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{"created":"2022-01-31T12:37:15.377139+00:00","id":"lit4153","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Lange, Ludwig","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 4: 479-510","fulltext":[{"file":"p0479.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke.\nVon\nLudwig Lange. Erster Artikel. Mit vier Holzschnitten.\nUie experimentellen Untersuchungen, deren Ergebnisse im Nach-folgenden ver\u00f6ffentlicht sind, haben von einer specielleren Frage ihren Ausgang genommen, von der Frage n\u00e4mlich, welchen Einfluss der Zustand der Erwartung auf die Apperception von Sinneseindr\u00fccken aus\u00fcbt. Es erschien von vornherein wohl kaum zweifelhaft, dass die apperceptive Erfassung eines Eindruckes um so schneller erfolgt, je gespannter derselbe erwartet wird; allein von der objectiven Bedeutung dieses Einflusses der Erwartung konnte man zun\u00e4chst nur mit H\u00fclfe des Experimentes ein klares Bild zu gewinnen hoffen.\nAls n\u00e4chstliegender Weg f\u00fcr eine derartige experimentelle Untersuchung bot sich der schon so vielfach zu \u00e4hnlichen Zwecken betretene Weg der Messung von Reactionszeiten dar. In der That war zu vermuthen, dass die den Umst\u00e4nden entsprechenden Verl\u00e4ngerungen oder Verk\u00fcrzungen der Apperceptionsdauer in parallelgehenden Verl\u00e4ngerungen und Verk\u00fcrzungen der Reactionszeit ihren Ausdruck finden w\u00fcrden; und man durfte also hoffen, wenn auch nicht die verschiedenen Werthe der Apperceptionszeit selbst, so doch wenigstens ihre Differenzen ermitteln zu k\u00f6nnen.\nMehr Schwierigkeiten, als die vergleichende Zeitmessung selbst,","page":479},{"file":"p0480.txt","language":"de","ocr_de":"480\nLudwig Lange.\nschien die Orientirung \u00fcber den jeweils vorliegenden Spannungsgrad der Erwartung darzubieten. Man bedarf geringer Ueberlegung, um sich zu \u00fcberzeugen, dass es an einem directen objectiven Ma\u00df f\u00fcr diesen Spannungsgrad vollkommen gebricht, und dass eine auf die Apperceptionsdauer sich st\u00fctzende mittelbare Ma\u00dfbestimmung, wie sie in anderen F\u00e4llen ganz angebracht sein k\u00f6nnte, im vorliegenden Falle schlechterdings auf einen Cirkel hinauslaufen w\u00fcrde. Man musste der Sache also von einer anderen Seite beizukommen suchen, und hier er\u00f6ffnete sich der folgende Weg, auf dem man immerhin erwarten durfte, gewisse vorl\u00e4ufige Ergebnisse als Grundlage sp\u00e4terer Untersuchungen zu gewinnen.\nWenn der Reagent, d. h. die Person, welche auf den fraglichen Sinneseindruck durch eine Bewegung reagiren soll, vermittelst eines Signales (Avertissements) darauf hingewiesen wird, dass der Eindruck unmittelbar bevorsteht, so wird der vorher absichtlich minimal erhaltene Spannungsgrad seiner Erwartung von dem Augenblicke dieses Signales an stetig zunehmen, ein Maximum erreichen, alsdann eine Zeit lang wesentlich unver\u00e4ndert bleiben, endlich aber in eine krampfartige Oscillation g\u00e9ra then. Macht man also das zeitliche \u00bbIntervall\u00ab zwischen Signal und Haupteindruck (so nenne ich den Eindruck, auf den reagirt werden soll) verschieden gro\u00df, so wird der letztere bei verschieden hohem Spannungsgrade der Erwartung eintreten. Und wenn man die verschieden gro\u00dfen Intervallen entsprechenden Reactionszeiten ermittelt, so wird die durch Coordination zusammengeh\u00f6riger Werthe gegebene Functionsbeziehung Anhalt genug bieten, um \u00fcber die Frage, von der wir ausgingen, einiges Licht verbreiten zu k\u00f6nnen.\nUntersuchungen \u00fcber die Abh\u00e4ngigkeit zwischen dem \u00bbIntervall\u00ab und der Reactionszeit sind beil\u00e4ufig und in beschr\u00e4nkter Anzahl schon von Anderen mitgetheilt worden. Ich komme auf diese Andeutungen bei passenderer Gelegenheit zur\u00fcck.\nDas Sinnesgebiet, auf welchem wir zun\u00e4chst zu experimentiren begannen, war das Geh\u00f6r, f\u00fcr welches eine zweckentsprechende Versuchsanordnung, wie die nachfolgend beschriebene, verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig am einfachsten hergestellt werden konnte.","page":480},{"file":"p0481.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 481\nL Die Versuchsanordiiuiig f\u00fcr Schallreactioneu. Grunds\u00e4tze f\u00fcr die Berechnung der erhaltenen Zeiten.\nDie hervorstechendste Eigent\u00fcmlichkeit unserer Anordnung lag darin, dass der Experimentator und das Object der psychologischen Untersuchung, d. h. der Eeagent, in zwei (durch mehrere Th\u00fcren von einander getrennten) verschiedenen Zimmern untergebracht waren, in \u00e4hnlicher Weise, wie dies bei den Versuchen von Tiger-stedt und Bergqvist1) der Fall war. Als Signal f\u00fcr den Eeagenten diente ein vom Experimentatorenzimmer aus hervorgebrachter einmaliger kurzer Anschlag einer elektrischen Glocke; als Haupteindruck ferner der Schall, welcher dadurch entstand, dass ein elektromagnetisch vom Experimentatorenzimmer aus bewegter Schlaghammer2) auf einen unter ihm liegenden Amboss kr\u00e4ftig aufschlug.\nDie von uns angewandte Aufstellung der Versuchsanordnung in zwei getrennten E\u00e4umen ist bei allen Eeactionsversuchen nat\u00fcrlich schon um deswillen sehr zu empfehlen, weil dadurch die von den Zeitmessungsapparaten ausgehenden st\u00f6renden Ger\u00e4usche unsch\u00e4dlich gemacht werden. F\u00fcr unsere Zwecke war sie aber sogar unumg\u00e4nglich nothwendig; denn die Manipulationen, welche kurz vor jedem Versuch an den Zeitmessungsapparaten vorgenommen werden m\u00fcssen, bringen stets Ger\u00e4usche mit sich, welche bei ungetrennter Versuchsanordnung als unbeabsichtigte Signale wirken und insofern die geforderten Versuchsbedingungen verunreinigen w\u00fcrden.\nVon der ganzen f\u00fcr Schallreactionen nothwendigen Anordnung befand sich im Eeagentenzimmer au\u00dfer der Signalglocke und dem elektromagnetischen Schlaghammer nur noch der Eeactionstaster, welcher im Princip vollkommen mit den sonst angewandten Tastern \u00fcbereinstimmte.\nAls Zeitmessungsapparat diente das Hipp\u2019sehe Chronoskop \u00e4lterer Construction, als galvanische Batterie eine Anzahl Meidinger\u2019scher Elemente, von denen der Strom zun\u00e4chst nat\u00fcrlich zu einem Strom-\n1)\tZeitschrift f. Biologie, hrsgg. von K\u00fchne und Voit, Bd. XIX.\n2)\tDerselbe, welchen Estel bei seinen Zeitsinnversuchen benutzt hat : Phil. Stud., Bd. II. S. 51.","page":481},{"file":"p0482.txt","language":"de","ocr_de":"482\nLudwig Lange.\nwender geleitet wurde. Im \u00fcbrigen wich die zur Zeitmessung dienende Drahtanordnung (was ihren schematischen Charakter anlangt) nicht wesentlich von der in Wundt\u2019s \u00bbGrundz\u00fcgen\u00ab angegebenen1) ab. In unserer Figur2) (Fig. 1) bedeutet B die Batterie. -Von dem Commutator C verzweigt sich die Leitung. Der eine Zweig geht durch das Chronoskop Ch und das Rheochord Rh zur\u00fcck zum\nStromwender. Der andere Zweig f\u00fchrt zun\u00e4chst hin\u00fcber in\u2019s Rea-gentenzimmer und zwar zum Schlaghammer S, dann vom darunter liegenden Amboss a zum Reactionstaster T, von diesem zur\u00fcck\n1)\tPhysioL Psychologie, Bi. II3 J3. 274 f.\n2)\tIn derselben sind alle Drahtleitungen fortgelassen, welche nicht unmittelbar mit der Zeitmessung etwas zu thun haben. Daher sind die Elektromagnete\n1,2,3,4 ohne Drahtverbindung und die Signalglocke fehlt ganz.","page":482},{"file":"p0483.txt","language":"de","ocr_de":"Nene Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 483\nins andere Zimmer und zum Stromwender. Auf dem Wege zum letzteren aber schalteten wir einen Controlapparat F ein, welcher dazu diente, um den aus zu gro\u00dfer oder zu kleiner Stromst\u00e4rke der (\u00fcbrigens h\u00f6chst constanten) Batterie herstammenden Fehler der chrono-skopischen AhlesungsresultateJ), mit einem Worte um den jeweiligen Betrag der \u00bbelektromagnetischen Correction\u00ab zu hestimmen. Diese Correction wurde dann stets hei den Versuchsmitteln in Anrechnung gebracht. Unser Controlapparat war nicht identisch mit dem von Catteil1 2) angewandten Fallchronometer, dessen Fall uns nach zahlreichen Proben nicht gleichm\u00e4\u00dfig genug erschien. Er entstand vielmehr durch eine einfache Umgestaltung aus dem von Berger zum n\u00e4mlichen Zwecke verwendeten Fallhammer, welcher im Niederfallen erst bei o einen Contactschluss, dann um eine constante und ein f\u00fcr alle Mal bestimmte Zeit (\u00bbControlzeit\u00ab) sp\u00e4ter bei u eine Contact\u00f6ffnung herstellte. Um eine \u00fcber 0,1 Secunde hinausgehende Controlzeit erhalten zu k\u00f6nnen3), welche der Hammer, so wie ihn Berger anwandte, nicht zu liefern vermochte, verl\u00e4ngerten wir den Hammerstiel \u00fcber den Drehpunkt hinaus und brachten hier ein nahezu equilibrirendes, fest einstellbares Laufgewicht an, was die Fallgeschwindigkeit in abstufbarer Weise zu erm\u00e4\u00dfigen gestattete. Ferner ersetzten wir im Laufe der Versuche den oberen Quecksilber-contact des Berg er'sehen Hammers durch einen festen, nicht schlei-' fenden Platincontact, wodurch die Ungenauigkeiten vermieden wurden, welche aus Niveau\u00e4nderungen und Verst\u00e4uhungen des Quecksilbers entstehen k\u00f6nnen. Die Controlzeit wurde entweder direct mit H\u00fclfe einer schreibenden Stimmgabel von bekannter Schwingungszahl oder unter Anwendung eines (zuf\u00e4llig bereitstehenden) Chronographen ermittelt; sie betrug bei unseren Versuchen stets nahezu l\u00f6O0- (lff = 0,001 Secunde). Wurde die Controlzeit nun mit H\u00fclfe des Chronoskops gemessen (zu welchem Zwecke nat\u00fcrlich\n1)\tVgl. Berger, Philos. Stud. Bd. III. S. 45.