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{"created":"2022-01-31T12:35:49.935964+00:00","id":"lit4161","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"K\u00fclpe, Oswald","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 179-244","fulltext":[{"file":"p0179.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\nKritisch er\u00f6rtert von\nOswald Ktilpe.\nEinleitung.\nAlle Wissenschaft nimmt zum Theil ihren Ausgang von der Beobachtung und Erfahrung des gew\u00f6hnlichen Lehens, aber sie bleibt nicht in der ihr durch diese vorgezeichneten Richtung und ist oft gen\u00f6thigt, an den Begriffen und Erkl\u00e4rungen, Ausdr\u00fccken und Urtheilen, wie sie den fast ausschlie\u00dflich praktischen Zwecken der gemeinen Erfahrung gen\u00fcgen, eine bearbeitende Umwandlung zu vollziehen. Diese N\u00f6thigung beruht haupts\u00e4chlich auf zwei Gr\u00fcnden. Erstlich ist die Sprache des gew\u00f6hnlichen Lebens ungenau und vieldeutig, sodann aber hat dasselbe keine Veranlassung, die ihm vorliegenden Erscheinungen auf ihre letzten Bestandtheile zur\u00fcckzuf\u00fchren. In beiden Beziehungen muss die Wissenschaft strenger verfahren: ihre Terminologie muss klar und pr\u00e4cis, ihre Analyse des Gegebenen vollst\u00e4ndig sein, j Erkennen wir an, dass das Gegebene stets zusammengesetzter Natur ist, so wird die Aufgabe der Wissenschaft im Wesentlichen gel\u00f6st sein, wenn es ihr gelungen, die letzten Elemente desselben festzustellen und zu zeigen, in welcher gesetzm\u00e4\u00dfigen Weise dieselben cooperiren.\nDie Erscheinungen unseres Bewusstseins sind die Thatsachen, mit denen sich die Psychologie besch\u00e4ftigt. Der Rang einer Wissenschaft ist ihr von Kant vor Allem deshalb abgesprochen worden, weil sie es nicht zu allgemeingiltigen, mathematisch ausdr\u00fcckbaren\nWundt, Philos. Studien. V.\t13","page":179},{"file":"p0180.txt","language":"de","ocr_de":"180\nOswald K\u00fclpe.\nResultaten bringen k\u00f6nne. Wir verdanken Herbart den ersten gro\u00dfen Versuch, ihr diesen Rang zu gewinnen. Sein Unternehmen ist im gro\u00dfen und ganzen als gescheitert zu betrachten, zun\u00e4chst weil er die Psychologie auf die dem Wechsel am meisten unterworfene und daher zum wenigsten allgemeingiltige philosophische Disciplin, die Metaphysik, gr\u00fcndete, und dann, weil er Mathematik auf Erscheinungen anwandte, die noch nicht gen\u00fcgend zergliedert, noch nicht in einfachste Vorg\u00e4nge aufgel\u00f6st waren. Wenn die Psychologie heute weiter ist, so wird das in erster Linie der Hilfe zugeschrieben werden d\u00fcrfen, die ihr das Experiment, die physiologische Forschung und die pathologische Erfahrung geleistet haben. Die experimentelle Psychologie hat die innere Wahrnehmung zu sicheren und controllirbaren Aussagen vermocht und vielleicht am meisten dazu beigetragen, die elementaren Bestandtheile unseres Bewusstseins und ihre gesetzm\u00e4\u00dfige Th\u00e4tigkeit zu erkennen.