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{"created":"2022-01-31T12:36:01.725487+00:00","id":"lit4160","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Berger, Gustav O.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 170-178","fulltext":[{"file":"p0170.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge.\n. Von\nDr. G. 0. Berger.\nIm Folgenden gebe ich Versuche nach Art und Methode der von Cat teil in diesen Studien II, 4 ver\u00f6ffentlichten, angestellt mit Sch\u00fclern der verschiedenen Classen eines Gymnasiums. Es handelt sich um Vorg\u00e4nge, die in der Schule t\u00e4glich und st\u00fcndlich wiederkehren und zwar zun\u00e4chst um das Lesen eines lateinischen oder deutschen Schriftstellers. Die Versuche werden daher geeignet sein, \u00fcber den Einfluss der Uebung auf den geistigen Vorgang des Lesens Auskunft zu geben. Der Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge kann \u00fcberhaupt offenbar ein zweifacher sein: entweder wird die Dauer des Vorganges verk\u00fcrzt, \u2014 dabei wird gew\u00f6hnlich auch die Art des Vorganges ver\u00e4ndert sein \u2014, oder es wird nur die Art des Vorganges ver\u00e4ndert, die Dauer aber bleibt dieselbe. Schon die erste Tabelle wird uns zeigen, worin bei unsem Versuchen der Einfluss besteht.\nAus jeder der 9 Classen eines Gymnasiums w\u00e4hlte ich (nach der allgemeinen Rangordnung) die 5 besten und die 5 schlechtesten aus; das Durchschnittsalter f\u00fcr die je 10 Sch\u00fcler war 10,7 12,0 12,9 14,2 15,2 16,4 18,0 18,6 21,6 Jahre. Jeder Sch\u00fcler hat aus Tacitus, Agricola Cap. I 1) die ersten 100, 2) die n\u00e4chsten 500 W\u00f6rter m\u00f6glichst rasch (also beliebig undeutlich), 3) die ersten 100 W\u00f6rter nochmals, aber mit \u00bbnormaler\u00ab Geschwindigkeit zu lesen. Der Vollst\u00e4ndigkeit wegen wurden auch mit Sch\u00fclern der Vorschule, die noch gar keinen lateinischen Unterricht gehabt hatten,","page":170},{"file":"p0171.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge.\t171\neinige Versuche angestellt; ihr Durchschnittsalter war 9,0 Jahre. Berechne ich die in jeder Classe durchschnittlich f\u00fcr 100 W\u00f6rter gebrauchte Zeit, so ergehen sich folgende 3 Reihen von Zahlen.\nTab. I.\nClasse\tVII\tVI\tV\tIV\tIIIb\tIII\u00bb\tII b\tII a\tIb\tIa\n100 W.\t262\t135\t100\t84\t79\t57\t5.4\t49\t48\t43\nmV.\t55\t19\t17\t9\t14\t5\t6\t5\t4\t5\n500 W.\t\t145\t104\t93\t83\t59\t58\t53\t53\t45\nmV.\t\t21\t21\t11\t18\t7\t7\t4\t3\t5\n100 W. norm.\t\t134\t95\t84\t79\t61\t56\t57\t53\t52\nmV.\t\t20\t18\t8\t15\t5\t6\t5\t2\t5\nDie erste Horizontalreihe zeigt uns sofort, dass die Sch\u00fcler der oberen Classen k\u00fcrzere Zeiten gebrauchen als die der unteren; die Hebung hat eine fortlaufende Abnahme der Lesedauer hervorgebracht. Ihr Einfluss ist am st\u00e4rksten im ersten Jahre, die Zeit wird da um ungef\u00e4hr die H\u00e4lfte verk\u00fcrzt. Im zweiten Jahre tritt noch eine\nVerk\u00fcrzung um ~, im dritten um y ein und so wird die Abnahme\nallm\u00e4hlich geringer, ohne indess, soweit die Versuche reichen, ganz aufzuh\u00f6ren. Man erkennt hierin sofort ein allgemeines Gesetz, wenn sich dasselbe auch nicht in einer kurzen mathematischen Formel ausdr\u00fccken l\u00e4sst. Die Zahlen sind aber gesetzm\u00e4\u00dfiger, als die von uns angewandte Methode erwarten lie\u00df. Dass