\n2)\tPhilos. Stud. Bd. III. S. 306 ff.\n3)\tAus theoretischen Erw\u00e4gungen folgt, dass die elektromagnetische Correction bei sehr kleinen Zeiten nicht nothwendig denselben Werth hat, wie bei gr\u00f6\u00dferen, wenngleich angenommen werden darf, dass sie von einer gewissen unteren Grenze an vollkommen constant bleibt. Aus diesem Grunde ist es immer zu empfehlen, dass man der Controlzeit einen mittleren Betrag, d. h. einen solchen Betrag gibt, welcher dem Mittel der zu messenden Keactionszeiten nahe kommt.","page":483},{"file":"p0484.txt","language":"de","ocr_de":"484\nLudwig Lange.\nder Reactions- und der Schlaghammercontact geschlossen sein mussten) , so ergab sich nicht ihr wahrer Werth, der ahgelesene Werth war vielmehr um die \u00bbelektromagnetische Correction\u00ab falsch, welche also auf diese Weise jederzeit leicht gefunden werden konnte. Stellte man hintereinander 10 chronoskopische Messungen der Controlzeit an, so betrug die mittlere Variation der zehn ahgelesenen Werthe meist nur 0,8er, h\u00e4ufig 0,5er, niemals jedoch \u00fcber 1,0er; hei dieser au\u00dferordentlich gro\u00dfen Pr\u00e4cision der Versuchsanordnung kann f\u00fcr eine hohe Genauigkeit unserer Versuchsergehnisse wohl unbedingte Gew\u00e4hr geleistet werden.\nBei den eigentlichen Reactionsversuchen mussten nat\u00fcrlich die Contacte o und u des Pallhammers F beide geschlossen sein, damit der Strom frei durch sie hindurchgehen konnte.\nUm ein exactes Zeitintervall zwischen Glockensignal und Hammerschlag herstellen zu k\u00f6nnen, verwendeten wir ein Pendel, welches zu jeder Doppelschwingung gerade eine Secunde brauchte. Dieses Pendel schloss, wenn es in Schwingung versetzt war, selbstth\u00e4tig jede Secunde beim Durchgang durch seine Ruhelage einen Platin-Quecksilbercontact. Der letztere aber war gleichzeitig in zwei Stromleitungen eingeschaltet, erstens in diejenige, welche den Elektromagneten der Signalglocke, zweitens in diejenige, welche den Elektromagneten des Schlaghammers enthielt. In jeder dieser Leitungen befand sich au\u00dferdem noch ein federnder Quecksilbercontact, welcher durch Niederdr\u00fccken mit dem Finger vor\u00fcbergehend geschlossen werden konnte. Dr\u00fcckte man von diesen beiden Con-tacten den einen l\u00e4ngere Zeit hindurch nieder, so gab das schwingende Pendel alle Secunden ein Glockensignal, dr\u00fcckte man den anderen nieder, so gab es alle Secunden einen Hammerschlag. Es erhellt nun ohne weiteres, dass man durch rechtzeitige Schlie\u00dfungen beider Contacte leicht bewirken konnte, dass zuerst ein einzelnes Glockensignal und genau 1, 2, 3 oder 4 und mehr Secunden sp\u00e4ter ein Hammerschlag eintrat. Oh es n\u00f6thig werden w\u00fcrde, auch gebrochene Secundenzahlen anzuwenden, konnte man von vornherein nicht wissen; trat diese Nothwendigkeit ein, so lie\u00df sich voraussichtlich durch Verschiebung der beweglichen Pendellinse, d. h. durch Ver\u00e4nderung der Schwingungsdauer das meiste erreichen. Nur f\u00fcr Intervalle < Is h\u00e4tten wir einen besonderen Apparat heranziehen m\u00fcssen.","page":484},{"file":"p0485.txt","language":"de","ocr_de":"Keue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 485\nDie Glocke, welche das Signal gab, diente geichzeitig auch dazu, um vom Zimmer des Experimentators aus dem Reagenten Mittheilungen machen zu k\u00f6nnen. Umgekehrt konnte dieser mittelst einer im Experimentatorenzimmer aufgeh\u00e4ngten elektrischen Klingel sich verst\u00e4ndlich machen. Es hat kein Interesse, auf die zum Zweck dieser Communication erfundene primitive Zeichensprache n\u00e4her einzugehen. Nur eins mag, als methodisch wichtig, erw\u00e4hnt werden, Reactionen, welche der Reagent unmittelbar nach ihrer Ausf\u00fchrung als nicht correct erkannte, bezeichnete er selbst sofort als unrichtig, und die solchergestalt dementirten Zeiten wurden dann vor der Mittelziehung stets weggestrichen. Hiermit komme ich \u00fcberhaupt auf die Grunds\u00e4tze zu sprechen, welche ich bei Berechnung der Einzelresultate als ma\u00dfgebend betrachtet habe.\nDie Wegstreichung von abnormen Reactionszeiten habe ich beschr\u00e4nkt auf folgende F\u00e4lle:\n1)\tWie schon gesagt, wurden alle vom Reagenten selbst als incorrect bezeichneten Reactionen gestrichen.\n2)\tDie zwei bis drei ersten Zahlen einer Versuchsreihe wurden, sofern sie auffallend von dem Durchschnitt der sp\u00e4teren abwichen, unbedenklich fortgelassen. In der That m\u00fcssen gew\u00f6hnlich erst einige Reactionen ausgef\u00fchrt worden sein, ehe der Reagent richtig in Zug kommt, und st\u00f6rende Nebengedanken vermeiden lernt.\n3)\tH\u00e4ufig zeigte die unmittelbar nach einem dementirten Versuche erhaltene Zeit eine auffallende Abweichung vom Normalen, die einfach daher r\u00fchrte, dass der Reagent noch von dem peinlichen Gedanken an die falsche Reaction befangen war. Auch in diesem Falle habe ich die Streichung als erlaubt angesehen.\n4)\tWird das \u00bbIntervall\u00ab constant erhalten (w\u00e4hrend einer Reihe) und ist obendrein die Zwischenzeit zwischen je zwei aufeinander folgenden Versuchen, die \u00bbPeriode\u00ab der Reihe, klein (20* und weniger), so kann es unter gewissen Umst\u00e4nden sehr leicht Vorkommen, dass der Reagent mehr oder minder bewusster Weise unmittelbar nach Auffassung des Signals das Intervall reconstruirt und nun sich auf eine gleichzeitig mit dem Haupteindruck auszu-fuhrende Registrirbewegung einrichtet, \u00e4hnlich wie etwa ein J\u00e4ger dem fliegenden Federwild voranzielt. Die so erhaltenen Zeiten","page":485},{"file":"p0486.txt","language":"de","ocr_de":"486\nLudwig Lange.\nsind nat\u00fcrlich keine echten \u00dfeactionszeiten *) ; sie zeichnen sich durch au\u00dferordentlich geringen, oft sogar negativen Betrag aus, so dass bei ihrer Messung der Zeiger des Chronoskops nur wenig oder gar nicht vorr\u00fcckt. Nat\u00fcrlich d\u00fcrfen solche Werthe nicht mit den echten \u00dfeactionszeiten zusammengeworfen und zur Mittelbildung verwendet werden. Nun wurden hei unseren Versuchen derartige Zeiten allerdings fast stets vom \u00dfeagenten dementirt; indess kam mitunter auch wohl einmal eine negative oder auffallend kleine Zeit vor, welche nicht dementirt wurde. Nach welchem Grundsatz war dann dar\u00fcber zu entscheiden, ob diese Zeit als verd\u00e4chtig fortzulassen sei oder nicht? wohin mit einem Worte hatte man die untere Grenze der unverd\u00e4chtigen \u00dfeactionen zu verlegen? Ich habe, um diese untere Grenze festzustellen, soviel als m\u00f6glich auch Versuchsreihen mit variabelem Intervall angestellt, d. h. \u00dfeihen, in denen in unvorhergesehener \u00dfeihenfolge das Intervall bald 1, bald 2, bald 3 und mehr Secunden betrug. Die hierbei erhaltenen Minimalzeiten wurden als untere Grenze der unverd\u00e4chtigen \u00dfeactionszeiten betrachtet und alles, was noch kleiner war, weggestrichen.\nEndlich will ich, als f\u00fcr zuk\u00fcnftige Untersuchungen wichtig, betonen, dass die Anzahl der vorzeitigen \u00dfeactionen durch mehrere Einfl\u00fcsse sich fast auf Null verminderte :\n.\t1) Durch Uebung des \u00dfeagenten.\n2)\tDadurch, dass wir der Versuchsperiode eine L\u00e4nge von vollen 30 Secunden gaben. Diese Ma\u00dfregel hatte nebenbei den guten Erfolg, dass der \u00dfeagent hinreichend Zeit behielt, um \u00fcber den vorangegangenen Versuch sich \u00dfechenschaft zu geben.\n3)\tDadurch, dass der \u00dfeagent strengstens darauf achtete, seine Aufmerksamkeit erst mit Erfassung des Signales anzuspannen. Diese Ma\u00dfregel war ja ohnehin, wenn m\u00e0n correcte Versuche \u00fcber den Einfluss der Intervallgr\u00f6\u00dfe anstellen wollte, unumg\u00e4nglich noth-wendig. Sie gew\u00e4hrte \u00fcberdies den Vortheil, dass der \u00dfeagent seine Aufmerksamkeit nicht unn\u00f6thig vergeudete und folglich auch dem Einfluss der Erm\u00fcdung in kaum merklichem Grade unterworfen war.\nBefand sich der \u00dfeagent schlecht, so wurden mit ihm keine Versuche angestellt; insbesondere wurden die Versuchsreihen an\n1) Vgl. Berger, Philos. Stud. Bd. Ill, S. 48.","page":486},{"file":"p0487.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 487\nsolchen Tagen verworfen, wo nerv\u00f6se Angegriffenheit mit incon-stanten Ergebnissen im Laufe des Experimentirens an den Tag trat.\nDie angegebenen arithmetischen Mittel sind aus Reihen von 20 \u2014 30, und zwar meist aus nahezu 25 Versuchen gebildet worden.\nII. Thats\u00e4chliches \u00fcber zwei verschiedene Methoden der Reaction : Muscnl\u00e4re nnd sensorielle Reactionen.