\nAber dieser Fortschritt, welcher die wissenschaftliche Grundlegung einer empirischen Psychologie m\u00f6glich gemacht hat, ist fast ausschlie\u00dflich den Empfindungen und Vorstellungen, nur wenig den Gef\u00fchlen und Willensakten zu gute gekommen. Gewiss ist das nicht zuf\u00e4llig. Denn oft genug wird die Schwierigkeit hervorgehoben, welche mit der Erforschung der genannten Bewusstseinsvorg\u00e4nge verkn\u00fcpft ist. Und zwar ist diese Schwierigkeit beim Willen eine besonders gro\u00dfe. Es kann n\u00e4mlich nie gelingen, einen Willensact unabh\u00e4ngig vom Willen zum Object der Beobachtung zu machen, aus dem einfachen Grunde, weil alle Wissenschaft, alle Beobachtung die willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit, die Apperception als nothwendigen Factor enth\u00e4lt. In diesem Sinne w\u00fcrde also stets bei der Frage nach dem Willen eine unendliche r\u00fcckl\u00e4ufige Reihe entstehen. Unvermeidlich ist daher auch die Abh\u00e4ngigkeit unseres Urtheils von unserem Willen. Aber diese f\u00fcr alle Wissenschaft geltende Thatsache bildet f\u00fcr die Psychologie kein Hinderniss ihrer Untersuchung. Die L\u00f6sung des Willensproblems wird ihr dadurch m\u00f6glich, dass wir auch willenlose Zust\u00e4nde unseres Bewusstseins kennen und durch analysirende Vergleichung mit den willk\u00fcrlichen festzustellen im Stande sind, worin der Zuwachs oder die Ver\u00e4nderung besteht, welche Empfindungen oder Vorstellungen oder Gef\u00fchle durch den Willen erfahren.","page":180},{"file":"p0181.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n181\nDie Divergenz der Ansichten in der Psychologie ist vielleicht nirgends gr\u00f6\u00dfer, als hei der Lehre vom Willen. Dasselbe gilt von der Herrschaft, welche die gew\u00f6hnliche Erfahrung \u00fcber diesen Theil der Psychologie noch besitzt. Begriff, Gebiet und Freiheit des Willens sind noch durchaus dem Streit der Parteien oder Schulen unterworfen. Bei diesem Stande der Dinge ist eine historischkritische Uebersicht der verschiedenen in der modernen Psychologie ge\u00e4u\u00dferten Lehren von besonderem Werthe. Ich will im Folgenden eine solche zu geben versuchen. Einige Bemerkungen muss ich dem Beginn dieser Arbeit vorausschicken.\nDie Absicht, welche mich in erster Linie leitet, ist die Anbahnung einer Verst\u00e4ndigung \u00fcber diesen wichtigen Gegenstand der Psychologie. Ich halte die Wundt\u2019sehe Willenstheorie f\u00fcr die wahre und hoffe zu ihrem Verst\u00e4ndniss durch die Kritik Anderer und durch die positive Darstellung derselben beizutragen. Ich glaube zeigen zu k\u00f6nnen, dass alle Fragen, welche andere Lehren offen lassen, und alle Thatsachen, welchen durch dieselben nicht gen\u00fcgt wird, auf dem Standpunkt der Wundt\u2019sehen Theorie ihre Beantwortung und Erkl\u00e4rung finden.. Au\u00dferdem hoffe ich einen Einblick in die Entwickelung der modernen Psychologie, die eine interessante Aufgabe f\u00fcr sich bildet, nebenher er\u00f6ffnen zu k\u00f6nnen. Ich werde in meiner Darstellung die kritische Arbeit insofern bevorzugen, als ich mich nicht an die Zeitfolge der psychologischen Schriften streng binde. Zugleich aber mache ich keinen Anspruch auf bibliographische Vollst\u00e4ndigkeit. Es ist mein Bestreben, alle Standpunkte in Bezug auf den Willen zur Geltung kommen zu lassen, um ein m\u00f6glichst umfassendes Bild von den bisher entwickelten Theorien entwerfen zu k\u00f6nnen, aber dazu ist die Mittheilung aller Anh\u00e4nger einer Lehre nicht nothwendig.\nDiese Combination der Absichten erschwert einigerma\u00dfen die Eintheilung. Vom kritischen Gesichtspunkt ist eine logische, vom historischen eine chronologische Classification zu w\u00fcnschen. Da \u25a0sich beide nur selten vereinigen lie\u00dfen, so habe ich meist die logische vorgezogen, weil mir die kritische Absicht werthvoller war. Dass ich als terminus a quo f\u00fcr meine Darstellung die Herbart\u2019 sehe Psychologie gew\u00e4hlt habe, wird man schwerlich beanstanden. Zwar gibt es Ans\u00e4tze zu einer empirischen wissenschaftlichen Behandlung\n13*","page":181},{"file":"p0182.txt","language":"de","ocr_de":"182\nOswald K\u00fclpe.