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{"created":"2022-01-31T14:24:58.820606+00:00","id":"lit4156","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Reichardt, Wilibald","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 4: 595-639","fulltext":[{"file":"p0595.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Mathematik.\nVon\nWilibald Reichardt.\nI. Einleitung: Stellung der Lehre Kant\u2019s von den synthetischen Urtheilen a priori innerhalb seines Systems der kritischen Philosophie.\nDer erste Ausblick auf eine kritische Philosophie, die mit voller Entschiedenheit der Metaphysik des Leibniz-Wolff\u2019sehen Dogmatismus entgegentreten sollte, er\u00f6ffnete sich f\u00fcr Kant mit der Einsicht, dass die Metaphysik zun\u00e4chst nur eine Wissenschaft von den Grenzen menschlicher Vernunft sein k\u00f6nne. Nachdem einmal die Unm\u00f6glichkeit einer jeden Erkenntniss des Ueber-sinnlichen feststand, blieb in der That diese Auffassung als die allein haltbare \u00fcbrig, wenn anders die Metaphysik nicht vollst\u00e4ndig mit der Erfahrung zusammenfallen sollte.\nFundamentale Forderung einer Metaphysik, deren Absicht auf die Untersuchung der Grenzen der menschlichen Vernunft ging, war es ohne Zweifel, sich Klarheit zu verschaffen von der Leistung dieses Geistesverm\u00f6gens, d. h. von dem Begriff der Erkenntniss; sie musste sich also allererst die Frage vorlegen : Worin besteht das, was wir Erkenntniss nennen? oder kurz: Was ist Erkenntniss?\nJede Erkenntniss spricht sich aus in einem Urtheil. Soll ein solches Urtheil eine wirkliche Erkenntniss enthalten, so wird es weder ein blo\u00dfes Resultat der Logik noch Ausdruck einer directen Wahrnehmung sein d\u00fcrfen. Im ersteren Falle w\u00e4re sein Inhalt selbst-","page":595},{"file":"p0596.txt","language":"de","ocr_de":"596\nWilibald Reichardt.\nverst\u00e4ndlich, im zweiten nur zuf\u00e4llig. In der Sprache Kant\u2019s lautet die so gewonnene Einsicht: Alle wirkliche Erkenntniss besteht in synthetischen Urtheilen a priori. So wird Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori grundlegend f\u00fcr seine gesammte kritische Philosophie.\nAber auch f\u00fcr die Gliederung des ganzen Baues derselben ist sie von hoher Bedeutung. Ist n\u00e4mlich einmal der Begriff der Erkenntniss genau bestimmt und begrenzt, so wird noch eine weitere Frage vorbereitender Art zu beantworten sein : Ist auch wirklich die Existenz einer solchen Erkenntniss m\u00f6glich, oder ist vielleicht der Begriff derselben ein blo\u00dfes Product unserer Einbildungskraft?\nDie Beantwortting dieser Frage geschieht durch die thats\u00e4ch-liche Aufdeckung (berechtigter oder unberechtigter) synthetischer Urtheile a priori. Das damit erlangte Resultat gibt aber sofort Anlass zu einer specielleren Fragestellung: Wo, innerhalb welcher Wissenschaften finden sich dergleichen synthetische Urtheile a priori vor? Kant nennt als diese Wissenschaften auf der einen Seite die Mathematik, auf der anderen Seite die Metaphysik, und zwar sowohl die Metaphysik der Erscheinungen (die Naturwissenschaft), als auch die Metaphysik des Uebersinnlichen, der Dinge an sich.\nDie S\u00e4tze der Mathematik und die Lehren der Metaphysik sind nun aber synthetische Urtheile a priori von wesentlich verschiedener Art. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Synthese, die in ihnen vollzogen wird. Diese Verkn\u00fcpfung n\u00e4mlich h\u00e4ngt von der Beschaffenheit der Begriffe ah, die im Urtheile zu einer Erkenntniss verbunden werden. Die Begriffe der Mathematik betreffen nur die anschauliche Form der wirklichen Dinge, wie sie uns erscheinen ; die Gegenst\u00e4nde der Metaphysik dagegen sind die wirklichen Dinge \u00f6der doch die Erscheinungen derselben seihst. Die Mathematik gewinnt demgem\u00e4\u00df ihre Urtheile durch eine Synthese in der Anschauung, durch eine anschauliche Construction; die Metaphysik dagegen kann die Verkn\u00fcpfung ihrer Gegenst\u00e4nde nur durch das Denken vollziehen. Das eine Mal geschieht die Synthese durch das Anschauungsverm\u00f6gen, die Sinnlichkeit, das andere Mal durch das begriffliche Verm\u00f6gen, den Verstand. Der Eintheilung der synthetischen Urtheile a priori in mathematische und metaphysische geht","page":596},{"file":"p0597.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen Urtheilcn a priori in ihrer Bedeutung etc. 597\nalso die Trennung des Erkenntnissverm\u00f6gens in zwei wohl zu unterscheidende Eormen parallel: Sinnlichkeit (anschauliches Erkenntnisverm\u00f6gen) und Verstand (begriffliches Erkenntnissverm\u00f6-gen). Augenscheinlich beruht diese Eintheilung der Erkenntniss-verm\u00f6gen auf einem Artunterschiede, nicht blo\u00df auf einem Unterschiede hinsichtlich des Grades der Deutlichkeit; auf einer Verschiedenheit hinsichtlich der Qualit\u00e4t und nicht auf einer Differenz quantitativer Art; die gedachte Vorstellung ist ebensowenig ein schwacher sinnlicher Eindruck (wie die englische Erfahrungsphilosophie behauptet), als sich umgekehrt die sinnliche Wahrnehmung aus dunklen, verworrenen Vorstellungen zusammensetzt (wie dies die Leibniz-Wo Iff\u2019sehe Metaphysik lehrt). F\u00fcr die kritische Untersuchung der menschlichen Vernunft, die von einer kritischen Philosophie verlangt wird, schlie\u00dft der so gefasste Unterschied von Sinnlichkeit und Verstand die erste werthvolle Einsicht in sich: Diese Vernunftkritik muss einmal sein eine Untersuchung der Sinnlichkeit und danach eine Untersuchung des Verstandes.\nWorin nun aber muss jede dieser beiden kritischen Untersuchungen bestehen, welche Aufgabe hat jede von ihnen zu l\u00f6sen?\nDie Sinnlichkeit beth\u00e4tigt sich bei der Bildung der mathematischen, der Verstand bei der Entstehung der metaphysischen synthetischen Urtheile a priori. Die allgemeine Aufgabe der Vernunftkritik wird daher so formulirt werden k\u00f6nnen : Wie sind synthetische Urtheile a priori m\u00f6glich? Welches sind die einzig m\u00f6glichen Bedingungen f\u00fcr die Gewinnung wirklicher Erkenntnisse ? Diese Hauptfrage der Vernunftkritik spaltet sich nach der \u00fcber die doppelte Art des menschlichen Erkenntnissverm\u00f6gens gewonnenen Einsicht sofort in die beiden nach einander zu beantwortenden Unterfragen : Wie sind die synthetischen Urtheile a priori der Mathematik, wie diejenigen der Metaphysik m\u00f6glich? oder in k\u00fcrzerer Fassung: Wie ist reine Mathematik, wie Metaphysik m\u00f6glich? Die Antwort auf die erstere dieser Fragestellungen gibt die transcendentale Aesthetik; die Beantwortung der zweiten Frage macht den Inhalt der transcendentalen Logik aus.\nDie Gegenst\u00e4nde der Metaphysik sind nun theils die Erschei-","page":597},{"file":"p0598.txt","language":"de","ocr_de":"598\nWilibatd Reichardt,\nnungen, theils die Dinge an sich. Mit den ernteten befasst Bich die Naturwissenschaft, mit den letzteren die Metaphysik im engeren Sinne, die Metaphysik des Uebersinnlichen. An Stelle der letzteren der beiden obengenannten Fragen treten also die folgenden beiden anderen: Wie sind naturwissenschaftliche, wie metaphysische (im engeren Sinne) synthetische Urtheile a priori m\u00f6glich? oder k\u00fcrzer: Wie ist reine Naturwissenschaft, wie Metaphysik des Uebersinnlichen m\u00f6glich? Indem die transcendent\u00e4le Logik diese beiden Fragen successive beantwortet, wird sie zun\u00e4chst zur transcendentalen Analytik und darauf zur tr\u00e4n sc en dentalen Dialektik.\nLetztes Ziel der Vemunftkritik wird sein, durch gegenseitige Abw\u00e4gung der nothwendigen Bedingungen, die durch transcenden-tale Aesthetik, Analytik und Dialektik f\u00fcr die Erkenntnisse der reinen Mathematik, der reinen Naturwissenschaft und der Metaphysik des Uebersinnlichen aufgedeckt werden, die Rechtm\u00e4\u00dfigkeit dieser dreierlei Erkenntnisse zu erschlie\u00dfen. Am wenigsten bestreitbar erscheint von vornherein die Berechtigung der reinen Mathematik und darnach die der reinen Naturwissenschaft. Wenn sich also am Schl\u00fcsse der genannten Untersuchung herausstellett sollte, dass die Bedingungen der reinen Mathematik (und die der reinen Naturwissenschaft) auf dem Boden der menschlichen Vernunft unvereinbar land mit denen der Metaphysik, So wird es kaum mehr zweifelhaft sein, dass die metaphysische Erkenntniss der Berechtigung entbehrt. Der letzte Zweifel dar\u00fcber wird gehoben werden, wenn man zu der Einsicht gelangt, dass die reine Mathematik zwar die Thatsache einer (wenn auch unberechtigten) Metaphysik erkl\u00e4rt, nicht aber umgekehrt die Metaphysik die Thatsache der reinen mathematischen Erkenntniss. Der richtige Einblicken die innere Natur der mathematischen Erkenntnisse wird also zum Regulativ f\u00fcr alle weitere Kritik der reinen Vernunft.\nDiese wenigen Bemerkungen \u00fcber das Verh\u00e4ltniss der Lehre KaUt\u2019s von den synthetischen Urtheilen a priori zum ganzen Bau seiner Kritik der reinen Vernunft m\u00f6gen gen\u00fcgen, die hohe Bedeutung derselben f\u00fcr seine Vernunftkritik au\u00dfer allen Zweifel zu stellen. Sie bildet f\u00fcr letztere den Ausgangspunkt und verhilft zu","page":598},{"file":"p0599.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 599\neiner genauen Fassung ihres Gesammtproblems sowohl wie der einzelnen Aufgaben, die in diesem enthalten sind. Es lohnt daher wohl an sich schon der M\u00fche, diese Lehre Kant\u2019s von den synthetischen Urtheilen a priori einer eingehenden Darstellung und \\ Pr\u00fcfung zu unterziehen; und dabei wird es in Folge der fundamentalen Wichtigkeit einer richtigen Auffassung der wissenschaftlichen Natur der Mathematik f\u00fcr die gesammte Yemunftkritik vollkommen gerechtfertigt erscheinen, wenn die kritische Untersuchung der mathematischen Urtheile eine besondere Ber\u00fccksichtigung erf\u00e4hrt. Zweierlei aber ist es, wodurch die Kantische Lehre, zumal soweit sie sich auf die Axiome und Lehrs\u00e4tze der Mathematik bezieht, noch erh\u00f6htes Interesse gewinnt : einmal der Charakter der Neuheit, den sie gegen\u00fcber der vorkantischen Philosophie tr\u00e4gt, und der sich insbesondere in ihrer entschiedenen Gegens\u00e4tzlichkeit zum metaphysischen Dogmatismus eines Leibniz und Wolff und zu Hume\u2019s Skepticismus kundgibt; dann aber die lebhafte Beurtheilung und eingehende Kritik, welche dieselbe in der neueren Erkenntnisstheorie gefunden hat.\nI. Kapitel.\nKant\u2019s Eintheilung der Urtheile in analytische und synthetische und in Urtheile a priori und a posteriori ; insbesondere seine Begr\u00fcndung des synthetischen und apriorischen Charakters der mathematischen\nUrtheile.\nDie Lehre Kant\u2019s von den synthetischen Urtheilen a priori ist, wie wir sahen, grundlegend f\u00fcr seine gesammte kritische Philosophie. Es kann daher nicht verwundern, wenn Kant dieselbe da zum Ausgangspunkte w\u00e4hlt, wo er eine zusammenh\u00e4ngende Darstellung seiner Yemunftkritik gibt: in der \u00bbKritik der reinen Vernunft\u00ab1) und in den \u00bbProlegomena zu einer jeden k\u00fcnftigen Metaphysik\u00ab2).\nZwei wohl zu unterscheidende Eintheilungsgr\u00fcnde s\u00e4mmtlicher\n1)\tKant\u2019s Werke, Gesammtausgabe von Rosenkranz und Schubert, Bd. 2.\n2)\tEbenda, Bd. 3, p. 1.\nWundt, Philo\u00bb. Studien. IV\n39","page":599},{"file":"p0600.txt","language":"de","ocr_de":"600\nWilibald Re\u00eechardt.\nUrtheile sind es, welche die dort entwickelte Lehre vo\u00eeaussetzt : einmal das Verh\u00e4ltniss des Pr\u00e4dicathegriffes zum Subjectbegriffe, zweitens aber der Ursprung, die Quelle des Urtbeils und der davon abh\u00e4ngige, dem Inhalte des Urtheils zugeschriebene Grad der Gewissheit. Der erste Eintheilungsgrund bedingt die Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile; nach dem zweiten Eintheilungsgrunde richtet es sich, oh ein Urtheil a priori oder a posteriori gilt. Durch Verbindung der beiden Dichotomien, zu denen man hiernach gelangt, entsteht eine Tetratomie, deren eines Glied allerdings sogleich als unm\u00f6glich fortgelassen werden muss; denn jeder analytische Satz ist ein Urtheil a priori, analytische Urtheile a posteriori gibt es nicht.\nUnter den drei Urtheilsformen, dje somit als einzig m\u00f6glich nachbleiben, nimmt eine hinsichtlich ihres Erkenntnisswerthes eine hervorragende Stellung ein : Es sind im Grunde genommen nur die synthetischen Urtheile a priori, die eine wirkliche Erkenn tniss enthalten. Diesen Urtheilen muss daher eine besonders eingehende und aufmerksame Untersuchung gewidmet werden.\nII. Analytische und synthetische Urtheile.\nUnsere erste Frage wird sein: Was versteht Kant unter einem analytischen, was unter einem synthetischen Urtheil? Durch welche Merkmale unterscheidet sich das analytische Urtheil vom synthetischen?