\nEs liegt in dem Wesen einer sachlich und insbesondere methodologisch so unentwickelten Disciplin, wie der Psychometrie, dass man bei Beginn irgend welcher einschlagenden Untersuchungen einen festen Forschungsplan, an den man sich dann im weiteren unverbr\u00fcchlich zu halten h\u00e4tte, gar niemals aufstellen kann. Man wird zwar stets von bestimmten Fragen ausgehen und jederzeit Perspectiven nach einer bestimmten Richtung hin sich gegenw\u00e4rtig halten m\u00fcssen. Allein in den meisten F\u00e4llen wird im Verlaufe der Untersuchung durch unvorhergesehene Nebenresultate zwingende Veranlassung geboten werden, die eingeschlagene Richtung f\u00fcrs erste zu verlassen und einer anderen sich zuzuwenden. So dr\u00e4ngte sich uns, als wir mit den ersten Ein\u00fchungsversuchen besch\u00e4ftigt waren, vor allem eine Frage auf, deren exacte Erledigung die erste Bedingung f\u00fcr sicheres Fortschreiten zu sein schien.\nUnter dem g\u00fcnstigen Einfl\u00fcsse n\u00e4mlich, welchen die Ruhe und Einsamkeit auf den Reagirenden aus\u00fchten, sowie infolge der ver-h\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig recht langen Versuchsperioden, die es ihm gestatteten, sich von den suhjectiven Bedingungen jedes Versuches nachtr\u00e4glich Rechenschaft zu geben, bot sich gleichsam von selbst die Vermuthung dar, es werde auf die Dauer der Reaction einen Einfluss haben, ob man seine Erwartung grunds\u00e4tzlich mehr im Sinne des zu erfassenden Sinneseindruckes oder mehr im Sinne der auszuf\u00fchrenden Reactionsbewegung concentrire. In der That nun hat uns die weitere Erfahrung folgendes gelehrt:\n1) Es lassen sich einerseits Reactionen gewinnen, wenn man an den bevorstehenden Sinneseindruck gar nicht denkt, dagegen so lebhaft als m\u00f6glich die Innervation der auszuf\u00fchrenden Reactionsbewegung vorbereitet.\nWundt, Philos. Studien. IV.\n32","page":487},{"file":"p0488.txt","language":"de","ocr_de":"488\nLudwig Lange.\n2) Andererseits kann man, indem man jede vorbereitende Be-j wegungsinnervation grunds\u00e4tzlich vermeidet, seine ganze vorbereitende Spannung dem zu erwartenden Sinneseindrucke zuwenden, wobei man sich aber gleichzeitig vornimmt, unmittelbar nach Auffassung des Eindruckes, ohne bei diesem unn\u00f6thig zu verweilen, den Impuls zur Bewegung folgen zu lassen; die in diesem Fall erhaltenen Eeactionen sind, sowohl was ihre psychologische Bedeutung als was ihre Dauer anlangt, von den Eeactionen der ersten Art vollkommen verschieden.\nEs wird sich empfehlen, f\u00fcr beide Arten der Eeaction irgendwelche Bezeichnungen einzuf\u00fchren, welche das rein Thats\u00e4ch-liche der Eeactionsbedingungen zu m\u00f6glichst treffendem Ausdrucke bringen. In diesem Sinne m\u00f6gen die Eeactionen von jj der ersten Gattung als \u00bbextrem muscul\u00e4re Eeactionen\u00ab bezeichnet werden; nicht, als ob bei denen der zweiten Gattung die Muskelbewegung ohne Bedeutung w\u00e4re, sondern nur um auszudr\u00fccken, dass von dem Eeagenten der denkbar h\u00f6chste Grad seiner Spannung ausschlie\u00dflich zur vorbereitenden Innervation der reagirenden Muskelgruppe verwandt wurde. Andererseits m\u00f6gen die Eeactionen der zweiten Gattung, bei welchen also ein m\u00f6glichst hoher Grad der Spannung ausschlie\u00dflich zur Auffassung des Sinneseindruckes (unter principieller Vermeidung jeder vorbereitenden Bewegungsinnervation) angewandt wird, als \u00bbextrem sensorielle Eeactionen\u00ab gekennzeichnet werden.\nZu beiden Eeactionsweisen sind noch die folgenden principiellen Bemerkungen zu machen.\nWas erstens die muscul\u00e4re Eeactionsweise anlangt, so ist ausdr\u00fccklich vor dem Missverst\u00e4ndnisse zu warnen, als bestehe die hier geforderte vorbereitende Bewegungsinnervation ihrem Wesen nach in einer m\u00f6glichst starken gegenseitigen Spannung von Antagonisten. Dies ist keineswegs der Fall. Allerdings werden minimale Muskelspannungen und die ihnen entsprechenden Muskelempfindungen secund\u00e4rer Weise meist vorhanden sein, allein der Grad dieser Empfindungen ist erfahrungsgem\u00e4\u00df absolut nicht ma\u00dfgebend daf\u00fcr, ob die vorbereitende Innervation gut gelungen pst oder nicht. Beil\u00e4ufigen Versuchen zufolge scheinen vielmehr hei wirklich vorangehender m\u00f6glichst hoher Anspannung der Beuger","page":488},{"file":"p0489.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 489\nund Strecker keine wesentlich anderen Reactionszeiten zu resultiren, als wenn solche Spannungen nur in minimalem Grade und secun-d\u00e4rer Weise bei muscul\u00e4ren Reactionen Vorkommen; h\u00f6chstens mag der Einfluss der Muskelerm\u00fcdung dort ein gr\u00f6\u00dferer als hier sein1).\nAndererseits ist das g\u00e4nzliche Fehlen von Muskelempfindungen (auch der minimalsten) ein recht zuverl\u00e4ssiges Kriterium daf\u00fcr, oh die eine Hauptbedingung der extrem sensoriellen Reaction (Vermeidung aller vorbereitenden Bewegungsinnervation) erf\u00fcllt ist. Es pflegt einige Zeit \u00fcber den nothwendigen Ein\u00fcbungsversuchen hinzugehen, ehe es den Reagenten gelingt, nach dieser Richtung hin das Ideal der sensoriellen Reaction zu verwirklichen. Gew\u00f6hnlich aber beginnen sie dann \u00fcber das Ziel hinaus zu schie\u00dfen, und es tritt ein Stadium ein, worin auffallend lange Zeiten, noch betr\u00e4chtlich l\u00e4ngere als die unten angegebenen, erhalten werden. Es beruht dies darauf, dass man zwar einerseits die vorbereitende Innervation der Bewegung vermeiden gelernt, aber andererseits auch noch nicht die erreichbare Gelenkigkeit im Uebergang vom Sinneseindruck zur Bewegung erzielt hat. Man haftet an dem Eindr\u00fccke, indem man ihn entweder ganz gedankenlos betrachtet, oder etwa mit dem von fr\u00fcherher vorhandenen Erinnerungsbild assimilirt. Die so erhaltenen Reactionszeiten sind denn auch nicht als einfache Reactionszeiten zu betrachten. Erst wenn es dem Reagenten durch vielf\u00e4ltige und gewissenhafte Uebungen gelungen ist, eine m\u00f6glichst pr\u00e4cise Coordination des Willensimpulses zur Sinnesempfindung zu. Stande zu bringen, erst dann wird man Zeiten erhalten, welche als typische sensorielle Reactionszeiten angesehen werden d\u00fcrfen. Die Erlernung guter sensorieller Reactionen ist aber offenbar schon darum weit schwieriger als die Uebung der muscul\u00e4ren Reactionsweise, weil dort (anders als hier) alles darauf ankommt, dass man sich strengstens vor zwei entgegengesetzten Fehlen in Acht nimmt : erstens vor der vorbereitenden Innervation der reagirenden Bewegung, zweitens vor unn\u00f6thiger Verz\u00f6gerung des Willensimpulses.\nMan kann den Unterschied zwischen muscul\u00e4rer und sensori-\n1) Analog scheint mir auch die der Reaction gew\u00f6hnlich vorangehende Gesichtsvorstellung des bewegten Armes nur von secund\u00e4rer Bedeutung zu sein: denn von dem Grad ihrer Lebhaftigkeit h\u00e4ngt die Pr\u00e4cision des Reactionsvor-ganges ganz und gar nicht ab.\n32*","page":489},{"file":"p0490.txt","language":"de","ocr_de":"490\nLudwig Lange.\neller Gespanntheit, soweit er auf dem Vorhandensein oder Mangel der vorbereitenden Bewegungsinnervation beruht, auch auf folgende Weise anschaulich machen. Wir nehmen an, der Arm des Reagi-renden liege auf einer Unterlage, welche (ohne dass der Reagent es zuvor wei\u00df) pl\u00f6tzlich entfernt werden kann. Vorausgesetzt nun, der Reagent habe die hebenden Armmuskeln vorbereitend innervirt, und es werde nun auf einmal die Unterst\u00fctzung hinfortgenommen, so wird reflectorisch der Arm ein St\u00fcck emporschnellen und in erhobener Stellung eine Zeit lang verharren. Ist dagegen jede vorbereitende Innervation vollkommen vermieden worden, so wird der Arm schlaff herabfallen.\nWenn ich die beiden grundverschiedenen Reactionsmethoden als die \u00bbextrem musculare\u00bb und \u00bbextrem sensorielle\u00ab bezeichnet habe, so geschah dies nicht ohne Grund. Es versteht sich fast von selbst, dass man auch einen Mittelweg zwischen den beiden extremen Methoden einschlagen kann, indem man seine Spannung sozusagen nach irgend einem Theilverh\u00e4ltniss zwischen Hand und Ohr theilt. Diese mittleren Reactionsweisen k\u00f6nnen aber nat\u00fcrlich nicht dasselbe Interesse beanspruchen, wie die extremen Methoden, zumal von einer Contr\u00f4le hinsichtlich des zur Verwendung gekommenen TheilVerh\u00e4ltnisses keine Rede sein kann. Die erhaltenen Reac-tionszeiten stehen, sowohl was ihr arithmetisches Mittel, als auch, was ihre mittlere Variation anlangt, im allgemeinen zwischen den extrem muscul\u00e4ren und den extrem sensoriellen in der Mitte.\nMit R\u00fccksicht auf die extremen Methoden aber m\u00fcssen wir uns eines immer gegenw\u00e4rtig halten: der Spannungsgrad der Erwartung ist bei beiden vollkommen der n\u00e4mliche und nur die Richtung, nach welcher hin die Erwartung gespannt ist, eine verschiedene. Dies verdient um so mehr hervorgehoben zu werden, weil eine missverst\u00e4ndliche Deutung der Versuchsergebnisse zu der Annahme f\u00fchren k\u00f6nnte, als seien die extrem sensoriellen Reactionen einfach Reactionen in unaufmerksamem Zustande. Jeder, der selbst Erfahrungen in diesen Dingen gemacht hat, wird eine solche oberfl\u00e4chliche Interpretation sofort von der Hand weisen.