir noch keineswegs die entsprechende F\u00e4higkeit, alle Objecte gut (d. h. mit Aufmerksamkeit) zu beobachten. Diese Erscheinung weist eben darauf hin, dass die Aufmerksamkeit keine gleichartige und unbestimmte Function ist, sondern verschiedene Functionsformen","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\tNicolai Lange.\nhat, welche den Formen der Empfindungen und Vorstellungen entsprechen.\nEndlich k\u00f6nnen wir auf zwei Erscheinungen von derselben Art hinweisen. Erstens auf die normalen Illusionen, wie z. B. die oben erw\u00e4hnte Treppenfigur u. dgl. Wenn irgend ein Gegenstand uns eine Veranlassung zu einer solchen Elusion gibt, so werden nur jene seiner Eigenschaften bei der Verst\u00e4rkung der Aufmerksamkeit deutlicher hervortreten, welche der Illusion entsprechen, w\u00e4hrend die anderen trotz der Aufmerksamkeit unbemerkbar bleiben. H\u00e4tte die Aufmerksamkeit eine allgemeine F\u00e4higkeit, alle unsere realen Empfindungen (nicht nur jene, deren Erinnerungsbilder schon im Bewusstsein vorhanden sind) zu verst\u00e4rken, so w\u00fcrde ihre Concentration zur Aufhebung der Illusion f\u00fchren, denn sie h\u00e4tte in diesem Falle alle Eigenschaften des Objectes gleich verdeutlicht, und nicht nur diejenigen, welche wir bei ihm schon zu sehen glauben. Und doch zeigt die Wirklichkeit ganz das Gegentheil: die Richtung der Aufmerksamkeit auf das Object der Illusion verst\u00e4rkt dieselbe, und diese verschwindet nur in dem Falle, wenn wir die Aufmerksamkeit zuf\u00e4llig sinken lassen. Als\u00bb k\u00f6nnen wir hier ganz deutlich sehen, dass die Aufmerksamkeit keine mysteri\u00f6se Kraft besitzt, alle Empfindungen zu verst\u00e4rken, sondern sie bewirkt dies nur bei denen, deren Erinnerungsbilder unserem Bewusstsein schon disponibel sind. Indem wir diese letzteren hervorrufen (wie das m\u00f6glich ist, wird sp\u00e4ter gezeigt), bewirken wir ihre Assimilationen mit den unver\u00e4ndert bleibenden realen Empfindungen.\nDie zweite Erscheinung, worauf wir hinweisen wollen, ist die fast vollst\u00e4ndige Unf\u00e4higkeit der Kinder ihre Aufmerksamkeit activ zu concentriren. Dies erkl\u00e4rt sich daraus, dass sie wenig Erinnerungsbilder haben, welche die realen Empfindungen assimiliren k\u00f6nnten. Dass im allgemeinen alle neuen Empfindungen zuerst dem Menschen trotz seiner vollen Aufmerksamkeit undeutlich bleiben, k\u00f6nnen wir bei Kranken beobachten, welche erst mit der Zeit, n\u00e4mlich wenn sie genug von den entsprechenden Erinnerungsbildern gesammelt haben, ihre freilich schwachen, krankhaften Empfindungen mitAufmerksamkeit zu fixiren erlernen. Diese Empfindungen sind n\u00e4mlich der Art, dass sie dem Menschen oft vor der Krankheit ganz unbekannt .waren. Wenn wir also einen uns unbekannten Gegenstand mit Aufmerksamkeit betrachten, so verst\u00e4rken wir (durch Erinnerungen) nur jene seiner Eigen-","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00fcge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 413\nsch\u00e4ften einzeln, welche uns schon fr\u00fcher im allgemeinen n\u00e4her bekannt waren (verschiedene Farben, Formen, Schalle u. s. w); zu derselben Zeit aber rufen wir in unserem Bewusstsein die Erinnerungsbilder, welche diesem ganzen Gegenst\u00e4nde entsprechen k\u00f6nnen, hervor. Bei jedem von diesen Erinnerungsbildern verst\u00e4rken wir momentan (durch die Assimilation mit einem bestimmten Erinnerungsbild) diese oder jene Eigenschaften des Gegenstandes, aber niemals alle auf einmal. Die Schnelligkeit dieses Wechsels der Erinnerungen aber und besonders der entsprechenden Verst\u00e4rkungen der bestimmten Eigenschaften des Gegenstandes ist so gro\u00df, dass wir sie kaum bemerken k\u00f6nnen und den ganzen Process nur einfach als eine allgemeine Erregung bei der aufmerksamen Betrachtung des unbekannten Gegenstandes auffassen.