\nWerden zwei Vorstellungen zu einem Urtheile verbunden, so kann das Verh\u00e4ltniss dieser beiden Vorstellungen zu einander von zweifacher Art sein. Entweder n\u00e4mlich ist in der Subjectvorstellung die Pr\u00e4dicatvorstellung als wesentliches Merkmal enthalten, oder nicht; entweder also wird im Subjecte der Pr\u00e4dicat-begriff nothwendig mitgedacht, oder er f\u00fcgt zum Subjectbegriffe etwas hinzu, was keinen wesentlichen Be-standtheil desselben ausmachf. Im ersteren Falle hei\u00dft das Urtheil analytisch, im zweiten synthetisch. Die Ausdehnung ist ein wesentliches Merkmal aller K\u00f6rper, man kann sich keinen K\u00f6rper denken, der nicht ausgedehnt w\u00e4re. Urtheile ich also: \u00bbAlle","page":600},{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"K'ant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 601\nK\u00f6rper sind ausgedehnt\u00ab1), so setzt dies nur voraus, dass ich den Begriff \u00bbK\u00f6rper\u00ab analysirt, in seine specifischen Merkmale aufgel\u00f6st, und eines dieser Kennzeichen namhaft gemacht habe. Das Urtheil ist also analytisch. Synthetisch dagegen ist der Satz : \u00bb Alle K\u00f6rper sind schwer\u00ab; denn mit dem Begriffe eines K\u00f6rpers denke ich nicht nothwendig gleichzeitig den Begriff der Schwere. Es sind also zwei Begriffe verbunden worden, von denen es nicht gilt, dass der eine als wesentliches Merkmal in dem anderen enthalten ist. In dem Urtheile: \u00bbDas Quadrat hat vier Seiten\u00ab ist der Pr\u00e4dicat-begriff im Subjecte mit enthalten ; die Vierzahl der Seiten wird in dem Begriffe \u00bbQuadrat\u00ab nothwendig mitgedacht; dieses Urtheil ist also analytisch. Der Satz: \u00bbDie Diagonalen eines Quadrates stehen senkrecht auf einander\u00ab ist dagegen sicherlich synthetisch. Denn ich mag die Zergliederung des Begriffes \u00bbQuadrat\u00ab (oder des Begriffes der Diagonalen des Quadrates) beliebig weit fortf\u00fchren, so werde ich doch niemals zur Einsicht des genannten Urtheils gelangen. F\u00fcr die Richtigkeit des erster en (bejahenden, analytischen) Urtheils bietet der Satz des Widerspruches volle Gew\u00e4hr. Denn die Behauptung, dass die Anzahl der Seiten des Quadrates nicht gleich vier w\u00e4re, w\u00fcrde ja mit dem Begriffe des Quadrates in Widerspruch stehen. Ebenso ist die Wahrheit des folgenden Satzes, der als verneinendes analytisches Urtheil bezeichnet werden muss, eine directe Folge des Satzes vom Widerspruche: \u00bbDas Quadrat hat nicht f\u00fcnf Seiten\u00ab. Die F\u00fcnfzahl der Seiten w\u00fcrde ja dem Begriffe des Quadrates zuwiddtlaufen.\nUeberhaupt ist der Satz vom Widerspruche Grund-princip aller analytischen Urtheile2). Denn da der Pr\u00e4-dicatbegriff in einem bejahenden analytischen Urtheile bereits im Subjectbegriffe als Merkmal enthalten ist, so w\u00fcrde die Verneinung dieses Merkmales einen Widerspruch in sich schlie\u00dfen, und ebenso erfolgt die Erkenntniss der Richtigkeit eines verneinenden analytischen Urtheils nach diesem logischen Grunds\u00e4tze ; denn ein verneinendes Urtheil wird ja gerade dann analytisch genannt werden m\u00fcssen, wenn seinem Subjecte ein Merkmal abgesprochen wird, das mit dem Begriffe desselben in Widerspruch steht.\n1)\tKrit. p. 21; Prol. p. 17.\n2)\tKrit. 2. Ausgabe, a. a. O. p. 700; Prol. p. 17.\n39*","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602\nWilibald Reichardt.\nWelches ist nun aber das Grundprincip der synthe-I tischen Urtheile? Der Satz des Widerspruches jedenfalls nicht j allein. Oder k\u00f6nnte mir etwa dieses Princip zu der Erkenntniss verhelfen, dass ich allen K\u00f6rpern das Pr\u00e4dicat der Schwere, jedem Winkel zwischen den Diagonalen eines Quadrates die Gr\u00f6\u00dfe eines Rechten zuschreibe? Sicherlich nicht. Die Beantwortung der gestellten Frage, der Frage also nach den Bedingungen, unter denen synthetisch Urtheile zu Stande kommen k\u00f6nnen, ist vielmehr (abgesehen von einem besonderen Falle, von dem sp\u00e4ter [unter III.] die Rede sein wird) mit weitaus gr\u00f6\u00dferen Schwierigkeiten verbun-I den, als die Gewinnung des Grundaxioms aller analytischen Urtheile ; und zwar bildet, wie schon einleitungsweise bemerkt wurde, die Aufdeckung und kritische Untersuchung dieser Grundlagen der synthetischen Urtheile, soweit dieselben Vernunfterkenntnisse enthalten, die Hauptaufgabe der Kritik der reinen Vernunft.\nDer verschiedenen Art der Bedingungen, unter denen die Bildung analytischer und synthetischer Urtheile vor sich geht, entspricht ein verschiedener Grad ihrer Bedeutung f\u00fcr die Gewinnung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Ein analytisches Urtheil enth\u00e4lt nur eine logische, eine selbstverst\u00e4ndliche Wahrheit und verfolgt keinen anderen Zweck, als eine der wesentlichen Eigenschaften des Subjectes besonders hervorzuheben oder die wesentlichen Elemente seines Begriffes klar vor Augen zu stellen. Jedes synthetische Urtheil dagegen schlie\u00dft eine neue Einsicht in sich, wenigstens f\u00fcr denjenigen, der von dem Subjecte nur die primitive, zur . Umgrenzung seines Begriffes eben ausreichende Vorstellung besitzt. Das analytische Urtheil erl\u00e4utert1) einen Begriff durch Aufl\u00f6sung desselben in seine Bestandteile ; das synthetische Urtheil erweitert eine Vorstellung durch Angabe neuer, au\u00dferhalb desselben liegender Merkmale. Alle eigentlichen Erkenntnissurtheile sind also sicherlich synthetisch.\nEine Classe von Urtheilen gibt es, deren synthetischer Charakter augenscheinlich v\u00f6llig au\u00dfer Zweifel steht. Es sind dies die s\u00e4mmt-lichen Erfahrungsurtheile2) (im weitesten Sinne), solche Urtheile\n1)\tKrit. p. 21 ; Prol. p. 16.\n2)\tKrit. 2. Ausgabe, p. 700 ; Prol. p. 18.","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 603\nalso, deren Inhalt entweder seihst den Gegenstand einer directen Erfahrung bildet \u2014 wie es im Wahrnehmungs\u00fcrtheile1) geschieht \u2014 oder doch wenigstens in einer Verkn\u00fcpfung wahrgenommener Erscheinungen besteht. Denn jedes Urtheil ist entweder analytisch oder synthetisch. Wie aber k\u00f6nnte ein analytisches Urtheil sich auf Erfahrung gr\u00fcnden? Ist es nicht vielmehr ein rein formal-logischer, von jedem empirischen Motive vollst\u00e4ndig unabh\u00e4ngiger Act, wenn ich aus den Merkmalen eines Begriffes eines herausgreife, um es zum Pr\u00e4dicate eines Urtheils zu machen, dessen Subject jener Begriff ist? Im Erfahrungsurtheile werden zwei That-sachen verkn\u00fcpft, die Gegenst\u00e4nde unserer sinnlichen Wahrnehmung sind. Welchen Anlass sollte unser urspr\u00fcngliches Denken haben, die eine derselben als unerl\u00e4ssliches Merkmal der anderen aufzufassen? Sage ich z. B.: \u00bbWenn die Sonne den Stein hescheint, so wird er warm\u00ab2), so gehe ich damit keineswegs einer aus logischen Gr\u00fcnden selbstverst\u00e4ndlichen Wahrheit Ausdruck. Die Thatsache, dass der Stein von der Sonne beschienen wird, enth\u00e4lt an sich nichts, was mit der zweiten Thatsache der Erw\u00e4rmung dieses Steines \u00fchereinstimmte. Das genannte Erfahrungsurtheil ist also in der That synthetisch.\nIII. Erkenntnisse a priori und Erkenntnisse a posteriori.\nJede wirkliche Erkenntniss kann, wie wir sahen, nur in einem synthetischen Urtheile ihren Ausdruck finden. Es sind nun aber nicht umgekehrt alle synthetischen Urtheile auch eigentliche Er-kenntnissurtheile. Es geh\u00f6rt dazu vielmehr noch ein weiteres Merkmal, n\u00e4mlich \u2014 um den Kantischen Ausdruck zu gebrauchen \u2014 das Merkmal der Apriorit\u00e4t. Synthetische Urtheile sind also nur dann wirkliche Erkenntnissurtheile, wenn sie gleichzeitig a priori feststehen3). Welche Bedeutung hat nun aber dieses Kantische Apriori? Wie unterscheidet sich eine Erkenntniss a priori von einem nicht apriorischen Urtheil, oder, wie Kant sagt, von einer\n1)\tProl.\tp.\t58.\n2)\tProl.\tp.\t62.\n3)\tKrit.\tp.\t23 ;\tProl. p. 28.","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nWilibald Reichardt.\nErkenntniss a posteriori? Welches also ist, das zweite charakteristische Merkmal eines eigentlichen Erkenntnissurtheils?\nWerden zwei verschiedene Vorstellungen zu einem Urtheil verbunden, so kann die Verkn\u00fcpfung derselben entweder eine noth-wendige sein oder eine nur zuf\u00e4llige, d. h. die Annahme, diese Verbindung best\u00e4nde nicht, enthielte nichts Unm\u00f6gliches. Entweder ferner kann diese Verkn\u00fcpfung in allen F\u00e4llen ohne Ausnahme, also allgemein, oder nur in particularen, durch Hinzutreten gewisser Sonderbedingungen ausgezeichneten F\u00e4llen stattfinden. Nothwendigkeit und strenge Allgemeinheit und ebenso Zuf\u00e4lligkeit und Particularit\u00e4t sind aber stets an einander gebundenl). Jedes Urtheil ist also entweder noth wendig und allgemein oder zuf\u00e4llig und particular. Im ersteren Falle hei\u00dft das Urtheil a priori2), im zweiten Falle enth\u00e4lt es eine Erkenntniss a posteriori.\nDiese Namen beziehen sich auf die verschiedenen Quellen dieser beiden Arten von Erkenntnissen. Alles menschliche Wissen stammt n\u00e4mlich entweder aus der Erfahrung, oder es ist unabh\u00e4ngig von aller Erfahrung vor derselben vorgebildet. Alle Erfahrung aber tr\u00e4gt den Charakter der Zuf\u00e4lligkeit an sich und bezieht sich immer nur auf einzelne F\u00e4lle. Nothwendigkeit und Allgemeinheit k\u00f6nnen also unm\u00f6glich einzig aus der Erfahrung hergeleitet, unm\u00f6glich erst a posteriori gewonnen sein ; nothwendige und allgemeine S\u00e4tze m\u00fcssen vielmehr schon vor aller Erfahrung, sie m\u00fcssen a priori feststehen.\nJede wirkliche Erkenntniss wird nun jedenfalls den Charakter der Nothwendigkeit und Allgemeinheit besitzen m\u00fcssen. Denn wie k\u00f6nnte etwas Zuf\u00e4lliges und Particulares Inhalt einer Erkenntniss von irgend welchem Werthe sein? Wahre Erkenntniss muss-also in S\u00e4tzen a priori bestehen und wird sich dadurch unterscheiden von denjenigen Einsichten, f\u00fcr die erst durch die Erfahrung eine B\u00fcrgschaft gewonnen wird, und die deshalb als Erkenntnisse a posteriori bezeichnet werden k\u00f6nnen.\nZu dem synthetischen Charakter der eigentlichen Erkenntniss-\n1)\tKrit. 2. Ausgabe, p. 697.\n2)\tKrit. p. 17 ; 2. Ausgabe, p. 697.","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen Urtheiien a priori in ihrer Bedeutung etc. 605\nurtheile kommt somit als zweites wesentliches Merkmal die Apriori-t\u00e4t ihres Inhalts: Alle wahre Erkenntniss besteht in synthetischen Urtheiien a priori.\nIst ein Satz nicht synthetisch, sondern analytisch, so ist er zwar sicher nothwendig und allgemein, also ein Urtheil a priori \u2014 denn man kann, ohne sich auf die Erfahrung zu berufen, einen Begriff zergliedern und ein in demselben enthaltenes Merkmal angeben1) \u2014 aber er enth\u00e4lt eine nur selbstverst\u00e4ndliche logische Wahrheit und keine wirkliche Erkenntniss. Ist umgekehrt ein Satz zwar synthetisch, aber ein Urtheil a posteriori, so ist er ein einfaches Wahrnehmungsurtheil2), das ebenfalls keine werthvolle Erkenntniss enth\u00e4lt, deshalb n\u00e4mlich, weil dieselbe nur zuf\u00e4llig und particular, nicht aber nothwendig und allgemeing\u00fcltig ist.\nDas Grundaxiom der analytischen Urtheile (a priori) ist der Satz vom Widerspruch (vergl. II.) ; in einem synthetischen Satze a posteriori (in einem Wahmehmungsurtheile) geschieht die Verkn\u00fcpfung d\u00e9s Subjectbegriffes mit der au\u00dferhalb desselben liegenden Pr\u00e4dicatvorstellung durch die Erfahrung3); bei den synthetischen Urtheiien a priori dagegen kann diese Synthese sicher nicht durch die Erfahrung allein zu Stande kommen, weil diese Verkn\u00fcpfung den Charakter des Nothwendigen und Allgemeinen an sich tr\u00e4gt, der aus der Erfahrung niemals abgezogen werden kann; es muss vielmehr die Vernunft an sich die Verbindung der Vorstellungen vollziehen und damit dem Inhalte der Erkenntniss eine Form geben. Dies setzt voraus, dass die Vernunft gewisse formgebende Verm\u00f6gen besitzt, deren Function es eben ist, Vorstellungen zu verkn\u00fcpfen. Die Frage: \u00bbWie sind synthetische Urtheile a priori m\u00f6glich?\u00ab \u2014 die als die Grundfrage der gesammten kritischen Philosophie zu betrachten ist (vergl. I.) \u2014 wird also ihre Antwort finden, wenn man diese formgebenden Verm\u00f6gen in der menschlichen Vernunft nachweist und den Umfang und die Grenzen derselben durch sorgf\u00e4ltige Untersuchung bestimmt.\nAbgesehen von den analytischen Urtheiien sind es die S\u00e4tze der reinen Mathematik, deren apriorischer Charakter am ehesten\n1) Prol. p. 17.\n2} Prol. p. 58.\n3) Krit. p. 22; 2. Ausgabe p. 700; Prol. p. 28.","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606\nWilibald Reiehftrdt.\nin die Augen f\u00e4llt1). Denn jeder mathematische Satz hat die Eigenschaft, dass sein Gegentheil entschieden falsch ist; sein Inhalt ist also noth wendig; jeder Satz der Mathematik besteht aber auch zu jeder Zeit und unter allen Umst\u00e4nden und besitzt also auch das charakteristische Merkmal der Allgemeinheit. Damit stimmt es dann \u00fcberein, dass die Mathematik nicht eine empirische, sondern eine exacte, eine demonstrative Wissenschaft ist.\nIV. Synthetische Urtheile a priori.\nNachdem einmal (bei Kant) der synthetische Charakter aller , Erfahrungsurtheile (vergl. II.) und die Apriorit\u00e4t aller mathematischen S\u00e4tze (vergl. III.) feststeht, gelangt man auf zwei Wegen zu synthetischen Urtheilen a priori: einmal, indem man sich \u00fcberzeugt, dass gewisse Erfahrungsurtheile a priori g\u00fcltig sind, und zweitens, indem man zeigt, dass alle eigentlichen S\u00e4tze der X Mathematik synthetische Urtheile sind. Gelingt dieser doppelte Nachweis, so liegt es nahe zu untersuchen, oh es au\u00dfer den apriorischen Erfahrungsurtheilen und au\u00dfer den S\u00e4tzen der Mathematik noch weitere (berechtigte oder unberechtigte) synthetische Urtheile a priori gibt. Dabei wird sich heraussteilen, dass auch alle eigentlichen metaphysischen S\u00e4tze synthetische Urtheile a priori sind.\nJedes Erfahrungsurtheil ist entstanden .durch die Erfahrung: es ist daher anf\u00e4nglich nicht abzusehen, wie ein derartiges Urtheil gleichzeitig hervorgegangen aus der blo\u00dfen Vernunft, d. h. a priori, sein soll. N\u00e4her liegt vielmehr die Einsicht synthetischer Urtheile a priori von Seiten der reinen Vernunfturtheile, der Beweis also, dass die mathematischen S\u00e4tze \u2014 deren apriorischer Charakter feststeht \u2014 synthetische Urtheile sind. Zu diesem Ende pr\u00fcfe man die Definitionen und Axiome sowie die / fundamentalen Zahlformeln der Mathematik und sehe zu, ob sich i dieselben als synthetische Urtheile erweisen. Denn dass alle aus diesen Grunds\u00e4tzen abgeleiteten Urtheile der Mathematik synthetisch sind, daf\u00fcr bietet schon die Thatsache'Gew\u00e4hr, dass dieselben \u00fcberhaupt eines Beweises bed\u00fcrfen.