\nNach diesen Vorbemerkungen sei es mir gestattet, zun\u00e4chst die allerersten zifferm\u00e4\u00dfigen Resultate mitzutheilen, welche wir erhielten, indem wir unmittelbar hintereinander vergleichende Ver-","page":490},{"file":"p0491.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 491\nsuchsreihen \u00fcber beide Reactionsweisen anstellten. Wie \u00fcblich, bezeichne ich mit a. M. das arithmetische Mittel, mit m. V. die mittlere Variation der Versuchsreihen, beide in a \u2014 0,001 Secunde als Einheit ausgedr\u00fcckt, mit n die Anzahl der in den Reihen zur Berechnung gekommenen Einzelreactionen. J bedeutet das \u00bbIntervall\u00ab zwischen Signal und Haupteindruck, TL die \u00bbVersuchsperiode\u00ab. Eeber das Intervall habe ich noch folgendes zu bemerken. Unter den sensoriellen Reactionen, wo sich uns kein entscheidender Anlass darhot, ein bestimmtes Intervall als besonders g\u00fcnstig zur Erreichung extremer sensorieller Spannung zu betrachten, habe ich ungesondert Mittelwerthe zusammengestellt, die hei verschiedenen Intervallen gewonnen waren. Bei den muscul\u00e4ren Reactionen hingegen ergab sich (wovon in einem sp\u00e4teren Abschnitte des n\u00e4heren die Rede sein wird) die auch durch Selhstwahmehmung gest\u00fctzte Thatsache, dass im allgemeinen ein bestimmtes Intervall, und zwar f\u00fcr verschiedene Reagirende nicht immer das n\u00e4mliche, am g\u00fcnstigsten sei, um die extrem muscul\u00e4re Reactionsweise zu erzielen : dieses Intervall ist daher in den n\u00e4chstfolgenden Tabellen, soweit m\u00f6glich, bevorzugt worden. Was ferner die Periode JT anlangt, so haben wir sie vom 1/VII 86 an bis auf weiteres hei muscul\u00e4ren Reactionen etwas gr\u00f6\u00dfer als bei sensoriellen (n\u00e4mlich 40s statt 30s lang) genommen, und zwar aus dem Grunde, weil es dem relativ unge\u00fcbten Reagenten damals noch zu schwer fiel, nach muscul\u00e4rer Anspannung bei JI ^ 30 * vorzeitige Reactionen zu vermeiden.\nFolgendes nun waren unsere ersten (vorl\u00e4ufigen) Ergebnisse:\n(Vgl. die erste Tabelle auf S. 492).\nDiese Zahlen k\u00f6nnen indessen wohlverstanden keineswegs als endg\u00fcltige betrachtet werden; vielmehr durfte man von vornherein erwarten, dass sich der Unterschied der Zeiten mit fortschreitender Uebung noch ziemlich vergr\u00f6\u00dfern werde. Einestheils war m\u00f6glicher Weise die untere Grenze der extrem muscul\u00e4ren Zeiten, wie sie einem wirklich maximalen Grade muscul\u00e4rer Vorbereitung entsprechen w\u00fcrde, noch nicht erreicht. Anderntheils gaben beide Reagenten einstimmig an, dass bei den mitgetheilten sensoriellen Reihen jene Hauptbedingung, alle und jede vorbereitende Bewegungsinnervation zu vermeiden, noch nicht in voller Strenge erf\u00fcllt gewesen sei. Namentlich also sind die als sensoriell","page":491},{"file":"p0492.txt","language":"de","ocr_de":"492\nLudwig Lange.\nN. L.*)\t\t\t\t\t\t\nDatum\tReactionsweise\tJ\tn\ta. M.\tm. V.\tn\n28/VI86\tmuscular\t2*\t20*\t116\u00b0\t8\u00ae\t21\n\u201e\tsensoriell\t2\t20\t167\t19\t27\n1/VII86\tsensoriell\t3\t30\t172\t21\t25\n\tmuscul\u00e4r\t3\t40\t126\t12\t22\n6/VH 86\tsensoriell\t1\t30\t170\t20\t25\ni)\tmuscul\u00e4r\t1\t40\t124\t10\t23\nB.*)\t\t\t\t\t\t\nDatum\tReactionsweise\tJ\tn\ta. M.\tm. V.\tn\n2/VII86\tmuscul\u00e4r\t2\t40\t137\t11\t24\n})\tsensoriell\t2\t30\t174\t27\t27\nmitgetheilten Zeiten durchaus nicht als extrem sensoriell zu betrachten. Immerhin lehren uns die angef\u00fchrten Reihen, dass unabh\u00e4ngig von der Zeitlage und hei verschiedenen Individuen die mittleren sensoriellen Reactionszeiten sowie auch die zugeh\u00f6rigen mittleren Variationen stets betr\u00e4chtlich l\u00e4nger als die muscul\u00e4ren sind ; und nachdem diese Erkenntniss einmal feststeht, hat es nun-\nN. L. '\t\t\t\t\t\nSensorielle Reaetionen\t\t\t\t\t\nDatum\tJ\tn\ta. M.\tm. V.\t, n\n8/VII 86\t1*\t30*\t222\u00ae\t21\u00ae\t25\n\t2\t30\t216\t21\t26\n>>\t1\t30\t232\t19\t25\n\tGresammtresultat:\t\t223\u00ae\t20\u00ae\t76\nMuscul\u00e4re Reaetionen\t\t\t\t\t\nDatum\tj\tn\ta. M.\tm . V.\tn\n12/VII86\t2\t40\t127\t8\t24\n))\t2\t40\t124\t11\t26\n13/VII86\t2\t30\t129\t15\t24\n2/VII86\t2\t30\t122\t11\t25\n\tGresammtresultat:\t\t125\u00ae\t11\u00ae\t99\n*) Meine Mitarbeiter Herr Nicolai Lange aus Petersburg und Herr Belkin aus Moskau. Es sei mir an dieser Stelle erlaubt, meinen s\u00e4mmtlichen Mitarbeitern f\u00fcr die thatkr\u00e4ftige Unterst\u00fctzung, die sie mir geleistet, meinen herzlichen Dank auszusprechen.","page":492},{"file":"p0493.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 493\nmehr auch keine Bedenken mehr, Resultate von verschiedenen Tagen zum Vergleiche nebeneinander zu stellen. Dies ist in den nachstehenden Tabellen geschehen.\nB.\t\t\t\t\t\nSensorielle Reactionen\t\t\t\t\t\nDatum\tJ\tn\ta. M.\tm. V.\tn\n10/VII 86\tIs\t304'\t236\u00b0\t36\u00ae\t30\n\t2\t30\t235\t24\t24\n\t1\t30\t212\t25\t25\n\u00bb\t2\t30\t211\t20\t26\n\tGesammtresultat:\t\t224\u00b0\t26\u00ae\t105\nMuscul\u00e4re Reactionen\t\t\t\t\t\nDatum\tj\tn\ta. M.\tm. V.\tn\n9/VII86\ti\t40\t121\t9\t28\nJ}\ti\t40\t129\t10\t21\n\ti\t40\t127\t10\t20\n14/VII86\ti\t30\t133\t8\t22\n15/VII86\ti\t30\t156\t8\t25\n16/VH 86\ti\t30\t150\t10\t25\n\u201e\ti\t30\t138\t11\t23\n\tGesammtresultat:\t\t137\u00b0\t9\u00b0\t164\nL. L.*)\t\t\t\t\t\nMuscul\u00e4re Reactionen\t\t\t\t\t\nDatum\tJ\tn\ta. 31. j m. V.\t\tn\n24/VII 86 2/VI 87\tIs 2 variabel (1,2,3s)\t30s 30 30\t124\u00b0 124 121\t9\u00ae 8 9\t27 21 25\n\tGesammtresultat:\t\t123\u00ae\t9\u00ae\t73\nSensorielle Reactionen\t\t\t\t\t\nDatum\tj\tn\ta. 31.\tm. V.\tn\n26/VII 86\t3 2\t30 30\t231 230\t32 33\t18 19\n\tGesammtresultat:\t\t230\u00ae\t32\u00ae\t37\nHier findet man in der Horizontalreihe \u00bbGesammtresultat\u00ab jedes-\nl) Der Verfasser dieser Abhandlung.","page":493},{"file":"p0494.txt","language":"de","ocr_de":"494\nLudwig Lange.\nmal das a. M. aus s\u00e4mmtlichen Einzeiversuchen aller dar\u00fcber stehenden Reihen angegeben, w\u00e4hrend daselbst unter m. V. das arithmetische Mittel aus den mittleren Variationen der Reihen vermerkt ist.\nDen vorstehenden Tabellen zufolge ist die Differenz der sensoriellen und muscul\u00e4ren Gesammtmittel f\u00fcr N. L. 98\u00b0, f\u00fcr B. ST0\u2019, f\u00fcr L. L. 107er.\nIch will endlich noch die Resultate f\u00fcr einen vierten Reagi-renden anf\u00fchren (Herrn Kolubowsky), bemerke indessen, dass dieselben keine definitive metrische Bedeutung beanspruchen k\u00f6nnen. Nicht nur ist zu vermuthen, dass das angewandte Intervall (Is) f\u00fcr K. noch nicht das g\u00fcnstigste zur Erreichung maximaler muscu-l\u00e4rer Vorbereitung war, sondern vor allem ist bei der verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig geringen Vor\u00fcbung dieses Reagenten die sensorielle Reaction gewiss nicht als extrem zu betrachten. Trotzdem sei die Reihe angef\u00fchrt, weil sie immerhin dazu beitr\u00e4gt, das Vorhandensein des Zeitunterschiedes als ein allgemeing\u00fcltiges nachzuweisen.\nK.\t\t\t\t\t\nMuscul\u00e4re Reaction\t\t\t\t\t\nDatum\tJ\tn\ta. M.\trn. V.\tn\n12/XI 86\t1*\t30*\t144\u00ae\t9\u00ae\t25\n15/XI \u201e\t1\t30\t145\t13\t25\n17/XI \u201e\t1\t30\t151\t9\t24\n\tGesammtresultat:\t\t147\u00ae\t10\u00ae\t74\nSensorielle Reaction\t\t\t\t\t\nDatum\tj\tn\ta. M.\tm. V.\tn\n17/XI 86\tis\t30s\t192\u00ae\t24\u00ae\t22\nAu\u00dfer diesen 4 Reagirenden sind beil\u00e4ufig noch zahlreiche andere Personen auf ihre muscul\u00e4re und sensorielle Reactionsdauer gepr\u00fcft worden, und bei allen hat es sich best\u00e4tigt, dass die extrem sensoriellen Reactionszeiten um ein bedeutendes l\u00e4nger sind, als die extrem muscul\u00e4ren. Diese Zahlenergebnisse hier im einzelnen anzuf\u00fchren, h\u00e4tte indessen wenig Zweck, da sie wegen mangelnder Vor\u00fcbung der Reagirenden meist ebenfalls keine definitive metrische Bedeutung in Anspruch nehmen k\u00f6nnen. Eines will ich aber bei","page":494},{"file":"p0495.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 495\ndieser Gelegenheit noch besonders hervorheben. Es gibt nach unseren Erfahrungen einzelne Personen, welche, wenngleich auch bei ihnen die arithmetischen Mittel der muscul\u00e4ren und sensoriellen Reihen eine Differenz im n\u00e4mlichen Sinne zeigen wie bei den \u00fcbrigen, dennoch selbst durch angestrengte Uebung und beim besten Willen ihrerseits nicht dahin zu bringen sind, eine Reihe hindurch constant nach derselben Methode zu reagiren. Sie sind daf\u00fcr zu nerv\u00f6s und zu concentrationsunf\u00e4hig und haben meist infolge allgemeiner psychischer Erregung nicht einmal die Geistesgegenwart, die von ihnen als falsch erkannten Reactionen zu dementiren. Es h\u00e4tte nat\u00fcrlich keinen Werth f\u00fcr die normale Psychologie, in diesem offenbar krankhaften Zustande (der \u00fcbrigens tageweise auch solche Individuen befallen kann, die sich f\u00fcr gew\u00f6hnlich im Reagiren sicher f\u00fchlen) Versuche anzustellen.