die Methode gar nicht so ungenaue Zahlenwerthe liefert, \u2014 obgleich es uns in dieser Arbeit nicht auf den absoluten Werth der Zahlen ankommt, \u2014 geht daraus hervor, dass die mittlere Variation der 10 f\u00fcr jede Classe gefundenen Werthe nur 10 % des Mittelwerthes betr\u00e4gt. In IIIb sollte man allerdings eine-etwas kleinere Zahl erwarten, aber die gro\u00dfe mittlere Variation zeigt uns, dass einige von den 10 Sch\u00fclern verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig viel l\u00e4ngere Zeit gebraucht haben als die \u00fcbrigen, so dass sie zugleich den Mittelwerth und die mittlere Variation in die H\u00f6he gedr\u00fcckt haben. Auch von P nach Ia findet eine unerwartet starke Abnahme statt; man muss aber bedenken, dass der Altersunterschied 3 Jahre betr\u00e4gt: es sa\u00dfen in der Ia zuf\u00e4llig recht alte Sch\u00fcler. . Die Zahlen der zweiten Horizontalreihe","page":171},{"file":"p0172.txt","language":"de","ocr_de":"172\nzeigen genau dieselben Aenderungen, ihr absoluter Werth ist in Folge der Anstrengung und Erm\u00fcdung um 7 % gr\u00f6\u00dfer als in der ersten Reihe. Das Resultat wird ferner best\u00e4tigt durch eine zweite Gruppe von Versuchen mit Goethe\u2019s Egmont V, 2, Egmont\u2019s Monolog im Kerker. Die f\u00fcr dieselben Sch\u00fcler gefundenen Zahlen sind die folgenden:\nTab. II.\nClasse\tVII\tVI\tV\tIV\tIII b\tIII\u00bb\tII b\tII\u00bb\tIb\tI\u00bb\ntoo W.\t72\t55\t43\t37\t39\t28\t27\t26\t25\t23\nmV.\t9\t11\t10\t5\t10\t2\t3\t2\t3\t1\n500 W.\t\t56\t43\t39\t40\t30\t28\t26\t27\t24\nmV.\t\t11\t9\t6\t9\t2\t4\t2\t2\t2\n100 W. norm.\t\t48\t40\t39\t41\t33\t30\t33\t30\t30\nmV.\t\t1\t7\t5\t10\t2\t3\t3\t2\t2\nDie Gr\u00f6\u00dfe der mittleren Variation ist im Durchschnitt ebenfalls etwa = 10^ der Mittelwerthe, die Schwankung der Mittel-werthe in IIP und Ia sowie die gro\u00dfe mV in IIIb ist genau dieselbe wie in Tab. I, die Zahlen der zweiten Reihe sind aber nur 3 % gr\u00f6\u00dfer als die der ersten; es macht also bei der Muttersprache bedeutend weniger aus, dass mehr hintereinander gelesen werden musste. Es k\u00f6nnte auffallend erscheinen, dass beim Deutschlesen der Einfluss der Uebung im Anf\u00e4nge geringer ist, die Verk\u00fcrzung\nbetr\u00e4gt nur -i- ; man muss aber bedenken, dass die Sch\u00fcler der VII\nschon drei Jahre lang deutschen Unterricht haben und noch l\u00e4nger deutsch reden, w\u00e4hrend der lateinische Unterricht, abgesehen vom Lesen und Schreiben lateinischer Schrift, erst in VI beginnt. Alle die angef\u00fchrten Versuche ergeben also genau dasselbe allgemeine Gesetz: Durch die Uebung wird die Lesedauer f\u00fcr irgend eine Sprache im Anf\u00e4nge sehr rasch, allm\u00e4hlich weniger, aber unaufh\u00f6rlich verk\u00fcrzt.\nEinem Einwand muss ich Vorbeugen. Man k\u00f6nnte behaupten, dass die Abnahme der Zeiten gar nicht an der Uebung in den betreffenden Sprachen l\u00e4ge, sondern an dem allgemeinen geistigen Fortschritte \u00fcberhaupt. Ich habe dem die folgenden Versuche entgegenzustellen, bei denen die Sch\u00fcler 1. die bekannteren Farben:","page":172},{"file":"p0173.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge.\t173\nroth, gelb, gr\u00fcn, blau schwarz, 2. 10 Farben au\u00dfer den vorigen: orange, violett, rosa, grau, braun, die in mannigfachem Wechsel auf einem Carton aufgekleht waren (Stud. II. S. 649), zu erkennen und zu henennen hatten. Sie brauchten dazu folgende Zeiten:\nTab. III.