\nlj Krit. p. 19; 2. Ausgabe, p. 698 und 702; Prol. p. 19.","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 607\nEin Grundsatz der reinen Geometrie lautet: \u00bbDie gerade Linie ist der k\u00fcrzeste Weg zwischen zwei Punkten\u00ab. l) Ist dieser Satz synthetisch oder analytisch? W\u00e4re er analytisch, so m\u00fcsste die Vorstellung der k\u00fcrzesten Entfernung in dem Begriffe der geraden Linie bereits als nothwendiges Merkmal gedacht werden. Nun mag ich aber in meiner Zergliederung des Begriffes des Geraden beliebig weit fortgehen, nie werde ich in demselben den Begriff des K\u00fcrzesten antreffen. Das Urtheil ist vielmehr synthetisch. Es ist ein synthetisches Urtheil a priori. Wie aber kann es geschehen, dass ich die als verschiedenartig erkannten Begriffe des Geraden und des K\u00fcrzesten derart verbinde, dass ich dieser Verkn\u00fcpfung Nothwendig-keit und Allgemeinheit zuschreibe? Eine Verbindung dieser Art muss, wie wir sahen, in der reinen Vernunft ihren Grund finden, und zwar ist dasjenige urspr\u00fcngliche Verm\u00f6gen der blo\u00dfen Vernunft, das in dem vorliegenden Falle die Verkn\u00fcpfung von Subject und Pr\u00e4dicat erzeugt, anschaulicher Natur; es ist die reine Anschauung. Ich muss mir die gerade Verbindungslinie der beiden \\ Punkte construiren, muss mir also den Begriff der geraden Linie erst versinnlichen, ihn in Anschauung verwandeln, ehe ich den fraglichen Grundsatz als wahr erkennen kann. Erst die r\u00e4umliche Construction, erst die Anschauung macht also dieses synthetische Urtheil a priori m\u00f6glich2). Genau dasselbe wird f\u00fcr diejenigen beiden Axiome des Euklid gelten, die von rein geometrischem Charakter sind, also f\u00fcr den Satz, dass zwei Gerade niemals einen Raum einschlie\u00dfen, sowie f\u00fcr seinen 11. Grundsatz, das sogenannte Parallelenaxiom. Auch sie sind synthetische Urtheile a priori, deren Synthese durch r\u00e4umliche Anschauung vollzogen wird.\n\u2022 Wie verh\u00e4lt es sich nun aber weiterhin mit den Zahlformeln der Arithmetik, wie endlich mit den allgemeinen Regeln\tI\nund Axiomen des Zahlen- und Buchstabenrechnens? Ist\tj\nnicht beispielsweise die arithmetische Formel 7 + 5 = 123) ein blo\u00df analytischer Satz, zu dem ich durch Zergliederung des Begriffes einer Summe von Sieben und F\u00fcnf gelange? Keineswegs. Der Subjectbegriff enth\u00e4lt vielmehr nichts weiter als die Forderung, die\n1)\tKrit. 2. Ausg. p. 703; Prol. p. 20.\n2)\tProl. p. 39.\n3)\tKrit. 2. Ausg. p. 702; Prol. p. 19.","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"Wilibald Reichardt.\n608\nZahl 7 und die Zahl 5 in eine Zahl zu vereinigen; welches aber diese letztere Zahl, welches also das Pr\u00e4dicat ist, dazu kann eine blo\u00dfe Zergliederung des Begriffes 7 + 5 niemals f\u00fchren. Das Pr\u00e4dicat ist vielmehr aufzufassen als L\u00f6sung einer Aufgabe, die im Subjecte formulirt ist. Die L\u00f6sung einer Aufgabe ist aber in derselben niemals als Merkmal enthalten. Die Aufgabe w\u00fcrde ja dann einer L\u00f6sung gar nicht bed\u00fcrfen. Der Satz 7 + 5 = 12 ist also synthetisch ; er ist ein synthetisches Urtheil a priori. Es ist wiederum die reine Anschauung, durch welche die nothwendige und allgemeing\u00fcltige Verkn\u00fcpfung von Subject und Pr\u00e4dicat in diesem Urtheile hergestellt wird. Erst indem ich wenigstens eine der Zahlen 7 und 5 mir anschaulich mache, etwa die 5 durch die f\u00fcnf Finger der Hand oder durch f\u00fcnf Punkte, kann ich die im Subjecte geforderte Addition wirklich ausf\u00fchren, und zwar so, dass ich zu dem Begriffe der Sieben die Einheiten der sinnlich dargestellten F\u00fcnf nach und nach hinzuf\u00fcge. Ebenso ist es in allen anderen Zahlformeln der Arithmetik jederzeit die reine Anschauung, welche die in denselben stattfindende Synthese vollzieht und es dadurch erm\u00f6glicht, dass diese arithmetischen S\u00e4tze synthetische Urtheile a priori sind.\nWeniger aber wird man zun\u00e4chst geneigt sein, den allgemeinen Grunds\u00e4tzen der Gr\u00f6\u00dfenlehre (Arithmetik und Algebra) synthetischen Charakter zuzuschreiben1). Ist z. B. das Axiom vorgelegt: \u00bbDas Ganze ist gr\u00f6\u00dfer als sein Theil\u00ab (\u00ab + }>\u00ab), so wird man nach dem Satze des Widerspruches unmittelbar die Richtigkeit desselben einsehen, und es erscheint also, will man blo\u00df nach diesem Kriterium gehen, wohl berechtigt, das Urtheil analytisch zu nennen. Man darf aber dabei nicht au\u00dfer Acht lassen, dass im Denken des Subjectes a + b das Pr\u00e4dicat + a gar nicht mitgedacht zu werden braucht. Wenn wir also daran festhalten, dass ein Urtheil dann analytisch hei\u00dfen soll, wenn der Pr\u00e4dicat-begriff im Subjectbegriffe nothwehdig mitgedacht wird , synthetisch aber, wenn dies nicht der Fall ist, so d\u00fcrfen wir uns durch die Thatsache, dass das genannte Axiom auf dem Satze des Widerspruches beruht, nicht irre leiten lassen und m\u00fcssen dasselbe f\u00fcr.\n1) Krit. 2. Ausg. p. 704 ; Prol. p. 20.","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"Kant s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 609\nein synthetisches Urtheil erkl\u00e4ren. Das Gleiche gilt von den verwandten Grunds\u00e4tzen der allgemeinen Gr\u00f6\u00dfenlehre.\nAlle diese fundamentalsten Axiome der Mathematik dienen \u00fcbrigens, indem sie Aussagen \u00fcber allgemeinste Begriffe enthalten, gleichzeitig zur Definition derselben und stehen deshalb in naher Beziehung zu denjenigen Begriffsdefinitionen, deren Einf\u00fchrung sich im Verlaufe der mathematischen Untersuchung n\u00f6thig macht. Diese Begriffsdefinitionen aber k\u00f6nnen ebenfalls als synthetische Urtheile aufgefasst werden, sofern die Zul\u00e4ssigkeit derselben erst erkannt wird, indem man in der Anschauung die definirte Vorstellung nach den in der Definition angegebenen Merkmalen erzeugt, zusammensetzt, construirt. So erh\u00e4lt die Definition: \u00bbEin Quadrat ist eine von vier gleichen Seiten begrenzte ebene Figur, deren Winkel s\u00e4mmtlich Rechte sind\u00ab ihre Berechtigung erst dadurch, dass man sich in der Anschauung von der M\u00f6glichkeit der Construction eines ebenen Vierecks mit vier gleichen Seiten und vier rechten Winkeln \u00fcberzeugt. Sofern nun die M\u00f6glichkeit des Quadrates, die durch die Definition desselben behauptet wird, in dem blo\u00dfen Begriffe des Quadrates keineswegs nothwendig mitgedacht, sondern erst durch die Anschauung erkannt werden kann, ist man wohl berechtigt, diese Definition als ein synthetisches Urtheil zu bezeichnen.\nDie Constatirung der Thatsache synthetischer Urtheile a priori in der Mathematik regt dazu an, die S\u00e4tze der Naturwissenschaft (die Erfahrungsurtheile) erneut der Untersuchung zu unterwerfen und nachzusehen, ob denn in der That der empirische Charakter der in solchen Urtheilen verbundenen Vorstellungen die Apriorit\u00e4t ihrer Verkn\u00fcpfung vollst\u00e4ndig ausschlie\u00dft. Es sei beispielsweise der Satz vorgelegt : \u00bbAlles, was geschieht, hat seine Ursache\u00ab1), oder: \u00bbIn allen Ver\u00e4nderungen der k\u00f6rperlichen Welt bleibt die Quantit\u00e4t der Materie unver\u00e4ndert\u00ab2), oder etwa der weitere: \u00bbBei aller Mittheilung der Bewegung sind Wirkung und Gegenwirkung einander gleich\u00ab2). Diese S\u00e4tze werden als nothwendig gedacht; ihr Gegentheil erkl\u00e4rt man f\u00fcr unrichtig. Es kommt ihnen ferner strenge Allgemeinheit zu ; man h\u00e4lt sie zu jeder Zeit, an jedem Orte, unter allen Umst\u00e4nden f\u00fcr\n1)\tKrit. p. 23.\n2)\tKrit. 2. Ausg. p. 704.","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"610\nWilibald Reichardt.\nwahr. Dazu kommt, dass es vollst\u00e4ndig ungereimt w\u00e4re, diese Behauptungen einzig auf Erfahrung zu gr\u00fcnden, ihren Ursprung einzig aus der Erfahrung herzuleiten. Denn die Erfahrung bezieht sich immer nur auf einzelne F\u00e4lle, w\u00e4hrend die genannten S\u00e4tze etwas aussagen von \u00bbAllem, was geschieht\u00ab, von \u00bbder Quantit\u00e4t der Materie hei allen Ver\u00e4nderungen der k\u00f6rperlichen Welt\u00ab und von \u00bbder Wirkung und Gegenwirkung bei aller Mittheilung der Bewegung\u00ab. Die angegebenen S\u00e4tze sind also Urtheile a priori, synthetische Urtheile a priori.\nDie M\u00f6glichkeit dieser Erfahrungsurtheile a priori kann nur erkl\u00e4rt werden durch Betheiligung gewisser urspr\u00fcnglicher Begriffe des reinen Verstandes (Kategorien), unter denen von hervorragender Bedeutung ist die Kategorie der Causalit\u00e4t.\nAuch jede metaphysische Erkenntniss (wenn es eine gibt), sofern sie sich erstreckt auf das Uehersinnliche und' auf das Wesen der Dinge, muss in synthetischen Urtheilen a priori bestehen ^ Die Bildung analytischer Urtheile, die blo\u00dfe Zergliederung ihrer Begriffe, kann f\u00fcr die Metaphysik nur eine vorbereitende, nicht die endg\u00fcltige Aufgabe sein. Die Metaphysik will vielmehr ihre Begriffe erweitern, ihnen etwas hinzuf\u00fcgen, was in ihnen noch nicht enthalten ist. Dies trifft insbesondere alle Existenzs\u00e4tze der Metaphysik. Jedes ihrer Objecte ist ja ein blo\u00dfes Gedankending. Behaupte ich die Existenz desselben, so gehe ich \u00fcber seinen Begriff hinaus. Alle eigentlichen metaphysischen S\u00e4tze, insbesondere alle Existenzs\u00e4tze derselben, sind also synthetische Urtheile, und zwar synthetische Urtheile a priori, denn sie k\u00f6nnen sicher nie in der Erfahrung ihren Ursprung finden.\nWie nun aber k\u00f6nnte die M\u00f6glichkeit solcher eigentlicher metaphysischer Urtheile erkl\u00e4rt werden? Da dieselben apriorisch sind, m\u00fcsste die Verkn\u00fcpfung der in sie eingehenden Begriffe Aufgabe der reinen Vernunft sein. Der reinen Vemunftverm\u00f6gen sind aber zwei: Sinnlichkeit und Verstand. Nichts kann Gegenstand menschlicher Erkenntniss sein, das nicht der Sinnlichkeit und dem Verst\u00e4nde zug\u00e4nglich w\u00e4re. Dies hat aber zur Folge, dass alle unsere Erkenntniss sich nur beziehen kann auf Erscheinungen, die\n1) Krit. 2. Ausg. p. 705; Prol. p. 25.","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 611\nnichts anderes sind als unsere subjectiven Vorstellungen. Gegenst\u00e4nde der Metaphysik bilden aber nicht die Erscheinungen, sondern die Dinge an sich. Damit ist die M\u00f6glichkeit einer Metaphysik des Uebersinnlichen widerlegt.\nII. Kapitel.\nDie Kantische Auffassung der mathematischen Urtheile im Gegens\u00e4tze zum Leibniz-Wolffischen Dogmatismus und zum Skepticismus\nHume\u2019s.\nF\u00fcr das negative Ergebniss der transcendentalen Dialektik, dass aller Metaphysik im Sinne der dogmatischen Philosophie als Er-kenntnisswissenschaft jede Berechtigung abgesprochen Werden muss, erscheint als erster Ausgangspunkt die richtige Einsicht in die wahre Natur aller wirklichen Erkenntniss. Hierzu aber ist mit der Kantisch en Entdeckung, dass die mathematischen S\u00e4tze synthetische Urtheile seien, der erste Schritt gethan. Dieser Einblick Kant\u2019s in das innere Wesen aller mathematischen Wahrheiten ist aber noch in anderer Beziehung von hoher Bedeutung. Er f\u00fchrt zu der Ueber-zeugung, dass es wirkliche und berechtigte Erkenntniss thats\u00e4chlich gibt \u2014 denn alle S\u00e4tze der Mathematik enthalten solche wirkliche und berechtigte Erkenntniss \u2014 und beseitigt damit jeden Zweifel an der Unm\u00f6glichkeit menschlichen Wissens. Die Kantische Aufdeckung des synthetischen Charakters der mathematischen S\u00e4tze zerst\u00f6rt also beides: die dogmatische Metaphysik, wie sie zuletzt vertreten wurde von Leibniz und Wolff, und den Skepticismus David Hume\u2019s. Dogmatische Metaphysik sowohl wie Skepticismus m\u00fcssen an der These festhalten : Die mathematischen S\u00e4tze sind analytische Urtheile ; die Annahme und der weitere Verfolg der Kantischen Antithese w\u00fcrde sie in unausgleichbare Widerspr\u00fcche verwickeln. Erst verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig sp\u00e4t ist Kant zum deutlichen Bewusstsein von der Unbestreitbarkeit dieser Antithese gelangtem einem langen Entwicklungsg\u00e4nge ist dieselbe in ihm zu voller Klarheit gereift. In Wahrheit hatte er den Boden der metaphysischen Dogmatik schon geraume Zeit verlassen, ehe er seine Entdeckung machte. Dieselbe konnte ihn also in seinem Abfall","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"612\nVVilibald Reichardt.\nvom Dogmatismus h\u00f6chstens best\u00e4rken, nicht aber ihn allererst dazu fuhren. Wohl aber hatte sie direct eine andere hochwichtige Umgestaltung seiner philosophischen Auffassung zur Folge: Sie f\u00fchrte ihn vom Humeschen Skepticismus zu seiner Kritik der reinen Vernunft.\nV. Philosophischer Charakter der Mathematik nach Leibniz und Wolff.