\nUm nun auf unsere zuverl\u00e4ssigsten Versuchsreihen (n\u00e4mlich die mit den Reagenten N.L., B. und L.L. angestellten) zur\u00fcckzukommen, so sprechen dieselben jedenfalls \u00fcbereinstimmend daf\u00fcr, dass die mittlere Dauer der extrem sensoriellen Reaction (auf Schall) um etwa 85\u2014110<T l\u00e4nger ist als diejenige der extrem muscul\u00e4ren; fernerhin geht aus ihnen hervor, dass die m. V. (welche offenbar ein Ma\u00df f\u00fcr das Schwanken der Einzelversuche innerhalb einer Reihe abgibt) bei extrem muscul\u00e4ren Reaction\u00ebn durchschnittlich 8\u201415ff betr\u00e4gt, w\u00e4hrend dieselbe bei extrem sensoriellen zwischen 20'' und 40ff variirt. Welche theoretische Bedeutung diesen Thatsachen innewohnt, werden wir im folgenden Abschnitte sehen.\nAls eine Vermuthueg von nahezu thats\u00e4chlicher Gewissheit darf ich es unseren Erfahrungen zufolge wohl hinstellen, dass f\u00fcr vollkommen gesunde Personen, die unter den n\u00e4mlichen \u00e4u\u00dferen Umst\u00e4nden und grunds\u00e4tzlich n a c h derselben extremen Methode reagiren, wesentliche \u00bbpers\u00f6nliche Differenzen\u00ab nicht vorhanden sind. Auch eine und dieselbe Person zeigt, wenn sie an verschiedenen Tagen, obzwar nach m\u00f6glichst demselben Princip reagirt, gewisse Differenzen, deren Betrag kaum geringer ist als die Unterschiede verschiedener Individuen. Was man ferner bisher schlechthin als den verk\u00fcrzenden (und die Constanz der Resultate erh\u00f6henden) Einfluss der Uebung auf die Reactionsdauer bezeichnet hat, das l\u00e4uft m. E. zum guten Theile darauf hinaus, dass die Reagenten,","page":495},{"file":"p0496.txt","language":"de","ocr_de":"496\nLudwig Lange.\nohne sich dessen bewusst zu sein, immer mehr die Gewohnheit an-nahmen, nach der extrem muscul\u00e4ren Methode zu reagiren. Ich glaube, dass im obigen das Recept, jene \u00bbUebung\u00ab schneller als auf gew\u00f6hnliche Weise zu erreichen, genau angegeben ist: man hat nichts weiter n\u00f6thig, als dass man sich M\u00fche gibt, die Bedingungen der extrem muscul\u00e4ren Reaction m\u00f6glichst exact zu verwirklichen. Auch hierin freilich wird man durch Uebung gewisse Fortschritte machen.\nStellt man verschiedenen psychologisch noch ganz unerfahrenen Individuen die Aufgabe, eine Reihe von Reactionen auszuf\u00fchren, und zwar absichtlich, ohne sie zuvor von dem Unterschiede der Re-actionsmethoden etwas wissen zu lassen, so wird der Eine zun\u00e4chst vorwiegend muscul\u00e4re, der Andere vorwiegend sensorielle Reactionen zu Tage f\u00f6rdern. Mit fortschreitender Praxis d\u00fcrften allerdings wohl die Meisten schlie\u00dflich der muscul\u00e4ren Reactionsweise sich n\u00e4hern, indem sie bei dem Streben nach m\u00f6glichst schneller Reaction unbewusster Weise das zum Ziel f\u00fchrende Mittel treffen. Welche Reactionsweise aber Einer von vornherein bevorzugt, das ist wohl Sache des Temperaments. Individuen von hervorragender motorischer Energie werden sogleich nahezu extrem muscul\u00e4r reagiren, w\u00e4hrend bed\u00e4chtige Naturen im allgemeinen mehr zur sensoriellen Reactionsweise geneigt sind.\nIch m\u00f6chte bei dieser Gelegenheit dringend vor Massenversuchen mit solchen Personen warnen, welchen die F\u00e4higkeit abgeht, ihren Bewusstseinsinhalt psychologisch zu analysiren. Denn eben weil hier die differenzirenden psychologischen Bedingungen, insoweit wenigstens als sie im Bewusstsein selbst gelegen sind, der Contr\u00f4le sich entziehen, so wird man mit den Ergebnissen derartiger Versuche entweder gar nichts anfangen k\u00f6nnen, oder man wird sie \u00fcber einen Kamm scheren. Welche Verwirrung aber durch ein derartiges unkritisches Verfahren entstehen kann, bedarf nach dem vorangegangenen wohl keiner Erl\u00e4uterung.\nIch beschlie\u00dfe diesen Abschnitt, indem ich noch einige den Unterschied der Reactionsweisen betreffende Thatsachen hervorhebe, welche mir f\u00fcr die Theorie der Reaction von ganz hervorragender Wichtigkeit zu sein scheinen. Die erste dieser Thatsachen ist die, dass die sogenannten vorzeitigen Registrirungen (s. o. S. 485f.) in","page":496},{"file":"p0497.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 497\nextrem sensoriellen Versuchsreihen niemals Vorkommen, w\u00e4hrend sie andererseits in extrem muscul\u00e4ren Reihen nur durch besondere (a. a. O. n\u00e4her bezeichnete) Vorsichtsma\u00dfregeln zu vermeiden sind. Eine zweite nach zahlreichen von uns angestellten Versuchen vollkommen feststehende Thatsache besteht darin, dass in einer extrem muscul\u00e4ren Reihe auf jeden unerwartet eingeschobenen vexirenden Reiz fremder Sinnesqualit\u00e4t (z. B. bei Schallreactionen auf einen eingeschobenen elektrischen oder optischen Reiz) mit Nothwendig-keit reagirt wird \u2014 und zwar zur eigenen komischen Verwunderung des Reagenten \u2014 w\u00e4hrend in sensoriellen Reihen die Reaction eben so unfehlbar unterbleibt; einzige Voraussetzung ist, dass der vexirende Reiz eine gewisse Intensit\u00e4tsschwelle \u00fcberschreitet. Diesen beiden mehr \u00e4u\u00dferlichen Erfahrungsthatsachen reiht sich ein drittes ausschlie\u00dflich inneres Bewusstseinsfactum an : bei extrem muscul\u00e4ren Reactionen hat der Reagent die entschiedene Vorstellung, gleichzeitig mit, ja mitunter sogar vor dem Sinneseindrucke zu reagiren, bei extrem sensoriellen dagegen nimmt er deutlich wahr, dass seine Reactionsbewegung hinter dem Eindr\u00fccke nachkommt.\nHiernach wende ich mich dazu, den Vorgang der Reaction einer n\u00e4heren theoretischen Betrachtung zu unterziehen und namentlich den Unterschied der Reactionsweisen auf sein eigentliches psychophysisches Wesen zu untersuchen.\nIII. Theoretisches \u00fcber den Unterschied der Reactionsweisen.\nDass es zwei ihrem Wesen nach durchaus verschiedene Arten der einfachen Reaction gibt, ist meines Wissens bisher noch von keinem Beobachter hervorgehoben worden. Zwar findet man hier und da Andeutungen des Inhaltes, dass die Reaction durch zunehmende \u00bbUebung\u00ab immer mehr einen automatischen Charakter annehme ; allein als zureichender Grund dieser Erscheinung wurde schlechthin die steigende Concentrirung der Aufmerksamkeit angesehen, und es blieb verborgen, dass die Richtung der letzteren von entscheidender Bedeutung sei, ja dass die Erwartung des Reagenten gerade eben nicht auf den Sinneseindruck gelenkt sein d\u00fcrfe, um den m\u00f6glichst automatischen Charakter der Reaction","page":497},{"file":"p0498.txt","language":"de","ocr_de":"498\nLudwig Lange.\nzu erzielen. M. a. W. man hielt einen in Wahrheit qualitativen Unterschied f\u00fcr durchaus blo\u00df quantitativ.\nUnter diesen Umst\u00e4nden war es auch nicht zu verwundern, dass man dem Vorg\u00e4nge der einfachen Reaction schlechthin eine allgemeing\u00fcltige Interpretation unterlegte, und dass man die gro\u00dfen Verschiedenheiten, welche die Dauer der Reaction auf den n\u00e4mlichen Eindruck in verschiedenen F\u00e4llen und insbesondere f\u00fcr verschiedene Individuen aufwies, ganz und gar glaubte auf Rechnung \u00bbindividueller Verschiedenheiten\u00ab, sowie des \u00bbAufmerksamkeitsgrades\u00ab, der \u00bbUebung\u00ab und der \u00bbErm\u00fcdung\u00ab setzen zu d\u00fcrfen, womit bei Lichte betrachtet doch nur ein Verzicht auf wirkliche Erkl\u00e4rung jener Verschiedenheiten ausgesprochen war.\nSchon Don der s1 2 *) hat es unternommen, den Act der einfachen Reaction in seine wesentlichen Bestandtheile zu zerlegen. Wundt hat sodann, indem er vom vorwiegend psychologischen Standpunkte aus gewisse Elemente sch\u00e4rfer hervorhob, andere, deren Trennung nicht wesentlich schien, zusammenfasste, ein einfacheres Schema entworfen, wonach 5 Unterabtheilungen des Vorganges zu unterscheiden w\u00e4ren4):\n1)\tCentripetale Leitung vom Sinnesorgan bis zum Gehirn.\n2)\tPerception oder Eintritt in das Blickfeld, des Bewusstseins (wahrscheinlich zusammenfallend mit der Erregung der centralen Gro\u00dfhirnsinnesfl\u00e4chen).\n3)\tApperception, oder Eintritt in den Blickpunkt des Bewusstseins.\n4)\tWillenserregung und Ausl\u00f6sung der registrirenden Bewegung im Centrum.\n5)\tCentrifugale Leitung vom Centrum bis zu den reagirenden Muskeln und Anwachsen der Energie in denselben.\nDieses Schema ist seitdem von den psychometrischen Experimentatoren des Leipziger Laboratoriums im wesentlicheu beibehalten worden. Indessen hat bereits Berger mit Recht hervorgehoben,\n1)\tArchiv f. Anatomie und Physiologie 1868. S. 664.\n2)\tDie neuerdings erschienene dritte Auflage der \u00bbPhysiologischen Psycho-\nlogie \u00ab druckt dieses Schema zun\u00e4chst unver\u00e4ndert wieder ab (Bd. II S. 262), beschr\u00e4nkt aber dann auf Grund unserer Versuchsergebnisse seine G\u00fcltigkeit auf\ndie sensorielle (vollst\u00e4ndige) Reactionsform.","page":498},{"file":"p0499.