\nder Psychologie auch fr\u00fcher, und das Bestreben sich von der alten Verm\u00f6genslehre frei zu machen tritt auch bei einigen Psychologen zu Anfang dieses Jahrhunderts und Ende des vorigen deutlich hervor. Aber im Princip hat den alten Irrthum doch erst Her hart \u00fcberwunden, und durch ihn ist der Psychologie erst jene centrale Stellung im Kreise der Wissenschaften zugewiesen worden, die sie seither in steigendem Ma\u00dfe eingenommen.\nBei der Analyse der complicirten Ph\u00e4nomene unseres Bewusstseins, wie sie die unmittelbare innere Erfahrung aufweist, sind bisher durch die psychologische Forschung zwei elementare Vorg\u00e4nge in allgemeingiltiger Weise festgestellt worden: die Empfindung und das Gef\u00fchl. Dem Willen gegen\u00fcber ist die Frage, ob auch in ihm ein psychisches Elementarph\u00e4nomen anzuerkennen sei, noch nicht \u00fcbereinstimmend beantwortet worden. Wir werden daher unsere Darstellung in zwei gr\u00f6\u00dfere Abschnitte zerlegen, von denen der erste alle diejenigen Theorien behandeln soll, welche den Willen nur als eine secund\u00e4re oder complicirte Bewusstseinsthatsache begreifen und dieselbe in jene einfachen Vorg\u00e4nge aufl\u00f6sen oder auf dieselben in Form einer hypothetischen Erkl\u00e4rung zur\u00fcckf\u00fchren zu k\u00f6nnen glauben, w\u00e4hrend der zweite Abschnitt sich mit denjenigen Lehren besch\u00e4ftigen wird, welche neben Empfindung und Gef\u00fchl noch ein drittes Element psychischen Lebens, den Willen, annehmen. Ich bezeichne diese beiden Hauptgruppen von Theorien als negative und positive Willenstheorien./Dass hierbei der Name Wille keine wesentliche Bedeutung besitzt, ist selbstverst\u00e4ndlich. Es begegnen uns in der Litteratur verschiedene Ausdr\u00fccke f\u00fcr ein solches drittes Element des Bewusstseins. An das Wort \u00bbWille\u00ab wird sich meine Darstellung nat\u00fcrlich nicht halten. Da wir mit diesem Namen im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch stets einen im psychologischen Sinne complicirten Act bezeichnen, so ist ein besonderer Ausdruck f\u00fcr das elementare Ph\u00e4nomen w\u00fcnschenswerth, und dieser ist begreiflicherweise von den verschiedenen Psychologen verschieden gew\u00e4hlt worden.\nDass ich die eigentlich metaphysischen Willenstheorien von meiner Untersuchung ausschlie\u00dfe, ist bereits im Titel derselben angedeutet. Zum Schluss m\u00f6chte ich aber noch darauf hinweisen, dass ich bei meiner Darstellung der Willensansichten mich fast","page":182},{"file":"p0183.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n1 S3\nnur auf die Grundlagen beschr\u00e4nkt habe. Diese Abgrenzung des Materials -war aus sehr einfachen R\u00fccksichten nothwendig, einmal, um der Klarheit und Uebersichtlichkeit meiner Arbeit Vorschub zu leisten, und sodann, um den Raum derselben nicht \u00fcberm\u00e4\u00dfig zu erweitern. Dass dies ohne Schaden f\u00fcr die Beurtheilung der erw\u00e4hnten Lehren geschehen konnte, glaube ich verb\u00fcrgen zu d\u00fcrfen.\nA. Die negativen Willenstheorien.