\nBei Leibniz und Wolff h\u00e4ngt die Auffassung der mathematischen S\u00e4tze eng zusammen mit ihrer allgemeinen-Erkenntnisslehre. Dieselbe kennt \u00fcberhaupt nur zwei Arten von Erkenntniss-urtheilen: solche a priori und solche a posteriori, Urtheile durch Vernunft und Urtheile durch Erfahrung1). Die einen enthalten nothwendige und allgemeine, die anderen zuf\u00e4llige und particulare Wahrheiten. Die ersteren gr\u00fcnden sich auf deutliche, die letzteren auf verworrene Vorstellungen oder Ideen2); d. h. die einen beziehen sich auf nur m\u00f6gliche, auf nur denkbare Dinge oder auf Begriffe, deren Merkmale man \u00fcberdenken, im Geiste pr\u00fcfen kann, die anderen auf wirkliche, in der Natur gegebene Dinge, auf Vorstellungen also, die eine derartige Pr\u00fcfung nicht zulassen3). Das oberste Princip der Vernunftwahrheiten ist der Satz der Identit\u00e4t und des Widerspruches4), als oberstes Axiom aller Erfahrungswahrheiten aber muss der Satz des zureichenden Grundes, das Gesetz der Causalit\u00e4t, betrachtet werden. Denn von allen m\u00f6glichen Dingen gilt, dass sie mit sich selbst \u00fcbereinstimmen, dass sie aber auch nur sich selbst gleich sind; von allen wirklichen Dingen dagegen, dass sie in der Natur ihre Bedingungen finden m\u00fcssen. Der Satz der Identit\u00e4t erkl\u00e4rt, dass ein Ding gleichgesetzt werden darf sich selbst, d. h. der Summe seiner Merkmale. Wenn also ein Urtheil das Gesetz der Identit\u00e4t\n1)\tLeibniz, \u00bbNouveaux essais sur l\u2019entendement humain \u00ab IV, 2. Ausg. von Raspe, p. 326; Wolff, \u00bbVern\u00fcnftige Gedanken von den Kr\u00e4ften des menschlichen Verstandes\u00ab III, 11\u201413, p. 75.\n2)\tLeibniz, Nouv. ess. 1,1, p. 37.\n3)\tWolff, \u00bbElementa matheseos universae\u00ab Bd. I, p. 4, \u00a7\u00a7 8\u20149.\n4)\tLeibniz, \u00bbMonadologie\u00ab 31\u201438. Ausg. von Erdmann, p. 707 f.","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 613\nals Grundsatz hat, so wird es seinem Subjecte nur ein solches Pr\u00e4-dicat heilegen k\u00f6nnen, das schon als wesentliches Merkmal im Subjectbegriffe enthalten ist. Sofern nun die Urtheile durch Vernunft nur solche Pr\u00e4dicatbegriffe zulassen, die einen Bestandtheil des Suhjectes ausmachen, die also mit diesem in gewissem Sinne eins sind, k\u00f6nnen sie als identische TJrtheile bezeichnet werden. Legt man darauf Gewicht, dass diese Urtheile nichts als eine Analyse des Subjectbegriffes voraussetzen, so wird man sie analytische Urtheile nennen k\u00f6nnen. Es werden aber \u2014 so behauptet wenigstens Leibniz, w\u00e4hrend Wolff sogar eine rationalistische Auffassung der Erfahrungswahrheiten seitens der Philosophie f\u00fcr m\u00f6glich h\u00e4lt, womit dann \u00fcbereinstimmt, dass er den Satz des zureichenden Grundes als einen Specialfall des Satzes vom Widerspruche ansieht \u2014 die Vernunftwahrheiten auch die einzigen sein, die in solchen analytischen Urtheilen ihren Ausdruck finden k\u00f6nnen. Hei\u00dfen daher diejenigen Urtheile, die Erfahrungswahrheiten enthalten, z\u00fcrn Unterschiede von den durch Vernunft gewonnenen analytischen Urtheilen synthetisch, so l\u00e4sst sich das erlangte Ergebniss so zusammenfassen: Alle Erkenntnisse a priori dr\u00fccken sich aus in analytischen Urtheilen, oder nur anders formulirt: Alle synthetischen Urtheile k\u00f6nnen nur Erkenntnisse a posteriori enthalten.\nDieses Resultat entscheidet \u00fcber die Stellung, die den mathematischen S\u00e4tzen angewiesen werden muss. In die Deutlichkeit, Nothwendigkeit und Allgemeinheit der mathematischen Wahrheiten kann keinerlei Zweifel gesetzt werden; ihre Begriffe sind ja nicht blo\u00df deutlich, sondern zumeist sogar ad\u00e4quat, d. h. die Merkmale derselben sind nicht blo\u00df vollst\u00e4ndig, sondern auch im Einzelnen klar bezeichnet*). Die mathematischen S\u00e4tze enthalten also Erkenntnisse a priori, sie sind analytische (identische) U rtheile.\nAls Aufgabe der Mathematik erscheint so die Erl\u00e4uterung und die Analyse der Figuren und der Gr\u00f6\u00dfen ; die Figuren werden gleich ihren Merkmalen und Elementen, die Gr\u00f6\u00dfen gleich ihren Theilen gesetzt.\n1) Wolff, Elem. matli. Bd. I, p. 4, .\u00a7\u00a7 10 und 13.","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"614\nWilibald Reichardt.\nWenn man von den mathematischen Vorstellungen sagt, sie seien deutlich und ad\u00e4quat, so kann dies freilich nur Geltung haben von den eigentlichen mathematischen Begriffen, d. h. von denjenigen Ideen, die Eigenthum ausschlie\u00dflich der Vernunft sind, und die wir als unserem Geiste angeboren, als Naturanlage desselben, als urspr\u00fcngliche, zun\u00e4chst allerdings nur in virtueller Form vorhandene Vorstellung ansehen m\u00fcssen1 2 3 4). Nicht aber kann den sinnlichen Bildern, die wir uns von den Gegenst\u00e4nden der Mathematik machen, der Charakter der Deutlichkeit zugeschrieben werden. Diese sind vielmehr verworren, wie alles, dessen Ursprung in den Sinnen liegt. Was mir zur Gewinnung mathematischer S\u00e4tze \u00fcber das regelm\u00e4\u00dfige Neuneck, Zehneck, Tausendeck verhilft, sind nicht die sinnlichen Bilder dieser Figuren, sondern die deutlichen Begriffe, die sich in Gestalt angeborener Ideen in meinem Geiste pr\u00e4formirt vorfinden. Ebenso muss der Begriff \u00bb99\u00ab von der sinnlichen Vorstellung \u00bb99 Pfunde\u00ab wohl unterschieden werden, wie \u00fcberhaupt die Zahl von den gez\u00e4hlten Objecten2). Die Figuren und die gez\u00e4hlten Objecte, wie sie Gegenst\u00e4nde unserer Sinne sind, geben nur die Gelegenheit, dass wir uns urspr\u00fcnglich in uns liegender Begriffe bewusst werden3). Nicht also die sinnlichen Bilder und Vorstellungen, die wir uns von den Gegenst\u00e4nden der'Mathematik bilden k\u00f6nnen, sondern die in unseremGeiste von Anfang her als Naturanlag\u00eb ruhenden Begriffe erm\u00f6glichen es, dass sich die Mathematik ausschlie\u00dflich in analytischen Urtheilen bewegt. W\u00fcrde sich die Mathematik auf die sinnlichen Bilder und Vorstellungen berufen und st\u00fctzen, so w\u00fcrde ihr der Charakter der Deutlichkeit verloren gehen. Darum darf man der Versuchung, die namentlich in der Geometrie nahe liegt, die sinnlichen Bilder, die anschaulichen Figuren als Ausgangspunkt der Untersuchung zu nehmen, keinesfalls Folge leisten4). Denn man gelangt alsdann zu einer empirischen Geometrie, wie es diejenige der Egypter thats\u00e4chlich war5). Die Figuren der Geometrie haben\n1)\tLeibniz, Nouv. ess. 1,1, p. 33.\n2)\tLeibniz, Nouv. ess. 11,29, p. 219\u2014220.\n3)\tLeibniz, Nouv. ess. 1,1, p. 30.\n4)\tLeibniz, Nouv. ess. IV, 1, p. 325\u2014326.\n5)\tLeibniz, Nouv. ess. IV, 12, p. 419.","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 615\nvielmehr nur den Zweck, die Einsicht in das zu Beweisende zu erleichtern und die Aufmerksamkeit zu fixiren1) ; es ist aber nicht blo\u00df m\u00f6glich, sondern sogar n\u00fctzlich, auf die Benutzung gezeichneter geometrischer Figuren \u00fcberhaupt vollst\u00e4ndig Verzicht zu leisten2) und rein begrifflich, nur gest\u00fctzt auf den Verstand, die geometrischen Einsichten zu gewinnen.\nAlle mathematischen S\u00e4tze beruhen auf ihrer durch rein logische Operationen vermittelten Herleitung aus Definitionen und Axiomen3). Sollen also die eigentlichen mathematischen S\u00e4tze analytische Urtheile sein, so muss dasselbe zun\u00e4chst von den Definitionen und Axiomen gelten. In der That sind dieselben analytische oder identische S\u00e4tze im reinsten Sinne; hier enth\u00e4lt das Pr\u00e4dicat thats\u00e4chlich nur ein solches Merkmal, das noth-wendig zum Wesen des Subjectbegriffes geh\u00f6rt. Den Definitionen wird niemand diesen Charakter absprechen ; und dieselbe Auffassung wird man von den Grunds\u00e4tzen gewinnen, sobald man dieselben auf die primitivsten Axiome zur\u00fcckgef\u00fchrt hat ; denn diese letzten unbeweisbaren Wahrheiten sind unmittelbar (intuitiv) gewiss und sicher identische Urtheile4 5), keineswegs aber erst durch Induction aus Beispielen gewonnen oder durch Vermittelung der sinnlichen Anschauung6). Aus diesem Grunde kann den Versuchen, die Thaies, Proclus, Apollonius und in neuerer Zeit Boberval gemacht haben, die Axiome Euklids zu beweisen, d. h. sie auf Definitionen und primitive identische Grunds\u00e4tze zur\u00fcckzuf\u00fchren, die Berechtigung nicht abgesprochen werden6). Leibniz selbst versucht, die Grundlagen der Mathematik im Allgemeinen und der Euklidischen Geometrie im Besonderen in diesem Sinne weiter auszubauen und zu befestigen7). Allerdings ist nach Leibniz\u2019\n1)\tLeibniz, Nouv. ess. IV, 1, p. 325\u2014326.\n2)\tWolff, Briefwechsel zwischen Leibniz und Wolff, herausgeg. von Gerhardt, Halle 1866, p. 41.\n3)\tWolff, Elem. math. Bd. I, p. 10, \u00a7. 45.\n4)\tLeibniz, Nouv. ess. IV, 7, p. 372\u2014373; Wolff, Elem. math. Bd. I, p. 7, \u00a7\u00a7. 30, 31, 33.\n5)\tLeibniz, Nouv. ess. IV, 12, p. 416, 418\u2014419; Wolff, Elem. math. Bd. I, p. 7, \u00a7. 34.\n6)\tLeibniz, Nouv. ess. I, 1, p. 30; I, 3, p. 64; IV, 7, p. 372.\n7)\tLeibniz, \u00bbInitia rerum mathematicarum metaphysica\u00bb, \u00bbInitia mathematical \u00bbSpecimen geometriae luciferae \u00ab ; Math. Schriften, herausgeg. von Gerhardt, Bd. VII, p. 17\u201428; 29\u201449; 260\u2014299.\nWundt, PMlos. Studien. IV.\n40","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"616\nW\u00fcibaid Reichardt.\nMeinung diese Zuriickf\u00fchrung der mathematischen Axiome a\u00fcf Definitionen nnd identische Grunds\u00e4tze eine keineswegs leichte Aufgabe, und namentlich stellen sich dem Beweise der rein geometrischen Grunds\u00e4tze au\u00dferordentliche Schwierigkeiten entgegen4). Damit stimmt es \u00fcberein, wenn Leibniz behauptet, die geometrischen Wahrheiten st\u00e4nden den Thatsachen der Arithmetik und Algebra an Deutlichkeit, Nothwendigkeit und Allgemeinheit nach, und es verdienten daher diese letztgenannten Theile der Mathematik vor der Geometrie den hervorragenden Platz1 2).\nBesondere Beachtung widmet Leibniz ebenso wie Kant den unmittelbaren Specialisirungen der Axiome, insbesondere den primitiven Zahlformeln. Der Satz: 2 + 1 = 3 ist ein identisches Urtheil, denn er enth\u00e4lt im Grunde genommen nichts weiter als die Definition der Zahl 33 4). Ebenso ist es auch ein analytisches Urtheil, wenn ich sage 2 + 2 = 4; denn dieser Satz folgt auf rein logischem Wege aus 'den Definitionen der Zahlen 2, 3 und 4 und aus dem primitiven identischen Axiome: Gleiches f\u00fcr Gleiches gesetzt, gibt Gleiches4).\nDie Leibniz-Wolff\u2019sche Lehre von der Natur der mathematischen Urtheile l\u00e4sst sich kurz so resumiren : Die mathematischen Ideen, wie sie den urspr\u00fcnglichen Besitzstand unseres Geistes bilden, sind rein begrifflicher Natur; die mathematischen S\u00e4tze entstehen durch Aufl\u00f6sung, durch Analyse dieser Begriffe, sie sind also s\u00e4mmtlich analytische Urtheile. Dieser Auffassung wird das Fundament genommen, sobald die anschauliche Natur der mathematischen Ideen erkannt ist: dies aber geschieht in der Kantis\u00e7hen Vernunftkritik.\n,y:-f\t\u25a0>::\t:\tb\u00fcif\t:\nVI. Hume\u2019s Lehre von den S\u00e4tzen der Mathematik.\nIn einem Punkte stimmen hinsichtlich ihrer philosophischen Auffassung der Mathematik Leibniz und Wolff mit derKanti-\n1)\tLeibniz, Nouv. ess. IV, 2, p. 334; IV, 7, p. 380; IV, 12, p. 419\u2014420.\n2)\tLeibniz, \u00bbDe resolutionibus aequationum\u00ab etc., \u00bbDe constructione\u00ab, Math. Schriften, herausgeg. von Gerhardt, Bd. VII, p. 151 und 249.\n3)\tLeibniz, Nouv. ess. I, 1, p. 38.\n4)\tLeibniz, Nouv. ess. IV,.7, p. 379.","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 617\nsehen Lehre \u00fcberein: sie schreiben wie Kant den mathematischen Ideen in unserem Geiste reale Existenz zu und gr\u00fcnden auf diese Ansicht die Evidenz und die Allgemeing\u00fcltigkeit der mathematischen S\u00e4tze; sie vertreten also ebenso wie Kant den Standpunkt eines mathematischen Realismusl). Der Nominalismus in der Mathematik betrachtet im Gegens\u00e4tze hierzu jene Ideen als erst entstanden aus empirischen Elementen, und zwar vermittelst willk\u00fcrlicher Processe, so dass Abweichungen dieser Vorstellungen von den Erfahrungsobjecten als nicht ausgeschlossen erscheinen. Eine derartige nominalistische Auffassung der Mathematik bietet sich uns dar in der Philosophie DavidHume\u2019s. Wenn auch Hume schlie\u00dflich mit Leibniz zu dem Resultate gelangt, dass alle mathematischen S\u00e4tze analytische Urtheile sind, so muss sich also doch seine Begr\u00fcndung dieses Resultates streng unterscheiden von dem Wege, auf dem Leibniz (und Wolff) zu demselben gelangt.\nAlle Urtheile, die wir bilden, lehrt Hume, kommen zu Stande durch Verbindung der Ideen, jener Vorstellungen von geringer Intensit\u00e4t, die sich in uns durch Zur\u00fcckerinnerung an vorangegangene lebhafte Impre ssionen, also an directe \u00e4u\u00dfere oder innere Wahrnehmungen bilden2). Je nach der Beziehung, in der die zum Urtheil verbundenen Ideen zu einander stehen, zerfallen alle S\u00e4tze in zwei Classen3). Diese Verbindung kann sich n\u00e4mlich einmal vollst\u00e4ndig begr\u00fcnden in den Ideen selbst, die verkn\u00fcpft werden, oder sie ist von diesen Ideen an sich v\u00f6llig unabh\u00e4ngig und kann sich \u00e4ndern, ohne dass die Ideen einen Wechsel erfahren. Im ersteren Falle vollzieht sich diese Verkn\u00fcpfung in uns selbst, in unserer Vernunft, und ist also ein Product unserer Willk\u00fcr; im letzteren Falle ist sie uns in der Wahrnehmung als Verbindung von Impressionen gegeben und wird in unserem Geiste nur reproducirt. Die Urtheile der ersteren Art werden durch die blo\u00dfe Denkth\u00e4tigkeit gebildet, unabh\u00e4ngig davon, was als Thatsache existirt; die Urtheile der zweiten Gruppe dagegen sagen aus, wie irgend zwei Thatsachen, zwei empirische Dinge oder\n1)\tWundt, \u00bbLogik\u00ab Bd. II, p. 85.\n2)\tHume, \u00bbTreatise of human nature\u00bb. London 1739. Bd. I, p. 11 und 26; \u00bbEssays and treatises on several subjects\u00ab. Basel 1793. Bd. HI, p. 16 und 22.