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 499\ndass die Vorg\u00e4nge 2\u20144 gewisse Ver\u00e4nderungen erfahren k\u00f6nnen, wodurch die strenge G\u00fcltigkeit des Schemas beeintr\u00e4chtigt werde. \u00bbBei l\u00e4ngerer Uebung wird der Vorgang 4 verk\u00fcrzt, die Reaction erfolgt \u00bb\u00bbmit gro\u00dfer mechanischer Sicherheit\u00ab\u00ab oder wie andere sagen \u00bb\u00bbreflectoriscb\u00ab\u00ab. Der letzte Ausdruck sagt aus, dass man sich der Willenserregung nicht mehr ausdr\u00fccklich bewusst wird. Dasselbe kann aber, wie es scheint, auch mit dem Reize selbst der Fall sein. Man wird sich des Reizes oft erst bewusst, nachdem nian die Bewegung bereits ausgel\u00f6st, ja wom\u00f6glich schon ausgef\u00fchrt hat. Einer solchen Reaction w\u00fcrde also ein Schema von der Form:\nI' 2 <1 J\nentsprechen, worin sich nach der Perception eine Theilung vollzieht. Einestheils schlie\u00dft sich die Ausl\u00f6sung der Bewegung bereits an die Perception an, andemtheils wird w\u00e4hrend derselben Zeit auch noch die Apperception vollzogen1)\u00ab.\nGegen diese der automatischen Reaction angepasste Modification des Wundt\u2019schen Schemas ist nur das eine einzuwenden, dass sie noch nicht radical genug ist. Eine Willenserregung, deren man sich \u00bbnicht mehr ausdr\u00fccklich bewusst wird\u00ab, verdient auch nicht den Namen einer Willenserregung; denn gerade das ist das Kriterium der Willenshandlung, dass wir sie mit vollstem Bewusstsein ausf\u00fchren. Demnach ist auch die Formel \u00a3l. 2. ^ 5 J\nworin unmittelbar der Perception ein \u00bbWillensimpuls\u00ab sich anschlie\u00dfen soll, nicht geeignet, die automatisch gewordene, mit einem anderen Worte die muscul\u00e4re Reaction richtig darzustellen. Wenn man also unstreitig Berger Repht geben muss, dass die muscul\u00e4re Reaction keine Apperception einschlie\u00dft, so wird man hingegen insofern noch \u00fcber ihn hinaus gehen m\u00fcssen, als man auch die Willenserregung aus dem Schema der muscul\u00e4ren Reaction eliminirt. Diese Form der Reaction ist in der That nichts weiter\n1) Philos. Studien, Bd. Ill S. 51. Vgl. Cattell, ebendas. Bd. Ill S. 322. Die von Cattell an dieser Stelle gegebene Theorie der Reaction passt einigerma\u00dfen auf die muscul\u00e4re Reaction und stimmt mit unserer unten auszuf\u00fchrenden Theorie der muscul\u00e4ren Reactionsweise auch in manchem \u00fcberein; indessen hat\nCattell den Wesensunterschied der beiden Reactionsweisen doch noch nicht zum Ausdruck gebracht und glaubt mit der \u00bbUebung\u00ab alles erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen.","page":499},{"file":"p0500.txt","language":"de","ocr_de":"500\nLudwig Lange.\nals ein Hirnreflex; und wenn sie sich von den Reflexen niederer Centralorgane (z. B. des R\u00fcckenmarkes und der Medulla oblongata) auch dadurch unterscheidet, dass dem ganzen Acte jedesmal eine Willenserregung vor an gehen muss (vorbereitende willk\u00fcrliche Innervation der auszuf\u00fchrenden Reactionsbewegung), so erfolgt doch der Act selbst in allen diesen F\u00e4llen auf gleiche Weise mechanisch und ohne jede Betheiligung des Willens. Es w\u00fcrde sich nun weiter darum handeln, die physiologische Beschaffenheit jenes Hirnreflexes und insbesondere, wenn m\u00f6glich, auch die Bahn, welche er nimmt, des n\u00e4heren festzustellen. Zuvor aber wollen wir die sensorielle Reactionsweise einer eingehenderen psychologischen W\u00fcrdigung unterziehen.\nUnzweifelhaft findet das Wundt\u2019sche Schema auf die extrem sensorielle Reaction unver\u00e4ndert Anwendung1). Insbesondere ist hier hervorzuheben, dass man bei sensoriellen Reactionen deutlich die subjective Wahrnehmung macht, wie innerhalb des Vorganges erst ein Bewusstwerden des Eindruckes und dann der bewusste Wille2) zu reagiren sich einstellt.\nNur zu dem unter 3 angef\u00fchrten Act der Apperception mag noch eine Bemerkung hinzugef\u00fcgt werden. Nach Wundt\u2019s Apper-ceptionstheorie besteht die active Apperception eines bekannten Eindruckes, sofern sie nach vorangegangener vorbereitender Aufmerksamkeit auf denselben erfolgt, offenbar darin, dass die centripetal anlangende Erregung der Gro\u00dfhirnsinnesfl\u00e4chen eine vom Apperceptionsorgan aus (eben durch jene vorbereitende Aufmerksamkeit) bereits willk\u00fcrlich hervorgerufene \u00e4hnliche Erregung vorfindet3). In diesem Falle, dessen Bedingungen bei allen unsern sensoriellen Versuchsreihen unstreitig verwirklicht sind, kann ich mir nun nicht wohl anders denken, als dass mit der Perception\n1)\tEs verdient wohl bemerkt zu werden, dass nach der eignen deutlichen Erinnerung dieses Experimentators die von ihm selber ausgef\u00fchrten Reactionen ganz vorwiegend sensorielle gewesen sind. (Phys. Psychologie Bd. II3 S. 268.)\n2)\tEs verdient sehr der Beachtung, dass hier, obwohl im Allgemeinen ein Willensvorsatz, unmittelbar nach der Apperception zu reagiren, schon vor dem Sinneseindruck bestand, dennoch die factisch eintretende motorische Erregung abermals von der subjectiven Empfindung des Willens begleitet ist und nicht etwa unwillk\u00fcrlich, reflectorisch erfolgt.\n3)\tPhys Psychologie Bd. I3, S. 233 ff.","page":500},{"file":"p0501.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den' Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 501\nunmittelbar auch die Apperception gegeben ist. Die Appercep-tionsdauer in unseren sensoriellen Versuchsreihen w\u00fcrde danach gleich Null sein.\nAnders st\u00fcnde es freilich bei sensoriellen Reactions versuchen, in welchen dem Haupteindruck keinerlei Signal vorausgeschickt w\u00fcrde, und in welchen au\u00dferdem auch der Reagent seinerseits absichtlich vermiede, sich den Eindruck, ehe derselbe wirklich vorliegt, vorzustellen. In derartigen Versuchen w\u00fcrde der Reactionsact sicherlich eine messbare Apperceptionsdauer einschlie\u00dfen, daneben w\u00fcrde aber gewiss auch die Willenserregung so sehr viel sp\u00e4ter erfolgen, dass nicht leicht zu ersehen w\u00e4re, welcher Antheil an der Verl\u00e4ngerung dem einen, und welcher dem anderen Abschnitte des Vorganges zuk\u00e4me. Bei Versuchen dieser Art kann aber, wie mir scheint, die stattfindende Apperception auch nur als eine passive aufgefasst werden. Insofern allerdings, als der Reagent vor jedem Versuche ganz im allgemeinen durch einen Willensact sich vorn\u00e4hme, dem stattfindenden Eindruck, sobald er erfolgt, seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, k\u00f6nnte es scheinen, als wenn die eintretende Apperception doch eine active Apperception w\u00e4re, wenngleich eine solche ohne vorhergehende Aufmerksamkeit auf den Eindruck. Indessen hat man bei Ausf\u00fchrung eines derartigen Versuchs subjectiv die deutliche Empfindung, dass trotz des vorangegangenen Willensactes die Zuwendung der Aufmerksamkeit nachher doch durchaus unwillk\u00fcrlich, reflectorisch erfolgt1); und danach w\u00fcrde die erfolgende Apperception doch wohl richtiger als eine passive, wenngleich als eine willk\u00fcrlich vorbereitete passive zu bezeichne# sein. Wenn der Reagent aber auch jenen allgemeinen Vorsatz, dem Eindr\u00fccke baldigst .seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, unterl\u00e4sst und es ganz dem Zufall anheimgibt, wie und wann die Aufmerksamkeit auf den Eindruck erfolgt2), dann wird die eintretende Apperception ganz zweifellos eine passive und zwar eine unvorbereitetepassive Apperception sein.\n1)\tAehnlich wie die muscul\u00e4re Reaction, trotz Voransendung eines Willensvorsatzes schlie\u00dflich unwillk\u00fcrlich, reflectorisch eintritt.\n2)\tMan denke z. B. an die F\u00e4lle, wo Einem nach Weglegung einer Zeitung pl\u00f6tzlich die Vorstellung eines Namens aufsteigt, den man nie zuvor geh\u00f6rt oder gelesen zu haben glaubt, und der sich dann auf dem Blatte wiederfindet.","page":501},{"file":"p0502.txt","language":"de","ocr_de":"502\nLudwig Lange.\nBeide Arten der passiven Apperception, sowohl die willk\u00fcrlich vorbereitete als auch die unvorbereitete, werden unstreitig eine gewisse Zeit in Anspruch nehmen, und zwar diese jedenfalls noch mehr Zeit als jene. Dahingegen wird, um es zu wiederholen, in unseren sensoriellen Versuchen mit Signal (wo es sich nur um eine active Apperception nach vorbereitender Aufmerksamkeit handeln kann) die Apperception wohl \u00fcberhaupt keine weitere Zeit erfordern.\nWenden wir uns nun zu einer physiologischen Betrachtung der muscul\u00e4ren Reaction. Auf die au\u00dferordentliche Verwandtschaft dieser Reactionsform mit gew\u00f6hnlichen Reflexbewegungen ist schon hingewiesen worden. Der einzige wesentliche Unterschied liegt darin, dass der Reflex der muscul\u00e4ren Reaction, so unwillk\u00fcrlich er auch eintritt, unter dem vorbereitenden Einfl\u00fcsse des Willens steht, indem er nur dann erfolgt, wenn der Reagent den Vorsatz zur Reaction gefasst und dementsprechend f\u00fcr vorbereitende Innervation der reagirenden Muskelgruppe Sorge getragen hat. Wie ist nun dieser vorbereitende Einfluss des Willens physiologisch zu denken?