\nIV. Die Theorie der activen Apperception.\nWir begannen unsere Abhandlung mit der Frage: was ist die active Apperception, oder wie ist die Wirkung des Willens auf die Vorstellungen m\u00f6glich\"? Zur Entscheidung dieser Frage hatten wir zuerst jene Wirkung des Willens genommen, welche besonders merkw\u00fcrdig ist : die Wirkung des Willens auf die Kraft der realen Empfindungen oder den Process der sinnlichen Aufmerksamkeit. Diesen Process haben wir jetzt in einfachere Erscheinungen zerlegt: n\u00e4mlich in die Verbindung (Assimilation) der realen Empfindung mit ihrem Erinnerungsbilde. Die Frage aber \u00fcber den letzten Grund der Wirkung des Willens auf die Vorstellungen ist hiermit noch nicht gel\u00f6st, sondern nur vereinfacht. Diese Wirkung hat zwei Formen: die active Apperception der realen Empfindungen (d. h. die sinnliche Aufmerksamkeit) und die active Apperception der Erinnerungsbilder (d. h. die active Fixirung der Vorstellungen). Bis dahin haben wir nur die erste Erscheinung auf die zweite reducirt, diese letzte aber, die M\u00f6glichkeit die Erinnerungen activ hervorzurufen und zu fixiren, bleibt ebenso dunkel wie vorher. Wir wollen jetzt zu dieser zweiten Frage \u00fcbergehen und sie zu l\u00f6sen versuchen. Aber schon hier m\u00fcssen wir bemerken, dass die unten ausgef\u00fchrte Theorie nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche Hypothese ist, und dass sie ihre vollst\u00e4ndige Begr\u00fcndung nur in einer tieferen psychologischen Analyse finden kann, als unsere Abhandlung sie zu geben vermag.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nNicolai Lange.\nWir wollen mit der Feststellung des Wesens unserer Theorie der activen Apperception anfangen. Die active Apperception, d. h. die merkw\u00fcrdige F\u00e4higkeit einige unserer Vorstellungen (nach irgend welchen Motiven) willk\u00fcrlich zu verst\u00e4rken (ohne R\u00fccksicht auf ihre objective Intensit\u00e4t), ist nach unserer Meinung im Grunde nur durch die willk\u00fcrlichen Bewegungen m\u00f6glich. Wir haben, wollen wir annehmen, eine gewisse Vorstellung A. Man kann sich nun fast eine jede Vorstellung als aus zwei Theilen bestehend denken: der eine derselben kann nur durch irgend eine Bewegung von uns aufgefasst werde\u00fc (z. B. eine r\u00e4umliche Form des Gegenstandes, welche wir durch Augenbewegungen auffassen), der zweite Theil dagegen bildet einen Complex rein qualitativer Eigenschaften. Wenn wir jetzt dieselbe Bewegung, wodurch wir vorhin den ersten Theil der Vorstellung auffassten, von neuem wiederholen wollen, so ist es selbstverst\u00e4ndlich, dass die Wiederbelebung dieses Theiles der Vorstellung auch zur Wiederbelebung des zweiten Theils derselben durch Association f\u00fchren wird, und auf diese Weise wird auch die ganze Vorstellung mit neuer Kraft im Bewusstsein hervorgerufen. Das alles geschieht freilich