\nIm Allgemeinen kann man in zweierlei Weise den Willen als ein urspr\u00fcngliches Ph\u00e4nomen seelischen Lebens ablehnen, vom Standpunkt einer hypothetischen Erkl\u00e4rung und vom Standpunkt einer Analyse des im Willen gegebenen Bewusstseinsvorgangs. Im ersteren Falle erkennt man zwar an, dass, was wir Wollen oder Begehren oder Streben nennen, ein eigenth\u00fcmliches Ph\u00e4nomen des Bewusstseins bilde, in solcher Qualit\u00e4t unvergleichbar mit Empfindungen oder Vorstellungen oder Gef\u00fchlen, behauptet aber, dass eine Wirklichkeit und Wirksamkeit im eigentlichen Sinne aus allgemeinen Gr\u00fcnden demselben abgesprochen werden m\u00fcsse. Im zweiten Falle erh\u00e4lt man bereits bei der einfachen empirischen Analyse des Willens Bestandtheile, die als Empfindung oder Gef\u00fchl uns schon sonst bekannt sind, und l\u00e4sst demgem\u00e4\u00df aus diesen elementaren Vorg\u00e4ngen das gesammte Seelenleben sich zusammensetzen. Wir k\u00f6nnen diese beiden Richtungen als relativ negirende und absolut negirende unterscheiden. Beiden gemeinsam ist die Ueberzeugung, dass ein Wollen, wie es uns im Bewusstsein gegeben zu sein scheint, als Bestandtheil wissenschaftlicher Erkl\u00e4rung des seelischen Lebens untauglich ist. /Bei diesem Sachverhalt kann es sich nun f\u00fcr die Kritik nicht sowohl darum handeln zu zeigen, dass der Wille eine selbst\u00e4ndige Bedeutung nicht nur scheinbar, sondern auch wirklich besitzt, also nicht darum, eine positive Willenstheorie gegen\u00fcberzustellen, sondern nur darum, zu pr\u00fcfen, ob die Gr\u00fcnde, welche zu solcher Bestimmung des Willens gef\u00fchrt haben, richtig sind, und ob die empirisch gegebenen Thatsachen sich der vorgebrachten Erkl\u00e4rung f\u00fcgen.","page":183},{"file":"p0184.txt","language":"de","ocr_de":"184\nOswald K\u00fclpe.\nI. Die relativ negirenden Richtungen.\nFragen wir nach den Gr\u00fcnden, welche dazu gef\u00fchrt haben, den Willen nur als eine Bewusstseinserscheinung, als Sy,mbol wirklichen Geschehens zu w\u00fcrdigen, so treten uns ein metaphysischer und ein logischer entgegen, von denen jener seinen Vertreter in Herhart, dieser in Lipps gefunden hat. Es liegt das in der Natur der Sache. Gibt man zu, dass rein psychologisch diejenigen Inhalte unseres Bewusstseins, welche wir als Empfindungen und Vorstellungen bezeichnen, und diejenigen, die wir als Strebungen oder Begehrungen in uns erfahren, gleiche Realit\u00e4t besitzen, so kann die Annahme eines tiefgreifenden Unterschiedes in der realen Bedeutung beider Vorg\u00e4nge nicht der inneren Wahrnehmung, sondern muss anderweitigen Reflexionen ihren Ursprung verdanken. Dass nun von diesen aus auch die innere Wahrnehmung einer sch\u00e4rferen Controlle unterworfen wird, ist mehr ein abgeleiteter Versuch der Verification, dem nat\u00fcrlich eingehende Beachtung zu Theil werden muss. Die ma\u00dfgebenden allgemeinen Reflexionen k\u00f6nnen aber nur metaphysischer oder logischer Natur sein, weil allein solche in theoretischem Sinne den psychologischen Erfahrungen zu Grunde gelegt oder \u00fcbergeordnet werden k\u00f6nnen.\n1. Die metaphysisch begr\u00fcndete Willensauffassung.\nWie sehr man schon vor Herb art bem\u00fcht war, eine wissenschaftliche Behandlung der Psychologie anzuhahnen, zeigen mannigfache Versuche, wie die Erfahrungsseelenlehre von Jacob, die Untersuchungen \u00fcber das Wesen und Wirken der menschlichen Seele von Chr. Wei\u00df u. A. Vergleicht man Ausgangspunkt und Methode dieser B\u00fccher mit der vierh\u00e4ndigen Monographie Feder\u2019s \u00fcber den menschlichen Willen, so tritt das wissenschaftliche Bed\u00fcrfnis jener in helles Licht. Bei Feder finden wir keinen Versuch einer Zergliederung der Willenserscheinungen, sondern eine von vorwiegend praktischen Zwecken geleitete breite Beschreibung der Willenshandlungen oder der Th\u00e4tigkeiten des Begehrungsverm\u00f6gens. Dass bei dem Versuch einer wissenschaftlichen Bed\u00fcrfnissen in h\u00f6herem Ma\u00dfe gen\u00fcgenden psychologischen Arbeit","page":184},{"file":"p0185.