\nZun\u00e4chst ist soviel klar, dass, wenn auch die vorbereitende Innervation zweifellos von einem willk\u00fcrlichen Bewegungscentrum ausgeht, dann doch die unwillk\u00fcrlich eintretende Reactionsbewegung selbst in einem Centrum niederer Ordnung ihren Ausgangspunkt haben muss. M.a. W. das Centrum willk\u00fcrlicher Bewegung der reagirenden Muskelgruppe t wird abseits liegen von der Reflexbahn Sei C\u2019C\u00e7M, welche vom Sinnesorgan S durch das vermittelnde Centralorgan C bis zur Muskelgruppe M f\u00fchrt1). Da aber weiterhin der Reflex doch nicht ohne willk\u00fcrlich vorbereitende Bewegungsinnervation erfolgt, so werden wir annehmen m\u00fcssen, dass Wmit C in leitender Verbindung steht. Ueber die Art und Weise aber, wie der Einfluss von W zu denken sei, liegt am n\u00e4chsten wohl die folgende Hypothese, die, wie ich glaube, au\u00dferordentlich vieles f\u00fcr sich hat.\n1) In der beistehenden Figur bedeuten ct und c2 eingeschobene Gangliensubstanz, welche f\u00fcr unsere Frage von nebens\u00e4chlicher Bedeutung ist.","page":502},{"file":"p0503.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 503\nIch habe bereits im vorigen Abschnitte bervorgeboben, dass keineswegs die mehr oder minder gro\u00dfe Spannung der zur Reaction bestimmten Muskelgruppe als Kriterium der vorbereitenden Bewegungsinnervation anzuseben sei: eine solche Spannung pflegt zwar nie ganz auszubleiben, aber die Erfahrung zeigt, dass die Vorbereitung bei ganz minimaler Spannung reichlich eben so gut gewesen sein kann, als bei hohen Spannungsgraden, wonach also die Spannung der Muskeln nur als etwas secund\u00e4res zu betrachten ist. Diese Thatsache dr\u00e4ngt zu folgender Vermuthung: der der Reaction vorausgehende Einfluss von Wauf C besteht darin, dass W dem C eine Quantit\u00e4t Energie \u00fcbertr\u00e4gt, welche aber zun\u00e4chst in C nur als potentielle Energie, wenngleich in labilem Gleichgewichte zur\u00fcckgehalten wird. Trifft nun von S eine einigerma\u00dfen starke Erregung in C ein, so wird dieselbe hinreichen, um das labile Gleichgewicht umzusto\u00dfen; die frei gewordene Energie wird nach M fortschreiten und hier in Muskelcontractionen sichtbar werden. Die schwachen, oben als secund\u00e4r gekennzeichneten Muskelspannungen, welche der Reaction vorangehen, w\u00fcrden sich unter dieser Voraussetzung daraus erkl\u00e4ren, dass es dent W nicht vollkommen gelungen ist daf\u00fcr ' zu sorgen, dass die nach C \u00fcbertragene Energie hier in ihrer latenten Form zur\u00fcckgehalten wird : \u00e4hnlich, wie bei einem schlecht verschlossenen Beh\u00e4lter mit comprimirter Luft ganz allm\u00e4hlich kleine Mengen der eingeschlossenen Spannkraft entweichen, so gehen von C aus ganz allm\u00e4hlich kleine Mengen von Energie nach M \u00fcber und bewirken hier jene secund\u00e4ren Muskelspannungen.\nDie Thatsache, dass bei muscul\u00e4ren Reactionen sowohl das arithmetische Mittel wie auch die mittlere Variation der gewonnenen Zeiten so au\u00dferordentlich viel kleiner sind, als bei sensoriellen, erkl\u00e4rt sich in Folge dieser Hypthese einfach daraus, dass bei der ersteren Reactionsform eine weit geringere Menge grauer Substanz durchlaufen wird als bei der letzteren.\nFerner wird nun auch klar, warum bei der muscul\u00e4ren Reaction (was bei der sensoriellen nie eintritt) auf jeden eingeschobenen Vexir-reiz fremder Sinnesqualit\u00e4t mit Nothwendigkeit ebenfalls reagirt wird. Wir haben nur n\u00f6thig, die Annahme hinzuzuf\u00fcgen, dass von den Sinnesorganen S' und S\" (Fig. 3) ebenfalls Leitungsbahnen zum\nWundt, Philos. Studien. IV.\t33","page":503},{"file":"p0504.txt","language":"de","ocr_de":"504\nLudwig Lange.\nCentrum G hinf\u00fchren. Wenn dann einmal in C ein Quantum latenter (nach M tendirender) Energie gelegen ist, so wird jede in C eintreffende Erregung, einerlei ob sie von S' oder S\u201c kommt, das labile Gleichgewicht zerst\u00f6ren.\nWeiterhin wird auch die Erfah-rungsthatsache, dass gerade bei der muscul\u00e4ren Reactionsform so leicht vorzeitige \u00dfegistrirungen unterlaufen (die bei der extrem sensoriellen vollkommen fehlen), unmittelbar verst\u00e4ndlich, wenn wir nur annehmen, dass C auch mit den centralen Sinnesfl\u00e4chen 2, 2', 2' (Fig. 4) in Verbindung steht. Stellen wir n\u00e4mlich eine Reihe rasch aufeinander folgender muscul\u00e4rer Reactionen mit constantem Intervall an, so wird schon nach einigen Versuchen mitNothwendigkeit der Fall eintreten, dass um die constante Zwischenzeit vom Signal geschieden in 2 die Vorstellung des Reizes auftaucht: die mit dieser Vorstellung verbundene Erregung wird sich nach C fortpflanzen und hier das Gleichgewicht umsto\u00dfen. Nun kann unter Umst\u00e4nden die von 2 ausgehende Vorstellungserregung eher in C anlangen, als die von S ausgehende Sinneserregung; und in diesem Falle eben erhalten wir eine vorzeitige Registrirung.\nEndlich f\u00e4llt von der entwickelten Theorie aus ein helles Licht auch auf eine Thatsache, die ich bisher noch gar nicht angef\u00fchrt habe. Bei muscul\u00e4ren Reactionen ist es n\u00e4mlich schwierig \u2014 wenn auch keineswegs unm\u00f6glich \u25a0\u2014* zu vermeiden, dass die eintretende Reactionsbewegung mehr als das zur Reaction urspr\u00fcnglich bestimmte Glied, dass sie alsd statt der Hand z. B. den ganzen Arm (stellenweise selbst noch den Rumpf) ergreift. Auf Grund unserer Hypothese werden wir dies daraus erkl\u00e4ren, dass (\u00e4hnlich, wie von C nach M unbeabsichtigter Weise einige Energie\nFig. 4.","page":504},{"file":"p0505.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 505\nabflie\u00dft) innerhalb von G eine unbeabsichtigte Irradiation der Energie stattfindet, welche nur von W aus durch besondere Willensanstrengung vermieden werden kann.\nDass \u00fcbrigens von h\u00f6heren Centren aus vor\u00fcbergehend irgendwelche Functionen an niedere \u00fcbertragen werden k\u00f6nnen, dies ist eine Grundanschauung, welche von der Nervenphysiologie schon allgemein angenommen sein d\u00fcrfte. In der That kann es sich wohl nur aus einer solchen Uebertragung erkl\u00e4ren, wenn die urspr\u00fcnglich vom Willen aus eingeleitete Gehbewegung schlie\u00dflich unwillk\u00fcrlich und reflectorisch sich fortsetzt ; oder wenn beim Gehen unser K\u00f6rper eine schon l\u00e4ngere Zeit vorher beschlossene \u00dfichtungs\u00e4nderung ausf\u00fchrt, w\u00e4hrend dessen wir mit unserem gesammten Bewusstsein bereits bei ganz anderen Dingen sind, u. s. w. Ganz besonders verdient aber hervorgehoben zu werden, dass die neueren Untersuchungen der nerv\u00f6sen Leitungsbahnen zu Ergebnissen gef\u00fchrt haben, welche mit unserer Hypothese in bestem Einkl\u00e4nge stehen.\nIch gehe hiermit zu der weiteren Frage \u00fcber, ob es nicht m\u00f6glich ist, unser im obigen gewonnenes allgemein physiologisches Schema in bestimmter Weise in das gegebene menschliche Nervensystem einzuordnenr d. h. insbesondere den Centren W und 0 bestimmte Orte innerhalb der Centralgebiete anzuweisen. F\u00fcr W d\u00fcrfte nun in der That nach den Ergebnissen der pathologischen Beobachtung ziemlich feststehen, dass dieses Centrum innerhalb der Centralwindungen der Gro\u00dfhirnhemisph\u00e4ren gesucht werden muss1). Was dagegen C anlangt, so sind wir auf blo\u00dfe Yermuthungen angewiesen; indessen glaube ich, dass die im Folgenden beigebrachten Gr\u00fcnde so zutreffend sind, als es Argumente auf diesem hypothetischen Gebiete bis jetzt sein k\u00f6nnen.\nNach dem Vorangegangenen haben wir an eine Hirnregion, sofern dieselbe mit C identisch sein soll, folgende Forderungen zu stellen : sie muss\n1)\tmit den verschiedenen peripherischen Sinnesorganen, und zwar nach unseren Versuchen wenigstens mit dem Geh\u00f6r, Gesicht und Getast,\n2)\tmit den entsprechenden centralen Sinnesfl\u00e4chen,\n1} Wundt, Physiol. Psychologie Bd. I3, S. 167.\n33*","page":505},{"file":"p0506.txt","language":"de","ocr_de":"506\nLudwig Lange.\n3)\tmit der reagirenden Muskelgruppe, und endlich\n4)\tmit den Centren f\u00fcr die willk\u00fcrliche Contraction dieser Muskelgruppe in unzweifelhafter Verbindung stehen.\nSchauen wir uns nun im Bau des menschlichen Gehirns n\u00e4her um, so kommen, wie ich glaube, nur zwei Zellencomplexe ernstlich in Betracht :\na)\tder Sehh\u00fcgel, comhinirt mit den Vierh\u00fcgeln,\nb)\tdas Cerebellum.\nWas zun\u00e4chst die Combination von Seh- und Vierh\u00fcgeln anlangt, so scheint in der That manches daf\u00fcr zu sprechen, dass hier unser Centrum C gelegen sei. Anatomisch steht fest, dass in den Vierh\u00fcgeln Opticusfasern mit motorischen E\u00fcckenmarksfasern zusammenlaufen1) ; und in voller Uebereinstimmung hiermit haben physiologische Versuche gelehrt, dass vermittelst der corpora qua-drigemina eine reflectorische Regulirung von K\u00f6rperbewegungen durch Gesichtseindr\u00fccke stattfinden kann2). Ferner ist auch die Verbindung der Vierh\u00fcgel mit den h\u00f6heren optischen Centralgebieten unbestreitbar3), und endlich stehen diese Ganglien wenigstens durch Vermittlung des thalamus opticus auch mit den motorischen Rindengebieten in Zusammenhang4). Es scheinen sich also zur Erkl\u00e4rung der muscul\u00e4ren Reaction auf Licht die Vierh\u00fcgel ohne Weiteres als passende Mittelglieder darzubieten. Indessen fordern wir von dem Centrum (7, dass es mindestens auch zur Erkl\u00e4rung der muscul\u00e4ren Geh\u00f6rs- und Tastreactionen geeignet sei, und hier lassen uns die Vierh\u00fcgel, f\u00fcr sich allein betrachtet, g\u00e4nzlich im Stich.