\n3)\tHume, Hum. nat. Bd. I, p. 125; Ess. and treat. Bd. Ill, p. 24.\n40*","page":617},{"file":"p0618.txt","language":"de","ocr_de":"618\nWilibald Reiehardt,\nEreignisse, in Verbindung oder Beziehung stehen. Die S\u00e4tze der ersten Classe wird man also in gewissem Sinne Urtheile a priori, die der zweiten Classe Urtheile a posteriori nennen k\u00f6nnen. Die einen werden Vernunftwahrheiten, die anderen ^hat-s\u00e4chliche Wahrheiten enthalten.\nWelcher Art aber wird die Th\u00e4tigkeit der Vernunft sein m\u00fcssen, wenn sie Ideen verkn\u00fcpfen und dabei doch nicht \u00fcber diese Ideen hinausgehen soll? Ihre Function wird nur darin bestehen k\u00f6nnen, die Ideen durch Zergliederung in ihre Merkmale aufzul\u00f6sen, sie 2,u analysiren. Ein Urtheil durch Vernunft wird also daran kenntlich sein, dass die eine der in ihm verkn\u00fcpften Ideen einen wesentlichen Bestandteil der anderen ausmacht ; denn sonst k\u00f6nnte der Satz unm\u00f6glich allein durch Vernunft eingesehen werden. Setzt ferner das Urtheil wirklich nur auseinander, was in einer gegebenen Idee enthalten ist, so muss in ihm die Verkn\u00fcpfung von Subject und Pr\u00e4dicat mit logischer Nothwendigkeit erfolgen, und seinem Inhalt wird demnach demonstrative Gewissheit zukommen. Diese logische Nothwendigkeit beruht auf dem Satze der Identit\u00e4t und des Widerspruches: Kehrt man eine Vernunftwahrheit um in ihr Gegentheil, so wird dasselbe als unm\u00f6glich, als undenkbar erkannt. Das Gegentheil einer thats\u00e4chlichen Wahrheit dagegen bleibt noch immer denkbar, sie findet also in dem Satze der Identit\u00e4t und des Widerspruches keine gen\u00fcgende Begr\u00fcndung ; schreibt man ihr dennoch Nothwendigkeit zu, so ist dies nicht auf Vernunfteinsicht, sondern auf die regelm\u00e4\u00dfige Wiederkehr der Verkn\u00fcpfung der n\u00e4mlichen Vorstellungen zur\u00fcckzuf\u00fchren, verm\u00f6ge deren wir uns gew\u00f6hnen, mit der einen Idee immer gleichzeitig eine andere zu setzen, und so diese beiden Ideen als durch Causalit\u00e4t verb\u00fcnden aufzufassen. Eine solche thats\u00e4chliche Wahrheit spricht sich also in einem Urtheile aus, bei dessen Bildung Motive sich geltend machen, die nicht in den verkn\u00fcpften Ideen allein ihre Quelle finden. Uebersetzt man also die Lehre Hum e\u2019 s in die Sprache Kant\u2019s, so wird sie lauten: Alle Urtheile, die Vemunftwahrheiten enthalten, sind analytisch, alle Urtheile dagegen, die sich auf thats\u00e4chliche Wahrheiten beziehen, synthetisch. Hume gelangt also wie Leibniz zu der Ansicht, dass es nur zwei Arten von","page":618},{"file":"p0619.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen \u00fcrtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. ^\t619\nUrtheilen gibt: Analytische Urtheile a priori und synthetische Urtheile a posteriori.\nIst einmal diese Unterscheidung getroffen, so kann es nicht lange zweifelhaft sein, welcher der beiden Classen die mathematischen Urtheile zuzurechnen sind. Die. S\u00e4tze der Mathematik erfreuen sich ebenso wie die rein logischen Axiome intuitiver oder demonstrativer Gewissheit und verdanken der Th\u00e4tigkeit der blo\u00dfen Vernunft, keineswegs aber der geistigen Reproduction eines empirisch gegebenen Thatbestandes ihre Entstehung. Der Satz, dass das .Quadrat \u00fcber der Hypotenuse eines rechtwinkligen Dreiecks gleich ist der Summe der Quadrate \u00fcber den beiden Katheten, w\u00fcrde immer seine Nothwendigkeit und Evidenz beibehalten, auch wenn es in Wirklichkeit nirgendwo ein rechtwinkeliges Dreieck oder ein Quadrat g\u00e4be1). Alle S\u00e4tze der Mathematik sind also analytische Urtheile2).\nWodurch aber kommt diese demonstrative Gewissheit, diese Evidenz der mathematischen S\u00e4tze zu Stande? Wie ist es m\u00f6glich, dass die mathematischen Wahrheiten durch reine Geistesth\u00e4tigkeit gewonnen werden k\u00f6nnen? Einzig dadurch, dass die mathematischen Ideen bis zu einem gewissen Grade ein Product sind unserer Willk\u00fcr, unserer willk\u00fcrlichen Construction. Freilich nur bis zu einem gewissen Grade ; denn auch die Th\u00e4tigkeit des Geistes ist nicht v\u00f6llig frei von empirischen Motiven ; sie kann immer nur darin bestehen, das uns durch die Sinne und die Erfahrung gelieferte Material zu verbinden, umzuformen, zu erweitern und einzuschr\u00e4nken3). Empirischer Natur sind nun aber bei den mathematischen Ideen nur die Elemente: Die mathematischen Punkte sind zugleich physische Punkte; sie sind die letzten untheilbaren Bestandteile, zu denen eine Analyse unserer Wahrnehmungen f\u00fchren kann4). Aus diesen letzten Elementen, aus diesen sicht\u2014 und f\u00fchlbaren Punkten, werden nun aber die mathematischen Ideen durch willk\u00fcrliche Erzeugung gewonnen5).\n1)\tHume, Ess. and treat. Bd. Ill, p. 24.\n2)\tYergl. Kant, Prol. Bd. Ill, p. 24.\n3)\tHume, Ess. and treat. Bd. Ill, p. 17.\n4)\tHume, Hum. nat. Bd. I, p. 73\u201474; Ess. and treat. Bd. Ill, p. 438, Note O.\n5)\tHume, Hum. nat. Bd. I, p. 80 ff.","page":619},{"file":"p0620.txt","language":"de","ocr_de":"620\nWilibald Beiehardt.\nSo construirt unsere Vernunft durch wiederholte Setzung eines Punktes irgend eine Zahl und durch stetige Aneinanderreihung von Punkten geometrische Curven, Fl\u00e4chen und K\u00f6rper. Die mathematischen Vorstellungen sind daher keineswegs genereller oder abstracter Art, sondern immer particular. Die Vorstellung eines allgemeinen Dreiecks kann nie zu Stande kommen, denn di\u00ab Construction in unserem Geiste, verm\u00f6ge deren die Dreiecksvorstellung allererst erzeugt wird, muss- stets ein Dreieck mit bestimmten Seitenlangen, stets ein festes, concretes Dreieck hervorbringen1).\nDies ist dann die Summa der Hume\u2019sehen Lehre von den S\u00e4tzen der Mathematik : Die mathematischen Ideen entstehen durch willk\u00fcrliche Wiederholung und Aneinanderf\u00fcgung letzter (empirischer) Elemente oder Punkte. Diese bei ihre* Erzeugung herrschende Willk\u00fcr sichert ihnen diejenige Deutlichkeit und Constanz, die f\u00fcr die Evidenz der sich auf sie beziehenden Urtheile unerl\u00e4sslich ist. Indem die Vernunft diese mathematischen Vorstellungen aufl\u00f6st und ihre Merkmale auseinandersetzt, entstehen die mathematischen S\u00e4tze, dieselben sind also analytische Urtheile. Diese Lehre wird unhaltbar, sobald man das bei der Erzeugung der mathematischen Ideen auftretende willk\u00fcrliche Moment leugnet und im Gegentheil dazu die Construction derselben als wesentlich bedingt und geleitet durch ein unserem Geiste innewohnendes urspr\u00fcngliches Erkenntnissverm\u00f6gen ansieht. Zu dieser Auffassung aber gelangt Kant in seiner Kritik der reinen Vernunft.\nVII. Entwicklungsgang der Kantischen Lehre von den synthetischen Urtheilen apriori, insbesondere von denjenigen der Mathematik2).\nDie Kan tische Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori und die sich daran kn\u00fcpfende Auffassung der Mathematik entsteht erst nach und nach und in stetiger Stufenfolge wie die gesammte kritische Philosophie; und ihr Entwicklungsgang steht in inniger Wechselbeziehung mit der Ausbildung der Vernunftkritik. Drei\n1)\tHume, Hum. nat. Bd. I, p. 130\u2014131.\t.\t\u25a0?\u00bb\n2)\tVergl. hierzu Kuno Fischer, \u00bbGeschichte der neueren Philosophie\u00ab Bd. III.","page":620},{"file":"p0621.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 621\nHauptperioden lassen sich in der Kantischen Philosophie \u00fcberhaupt unterscheiden, und drei Hauptstadien in der Auffassung der Urtheilsfunctionen gehen diesen Perioden parallel, beeinflussen dieselben und werden selbst durch sie bestimmt und geleitet. So lange Kant noch auf dem Boden der Wolffischen Schulphilosophie steht, erkl\u00e4rt er alle wahren Erkenntnissurtheile f\u00fcr analytisch. Seine dann erfolgende Ann\u00e4herung'an die englische Erfahrungsphilosophie und insonderheit an Hume f\u00fchrt ihn dazu, aus der Gesammtheit dieser zuerst als analytisch bezeichneten Erkenntnissurtheile insbesondere eine wichtige Classe, die Urtheile durch Causalit\u00e4t, als synthetisch auszuscheiden. Den Uebergang zu seiner kritischen Philosophie endlich vermittelt die Entdeckung synthetischer Urtheile a priori, zun\u00e4chst auf dem Gebiete der reinen Mathematik und danach in dem Bezirke der reinen Naturwissenschaft.\nDer dogmatischen Periode der Kantischen Philosophie geh\u00f6rt nur eine einzige Abhandlung an, die Fragen der Erkenntniss-theorie zum eigentlichen Gegenst\u00e4nde der Untersuchung nimmt. Es ist dies die Habilitationsschrift vom Jahre 1755 *). Ueberall, so lehrt hier Kant, wo ein Subject mit einem Pr\u00e4dicate zu einem Urtheile verbunden wird, existirt f\u00fcr diese Verkn\u00fcpfung ein bestimmender Grund (ratio determinans), dessen charakteristisches Merkmal ist, dass er das Gegentheil des Urtheils ausschlie\u00dft. Die Folge kann nicht mehr in sich fassen, als was im Grunde bereits enthalten ist1 2). Das Verh\u00e4ltniss von Grund und Folge erkl\u00e4rt sich also jederzeit durch den Satz der Identit\u00e4t und des Widerspruches. Durch sorgf\u00e4ltige Zergliederung des Grundes gelangt man ohne Weiteres zu der Folge, durch genaue Analyse der Begriffe zu allen Erkenntnissen. Deshalb besteht alles Erkennen in analytischen Urtheilen.\nDiese Auffassung erf\u00e4hrt eine wesentliche Umgestaltung in drei oder vier Schriften, in denen sich Kant merklich der Humeschen Lehre n\u00e4hert. In der Abhandlung \u00fcber \u00bbdie falsche Spitzfindig-\n1)\t\u00bbPrincipiorum primorum cognitionis metaphysicae nova dilucidatio\u00ab. Ausg. von Rosenkranz und Schubert Bd. I, p. 3.\n2)\tPrine. etc. Bd. I, p. 9\u201410 u. 31.","page":621},{"file":"p0622.txt","language":"de","ocr_de":"622\nWilibald Reichardt.\nkeit der vier syHogistischen Figuren\u00ab1) vom Jahre 1762 gelangt er zu der Einsicht, dass alles logische Erkennen in Analytischen Ur-theilen bestehe, dass es aber eben deshalb im Grunde genommen unserem Wissen etwas Neu\u00e9s nicht hinz\u00f9f\u00fcgen k\u00f6nne2). Jedes logische Urtheil begr\u00fcndet sich in einem urspr\u00fcnglichen Verm\u00f6gen, dem Verstand (der Vernunft), dessen Function darin besteht, den Unterschied der Dinge zu erkennen. Diesem logischen Erkenntnisverm\u00f6gen steht die Sinnlichkeit als der Art nach verschieden gegen\u00fcber: Die Sinne haben nur das Verm\u00f6gen, die Dinge von einander zu unterscheiden ; das Erkennen dieses Unterschiedes aber ist erst Sache der Vernunft3). Zu der eigentlichen Einsicht der Thatsache synthetischer Erkenntnissurtheile gelangt Kant erst ein Jahr sp\u00e4ter in seiner Schrift \u00fcber \u00bbden einzig m\u00f6glichen Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseins Gottes\u00ab4 5), in dem \u00bbVersuch, den Begriff der negativen Gr\u00f6\u00dfen in die Weltweisheit einzuf\u00fchren\u00ab6) und endlich in der \u00bbUntersuchung \u00fcber die Deutlichkeit der Grunds\u00e4tze der nat\u00fcrlichen Theologie und Moral6/. In der ersten dieser Schriften erkennt Kant, dass die Existenz nie logisches Merkmal eines Subjectes sein k\u00f6nne, dass also Existenzial-s\u00e4tze niemals blo\u00df analytische Urtheile seien7). Die zweite Abhandlung unterscheidet den logischen Grund streng von dem Realgrunde, der Causalit\u00e4t. Der logische Grund begreift sich ohne Weiteres mittelst des Satzes der Identit\u00e4t und des Widerspruches ; hinsichtlich des Realgrundes aber dr\u00e4ngt sich die Frage auf: Wie soll ich es verstehen, dass, weil Etwas ist, etwas Anderes sei?8) In der dritten Untersuchung endlich findet sich der erste Hinweis auf die synthetische Erzeugungsweise der mathematischen Begriffe, die erm\u00f6glicht wird durch deren anschauliche Natur9). Die erste\n1)\tBd. I, p. 57.\n2)\tBd. I, p. 68\u201470; vergl. aber auch Cohen, \u00bbDie systematischen Begriffe in Kant\u2019s vorkritischen Schriften etc.\u00bb Berlin 1873, p. 16 ff.\n3)\tBd. I, p. 72.\n4)\tBd. I, p. 163.\n5)\tBd. I, p. 115.\n6)\tBd. I, p. 77.\n7)\tBd. I, p. 171\u2014172.\n8)\tBd. I, p. 157\u2014160.\n9)\tBd. I, p. 79\u201482.","page":622},{"file":"p0623.txt","language":"de","ocr_de":"Kaufs Lehre von den synthetischen Urtheilena priori in ihrer Bedeutung etc. 623\nder genannten Schriften leugnet die M\u00f6glichkeit der bisher \u00fcblichen Form ontologischer Beweisf\u00fchrungen, die zweite enth\u00e4lt die Fassung des Humes ch en Problems; die letzte tr\u00e4gt den ersten Keim zur Kantischen L\u00f6sung desselben in sich. Einen deutlicheren Ausdruck noch findet die Betonung der M\u00f6glichkeit synthetischer Er-kenntnissurtheile in Kant\u2019s Abhandlung vom Jahre 1766: \u00bbTr\u00e4ume eines Geistersehers, erl\u00e4utert durch Tr\u00e4ume der Metaphysik\u00ab *) ; und hier ist es auch, wo Kant dem Humeschen Skepticismus am n\u00e4chsten steht. Alle reale Erkenntniss, so lehrt hier Kant, flie\u00dft aus der Erfahrung, alle Erfahrung beruht auf Causalit\u00e4t, Causalit\u00e4t aber kann durch blo\u00dfe Vernunft nicht begriffen werden. Alle reale Erkenntniss ist also enthalten in synthetischen Urtheilen. Was speciell die Auffassung der wissenschaftlichen Natur der Mathematik angeht, so erfahren die in der oben genannten Schrift \u00fcber \u00bbdie Deutlichkeit der Grunds\u00e4tze\u00ab etc. gewonnenen Einsichten weitere Ausbildung und Vertiefung in der Schrift \u00fcber den Raum1 2), die bereits hart an der Grenze der vorkritischen Periode der Kantischen Philosophie steht und den Ueb.er-gang zu seiner Vernunftkritik vermittelt. Wenn alle geometrischen Begriffe anschaulich sind und in der r\u00e4umlichen Anschauung ihre Entstehung und ihren Grund finden, so muss der Raum selbst anschaulicher, und zwar fundamentaler, urspr\u00fcnglicher Art sein. Weiter aber lehrt Kant in dieser letzten vorkritischen Abhandlung, der Raum sei nicht selbst blo\u00dfe Anschauung, sondern er sei Gegenstand einer \u00e4u\u00dferen Anschauung, und es komme ihm also eine eigene Realit\u00e4t zu. Dies ist der Punkt, in dem sich diese Schrift noch vom Kriticismus unterscheidet. Sobald dem als urspr\u00fcnglich und anschaulich aufgefassten Raume Idealit\u00e4t statt Realit\u00e4t zugesprochen wird, ist der Uebergang zur kritischen Philosophie vollendet.