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t185\nzun\u00e4chst die Analogie der Naturwissenschaften Methode und Absicht lenkte und vorschrieb, ist begreiflich. Physik und Chemie boten hier wiederum die n\u00e4chsten Vergleichsmomente dar. Man will die Psychologie in demselben Sinne zu einer Elementarlehre der Seele gestalten, wie Physik und Chemie eine solche der Materie sind. Auch f\u00fcr Herbart ist dieser Gesichtspunkt nicht ohne Bedeutung gewesen. Nur war ihm durch seine Metaphysik ein bestimmter Weg vorgezeichnet. Es konnte sich f\u00fcr ihn nicht darum handeln, Elemente der Seele festzustellen, wie die qualitativ verschiedenen einfachen Elemente der Materie -\u2014 denn die Seele war nach seiner Metaphysik ein absolut einfaches Wesen und hatte keine Theile \u2014 sondern nur darum, das gesetzm\u00e4\u00dfige Verhalten der als Vorstellungen sich f\u00fcr unser Bewusstsein \u00e4u\u00dfernden Selbsterhaltungen der Seele gegen die von anderen einfachen Wesen erlittenen St\u00f6rungen in exacter Weise zu ermitteln. Hier hot sich als naturwissenschaftliche Analogie die Statik und Mechanik dar, und so wird Herb art\u2019s Psychologie eine Statik und Mechanik des menschlichen Geistes. l)ie scharfsinnige L\u00f6sung des Ichproblems und die treffende Kritik der Seelenverm\u00f6genslehre waren nur Vorbereitungen f\u00fcr die von Herbart selbst als seine eigentliche Leistung in diesem Gebiete angesehene mathematische Psychologie. Die Ablehnung dieses gro\u00dfartigen Entwurfs wurzelt in der Einsicht, dass die Psychologie unabh\u00e4ngig von metaphysischen Voraussetzungen ihT Erfahrungsgebiet zu bearbeiten, und dass sie vor Allem eine genaue Zergliederung des im Bewusstsein Gegebenen anzustellen habe. Der Werth der Herbart\u2019sehen Psychologie liegt f\u00fcr uns in den zahlreichen scharfsinnigen Einzelheobachtungen, die wir in derselben finden. Dadurch sind wir der Bem\u00fchung nicht enthoben bei der einzelnen Frage, die uns besch\u00e4ftigt, Voraussetzungen und Behauptungen, Lehre und Thatsachen an einander zu messen. Ich will zun\u00e4chst die Darstellung der Anschauungen Her hart\u2019s, sodann eine Kritik derselben geben.\na. Herbart\u2019s Lehre.\nAls Quelle dienen das k\u00fcrzere \u00bbLehrbuch zur Psychologie\u00ab und \u00bbDie Psychologie als Wissenschaft\u00ab (Ausg. v. Hartenstein Bd. V u. VI). Daneben wrerde ich die \u00bbEmpirische Psychologie\u00ab von","page":185},{"file":"p0186.txt","language":"de","ocr_de":"186\nOswald K\u00fclpe.\nDrobisch heranziehen, die bei v\u00f6lliger Uebereinstimmung mit Herbart gerade die Willenslehre ausf\u00fchrlicher dargestellt hat. Bei Volkmann (Psychologie 3. Aufl. II. Bd. S. 397 ff.) findet man vollst\u00e4ndige Litteraturangaben.