\nWie nun \u00fcberhanpt eine gegebene centrale Function nicht immer streng an einen bestimmten anatomisch umschriebenen Gehimtheil gebunden zu sein braucht, so haben wir uns auch von vornherein vor dem Vorurtheil zu bewahren, als m\u00fcsse das Centrum C gerade nothwendig mit einer einzelnen bestimmten Abtheilung des Gehirnes identisch sein; vielmehr ist an sich recht wohl denkbar, dass sich verschiedene niedere Centralgebiete in die Function von C theilen. In diesem Sinne k\u00f6nnte man die Behauptung wagen, dass die Vier-\n1)\tWundt, a. a. O. I3, S. 144. 200.\n2)\tEbendas. S. 200.\n3)\tEbendas. S. 144.\n4)\tEbendas. S. 145.","page":506},{"file":"p0507.txt","language":"de","ocr_de":"i\\eue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 507\nh\u00fcgel von den Sehh\u00fcgeln in gewissem Grade erg\u00e4nzt werden. Wenn in der That, wie Wundt annimmt, die Sehh\u00fcgel Reflexcentren des Tastsinnes darstellen*), so w\u00fcrde die Erkl\u00e4rung der muscul\u00e4ren Tastreactionen unter Hinzunahme der Sehh\u00fcgel keine gro\u00dfen Schwierigkeiten mehr bereiten; um so mehr als das, was man \u00fcber die Yerbindungen der thalami durch anatomische Untersuchungen festgestellt hat, im Allgemeinen vortrefflich mit den von uns an das Centrum G gestellten Anforderungen \u00fcbereinstimmt. Nur die Deutung der muscul\u00e4ren Schallreactionen w\u00fcrde, da weder anatomisch noch physiologisch bis jetzt Beziehungen des Sehh\u00fcgels zu den Geh\u00f6rsfunctionen nachgewiesen zu sein scheinen1 2), auf Hindernisse sto\u00dfen. Was nun diesen Punkt anlangt, so k\u00f6nnte man einestheils darauf hinweisen, dass die anatomischen und physiologischen Untersuchungen noch keineswegs abgeschlossen sind; anderntheils w\u00e4re auch die M\u00f6glichkeit nicht ohne weiteres in Abrede zu stellen, dass f\u00fcr die Schallreactionen ein besonderes, von Seh- und Vierh\u00fcgeln getrenntes Centrum C anzunehmen sei (s. o.).\nSehen wir nun weiterhin zu, wie es mit der Annahme steht, wonach das Centrum G im Kleinhirn seinen Sitz h\u00e4tte.\nF\u00fcr das Cerebellum ist allerdings anatomisch sicher nachgewiesen nur:\na)\tDie unmittelbare Verbindung mit der sensorischen Kleinhirnseitenstrangbahn : dieselbe w\u00fcrde sich mit der geforderten Zuleitung von den Tastorganen her gen\u00fcgend decken.\nb)\tDie Verbindung mit den motorischen Regionen des Cortex (KLeinhimbr\u00fcckenbahn), d. h. mit den Centren der willk\u00fcrlichen Muskelinnervation.\nc)\tDie Verbindung mit den sensorischen Regionen der Gro\u00dfhirnrinde (Kleinhirn-Gro\u00dfhirnbahn), d. h. mit den centralen Sinnesfl\u00e4chen.\nHierzu kommt als sehr wahrscheinlich noch:\nd)\teine motorische Bahn zum R\u00fcckenmark : in derselben w\u00fcrde die geforderte Verbindung mit der reagirenden Muskelgruppe gegeben sein3).\n1)\tEbendas. S. 204.\n2)\tEbendas. S. 207.\n3)\tVgl. Wundt, Psychologie Bd I3, S. 144f.","page":507},{"file":"p0508.txt","language":"de","ocr_de":"508\nLudwig Lange.\nUm nun die muscul\u00e4re Reaction f\u00fcr alle drei fraglichen Sinnesgebiete auf das Cerebellum zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen, m\u00fcsste dem Obigen zufolge ferner noch angenommen werden:\ne)\tEine sensorische Verbindung des Kleinhirns mit den nervus opticus.\nf)\tEine ebensolche mit dem acusticus.\nDiese beiden Leitungsbahnen sind aber nach dem, was man \u00fcber die physiologischen Functionen des Kleinhirns ver-muthet, wahrscheinlich ebenfalls vorhanden1).\nNun ist freilich zuzugeben, dass die hier angef\u00fchrten Daten f\u00fcr das Kleinhirn noch keine viel gr\u00f6\u00dfere Wahrscheinlichkeit ergeben, als die oben beigebrachten f\u00fcr Seh- und Vierh\u00fcgel. Indessen glaube ich, dass bei n\u00e4herer Betrachtung der bisher bekannten Cerebellarfunctionen doch noch wesentliche Gr\u00fcnde hinzukommen, um gerade dem kleinen Gehirn den Vorzug zu geben.\nNach Wundt, dessen Ansicht ich mich vollst\u00e4ndig anschlie\u00dfe, besteht die wichtigste Aufgabe des Cerebellums darin, dass es auf Grund sensibler in ihm anlangender Empfindungsreize unmittelbar (reflectorisch) diejenigen motorischen Innervationen ausl\u00f6st, durch welche die Willensbewegungen in Einklang gebracht werden mit der Lage des K\u00f6rpers im Raume2). Nun wei\u00df man, dass in Bezug auf die Erhaltung des K\u00f6rpergleichgewichtes die Uebung eine eminent wichtige Rolle spielt, und zwar nicht nur beim Kinde, welches gehen lernt, sondern auch beim Erwachsenen, wenn er es unternimmt, unter erschwerenden Bedingungen (z. B. zu Pferde, auf dem Zweirad, oder gar auf dem Seil) fortdauernd im Gleichgewicht zu bleiben. Thats\u00e4chlich sind f\u00fcr den angehenden Reiter diejenigen Reflexe, welche ihn vor dem Abgeworfenwerden bewahren, zun\u00e4chst nichts weiter als zusammengesetztemuscul\u00e4reReactionen; denn der feste Wille, jedem Seitensprunge des Thieres in entsprechender Weise sich anzupassen, muss anfangs best\u00e4ndig vorhanden sein, damit die Reflexe richtig erfolgen. Erst allm\u00e4hlich scheint sich das Kleinhirn in diesen seinen Verrichtungen vom Gro\u00dfhirn unabh\u00e4ngig zu machen, indem sich, wie man etwa vermuthen kann, seine spe-\nll Ebendas. S. 216. 217.\n2) Psychologie I3, S. 209 ff.","page":508},{"file":"p0509.txt","language":"de","ocr_de":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke. 509\nciellen Ern\u00e4hrungsbedingungen der h\u00e4ufig wiederholten, urspr\u00fcnglich blo\u00df vermittelnden Junction anpassen und dadurch dann selbst\u00e4ndige Energieherde schaffen*).\nWenn nun, wie hiernach feststehen d\u00fcrfte, die Gleichgewichtsreflexe des kleinen Gehirns urspr\u00fcnglich durchaus den Charakter von muskul\u00e4ren Reactionen an sich tragen, so scheint hieraus in Verbindung mit dem fr\u00fcher Hervorgehobenen Grund genug zu entspringen, um gerade im Kleinhirn das Centralorgan der muscul\u00e4ren Reactionen \u00fcberhaupt zu vermuthen. Nat\u00fcrlich aber kann es sich hier vorl\u00e4ufig nur um eine Vermuthung handeln, und die Aufgabe sp\u00e4terer Untersuchungen wird es sein, dieselbe sei es zu best\u00e4tigen, sei es zu widerlegen. So wird man z. B. Versuche dar\u00fcber anstellen k\u00f6nnen, ob die muscul\u00e4re Reaction in unver\u00e4nderter Weise erhalten bleibt, wenn ein galvanischer Strom durch das Hinterhaupt des Reagenten geleitet wird. Findet sich eine wesentliche Ver\u00e4nderung, so w\u00fcrde damit die aufgestellte Hypothese an Wahrscheinlichkeit gewinnen; im entgegengesetzten Falle w\u00fcrde sie, wenngleich nicht ganz widerlegt, so doch immerhin ins Wanken gebracht werden. Mag man \u00fcbrigens die bisher angef\u00fchrten Argumente stichhaltig genug finden oder nicht, so d\u00fcrfte es doch immerhin gelungen sein, im menschlichen Gehimbau Organe nachzuweisen, welche mit dem vorausgesetzten Centrum C auffallende Analogien darbieten.\nNachdem wir so dem muscul\u00e4ren Reactionsvorgang eine n\u00e4here physiologische Discussion gewidmet haben, k\u00f6nnte man etwas \u00e4hnliches f\u00fcr die sensorielle Reaction erwarten. Indessen habe ich bereits hervorgehoben, dass ich mich in der psychologischen Deutung dieser Reactionsform durchaus dem Wundt\u2019sehen Schema anschlie\u00dfe; und einer localisirenden Angabe der psychophysischen Erregungsvorg\u00e4nge, von welchen dieselbe begleitet ist, glaube ich mich nun um so mehr entziehen zu k\u00f6nnen, als in dieser Hinsicht alles Wesentliche sich von selbst ergibt.\n1) Uebrigens scheint es, als ob diese selbst\u00e4ndigen Energieherde als solche auch nur durch best\u00e4ndigen Gebrauch erhalten w\u00fcrden: so findet man nach l\u00e4ngerem Krankenlager, auch ohne dass merkliche Muskelschw\u00e4che eingetreten w\u00e4re, stets bedeutende Schwierigkeiten, sich beim Gehen im Gleichgewicht zu erhalten.","page":509},{"file":"p0510.txt","language":"de","ocr_de":"510 Ludwig Lange. Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction etc.\nFassen wir die Hauptresultate dieses Abschnittes nochmals kurz zusammen, so lauten dieselben dahin:\n1)\tIn der sensoriellen Reaction nach vorbereitender Aufmerksamkeit f\u00e4llt die Apperception mit der Perception wahrscheinlich zeitlich zusammen; d. h. die active Apperceptionsdauer besitzt vermuthlich den Werth Null.\n2)\tDie muscul\u00e4re Reaction schlie\u00dft \u00fcberhaupt keine Apperception und ebensowenig einen Willensact ein; sie stellt vielmehr eine unwillk\u00fcrliche, reflectorische Bewegung dar, allerdings eine solche, die unter dem nachwirkenden Einfl\u00fcsse eines vorangegangenen Willensimpulses erfolgt. Als vermittelndes Centralorgan dieses Him-reflexes d\u00fcrfte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit das kleine Gehirn zu betrachten sein.","page":510}],"identifier":"lit4153","issued":"1888","language":"de","pages":"479-510","startpages":"479","title":"Neue Experimente \u00fcber den Vorgang der einfachen Reaction auf Sinneseindr\u00fccke, Erster Artikel","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:37:15.377145+00:00"}