\nClasse.\tVI\tV\tIV\tIII b\tIIIa\tII b\tIIa\tIb\tIa\n\t83\t66\t79\t66\t63\t56\t63\t63\t54\n5 Farben.\t8\t10\t11\t7\t7\t5\t12\t10\t6\n\t135\t99\t119\t123\t100\t91\t112\t99\t86\n10 Farben.\t25\t15\t13\t31\t13\t14\t24\t14\t16\nMan wird ohne Weiteres erkennen, dass hier von einem regelm\u00e4\u00dfigen K\u00fcrzerwerden der Zeiten keine Rede sein kann, diese Vorg\u00e4nge der Farhennennung sind eben nicht regelm\u00e4\u00dfig ge\u00fcbt worden.\nNachdem wir also festgestellt haben, wie gro\u00df der Einfluss der Uebung auf die Lesedauer ist, gehen wir zu der Frage \u00fcber: wie erkl\u00e4rt sich die Verk\u00fcrzung der Zeiten und welcher Theil des Lesevorganges wird etwa besonders beeinflusst.\nDas Lesen z. B. eines Buchstabens ist kein einfacher Vorgang, sondern besteht aus drei Haupttheilen : 1. Von der Einwirkung des Druckzeichens auf die Netzhaut bis zur Wahrnehmung des Buchstabens (centripetaler Vorgang), 2. Erkennen des Buchstabens und Verbindung mit der zugeh\u00f6rigen Lautvorstellung (centraler Vorgang), 3. Befehl an die Sprachorgane, die Lautvorstellung in Laut umzusetzen, und Ausf\u00fchrung dieses Befehles (centrifugaler Vorgang). Sind die zu lesenden Buchstaben nicht einzeln sichtbar, sondern gleichzeitig, so \u00fcberdecken sich die drei Vorg\u00e4nge f\u00fcr aufeinanderfolgende Buchstaben in der Weise, dass man mit dem Auge und dem Bewusstsein schon weiter ist als mit den Sprachorganen (Stud. Bd. II S. 648). Haben wir endlich einzelne W\u00f6rter oder einen zusammenh\u00e4ngenden Abschnitt zu lesen, so ergibt sich aus Cattell\u2019s Versuchen (Stud. Bd. Ill S. 126\u2014127) f\u00fcr einen erwachsenen Menschen, dem die betreffende Sprache bekannt ist, dass man viel mehr einzelne Buchstaben zugleich ins Bewusstsein aufnehmen, und dementsprechend viel rascher lesen kann, wenn die Buchstaben","page":173},{"file":"p0174.txt","language":"de","ocr_de":"174\nG. 0. Berger.\nW\u00f6rter und die W\u00f6rter S\u00e4tze bilden. Ich bin in der Lage, daf\u00fcr einen weiteren Beweis liefern zu k\u00f6nnen in den folgenden Versuchen, aus denen wir unten weitere Folgen ziehen wollen. In der ersten Reihe wiederhole ich die Reihe 1 der Tab. II, in der zweiten Reihe stehen die Zahlen, die ich f\u00fcr 100 einsilbige deutsche Hauptw\u00f6rter erhielt, die in keinem Zusammenh\u00e4nge mit einander standen.\nTab. IV.\nClasse.\tVI\tV\tZV\tIII b\tlila\tII b\tII a\tI b\tIa\n100 W. S\u00e4tz.bild.\t55\t43\t37\t39\t28\t27\t26\t25\t23\n100 Hauptw.\t60\t50\t49\t48\t41\t38\t37\t38\t32\nDie Versuche der zweiten Reihe haben wirklich durchweg gr\u00f6\u00dfere Zeiten ergeben, trotzdem doch unter den 100 W\u00f6rtern der ersten Reihe sogar viele mehrsilbige waren. Wir finden also Cat-tell\u2019s Behauptung best\u00e4tigt, dass W\u00f6rter nicht als Buchstabenverbindungen, sondern als Wortganze, S\u00e4tze entsprechend als Satzganze ins Bewusstsein aufgenommen werden. Es wird uns nunmehr nicht schwer fallen, die von uns aufgestellten Fragen zu beantworten.