\nDer thats\u00e4chliche Vollzug dieses Schrittes wird herbeigef\u00fchrt durch das sich geltend machende Bed\u00fcrfniss, den apriorischen Charakter der mathematischen S\u00e4tze \u2014 der doch vollst\u00e4ndig einleuchtend und augenf\u00e4llig scheint \u2014 zu erkl\u00e4ren und zu st\u00fctzen.\n1)\tBd. VII, p. 33.\n2)\t\u00bbVon dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im Raume\u00ab (1768), Bd. V, p. 29.","page":623},{"file":"p0624.txt","language":"de","ocr_de":"Wilibald \u00dfeichardt.\n624\nWelche andere Kaumauffassung schiene wohl auch zul\u00e4ssig, wenn man die Urtheile der Mathematik f\u00fcr synthetisch erkl\u00e4rt und gleichwohl an ihrem apriorischen Charakter festh\u00e4lt? Erst nachtr\u00e4glich jedenfalls findet Kant sein zweites Argument f\u00fcr die Idealit\u00e4t oder Apriorit\u00e4t des Kaumes, dass n\u00e4mlich die Vorstellungen r\u00e4umlicher Objecte die allgemeine Vorstellung des Raumes als Bedingungen voraussetzen. \u2014 Nachdem durch die neugewonnene Auffassung der Natur des Kaumes und der damit sich gleichzeitig ausbildenden neuen Lehre von der Zeit der synthetische und apriorische Charakter der mathematischen S\u00e4tze Erkl\u00e4rung und Begr\u00fcndung gefunden hat, ist der Skepticismus, zu dem sich Kant in entschiedener Uebereinstimmung mit Hume bekannt hatte, von Grund aus zerst\u00f6rt. Sind die S\u00e4tze der Mathematik synthetische Urtheile a priori, so hei\u00dft das, es gibt wirkliche Erkenntniss durch reine Vernunft, und eben dies leugnet die Skepsis Hume\u2019s, eben dies hat auch Kant eine Zeit lang in Zweifel gezogen. Kant selbst hat zu wiederholten Malen die Erkl\u00e4rung abgegeben, dass es die Entdeckung der synthetischen Urtheile a priori der Mathematik gewesen sei, die ihn veranlasst habe, dem Humeschen Skepticismus f\u00fcr immer den R\u00fccken zu kehren, und dass Hume selbst niemals zu seinem Zweifel an der M\u00f6glichkeit wirklicher Erkenntniss durch reine Vernunft gelangt w\u00e4re, wenn er die S\u00e4tze der Matheniatik nicht f\u00fcr analytisch gehalten und deshalb von vornherein von seiner Untersuchung ausgeschlossen h\u00e4tte1).\nVon der Begr\u00fcndung der transcendentalen Aesthetik bis zu der vollst\u00e4ndigen kritischen Aufl\u00f6sung des Humeschen Problems war aber noch ein weiter Schritt. Ueher ein Decennium verging seit der Auffindung synthetischer Urtheile a priori in dem Gebiete der Mathematik; ehe Kant ebensolche Vemunfterkenntnisse, deren Gegenst\u00e4nde aber empirischer Natur sind, entdeckte und ihre M\u00f6glichkeit begr\u00fcndete: Seine Inauguralschrift vom Jahre 17702) enth\u00e4lt bereits die erste Darstellung der transcendentalen Aesthetik ; ihr folgt erst im Jahre 1781 die erste Ver\u00f6ffentlichung der transcendentalen Analytik in der \u00bbKritik der reinen V\u00e9munft\u00ab.\n1)\tKrit. Bd. n, p. 706; Prol. Bd. III, p. 24.\n2)\t\u00bbDe mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis\u00ab Bd. I, p. 303.","page":624},{"file":"p0625.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 625\n,\tIII. Kapitel.\nBeurtheilung der Kantisehen Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori der Mathematik vom Standpunkte der neueren Erkenntnistheorie.\nEs erkl\u00e4rt sich leicht, dass eine Lehre von so weitgehender philosophischer Bedeutung, wie die Kantische Behauptung des synthetischen und apriorischen Charakters der mathematischen S\u00e4tze, in der nachkantischen Philosophie Gegenstand einer eingehenden und sorgf\u00e4ltigen Beurtheilung werden musste. Diese Kritik ging naturgem\u00e4\u00df nach zwei verschiedenen Richtungen: Einmal mussten die Argumente gepr\u00fcft werden, mit denen Kant seine Behauptung, die Mathematik bestehe aus synthetischen Urtheilen, st\u00fctzt und rechtfertigt; au\u00dferdem aber wurde die Kantische Lehre des apr io rischen Charakters der mathematischen S\u00e4tze der Gegenstand lebhafter und strenger Kritik. Die erstere Untersuchung gelangt zu Einw\u00fcrfen gegen die Kantische Lehre, die allerdings zumeist seine ~| Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile im Allge- J meinen und damit erst indirect seine Behauptung der synthetischen Natur der mathematischen Urtheile treffen. Was weiter die Apriorit\u00e4t der mathematischen S\u00e4tze angeht, so sind zahlreiche und gewichtige Beweisgr\u00fcnde gegen dieselbe oder doch gegen die Kantische Begr\u00fcndung derselben ins Feld gef\u00fchrt worden. In der Hauptsache vereinigen sich die Gegner dieser Lehre Kant\u2019s in der Auffassung, dass die fundamentalen Begriffe und jdie Grunds\u00e4tze der Mathematik nicht aus blo\u00dfen Constructionen innerhalb eines urspr\u00fcnglichen Anschauungsverm\u00f6gens herzuleiten, sondern auf Inductionen zur\u00fcckzuf\u00fchren seien, mit denen sich ein Ahstractionsverfahren verbindet1). Inner-\n1) Es soll hier unterbleiben, ausf\u00fchrlich die Einw\u00fcrfe zu besprechen, die von Seiten der Mathematik selbst (vergl. Riemann, \u00bbUeber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen\u00ab, Habilitationsschrift 1854, Abhandl. der Kgl. Gesellsch. der Wissensch. Bd. XIII, oder Gesammelte Werke, herausgeg. von H. Weber, p. 254; und Helmholtz, \u00bbUeber den Ursprung und die Bedeutung der geometrischen Axiome\u00ab, Popul\u00e4re wissenschaftliche Vortr\u00e4ge IH, p. 21) gegen ihre aprioristische Natur erhoben worden sind; es mag vielmehr gen\u00fcgen, auf die Widerlegung dieser Einw\u00fcrfe bei Wundt (\u00bbLogik\u00ab Bd. I, p. 445 ff) und Lasswitz (\u00bbDie Lehre Kant\u2019s von der Idealit\u00e4t des Raumes und der Zeit etc.\u00ab Berlin 1883, p. 141 ff.) hinzuweisen.","page":625},{"file":"p0626.txt","language":"de","ocr_de":"626\nWilibald Reichardt.\n\u25a0r3\nhalb dieser Auffassung aber gehen die Lehren gegen das Kan tische Apriori der mathematischen Urtheile und gegen die Begr\u00fcndung desselben in bedeutsamen Punkten auseinander. So behauptet John Stuart Mill die vollst\u00e4ndige Uebereinstimmung der mathematischen Induction und Abstraction mit dem auf physikalischem Gebiete gebr\u00e4uchlichen Inductions- und Abstractionsverfahren und gelangt so zu der Auffassung der Mathematik als einer blo\u00df empirischen Wissenschaft. Demgegen\u00fcber betont Wilhelm Wundt den charakteristischen Unterschied der Methode, der sich bei der Gewinnung fundamentaler mathematischer und physikalischer S\u00e4tze geltend macht, und wahrt auf Grund dieser Darlegungen den mathematischen S\u00e4tzen eine Apriorit\u00e4t, deren Ursprung allerdings wesentlich anders gedacht werden muss als die Entstehung des Kan tischen Apriori.\nVIII. Einwendungen gegen die Kantische Behauptung der synthetischen Natur mathematischer Urtheile.\nGegen die Kantische Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile hat Schleiermacher in seiner \u00bbDialektik\u00ab1) geltend gemacht, dass an diesem Unterschiede nicht festgehalten werden k\u00f6nne, weil er nur relativer und flie\u00dfender Art sei. Diese Behauptung begr\u00fcndet er durch den Hinweis auf die Entwicklungsf\u00e4higkeit der Begriffe. Je weiter diese Entwicklung fortschreitet, je vollkommener also ein Begriff wird, eine desto gr\u00f6ssere Anzahl von Urtheilen, die diesen Begriff zum Subjecte haben, wird analytischer Natur sein. So ist der Satz von der Winkelsumme im Dreieck nur so lange ein synthetischer Satz, als die Behauptung desselben noch nicht in den Begriff eines Dreiecks mit aufgenommen ist, also nur auf der untersten Stufe mathematischer Einsicht. Sobald man dieses Stadium der Unvollkommenheit verlassen hat, sobald man sich also beim Begriffe eines Dreiecks stets der Gr\u00f6\u00dfe seiner Winkelsumme bewusst wird, oder doch durch Analyse des vervollkommnten Begriffes bewusst werden kann, h\u00f6rt\n1) Schleiermacher, S\u00e4mmtl. Werke, Bd. IV, Abtheil. 2, p. 88\u201489, 264 u. 563.\t\u2022","page":626},{"file":"p0627.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen Urtheilcn a priori in ihrer Bedeutung etc. 627\nder Satz, der diese Eigenschaft zum Ausdruck'bringt, auf, synthetisch zu sein ; er wird vielmehr zum analytischen Urtheile. Schleiermacher verfolgt diese seine Auffassung, der Unterschied analytischer und synthetischer Urtheile sei nur relativ, nach beiden Richtungen hin bis zu ihren \u00e4u\u00dfersten Consequenzen : Nach seinen Ausf\u00fchrungen befindet sich jeder Begriff urspr\u00fcnglich m einem solchen Stadium, dass es in Bezug auf denselben keine rein analytischen Urtheile gibt. So wird urspr\u00fcnglich in dem Begriffe \u00bbMensch\u00ab das Pr\u00e4dicat \u00bbsterblich\u00ab noch nicht mit gesetzt gewesen sein. Umgekehrt ist es denkbar, dass jeder Begriff schlie\u00dflich eine Stufe der Vollkommenheit erreicht, auf der sich in dem Begriffe sogar das \u00bbZuf\u00e4llige seiner M\u00f6glichkeit und seinem Umfange nach \u00ab enthalten findet. Wenn dieses ideale Stadium der Erkenntniss erreicht ist, werden daher rein synthetische Urtheile nicht mehr m\u00f6glich sein.\nL\u00e4sst man es dahingestellt, inwieweit diese letzten Folgerungen Schleiermacher\u2019s berechtigt sind, so scheint doch schon der Hinweis auf die thats\u00e4chlich stattfindende Entwicklung der Begriffe einer Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile und insbesondere der Auffassung der mathematischen S\u00e4tze als synthetischer Urtheile ihre Berechtigung zu rauben. Man darf aber nicht \u00fcbersehen, dass der Kant is che Eintheilungsgrund nicht darauf gerichtet ist, was von dem einzelnen Urtheilenden mit dem Subjecte zusammen gedacht wird, sondern dass die Frage Kant\u2019s dahin geht, ob das Pr\u00e4dicat in dem Subj ecte als nothwendiger Bestandtheil enthalten ist, oder nicht. Um mir eine Vorstellung von einem Dreieck zu machen, brauche ich nothwendig das Merkmal der drei Ecken: Der Satz: \u00bbJedes Dreieck hat drei Ecken\u00ab ist also sicher ein analytisches Urtheil. Andererseits werde ich mir von dem Dreieck eine vollkommen deutliche Vorstellung machen k\u00f6nnen, auch wenn ich nicht an das seine Winkelsumme betreffende Merkmal denke. Der Satz: \u00bbDie Summe der Winkel im Dreieck ist gleich zwei Rechten\u00ab ist also im Kantischen Sinne jederzeit ein synthetisches Urtheil, unabh\u00e4ngig davon, ob dem Urtheilenden die Aussage dieses Satzes vorher schon bekannt war oder nicht.\nNach einer anderen Richtung geht die Kritik Trendelen-burg\u2019s \u00fcber die Kantische Lehre von den analytischen und synthetischen Urtheilen. Er tadelt die Eintheilung Kant\u2019s deshalb,","page":627},{"file":"p0628.txt","language":"de","ocr_de":"628\nWilibald Reichardt.\nweil dieselbe \u00bbnach mechanischen Gesichtspunkten\u00ab vollzogen w\u00fcrde, w\u00e4hrend doch \u00bbim Organischen alles Entwicklung und nur im Handwerk Zusammensetzung \u00ab sei1). Dieser Vorwurf w\u00fcrde in der That der Berechtigung nicht entbehren, wenn es sich mit dem Kantischen Eintheilungsgrunde so verhielte, wie Trendelenburg annimmt, wenn derselbe n\u00e4mlich mit dem Entstehungsgrunde des Urtheils zusammenfiele2). Wenn sich in der That die Kan tische Unterscheidung auf die Entstehung der Urtheile bez\u00f6ge, wenn also wirklich das analytische Urtheil zu Stande k\u00e4me \u00bbdurch Zerf\u00e4llung eines Ganzen in seine Theilbegriffe \u00ab, das synthetische dagegen \u00bbdurch Hinzuf\u00fcgung von Neuem zu dem Alten oder durch Zusammensetzung eines neuen Ganzen \u00ab, so k\u00f6nnte thats\u00e4chlich der Grund dieser Eintheilung als mechanisch bezeichnet werden. Aber auf die Entstehung des Urtheils gr\u00fcndet sich die Kantische Unterscheidung nicht, sondern einzig und allein auf das Verh\u00e4ltniss I des Pr\u00e4dicatbegriffes zum Subjectbegriffe3). Damit verliert auch die Behauptung Trendelenburg\u2019s, jedes Urtheil k\u00f6nnte nach Belieben als analytisch oder als synthetisch aufgefasst und die mathematischen Urtheile demnach ebensogut analytisch wie synthetisch genannt werden, die Bedeutung einer sich gegen Kant ^ richtenden Kritik. Wenn freilich die Ausdr\u00fccke \u00bbanalytisch\u00ab und j \u00bbsynthetisch\u00ab auf die Entstehung des Urtheils bezogen werden, dann kann man wirklich alle Urtheile ebensowohl synthetisch wie analytisch nennen; denn der Gedanke, der Inhalt des Urtheils entsteht synthetisch; andererseits aber ist es die Analyse dieses Gedankens, durch die das Urtheil selbst zu Stande kommt.\nDass die Kantische Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile unabh\u00e4ngig ist von dem Entstehungsgrunde derselben, hat Sigwart \u2014 der \u00fcbrigens diesem letzteren Eintheilungsgrunde den Vorzug einr\u00e4umt \u2014 richtig erkannt4), wenn man auch seiner Auffassung der Kantischen Eintheilung nicht vollkommen\n1)\tTrendelenburg, \u00bbLogische Untersuchungen\u00ab 3. Aufl. Bd. II, p. 264.\n2)\tZu einer \u00e4hnlichen Auffassung neigt auch Behmke in seiner Schrift: \u00bbDie Welt als Wahrnehmung und Begriff\u00ab. Berlin 1880, p. 162\u2014173.\n3)\tVergl. zu diesem Einwande gegen Trendelenburg auch Cohen, \u00bbKant's Theorie der Erfahrung\u00ab Berlin 1871, p. 195 f.