in der Voraussetzung, dass die Vorstellung besondere, durch irgend welche Bewegungen erkennbare Merkmale besitzt. Sind solche Merkmale nicht vorhanden, so kann die Vorstellung A im Bewusstsein nicht activ hervorgerufen werden, oder kann es nur indirect durch eine andere mit ihr associirte Vorstellung B, welche dieses motorische Element enth\u00e4lt. Einfach gesagt, l\u00e4sst sich unser Einfluss auf die Vorstellungen nur durch die indirecte Wirkung des Willens erkl\u00e4ren: die Vorstellungen besitzen so zu sagen ein H\u00e4kchen, die motorischen Merkmale, woran wir nur zu ziehen brauchen, um das Ganze herauszuheben.\nDie folgende Reihe von Argumenten kann wenn auch nicht zum Beweis, so wenigstens zur Erkl\u00e4rung der Hypothese dienen.\nWas erstens die Existenz eines bedeutenden motorischen Elementes in den Erinnerungsbildern anlangt, so kann man sie schwerlich bestreiten , besonders nach den bekannten Versuchen der sogenannten \u00bbsuggestion mentale\u00ab, ein Process, den man auf die Weise erkl\u00e4rt, dass, indem wir uns eine Bewegung klar und intensiv vorstellen, wir auch dieselbe real in einem gewissen Grade hervorbringen. Der Unterschied aber zwischen dieser Erkl\u00e4rung und der unsrigen ist ziemlich gro\u00df: die erste deducirt eine schwache Bewegung aus der starken willk\u00fcrlichen","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 415\nVorstellung, wir aber bem\u00fchen uns hier zu beweisen, dass eine schwache activeBewegung (oderein entsprechender und auch activhervorgerufener Innervationsimpuls) das erste Glied bildet, und das klare, sogenannte willk\u00fcrliche Erinnerungsbild das zweite Glied, welches aus dem ersten entsteht.\nDassin den optischen Vorstellungen ein gewisser motorischer Process, welcher die r\u00e4umlichen Formen der Vorstellung activ wiederbelebt (als Ursache), der Wiedererneuerung der anderen, rein qualitativen Seiten der Vorstellung vorangeht, davon kann sich ein Jeder leicht \u00fcberzeugen, im Falle er eine dazu gen\u00fcgende Uebung besitzt. Bei meinen Versuchen der Registrirung der Erinnerungsbilder der Helmholtz\u2019schen Scheibe bemerkte ich allemal leicht, dass ich zuerst mit den Augen eine der Form des Kreises entsprechende Bewegung machte und auf diese Weise eine deutliche Vorstellung des ganzen Kreises bekam, und erst darauf entstand bei mir durch die Association eine deutliche Erinnerung an andere seiner Eigenschaften (der wei\u00dfen und grauen Streifen).\nUm diese Beobachtung auszuf\u00fchren, braucht der Leser nur die Augen zuzumachen und sich dabei irgend ein en r\u00e4umlichen Gegenstand zu denken, z. B. einen Bleistift. Er wird dabei leicht bemerken, dass er anfangs eine leise, der geraden Linie entsprechende Bewegung macht, manchmal tritt auch eine schwache Innervationsempfindung in der Hand hinzu, als ob sie die Oberfl\u00e4che des Bleistiftes ber\u00fchrte *).