\nDie Vorg\u00e4nge 1 und 3 stellen zusammen eine einfache Reaction der Sprachorgane auf einen Lichteindruck dar, Vorgang 2 eine Association. Bei einfachen Reactionen ist es bisher nicht gelungen, den Einfluss der Uebung nachzuweisen. Die meisten Experimentatoren wollten einen solchen Einfluss allerdings schon in einer einzelnen Reihe oder bei einigen wenigen Reihen erkennen und haben so manches f\u00fcr einen Einfluss der Uebung oder Erm\u00fcdung erkl\u00e4rt, was lediglich eine Folge der normalen Variation des betreffenden Vorganges war. Selbst in den nach Zahl und Zeit sehr ausgedehnten Versuchen von Cat teil hat sich f\u00fcr einfache Reactionen ein deutlicher Einfluss der Uebung nicht ergeben. (S. Cat tell, Phil. Stud. Bd. III Heft 3, S. 486 ff.). Meine Versuche beherrschen einen Zeitraum von mindestens 9 Jahren und zwar stehen die Versuchspersonen in dem Alter , wo K\u00f6rper und Geist sich am raschesten und nachhaltigsten beeinflussen lassen. K\u00f6nnen nun auch m\u00f6glicher Weise im Laufe der 9 Jahre die Vorg\u00e4nge 1 und 3 eine wahrnehmbare Verk\u00fcrzung erfahren haben,","page":174},{"file":"p0175.txt","language":"de","ocr_de":"Deber den Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge.\n175\nso wird man doch von vornherein zugestehen, dass die von uns gefundene sehr starke Verk\u00fcrzung der Hauptsache nach auf Rechnung des centralen Vorganges zu setzen ist. Wie aber denken wir uns dessen Verk\u00fcrzung?\nVon den Sch\u00fclern war verlangt, dass sie m\u00f6glichst rasch lesen sollten, wenn auch die einzelnen Worte nicht deutlich ausgesprochen w\u00fcrden. Die Maximalschnelligkeit der Aussprache war damit so erh\u00f6ht, dass sie nicht etwa die Schnelligkeit des Lesens beeintr\u00e4chtigen konnte. Die Sch\u00fcler versprachen sich in Folge dessen ziemlich oft oder verschluckten einige Lautbestandtheile und gerade diese \u00bbFehler\u00ab geben uns einen werthvollen Anhalt. Die Sch\u00fcler der VII lasen in dem lateinischen Abschnitt gew\u00f6hnlich silbenweise, d. h. die Consonanten mit dem folgenden Vocal zusammen, dabei lie\u00dfen sie entweder einen Buchstaben aus oder verwechselten \u00e4hnlich aussehende Buchstaben, z. B. eitra f\u00fcr citra, Fehler anderer Art kamen nicht vor. Bereits die Sch\u00fcler der VI lasen viele einzelne W\u00f6rter, die ihnen im Unterricht eingepr\u00e4gt waren, als Ganze, auch wenn sie mehrsilbig waren; die Zahl dieser W\u00f6rter wuchs in den folgenden Classen. Die hier vorkommenden Fehler waren vielfach au\u00dfer den schon erw\u00e4hnten Quantit\u00e4tsfehler, z. B. trad\u00e9re statt tra-d\u00ebre und au\u00dferdem Verwechselung \u00e4hnlicher W\u00f6rter, z. B. aestas f\u00fcr aetas. \u2022 Nach den oberen Classen zu gelang es mehr und mehr, zusammenh\u00e4ngend und mit den richtigen Interpunctionen zu lesen. Es kamen hier Fehler vor von der Art: multis fortuitis casibus f\u00fcr multi fortuitis casibus oder Silanum accusare jussus est quia abnuerat interfectus est statt jussus et . . . interfectus est. Aus dem Gesagten wird man ersehen, dass die Sch\u00fcler im Anf\u00e4nge nur wenige Buchstaben gleichzeitig ins Bewusstsein aufzunehmen und mit ihrer Lautvorstellung zu associiren vermochten. Dass aber diese wenigen Buchstaben gleichzeitig aufgenommen waren, wird dadurch best\u00e4tigt, dass bei den Verwechselungen immer wieder Silben herauskamen. W\u00f6rter wurden von den Sch\u00fclern der VII noch nicht gelesen, die Buchstabenzusammenstellungen hatten f\u00fcr sie noch keinen Sinn , d. h. sie hatten die gleichen Zusammenstellungen zumeist noch nie gesehen. Die Sch\u00fcler der VI haben bereits eine ziemliche Zahl W\u00f6rter gelernt, diese W\u00f6rter lesen sie als Ganze, ebenso die Sch\u00fcler der n\u00e4chsten Classen. Je mehr von den W\u00f6rtern ihnen bekannt","page":175},{"file":"p0176.txt","language":"de","ocr_de":"176\nG. 0. Berger.