\n4)\tSigwart, \u00bbLogik\u00ab Bd. I, p. 103.","page":628},{"file":"p0629.txt","language":"de","ocr_de":"Kant's Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 629\nbeipflichten kann1). Nach Sigwart n\u00e4mlich sind die analytischen TJrtheile Kant\u2019s, solche, in denen der Inhalt des Subjectbegriffes durch das Pr\u00e4dicat explicirt wird; in einem synthetischen Urtheile dagegen w\u00fcrden verschiedene Objecte der Anschauung zu einander in Beziehung gesetzt. Die einen seien erkl\u00e4rend, die anderen erz\u00e4hlend. Dagegen l\u00e4sst sich einwenden, dass diejenigen erkl\u00e4renden TJrtheile, in denen der Subjectbegriff durch seine Beziehung zu anderen selbst\u00e4ndigen Begriffen explicirt wird, sicherlich den Kantischen synthetischen Urtheilen zuzuz\u00e4hlen sind. Man wird zugeben m\u00fcssen, dass der Satz : \u00bbDas Quadrat ist unter allen Vierecken dasjenige, welches den h\u00f6chsten Grad von Symmetrie besitzt\u00ab ein erkl\u00e4rendes Urtheil ist; gleichwohl ist es synthetisch ; denn es setzt den Subjectbegriff (Quadrat) in Beziehung zu anderen Vorstellungen (Vierecken); das Pr\u00e4dicat kann also unm\u00f6glich nothwendiges Merkmal des Suhjectes sein.\nErnstlicher als durch diese mehr auf die Kantische Unterscheidung analytischer und synthetischer Urtheile im Allgemeinen gehenden Einw\u00fcrfe scheint der von Kant behauptete synthetische Charakter der mathematischen Grunds\u00e4tze in Frage gestellt zu werden durch das nicht ohne Erfolg gebliebene Bem\u00fchen der neueren i Mathematik, die mathematischen Axiome oder doch we- i nigstens diejenigen der Arithmetik und Algebra voll- j st\u00e4ndig durch Definitionen zu ersetzen, aus denen sich 1 dann die Grunds\u00e4tze als selbstverst\u00e4ndliche Folgerungen, als analy-tische S\u00e4tze ergeben2). In Wirklichkeit aber wird damit der Kanti- , sehen Behauptung keinerlei Eintrag gethan. Nimmt man n\u00e4mlich i_ Definitionen als Ausgangspunkt der mathematischen Untersuchung und nicht mehr Axiome, so ist dieser Ver\u00e4nderung nur eine formelle Bedeutung beizumessen. Immer noch bilden synthetische Urtheile die Grundlage der Mathematik ; dieselben haben nur nicht mehr die Gestalt von Axiomen, sondern die Form von Definitionen. Diese Definitionen sind synthetische Urtheile, weil sie zugleich die J M\u00f6glichkeit der deftnirten Begriffe aussagen, die nur durch die Anschauung eingesehen werden kann.\n1)\tVergl. Wundt, \u00bbLogik\u00ab Bd. I, p. 150.\n2)\tVergl. Grassmann, \u00bbLineale Ausdehnungslehre von 1844\u00ab 2. Aufl. 1878, p. XXI.","page":629},{"file":"p0630.txt","language":"de","ocr_de":"630\nWilibald Reichardt.\nIX. Die Auffassung der mathematischen S\u00e4tze bei John\nStuart Mill.\nIn die synthetische Natur der mathematischen S\u00e4tze kann nach den Ausf\u00fchrungen Kant\u2019s kaum noch berechtigter Zweifel gesetzt werden. Dagegen ist der zweiteTheil der Kantischen Behauptung, dass n\u00e4mlich die Mathematik bestehe aus Urtheilen a priori, im Buchstaben seiner Philosophie nur ungen\u00fcgend begr\u00fcndet oder, wenn man will, \u00fcberhaupt nicht bewiesen worden. Es wird zun\u00e4chst als unbestreitbare Thatsache hingestellt, dass Nothwendig-keit und Allgemeinheit nur durch reine Vernunft, nur durch urspr\u00fcngliche Geistesverm\u00f6gen erzeugt werden k\u00f6nnen. Weil dann die S\u00e4tze der Mathematik sicherlich noth wendig und allgemein sind, m\u00fcssen dieselben Urtheile a priori sein. Die Thatsache der synthetischen Urtheile a priori der Mathematik wird dadurch zu einem Beweisgr\u00fcnde f\u00fcr die Apriorit\u00e4t der Anschauungsformen ; und sofern f\u00fcr diese noch weitere Argumente geltend gemacht werden k\u00f6nnen, soll sie umgekehrt den apriorischen Charakter der mathematischen S\u00e4tze st\u00fctzen. Au\u00dfer der Nothwendigkeit und Allgemeinheit der S\u00e4tze der Mathematik gibt aber Kant nur noch den einen Grund f\u00fcr das Apriori der Anschauungsformen an, dass ohne die allgemeinen Vorstellungen von Baum und Zeit alle Vorstellungen einzelner r\u00e4umlicher und zeitlicher Objecte unm\u00f6glich w\u00e4ren. Diesen Beweisgrund aber kann man keineswegs gelten lassen. Denn schlie\u00dft denn die Thatsache, dass Kaum und Zeit unerl\u00e4ssliche Bedingungen des einzelnen B\u00e4umlichen und Zeitlichen sind, die Entwicklung derselben durch diese Einzelvorstellungen aus? Ebensowenig kann man zugeben, dass der apodiktische Charakter der mathematischen S\u00e4tze sichere Gew\u00e4hr leistet f\u00fcr ihren Ursprung a priori und damit f\u00fcr die Apriorit\u00e4t der Anschauungsformen. Derselbe findet vielmehr darin gen\u00fcgende Erkl\u00e4rung, dass es nur die constanten Elemente der Erfahrung sind, auf die sich die Behauptungen der Mathematik erstrecken *).\n1) Nach Rehmk|e (1. c. p. 177) ist Kant\u2019s Anschauung a priori nur \u00bbBegriff in der empirischen Anschauung\u00ab; und die Allgemeinheit und Nothwendigkeit der mathematischen S\u00e4tze kommt allein dadurch zu Stande, dass die Begriffe der Mathematik in dieser empirischen Anschauung gegeben, also anschaulich sind.","page":630},{"file":"p0631.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 631\nWenn sonach die Kantische Kritik \u00fcber den synthetischen Charakter der mathematischen S\u00e4tze kaum noch einen Zweifel l\u00e4sst, wenn sie dagegen f\u00fcr die Apriorit\u00e4t derselben nur ungen\u00fcgende Beweisgr\u00fcnde geltend macht, so schlie\u00dft sie keineswegs die M\u00f6glichkeit aus, dass man die Wahrheiten der Mathematik auf gleiche Stufe stellt mit synthetischen S\u00e4tzen a posteriori, mit Thatsachen der blo\u00dfen Erfahrung. Dieser Schritt wird vollzogen in dem Positivismus eines Auguste Comte; ihren sch\u00e4rfsten Ausdruck aber findet diese neue Auffassung bei John Stuart Mill.\nGanz entschieden leugnet Mill die aprioristische Wahrheit der mathematischen Axiome. Er bezeichnet sie vielmehr als inductive Wahrheiten, die nur auf Inductionen \u00bbper enumerationem. sim-plicem\u00ab beruhen, auf der Thatsache, \u00bbdass sie fortw\u00e4hrend richtig und nicht ein einziges Mal unrichtig gefunden wurden\u00ab1). Denn welche Beweisgr\u00fcnde, so fragt Mill, f\u00fchrt man zur Unterst\u00fctzung der Behauptung einer Mathematik a priori an? Aus welchem Grunde beispielsweise schreibt man dem Satze: \u00bbZwei gerade Linien k\u00f6nnen keinen Baum einschlie\u00dfen\u00ab einen Ursprung a priori zu?2) Man sagt, diese Eigenschaft der geraden Linien k\u00f6nne schon erkannt werden, indem man sich dieselben nur im Geiste vorstelle, deshalb k\u00f6nne der Grund unserer Ueberzeugung von der Wahrheit dieses Satzes nicht das Zeugniss der Sinne oder die Erfahrung sein, sondern unbedingt sei dieser Grund in etwas Geistigem zu suchen. Wie aber k\u00f6nnte dieser Einwurf die Apriorit\u00e4t der mathematischen Axiome oder auch nur speciell des angegebenen einen Grundsatzes au\u00dfer Zweifel stellen ? Wir haben keine Veranlassung, die Linien, die wir in uns durch unsere Einbildungskraft erzeugen k\u00f6nnen, als verschieden von denen der Wirklichkeit vorauszusetzen, und zwar wissen wir es durch lange fortgesetzte Erfahrung, dass die Eigenschaften des Urbildes in dem geistigen Abbilde getreu wiedergegeben sind. Wenn es nun wahr ist, dass wir uns durch die blo\u00dfe geistige Erzeugung zweier Geraden dar\u00fcber vergewissern k\u00f6nnen, dass sie keinen Raum einschlie\u00dfen, so geschieht dies nur auf Grund dieser durch die Erfahrung gewonnenen Einsicht, dass die Geraden im\n1)\tMill, \u00bbSystem der deductiven und inductiven Logik\u00ab. Ges. Werke, deutsch von Gomperz, Bd. III, p. 340 (Cap. XXIV).\n2)\t1. c. Bd. II, p. 246 ff. (Cap. V).\nWundt, Philoa. Studien. IY.\n41","page":631},{"file":"p0632.txt","language":"de","ocr_de":"632\nWi\u00fcbald Reichardt.\nGeiste mit denen der sinnlichen Wahrnehmung genau \u00fcbereinstimmen. Ob wir also durch Beobachtung der Wirklichkeit oder durch Betrachtung der inneren Bilder eine Wahrheit gewinnen, ist im Grunde gleichg\u00fcltig: immer hat dieselbe einzig in der Erfahrung ihren Grund.\nMan hat als Argument f\u00fcr die Apriorit\u00e4t der mathematischen Axiome auch wohl die Nothwendigkeit und die Allgemeinheit derselben in\u2019s Feld gef\u00fchrt; man hat die Behauptung aufge-stellt, diese S\u00e4tze bes\u00e4\u00dfen, da ihr Gegentheil etwas Unbegreifliches enthielte, einen h\u00f6heren Grad von Evidenz, als die Erfahrung jemals gew\u00e4hren k\u00f6nne. Aber auch diesen Beweisgrund kann man nicht gelten lassen. Denn sollte wirklich der apodiktische Charakter mathematischer Urtheile aus blo\u00dfer Erfahrung unm\u00f6glich erkl\u00e4rt werden k\u00f6nnen? Wenn mir schon durch die ersten Sinheseindr\u00fccke und ebenso bei jeder sp\u00e4teren Beobachtung bezeugt wird, dass zwei Gerade niemals einen Baum abgrenzen, und wenn meine Erfahrung auch nicht eine einzige Thatsache oder auch nur eine Analogie liefert, die dieser Vorstellung widerstreitet, wie k\u00f6nnte ich es da begreiflich finden, dass zwei gerade Linien jemals einen Baum einschl\u00f6ssen? Uebrigens besitzen im Grunde genonmmen die Wahrheiten der Mathematik gar nicht den hohen Grad von Nothwendigkeit und Gewissheit, den man ihnen zuzuschreiben pflegt1). Denn keinesfalls darf man annehmen, dass es die Mathematik mit etwas Nichtseiendem zu thun habe ; sie handelt vielmehr von solchen Linien, Figuren, und Gr\u00f6\u00dfen, wie sie in Wirklichkeit vorhanden sind. Gleichwohl beziehen sich ihre Definitionen und Axiome' auf blo\u00dfe hypothetische Gebilde, die man durch Verallgemeinerung, durch Abstraction, aus realen Dingen gewinnt, und die deshalb mit diesen realen Gegenst\u00e4nden nur ann\u00e4herungsweise \u00fcbereinstimmen. So sind der Punkt ohne Ausdehnung, die Gerade ohne Breite, der Kreis, dessen Halbmesser s\u00e4mmtlich gleich sind, nur Fictionen, die mit den sinnlichen Punkten, Geraden und Kreisen nur bis zu einem gewissen Grade \u00fcbereinstimmen. Die S\u00e4tze der Mathematik besitzen deshalb nur angen\u00e4herte G\u00fcltigkeit; wie gro\u00df der Grad ihrer Gewissheit ist, h\u00e4ngt davon ab, inwieweit die realen Objecte sich mit den hypothetischen Voraussetzungen decken. Diese\n1) 1. c. Bd. II, p. 239 ff. (Cap. V). .","page":632},{"file":"p0633.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen \u00fcrtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 633\nAussagen haben keineswegs nur Bezug auf die Geometrie, sondern auf das ganze Gebiet der Mathematik, auch auf die Arithmetik und Algebra: Auch deren letzte Grunds\u00e4tze sind Verallgemeinerungen aus der Erfahrung; demzufolge beruht die ihnen zugeschriebene Nothwendigkeit nur auf Fiction ; sie sind nur Ann\u00e4herungen an die Wirklichkeit; denn auch ihren Voraussetzungen fehlt das hypothetische Element nicht*\u25a0). Zahlen an sich gibt es nicht, sondern nur Zahlen von Etwas. Der Satz 3 = 2 + 1 sagt daher keineswegs blo\u00df die Einerleiheit der Bedeutung zweier Namen aus und kann also nicht eine a priori gewonnene Definition der Zahl 3 sein ; dieses Urtheil enth\u00e4lt vielmehr die Einsicht a posteriori, dass jede Sammlung von Gegenst\u00e4nden, die auf die Sinne den Eindruck *. * hervorhringt, auch in zwei Theile zerlegt werden kann, und zwar in folgender Weise \u2022\u2022 \u2022. Diese Wahrheit kann in der That nur durch wiederholte Beobachtung, nur durch Erfahrung, nur a posteriori gewonnen werden. Zu den hypothetischen Elementen, die in alle S\u00e4tze \u00fcber Zahlen eingehen, ist die Voraussetzung zu rechnen, dass allen Zahlen, die in ein und derselben Rechenaufgabe Vorkommen, genau gleiche Einheiten zu Grunde liegen. Diese Voraussetzung ist aber nur ann\u00e4herungsweise erf\u00fcllt; in Wirklichkeit werden z. B. zwei Gewichtspfunde niemals einander vollkommen genau gleich sein.\nDie Mathematik \u2014 dies ist in kurzen Worten der Inhalt der Lehre Mill\u2019s \u2014 ist keine Wissenschaft a priori; denn \u00fcberhaupt besitzt sie gar nicht das hohe Ma\u00df von Gewissheit, das man ihren S\u00e4tzen zuzuschreihen pflegt; und derjenige Grad von Evidenz, welcher denselben billigerweise zugestanden werden muss, wird durch die Behauptung ihres Ursprungs durch Induction und Abstraction aus der Erfahrung keineswegs aufgehoben. Mit der Widerlegung der Behauptung, dass die Gewinnung mathematischer Einsichten aus blo\u00dfen geistigen Abbildern wirklicher Figuren und Gr\u00f6\u00dfen nur auf eine urspr\u00fcngliche innere Anschauung zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nnte, wird der letzte Rechtsanspruch aufgehoben, der f\u00fcr die Apriorit\u00e4t der mathematischen S\u00e4tze geltend gemacht werden kann.\n1) 1. c. Bd. II, p. 273 ff. (Cap. VI).\n41*","page":633},{"file":"p0634.txt","language":"de","ocr_de":"634\nWilibald Reichardt.\nDer Mangel dieser empirischen Auffassung der Mathematik, wie sie von Mill vertreten wird, liegt auf der Hand. Sie legt das Hauptgewicht auf die \u00e4u\u00dferen Gelegenheit\u00e8ursachen, die uns zu mathematischen Definitionen und S\u00e4tzen fuhren k\u00f6nnen, und verabs\u00e4umt dar\u00fcber vollst\u00e4ndig, dem logischen Elemente, das doch hei der Bildung mathematischer Einsichten ein ebenso wesentliches Erforderniss ist, die geb\u00fchrende Beachtung zu schenken. So wirft Mill die Mathematik zusammen mit den Erfahrungswissenschaften, die mathematische Abstraction und Induction mit demjenigen Abstractions- und Inductions verfahren, wie es bei der Gewinnung allgemeiner Erfahrungsbegriffe und allgemeiner Naturgesetze seine Anwendung findet. Damit steht Mill im strengsten Gegens\u00e4tze zu derjenigen Auffassung der Mathematik, nach welcher die Voraussetzungen dieser Wissenschaft in' einem urspr\u00fcnglichen Anschauungsverm\u00f6gen ihre Begr\u00fcndung finden, zu einer Auffassung, die vielmehr umgekehrt der Bedeutung der \u00e4u\u00dferen und inneren Erfahrung f\u00fcr die Gewinnung mathematischer Einsichten nicht nach Geb\u00fchr gerecht wird: im vollsten Gegens\u00e4tze also zur Kantischen Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori der Mathematik.