\nNoch complicirter als bei den optischen Vorstellungen ist der Process der activen Erinnerung bei den akustischen. In diesem Processe (in unseren Versuchen die Erinnerungen an das Uhrentiktak und das T\u00f6nen einer Stimmgabel) habe ich manche Uimvege, die wir unbewusst machen, constat\u00e2t Erstens geben wir dem K\u00f6rper oft dieselbe Stellung\n1) Dr. J. Loeb ; \u00bbLieber die optische Inversion ebener Linearzeichnung bei ein\u00e4ugiger Betrachtung\u00ab, Archiv f\u00fcr die ges. Physiol., Bd. XL) hat gezeigt, dass bei dem willk\u00fcrlichen Wechsel des concaven Bildes zum convexen und umgekehrt die verschiedenen Grade der Accommodation eine wichtige Rolle spielen. Demnach findet sich auch hier ein motorisches Antecedens. Besonders interessant ist aber f\u00fcr uns die folgende Beobachtung Loeb\u2019s: \u00bbMan lege die Zeichnung auf einen harten, unnachgiebigen Gegenstand, z. B. ein Buch. Wenn man dann mit einem Bleistift gegen die convexe Kante dr\u00fcckt, so scheint dieselbe dem Druck nachzugeben und hinter die Ebene des Papiers zur\u00fcckzutreten\u00ab, und dadurch wird auch das convexe Bild zum concaven ver\u00e4ndert. Hier ist es ganz klar, dass die willk\u00fcrliche Innervationsempfindung in der Hand die entsprechende Vorstellung hervorruft.","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nNicolai Lange.\n(oder machen blo\u00df schwache Innervationsimpufse dazu), in der wir den wirklichen Schall vernahmen ; wollen wir uns z. B. den Stra\u00dfenl\u00e4rm deutlich vorstellen, so wenden wir uns etwas zum Fenster. Zweitens, was noch \u00f6fter geschieht, erinnern wir uns im voraus an die optische Vorstellung, welche mit unserem Schall associirt war (aber auch diese entsteht nicht direct, sondern durch Augenbewegungen); z. B. wollen wir uns an das L\u00e4uten zur Kirche erinnern, so stellen wir uns die Theile der Glocke oder sogar einfach den Glockenthurm vor. Oder, drittens, ahmen wir durch irgend welche unserer Bewegungen den Rhythmus des zu erinnernden Schalls nach. Endlich haben wir noch ein, und dabei das wichtigste, Mittel die akustischen Erinnerungen activ hervorzurufen \u2014 das ist unser Stimmapparat. Der Stimmapparat ist ein \u00e4hnliches Organ der activen Erinnerung wie der Bewegungsapparat des Auges. Dass in der That eine jede unserer abstracten Vorstellungen und, noch mehr, jede akustische sich mit dem verbindet, was die Psychologen \u00bbdas innere Wort\u00ab nennen, \u2014 das kann man nach den Arbeiten von Stricker und anderen neueren Beobachtungen kaum bestreiten. Diese Erscheinung kann ein Jeder leicht beobachten, wenn er irgend eine abstracte Vorstellung fixirt: er wird sich leicht davon \u00fcberzeugen, dass er dabei das dem Begriffe entsprechende Wort, so zu sagen, bei sich ausspricht, oder doch den Trieb es auszusprechen empfindet. Wie aber in der Erkl\u00e4rungder \u00bbsuggestion mentale\u00ab, so haben auch hier, in der Theorie des \u00bbinneren Wortes\u00ab die Forscher den letzten wichtigen Schritt noch nicht gemacht: sie haben festgestellt, dass gewisse motorische Erscheinungen mit gewissen optischen und akustischen Vorstellungen eng verbunden sind, \u2014 sie haben aber nicht darauf hingewiesen, dass die ersteren den letzteren vorangehen, und eben deft Theil des psychischen Lebens bilden, durch den das Individuum allm\u00e4hlich dieF\u00e4higkeit7seineErinnerungen activ hervorzurufen,erwirbt.\nIn diesem Falle ist die Bedeutung des inneren Wortes so au\u00dferordentlich gro\u00df, dass wir mit Recht sagen k\u00f6nnen, dass die M\u00f6glich* keit des abstracten und activen Denkens nur durch dasselbe entsteht. Wenn wir also irgend einen abstracten Begriff hervorrufen oder flxiren wollen, so bringen wir immer einfach das innere Wort hervor, und auf diese Weise bekommen wir auch die entsprechende Vorstellung. Also auch hier kann der Mensch keinen directen Einfluss auf seine Vorstellungen, aus\u00fcben, sondern nur einen indirecten durch active Be-","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge iur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activai Apperception. 