\nsind, desto mehr verm\u00f6gen sie gleich als Ganze zu associiren, desto mehr Einzelassociationen werden also erspart. Nach Cattell\u2019s Versuchen braucht man um 100 W\u00f6rter zu lesen nur etwa 1,3 mal so lange Zeit, als um 100 Buchstaben zu lesen, vorausgesetzt, dass die W\u00f6rter keine S\u00e4tze, die Buchstaben keine W\u00f6rter bilden. (Stud. II. S. 644 u. 645). Die Sch\u00fcler der III also etwa werden ungef\u00e4hr in derselben Zeit aus dem angef\u00fchrten Grunde 100 W\u00f6rter lesen, als die der VII 100 kleine silben\u00e4hnliche Buchstaben Verbindungen. Sehen wir von andern Gr\u00fcnden ab, so w\u00fcrde der von uns angef\u00fchrte allein schon eine recht bedeutende Verk\u00fcrzung der Zeiten erkl\u00e4ren. Dass in den unteren Classen wirklich Wortganze aufgefasst werden, zeigt die Verwechselung von aestas mit aetas, die au\u00dferhalb des Zusammenhanges beide einen Sinn haben. Nach den Oberclassen zu tritt allm\u00e4hlich die F\u00e4higkeit ein, einzelne Satzglieder oder kleinere S\u00e4tze als Ganze aufzunehmen, wie die zwei angef\u00fchrten Beispiele beweisen. Damit tritt selbstverst\u00e4ndlich eine weitere Verk\u00fcrzung der Zeiten ein.\nF\u00fcr die aufgestellten Behauptungen spricht auch Tab. IV. Ad-dire ich dort die Zahlen f\u00fcr je drei Classen, so ergeben sich f\u00fcr das Lesen eines zusammenh\u00e4ngenden Abschnittes von 100 W\u00f6rtern die Zahlen 135 94 74, f\u00fcr das Lesen der 100 Hauptw\u00f6rter 159 127 107. Das Verh\u00e4ltniss der zweiten Reihe von Zahlen zu der ersten wird ausgedr\u00fcckt durch die Zahlen 1,18 1,35 1,45, die Zahlen der ersten Reihe haben also st\u00e4rker abgenommen als die der zweiten. Das hei\u00dft aber doch, die Sch\u00fcler der oberen Classen haben mehr Vortheil davon, dass die W\u00f6rter S\u00e4tze bilden, als die der unteren, oder mit andern Worten, sie fassen gr\u00f6\u00dfere Ganze gleichzeitig auf als diese. Noch einen weiteren Beweis vermag ich beizubxingen, dass sich allm\u00e4hlich die F\u00e4higkeit entwickelt, Satzganze aufzufassen. In den dritten Reihen der Tab. I und II sollten die Sch\u00fcler normal d. h. nach dem Sinne lesen. In den untersten Classen wird dabei rascher gelesen als in Reihe 1; es sind ja dieselben W\u00f6rter, aber sie werden das zweitemal gelesen. In Tab. I werden von IIIa ab, in Tab. 2 schon von IV ab die Zahlen der 3. Reihe gr\u00f6\u00dfer als die der ersten. Hier beginnt also schon ein gewisses Verst\u00e4ndniss, aber erst von Ib ab in Tab. I, von IIIa oder IIb ab in Tab. II scheint das Verst\u00e4ndniss des Sinnes so gro\u00df zu sein, dass die Sch\u00fcler ihm","page":176},{"file":"p0177.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber den Einfluss der Uebnng auf geistige Vorg\u00e4nge.\n177\ndie Schnelligkeit des Lesens anzupassen verm\u00f6gen. Von diesen Classen ab ergibt sieb eine constante normale Lesedauer von ungef\u00e4hr derselben Gr\u00f6\u00dfe, wie sie Cattell f\u00fcr mich fand (Stud. II. S. 643 f\u00fcr Deutsch 29, f\u00fcr Latein 53, die \u00fcbrigen Deutschen S. 644 ergaben 30,7 f\u00fcr Deutsch), es muss also von da ab beim zweiten Lesen des Abschnittes ein gen\u00fcgend rasches Auffassen des Sinnes statt haben.