\nX. Der Charakter der mathematischen S\u00e4tze nach Wundt\u2019s Logik der Mathematik.\nEin klarer Einblick in die innere Natur der Mathematik kann nur gewonnen werden, wenn die empirischen Momente und die logischen Functionen, die bei der Bildung der mathematischen Begriffe und S\u00e4tze betheiligt sind, gleichm\u00e4\u00dfige Ber\u00fccksichtigung finden, wenn man also die Kantische Lehre in der Weise modificirt, dass der derselben eigene Standpunkt, auf dem die Mathematik als eine Vernunfterkenntniss aus der Construction der Begriffe erscheint, sich erm\u00e4\u00dfigt durch den Hinweis auf den Einfluss der inneren und \u00e4u\u00dferen Erfahrung. Zahlreich sind die Versuche, die eine Umgestaltung der Kantischen Auffassung von der Natur der Mathematik nach dieser Seite hin anstreben1). Es\n1) Vergl. z. B. Sigwart, \u00bbLogik\u00ab Bd. II, p. 54 ff., 187 ff. und 257.","page":634},{"file":"p0635.txt","language":"de","ocr_de":"635\nKant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc.\nmag gen\u00fcgen, an dieser Stelle die Lehre Kant\u2019s in Vergleich zu ziehen mit derjenigen Beurtheilung, welche der Charakter der mathematischen S\u00e4tze in neuester Zeit gefunden hat in der Logik Wilhelm Wundt\u2019s1).\nZweierlei Motive sind es haupts\u00e4chlich, lehrt Wundt, die uns bestimmen m\u00fcssen, die hohe Bedeutung der Erfahrung hei der Gewinnung mathematischer Wahrheiten anzuerkennen: einmal die kaum bestreitbare Thatsache, dass die Mathematik auf dem primitivsten Standpunkte ihrer Entwicklung eine rein inductive Wissenschaft gewesen ist; insbesondere aber der Hinweis auf den inductiven Charakter ihrer fundamentalsten S\u00e4tze.\nAlles, was uns \u00fcber den ersten Ursprung der mathematischen Erkenntnisse \u00fcberliefert worden ist, erschlie\u00dft als Quelle derselben die Induction aus der Erfahrung. So hat sicherlich zur Entstehung der vier arithmetischen Fundamentaloperationen die Wahrnehmung verschiedenartiger Anordnungen einzelner Objecte, zur Bildung von Stammbr\u00fcchen die im praktischen Leben erwachsene Forderung der Angabe des Verh\u00e4ltnisses eines Theiles zum Ganzen den ersten Anlass gegeben. Ebenso kann \u00fcber den inductiven Ursprung der fr\u00fchesten geometrischen S\u00e4tze kaum ein Zweifel entstehen. Den Inhalt eines Quadrates, eines Rechteckes fand man durch Zerlegung desselben in Quadrate von der Seitenl\u00e4nge 1 und durch nachherige einfache Addition derselben; und ebenso ist der Satz von der Winkelsumme im Dreieck, der pythagoreische Lehrsatz etc. jedenfalls zun\u00e4chst durch directe Wahrnehmung, durch Versuche, durch Induction aus der Erfahrung, gefunden worden.\nWenn es nun auch kaum geleugnet werden kann, dass die Mathematik urspr\u00fcnglich eine Wissenschaft der Induction gewesen ist, so ist es doch viel bedeutsamer f\u00fcr ihren wissenschaftlichen Charakter und insbesondere von weit gr\u00f6\u00dferer Wichtigkeit f\u00fcr die Kritik der von Kant behaupteten apriorischen Natur der mathematischen Urtheile, dass die fundamentalsten dieser S\u00e4tze auf Abstraction aus der Erfahrung und auf gewisse bleibende Formen der Induction zur\u00fcckgef\u00fchrt werden\n1) Wundt, \u00bbLogik\u00ab Bd. II, p. 96 ff.","page":635},{"file":"p0636.txt","language":"de","ocr_de":"636\nWilibald Reichardt.\nm\u00fcssen. Zu diesen fundamentalsten S\u00e4tzen der Mathematik sind alle Definitionen und Axiome sowie alle unmittelbaren Specialisi-rungen der Axiome zu rechnen.\nS\u00e4mmtliche Definitionen der Mathematik entstehen einzig durch Abstraction aus der Erfahrung oder doch durch Bildung von Analogien zu Abstractionen aus der Erfahrung. Dieser Abstrac-tionsprocess ist aber wohl zu unterscheiden von dem hei der Gewinnung von Erfahrungsbegriffen angewandten Verfahren. Wir gelangen zu einer mathematischen Geraden, indem wir bei den in der Erfahrung gegebenen geraden Linien von ihrer verschiedenen Dicke und Breite, sowie von ihren gr\u00f6\u00dferen und kleineren Abweichungen vom Geraden abstrahiren. Wenn dieser Process auf gleicher Stufe st\u00e4nde mit dem in den Erfahrungswissenschaften \u00fcblichen Abstrac-tionsverfahren, so m\u00fcsste die Eigenschaft der Geraden in abstracto, eindimensional und gerade zu sein, allen empirischen geraden Linien gemeinsam sein.\nErst indem sich mit der Abstraction noch die Induction verbindet, sind die Bedingungen zur Gewinnung mathematischer Axiome gegeben. Aber auch dieses mathematische Inductionsverfahren tr\u00e4gt einem eigenartigen Charakter an sich und ist wohl zu unterscheiden von der Induction in den Naturwissenschaften. Aufgabe des Physikers ist es, durch Induction abstracte Naturgesetze zu gewinnen, die sich den Thatsachen der Erfahrung mit m\u00f6glichster Genauigkeit annahem. Die Gegenst\u00e4nde des Mathematikers dagegen sind nicht die Objecte der Erfahrung, sondern nur seine Vorstellungen, die durch die empirischen Dinge nur angeregt und verdeutlicht werden ; ihn k\u00fcmmert es also nicht, ob seine Voraussetzungen und Resultate mit diesen nur als H\u00fclfsmittel benutzten \u00e4u\u00dferen Objecten genau vertr\u00e4glich sind oder nicht.\nEs sind aber nicht die urspr\u00fcnglichsten Inductionen, die zu den mathematischen Axiomen f\u00fchren. Letztere sind vielmehr aufzufassen als die allgemeinsten Abstractionen aus denjenigen mathematischen S\u00e4tzen, die man als unmittelbare Specialisirungen der Axiome bezeichnen kann. Alle Zahlformeln, wie 7 + 5 = 12, 5-6 == 30 u. dergl., sowie die allgemeinsten S\u00e4tze der synthetischen Geometrie, z. B. dass sich zwei gerade Linien der Ebene in einem Punkte, zwei Ebenen in einer Geraden schneiden, sind hierher zu","page":636},{"file":"p0637.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen \u00fcrtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 637\nrechnen. Alle diese S\u00e4tze k\u00f6nnen nur durch wiederholtes Experi-mentiren und Beobachten in der inneren oder \u00e4u\u00dferen Erfahrung zu Stande kommen ; sie sind nur durch Induction, nur durch den Hinweis auf die empirische Anschauung erweisbar.\nDurch Generalisation gehen aus diesen Inductionen primitivster Form verwickeltere Inductionen hervor, deren Werth f\u00fcr die Gewinnung mathematischer Resultate anerkannterma\u00dfen au\u00dfer allem Zweifel steht. Inductionen dieser Art f\u00fchren z. B. zur Aufstellung der Regel, nach welcher die Primfactoren einer Zahl sich bestimmen lassen, zur Auffindung der Anzahl der Comhinationen einer bestimmten Anzahl von Elementen, zur Ermittelung des Gesetzes einer durch empirische Entwickelung gefundenen Reihe etc. Ebenso f\u00fchren alle Versuche, die allgemeinen Gesetze der Zahlenverkn\u00fcpfung, also das Associations-, Commutations- und Distrihutionsgesetz, zu beweisen, schlie\u00dflich auf Generalisationen einzelner Thatsachen der mathematischen Anschauung als letzte Gr\u00fcnde zur\u00fcck.\nWenn es nun aber auch unzweifelhaft feststeht, dass der Ursprung der mathematischen Grundlagen zun\u00e4chst in der Induction e aus der Erfahrung gesucht werden muss, so schlie\u00dft diese Einsicht doch keineswegs die Auffassung der Mathematik als einer aprioristischen Wissenschaft aus. Die S\u00e4tze der Mathematik sind vielmehr sicherlich Urtheile a priori. Die M\u00f6glichkeit hierzu begr\u00fcndet sich in dem eigenth\u00fcmlichen Charakter des f\u00fcr alle Mathematik unerl\u00e4sslichen Abstractions Verfahrens, auf dessen bedeutsamen Unterschied von der naturwissenschaftlichen Abstraction schon oben aufmerksam gemacht wurde.\nDie Elemente, die zur Bildung der Vorstellung eines Gegenstandes erforderlich sind, haben theils in dem empirischen Objecte selbst ihre Quelle, theils geh\u00f6ren sie unserer eigenen Gedankenth\u00e4tigkeit an. Die Auffassung der mathematischen Abstraction wird nun eine verkehrte, sobald man die letzteren Vorstellungselemente v\u00f6llig unbeachtet l\u00e4sst. Dann n\u00e4mlich wird man veranlasst, das Wesen des Abstractionsverfahrens in dem Ausscheiden eines Theiles und dem Zur\u00fcckbehalten des anderen Theiles der empirischen Vorstellungselemente zu suchen, wenn anders nicht ein blo\u00dfes Nichts als Resultat der Abstraction sich einstellen soll. Andererseits kann man sich der Ueberzeugung nicht erwehren, dass die mathematischen","page":637},{"file":"p0638.txt","language":"de","ocr_de":"638\nWilibald Reichardt,\nBegriffe, zu denen mau durch solche Abstraction gelangt, keinerlei empirische Elemente in sich schlie\u00dfen. Diese Schwierigkeiten schwinden, sobald man den subjectiven Bedingungen der Vorstellung eines empirischen Thatbestandes die geb\u00fchrende Beachtung schenkt. Dann wird man durch nichts gehindert, den eigent\u00fcmlichen Charakter der mathematischen Abstraction darin zu suchen, dass sie von s\u00e4mmtlichen nur aus dem empirischen Object stammenden Vorstellungselementen \u2014 nicht blo\u00df von einem Theil derselben \u2014 absieht und als wesentlichen Bestandtheil nur die bei der Bildung mathematischer Vorstellungen wirksame Gedanken-th\u00e4tigkeit zur\u00fcckbeh\u00e4lt. So k\u00f6nnen die Zahlen zwar nur entstehen durch Vermittelung z\u00e4hlbarer empirischer Objecte; den eigentlichen Begriff der Zahl aber gewinnt man erst nach Elimination aller der wechselnden aus diesen Objecten herr\u00fchrenden Elemente durch ausschlie\u00dfliche Beachtung der die einzelnen Denkacte verbindenden Th\u00e4tigkeit. Von dem physischen gelangt man zum mathematischen Punkte, indem man von allen physischen Eigenschaften des ersteren abstrahirt und nur die ortbestimmende Gedankenth\u00e4tigkeit zur\u00fcckbeh\u00e4lt. Aehnlich ist der Process, der von der sinnlichen Vorstellung eines ann\u00e4hernd geradlinigen Stabes zum Begriff der mathematischen geraden Linie hin\u00fcberf\u00fchrt. Wenn man zwei Punkte eines solchen Stabes festh\u00e4lt und diesen alsdann in beliebiger Weise um sich dreht, so wird derselbe jederzeit auf gleiche Art die Verbindung der beiden festgehaltenen Punkte vermitteln. Auf diese Erfahrung gr\u00fcndet sich die Gewinnung des Begriffes der mathematischen Geraden: Ma\u00dfgebend f\u00fcr denselben wird nur der Denkact,, welcher die relative Lage zweier Punkte zu einander fixirt; alle objectiven Bestandteile der sinnlichen Vorstellung des Stabes dagegen werden eliminirt. Durch ein Abstractionsverfahren ganz \u00e4hnlicher Art werden alle \u00fcbrigen geometrischen Vorstellungen gewonnen; nur sind die empirischen Objecte, auf die sich dasselbe bezieht, bei der Bildung zusammengesetzterer mathematischer Ideen meist von anderer Natur als in den genannten einfachsten F\u00e4llen: Nur selten kn\u00fcpft sich die zur Gewinnung verwickelterer geometrischer Vorstellungen f\u00fchrende Abstraction an unmittelbare Erfahrungen ; viel h\u00e4ufiger erscheinen als ihre Ausgangspunkte Gebilde, die einer willk\u00fcrlichen Construction aus objectiven oder subjectiven Elementen, dem Wirken","page":638},{"file":"p0639.txt","language":"de","ocr_de":"Kant\u2019s Lehre von den synthetischen Urtheilen a priori in ihrer Bedeutung etc. 639\nder bildenden Hand oder der Th\u00e4tigkeit der blo\u00dfen Einbildungskraft ihre Entstehung verdanken. Auch alle Gebilde dieser Art werden erst durch Elimination aller objectiven, der Absicht unseres Denkens fern liegenden Elemente zu rein. geometrischen Vorstellungen erh\u00f6hen.\nWenn es nun aber eine zugegebene Thatsache ist, dass es nur die rein subjectiven, nur die unserer Gedankenth\u00e4tigkeit angeh\u00f6rigen Bestandtheile aller unserer Vorstellungen sind, aus denen sich die mathematischen Ideen zusammensetzen, so ist das Wesen des mathematischen Apriori erkl\u00e4rt, allerdings in anderer Weise als durch die Kantische transcendentale Aesthetik. Die subjectiven Elemente, aus denen sich schlie\u00dflich alle unsere mathematischen Vorstellungen aufbauen, k\u00f6nnen nur gewonnen werden aus unseren empirischen Vorstellungen ; nichts gibt uns die Berechtigung, diese subjectiven Bestandtheile als den objectiven Elementen vorangehende transcendentale Bedingungen der empirischen Vorstellungen zu betrachten. Durch Abstraction aus der Erfahrung und durch Induction aus diesen Ahstractionen, nicht aber durch unmittelbare Constructionen innerhalb eines urspr\u00fcnglichen reinen Anschauungsverm\u00f6gens \u2014 die jede Induction und Abstraction entbehrlich machen m\u00fcssten \u2014 wird die Bildung aller mathematischen Vorstellungen und Einsichten vollzogen.\nIn diesem Punkte begr\u00fcndet sich der Unterschied der Lehre Wundt\u2019s von der Kantischen Auffassung. Dieser Unterschied bezieht sich auf die Erkl\u00e4rung und Begr\u00fcndung des schlie\u00dflichen Resultates; in der Formulirung desselben stimmt Wundt mit Kant \u00fcberein: Alle mathematischen S\u00e4tze sind synthetische Urtheile a priori.","page":639}],"identifier":"lit4156","issued":"1888","language":"de","pages":"595-639","startpages":"595","title":"Kant\u2018s Lehre von den synthetischen Urteilen a priori in ihrer Bedeutung f\u00fcr die Mathematik","type":"Journal Article","volume":"4"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:24:58.820612+00:00"}