417\nwegungen oder durch die ihnen entsprechenden schwachen Innervations-empfindungen.\nWas die dritte Art der von mir beobachteten activen Erinnerungsbilder , n\u00e4mlich die tactilen anlangt, so haben wir es hier mit einem einfacheren Processe zu thun : diese Erinnerungsbilder rufen wir durch den einfachen Innervationsimpuls, den wir dem entsprechenden K\u00f6rper-theil zusenden, hervor.\nHier wird die richtige Stelle sein eine Beobachtung, welche meiner Ansicht nach ein entscheidender Beweisgrund f\u00fcr meine Theorie ist, anzuf\u00fchren. Der Hauptpunkt dieser Theorie kann in Bezug auf die optischen Empfindungen folgenderma\u00dfen ausgedr\u00fcckt werden: unmittelbar k\u00f6nnen wir (durch Bewegung oder Innervationsimpulse) blo\u00df di\u00e8 F o r m e n hervorrufen und verst\u00e4rken ; die Farben aber nur mittelbar, n\u00e4mlich durch die Formen. Dass dies wirklich der Fall ist, beweist nun folgende Beobachtung. Wie bekannt, k\u00f6nnen wir mit H\u00fclfe des Stereoskops die merkw\u00fcrdigen Erscheinungen des Wettstreites der Sehfelder beobachten. Wenn wir zwei Farben, z. B. Roth und Blau, mit verschiedenen Augen im Stereoskop fixiren, so bekommen wir den Eindruck der violetten Farbe, oder richtiger einer Farbe, welche durch die andere durchschimmert, d. h. eine Erscheinung, welche v\u00f6llig der des Glanzes entspricht (Dove\u2019scher Glanz). Sind beide Farben von derselben Intensit\u00e4t und S\u00e4ttigung gew\u00e4hlt worden, so erhalten wir eine ganz constante und unver\u00e4nderliche Empfindung ; wir bemerken nicht nur keinen unwillk\u00fcrlichen Wechsel in dieser gemischten optischen Empfindung, sondern, obgleich wir wissen, dass wir in der Wirklichkeit diese beiden Farben einzeln betrachten, so k\u00f6nnen wir s.ie doch nicht unterscheiden ; klarer gesagt, unsere Aufmerksamkeit direct auf den Eindruck jeder Farbe einzeln zu lenken, dadurch diese Empfindung zu verst\u00e4rken und so dieselbe aus dem Complexe herauszuheben, sind wir nicht im Stande; d. h. einen directen Einfluss der Aufmerksamkeit auf die rein qualitativen optischen Empfindungen besitzen wir nicht. Wenn wir aber jetzt eine Ver\u00e4nderung in diesem \u2019 ersuche einf\u00fchren, n\u00e4mlich auf dem einen farbigen Papiere horizontale und auf dem anderen verticale Streifen zeichnen, so werden die Erscheinungen sogleich ver\u00e4ndert: wir sind jetzt im Stande den zusammengesetzten Eindruck der violetten Farbe in seine Bestandtheile zu zerlegen ; oder richtiger, indem unsere Augen in der horizontalen","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nNicolai Lange.\noder verticalen Richtung sich bewegen, k\u00f6nnen wir willk\u00fcrlich den einen oder den andern Farbeneindruck im Bewusstsein hervorheben.