\nFassen wir die Resultate noch einmal zusammen, so ergibt sich :\n1.\tDie Uebung wirkt haupts\u00e4chlich auf den centralen Vorgang ein,\n2.\tSie vergr\u00f6\u00dfert den Umfang des Bewusstseins, indem sie einmal erm\u00f6glicht, immer mehr unverbundene Eindr\u00fccke gleichzeitig aufzunehmen (Beweis Tab. IV Reihe 2), und indem sie zweitens und vor allen Dingen allm\u00e4hlich gestattet, eine noch viel gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Einzeleindr\u00fccken gleichzeitig aufzunehmen und zu associiren, wenn sie logisch verbunden sind.\nEs erkl\u00e4rt sich hieraus leicht, dass die Uebung auf das Latein einen noch deutlicheren Einfluss aus\u00fcht wie auf das Deutsche, denn in VII gehen ja lateinische W\u00f6rter noch nicht einmal Sinn. Noch viel rascher w\u00fcrde nat\u00fcrlich die Uebung wirken, wenn ein Erwachsener anf\u00e4ngt, irgend eine Sprache zu erlernen. Um zu veranschaulichen, wieviel rascher die Zahlen der Tab. I abnehmen, als die der Tab. II berechne ich aus je allen drei Reihen zusammen das Verh\u00e4ltniss der in jeder Classe fur\u2019s Latein gebrauchten Zahlen zu den f\u00fcr\u2019s Deutsche gebrauchten. Das liefert die 10 Zahlen:\n3,64 2,58 2,49 2,35 2,04 1,97 2,02 1,98 1,92 1,89\nDie Zahlen der Tab. I u. II n\u00e4hern sich also allm\u00e4hlich einander, die beiden Reihen convergiren. Es w\u00e4re interessant, die Versuche weiter auszudehnen, um zu untersuchen, ob diese Con-vergenz fortdauert, d. h. ob man schlie\u00dflich Latein oder irgend eine andere Sprache ebenso rasch liest als die deutsche. Genauer w\u00fcrde es wohl hei\u00dfen, ob man schlie\u00dflich die Sprache eben so rasch liest als die Eingeborenen, denn vorl\u00e4ufig ist es noch nicht bewiesen, dass alle Sprachen gleich rasch gelesen und gesprochen werden. Nach Stud. II. S. 644 lasen die 5 Engl\u00e4nder ihre Muttersprache mit der Geschwindigkeit 0,180\" das Wort, die Deutschen brauchten zur ihrigen 0,218\"; es ist jedoch zu bedenken, dass der Sinn des deutschen Abschnittes viel schwieriger war. Es w\u00e4re weiter interessant\nWnndt, Philos. Studien. V.\t10","page":177},{"file":"p0178.txt","language":"de","ocr_de":"178\nG. 0. Berger. Ueber den Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge,\nzu sehen, wie weit die Verk\u00fcrzung der Zeiten \u00fcberhaupt gehen kann; voraussichtlich wird der Zahlenwerth schlie\u00dflich um eine gewisse untere Grenze herum schwanken, eine unbegrenzte Verk\u00fcrzung kann nat\u00fcrlich nicht eintreten. Die Sch\u00fcler der Ia brauchten zum deutschen Abschnitt 23, die 5 Deutschen (Il S. 644) im Durchschnitt 22. Versuche \u00e4hnlicher Art werde ich in einiger Zeit folgen lassen, p\u00e4dagogische Folgerungen zu den hier beschriebenen habe ich in den Neuen Jahrb\u00fcchern der Philologie und P\u00e4dagogik von Fleckeisen und Masius ver\u00f6ffentlicht.","page":178}],"identifier":"lit4160","issued":"1889","language":"de","pages":"170-178","startpages":"170","title":"Ueber den Einfluss der Uebung auf geistige Vorg\u00e4nge","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:36:01.725492+00:00"}