\nWodurch ist diese Ver\u00e4nderung entstanden? Weswegen mischen sich nicht die horizontalen und verticalen Streifen gleich den Farben? oder, wenn wir auch gelegentlich den Eindruck von Quadraten bekommen , weshalb k\u00f6nnen wir doch jede Zeichnung einzeln willk\u00fcrlich hervortreten lassen? Gewiss nur dadurch, dass die Richtungen und Formen denjenigen Theil der optischen Vorstellungen bilden, auf den wir einen directen Einfluss durch willk\u00fcrliche Augenbewegungen aus\u00fcben k\u00f6nnen. Die Ver\u00e4nderung also, die wir in unserer Erscheinung eingef\u00fchrt haben, ist folgende : zu rein qualitativen und dadurch von unserer Aufmerksamkeit unabh\u00e4ngigen Farbenempfindungen sind jetzt jene Empfindungen hinzugetreten, welche wir willk\u00fcrlich fixiren und dadurch hervortreten lassen k\u00f6nnen. Auf diese Weise haben wir auch mittelbar den Einfluss auf die mit ihnen verbundenen rein qualitativen Empfindungen erlangt, d. h. wir k\u00f6nnen auch diese fixiren und aus dem Complexe herausheben. Dieser Versuch beweist, meiner Ansicht nach mit Augenscheinlichkeit, dass in den willk\u00fcrlichen Erinnerungen immer motorische Elemente existiren.\nHier wird es vielleicht nicht \u00fcberfl\u00fcssig sein noch eine Voraussetzung zu betonen, welche mit den oben angef\u00fchrten Hypothesen eng verbunden ist. Wie bekannt, unterscheidet sich das Ohr von dem Auge durch seine analysirende F\u00e4higkeit. In Accorden k\u00f6nnen wir einzelne T\u00f6ne unterscheiden, bei den zusammengesetzten Farben aber haben wir eine ganz homogene Empfindung. Diesen Unterschied erkl\u00e4rt man durch die Structur des Corti\u2019schen Organs, welches den zusammengesetzten Klang in seine Elemente zerlegt. Dass diese Erkl\u00e4rungh\u00f6chst wahrscheinlich ist, wird Niemand bestreiten, und doch ist es schwer, sie als eine gen\u00fcgende anzunehmen. Denn auch das Auge wird vielleicht gewisse Apparate zur Wahrnehmung einzelner Farben besitzen, wenigstens macht die Young-Helmholtz\u2019sche Theorie eine derartige Voraussetzung. Auf der anderen Seite, obgleich das Ohr einen analy-sirenden Apparat besitzt, machen die Geh\u00f6rsempfindungen oft bei einer geringen Uebung den Eindruck eines untheilbaren Ganzen, so z. B. k\u00f6nnen wir die Obert\u00f6ne von den Hauptt\u00f6nen nur unter gewissen Umst\u00e4nden unterscheiden.\nEndlich, welches die physiologische Erkl\u00e4rung dieser Erschei-","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Beitrage zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der actiren Apperception. 419\nnung auch sein mag, so muss sie doch ein psychologisches Correlat haben. Indem wir dieselbe eben von dieser Seite betrachten, finden wir sie aber durch die oben erw\u00e4hnte Theorie gen\u00fcgend erkl\u00e4rt. Die akustischen Empfindungen unterscheiden sich n\u00e4mlich von denen der Farben dadurch, dass wir die ersten direct (durch unseren Stimmapparat und die entsprechenden Innervationsempfindungen) willk\u00fcrlich verst\u00e4rken und dadurch zerlegen k\u00f6nnen ; bei den zweiten aber, wie wir es in unseren Versuchen mit dem Stereoskop deutlich sehen, ist dies nicht der Fall. Freilich haben die sehr hohen und sehr niedrigen T\u00f6ne keine entsprechenden in unserer Stimme, daf\u00fcr kann man sie aber indirect, z. B. durch entsprechende mittlere Octaven, fixiren. W\u00e4ren also unsere Farbenempfindungen mit gewissen Innervationsempfindungen, welche wir willk\u00fcrlich hervorrufen k\u00f6nnen, nothwendig verbunden (wie es im Stereoskope der Fall war), so w\u00e4re es dann vielleicht auch m\u00f6glich , dass die uns mangelnde F\u00e4higkeit, die zusammengesetzten Farben willk\u00fcrlich in ihre Bestandtheile zu zerlegen, existirte. In solchem Falle k\u00f6nnten wir die entsprechende Innervationsempfindung willk\u00fcrlich hervorrufen und dadurch die mit ihr verbundene Farbenempfindung verst\u00e4rken, fixiren und endlich aus dem Complexe ausscheiden.\nMit dieser vielleicht etwas zu k\u00fchnen Er\u00f6rterung schlie\u00dfen wir unsere Analyse der Theorie der activen Apperception und gehen zur letzten Frage \u00fcber, n\u00e4mlich zu der Frage der allgemeinen Theorie der periodischen Erscheinungen im Bewusstsein.\ni,V. Theorie der periodischen Erscheinungen im Bewusstsein.\nIn den ersten drei Abschnitten haben wir die Schwankungen der activen Apperception in den Gebieten der sinnlichen Aufmerksamkeit und willk\u00fcrlichen Erinnerung untersucht. Mit H\u00fclfe der eben angef\u00fchrten Theorie der activen Apperception wird es uns nun leicht gelingen die letzte Ursache dieser Schwankungen zu erkl\u00e4ren. Besteht der Process dieser Apperception in der activen Fixirung der bestimmten Vorstellungen durch die entsprechenden motorischen oder Innervationsimpulse , so m\u00fcssen wir uns denselben als eine Reihe folgender Erscheinungen denken :","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nNicolai Lange.\na)\tder* Wille eine bestimmte Vorstellung zu verst\u00e4rken oder hervorzurufen,\nb)\tdie entsprechende Bewegung und der Innervationsimpuls,\nc)\tdie Verst\u00e4rkung der mit dieser Bewegung associirten Vorstellung, und endlich\nd)\tdie centrale Erm\u00fcdung, welche nach 2 bis 4\" eintritt.\nIn dieser Periodicit\u00e4t der Erscheinungen der activen Apperception haben wir wahrscheinlich die Ursache aller anderen Periodicit\u00e4t im Bewusstsein, welche, wie bekannt, erstens beim Tonged\u00e4chtnissund zweitens beim Zeitsinne 1 2) gefunden wurde.\t.\nWas die Untersuchungen von Dr. Wolfe \u00fcber die Pr\u00e4cision des Tonged\u00e4chtnisses in der Abh\u00e4ngigkeit von der Zeit anbetrifft, so hat derselbe gefunden, dass diese Pr\u00e4cision eine periodische Function der Zeit ist. Abgesehen von den von Wolfe auf S. 553 erw\u00e4hnten gr\u00f6\u00dferen Schwankungen, deren Ursachen noch der n\u00e4heren Untersuchung bed\u00fcrfen , ergaben sich n\u00e4mlich regelm\u00e4\u00dfig bei den k\u00fcrzeren Zwischenzeiten kleinere Schwankungen, wie dies besonders aus seinen graphischen Darstellungen (Taf. V Bd. III dieser Studien) erhellt. Hier fallen die anf\u00e4nglichen relativen Maxima, die demnach Abnahmen in der Schnelligkeit der Senkung des Erinnerungsbildes bedeuten, auf folgende Zeiten:\nL\t2,25\", 5\"\t\nW\t2\"\t4\"\n\u00a3\t2\" , 4,5\"\t\nA\t2\"\t5\"\nT\t2,5\", 4,5\"\t\nDiese Werthe stehen den unsrigen ziemlich nahe; sie w\u00e4ren vielleicht ihnen noch n\u00e4her und constanter, wenn die Zahl der Versuche von Wolfe gr\u00f6\u00dfer w\u00e4re. Was aber besonders interessant ist, ist der von Wolfe constatirte Umstand, dass das Ged\u00e4chtniss nicht in dem ersten Momente nach der realen Auffassung besonders genau ist (wie das a priori vorausgesetzt werden k\u00f6nnte), sondern erst nach einem Zwischenraum von 1 y2 oder 2\". Dieser Zwischenraum ist eben dazu\n1)\tUntersuchungen \u00fcber das Tonged\u00e4chtniss von Dr. Wolfe. Philosophische Studien III. 4.\n2)\tZur Lehre vom Zeitsinn von Max Mehner, Philos. Studien II. 4. Neue Versuche \u00fcber den Zeitsinn von Volkmar Estel, Philos. Studien II. 1.","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception. 421\nnothwendig, damit die erste Schwankung der Aufmerksamkeit oder der Erinnerung vollendet wird, d. h. damit die zu erinnernde Vorstellung durch die InnervationsempfindungimBewusstseinhervorgerufenwerden kann.\nWas zweitens den Zeitsinn anbelangt, so wurde auch hier die Genauigkeit der Sch\u00e4tzung durch die Untersuchungen von Estel und Mehner als eine periodische Function nachgewiesen. Doch ist hierbei folgendes zu bemerken. Der Zeitsinn besitzt gewiss keinen absoluten Ma\u00dfstab, wir sch\u00e4tzen aber die Zeitr\u00e4ume entweder mittelst der Reihenfolge einiger \u00e4u\u00dferer Erscheinungen oder, im Falle ihrer Abwesenheit, durch irgend welche regelm\u00e4\u00dfige Ver\u00e4nderungen im psychischen Leben. Ich halte es f\u00fcr sehr m\u00f6glich, dass zu einem derartigen Ma\u00dfstabe unsere oben beschriebenen Schwankungen der activen Apperception und, in jedem bestimmten F alle die Schwankungen irgend welcher Erinnerungsbilder, dienen. Es ist aber h\u00f6chst wahrscheinlich, dass in der Regel nicht eine ganze solche Schwankung unsere nat\u00fcrliche Einheit des Zeitma\u00dfes bildet, sondern nur der dritte Theil derselben. Wir k\u00f6nnen n\u00e4mlich in jeder solchen Schwankung drei Stadien unterscheiden : 1) den Innervationsimpuls, 2) das Hervortreten der mit ihm associirten Vorstellung, und 3) das Sinken der letzteren. Ist unsere Vermuthung richtig, so m\u00fcsste unsere Einheit des Zeitsinnes ungef\u00e4hr einer Secunde gleich sein (ein Drittel der ganzen Periode der Schwankung), die Zeiten aber, welche kleiner als eine Secunde sind, werden wir \u00fcbersch\u00e4tzen. Estel und Mehner haben in Wirklichkeit experimentell ann\u00e4hernd diese Zeit gefunden ; nach ihren Untersuchungen ist n\u00e4mlich die genannte Periode gleich 0,7\". Man kann jedoch vermuthen, dass die Periodicit\u00e4t des Zeitsinnes in verschiedenen Sinnesgebieten nicht dieselbe ist, sondern dass die durch Tastempfindungen gegebenen Zeitintervalle vielleicht besonders genau gesch\u00e4tzt werden.\nHiermit schlie\u00dfen wir diese Er\u00f6rterung, deren Hauptresultate wir in den drei folgenden S\u00e4tzen zusammenfassen:\n1)\tDie sinnliche Aufmerksamkeit ist eine einfache Assimilation der realen Empfindung durch das activ hervorgerufene Erinnerungsbild.\n2)\tDie Erinnerungsbilder activ hervorrufen k\u00f6nnen wir nur durch willk\u00fcrliche Innervationsimpulse oder Bewegungen, welche mit diesen Erinnerungsbildern associirt sind. Diesen Process nennen wir die active Apperception.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nNicolai Lange. Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit etc.\n3) Die Schwankungen der activen Apperception sind durch die allgemeine Relativit\u00e4t der psychischen Erscheinungen bedingt und bilden ihrerseits die Ursache aller anderen Periodicit\u00e4t im Bewusstsein, wie dieselbe in den Schwankungen der sinnlichen Aufmerksamkeit beim Zeitsinne und in den periodischen Erscheinungen des Ged\u00e4chtnisses ausgedr\u00fcckt ist.","page":422}],"identifier":"lit4150","issued":"1888","language":"de","pages":"390-422","startpages":"390","title":"Beitr\u00e4ge zur Theorie der sinnlichen Aufmerksamkeit und der activen Apperception","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:31:54.673484+00:00"}