\nWir haben bei Herbart mit drei uns interessirenden Begriffen zu thun, dem Streben, Begehren und Wollen. Wichtig ist au\u00dferdem folgende Behauptung: \u00bbAlle einfachen Selbsterhaltungen der Seele m\u00fcssen gerade so einfach sein, wie sie selbst\u00ab1). Da nun ein angenehmes oder unangenehmes Gef\u00fchl und ein sich als Begehren etwa im Bewusstsein \u00e4u\u00dferndes Streben niemals allein gegeben sind, sondern mit Vorstellungen oder Empfindungen in Verbindung, andererseits aber ein einfacher Ton oder eine reine Farbe f\u00fcr sich unser Bewusstsein erf\u00fcllen k\u00f6nnen, so folgt, dass nur diese, die einfachen Vorstellungen, als einfache Selbsterhaltungen der Seele angesehen werden d\u00fcrfen. In solchen Selbsterhaltungen ist aber das seelische Geschehen beschlossen. Alles \u00fcbrige im Bewusstsein Gegebene kann nur mittelbaren oder abgeleiteten Werth besitzen, kann nur ein Ausdruck f\u00fcr Verh\u00e4ltnisse oder f\u00fcr Ver\u00e4nderungen und Ueberg\u00e4nge zwischen den Vorstellungen genannt werden.\nSehen wir zu, welches Verhalten der Vorstellungen f\u00fcr uns in Betracht kommt2). Wir begegnen zuerst einem Stre.ben vorzustellen. Dasselbe f\u00e4llt unter die Schwelle des Bewusstseins und bedeutet etwa so viel, als Verm\u00f6gen vorzustellen in dem gemilderten B eneke\u2019sehen Sinne dieses Wortes oder als der Begriff der Kraft im physikalischen Sprachgebrauch. Jede Vorstellung, die unter die Schwelle des Bewusstseins gesunken ist, wird zu einem Streben vorzustellen. Der allgemeine Sinn, welchen dieses unseren bewussten Zust\u00e4nden entnommene Wort hier erhalten hat, belehrt uns dar\u00fcber, dass wir darin kein letztes Willenselement erblicken d\u00fcrfen. Dies erhellt auch aus folgendem. Strebt eine Vorstellung im Bewusstsein auf, ohne Hindernisse zu finden, so ergibt das keine Begierde oder Wollung, es hei\u00dft dann einfacher: Die Vorstellung steigt. Auch hierauf folgt, dass in dem Ausdruck Streben vorzustellen nichts liegt, was auf ein unbewusstes Wollen etwa gedeutet werden k\u00f6nnte.\n1)\tS. Werke VI S. 92.\n2)\tVgl. V S. 320. VI S. 73 ff.","page":186},{"file":"p0187.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n187\nEine im Bewusstsein steigende, d. h. zu gr\u00f6\u00dferem Klarheitsgrade gelangende Vorstellung kann nun entweder durch verwandte Empfindungen gehoben oder durch entgegengesetzte gehemmt werden oder Hilfe und St\u00f6rung gleichzeitig erfahren. Diese Unterschiede gelten von dem wirklichen Vorstellen und k\u00f6nnen daher nicht unbewusst bleiben. Aber sie sind nicht Gegenst\u00e4nde des Vorstellens, nicht selbst Vorstellungen, sondern nur Arten und Weisen, wie das Vorstellen sich ereignet. Als B\u2019egehren sind zu bezeichnen die fortlaufenden Ueberg\u00e4nge aus einer Gem\u00fcthslage in die andere, \u00bbderen hervorstechendes Merkmal das Hervortreten einer Vorstellung ist, die sich gegen Hindernisse aufarbeitet und dabei mehr und mehr alle anderen Vorstellungen nach sich bestimmt, indem sie die einen weckt und die anderen zur\u00fccktreibt.\u00ab Denn das Begehren unterscheidet sich eben vom Gef\u00fchl und Vorstellen dadurch, \u00bbdass es nicht als ein Zustand, sondern nur als eine Bewegung des Gem\u00fcths gedacht werden kann; wie daraus klar ist, dass es bei gegebener Gelegenheit sogleich handelnd ausbricht oder, wenn die Gelegenheit fehlt, wenigstens- Pl\u00e4ne zum k\u00fcnftigen Handeln hervorruft. Diese Pl\u00e4ne aber sind nichts Anderes als zusammengetriebene Vorstellungen, welche wegen ihrer Verschmelzungen und Complicationen mit jener aufstrebenden sich s\u00e4mmtlich nach ihr richten, ja sich so zusammenf\u00fcgen m\u00fcssen, dass aus ihnen keine oder doch die geringste m\u00f6gliche Hemmung f\u00fcr jene vorherrschende entspringe.\u00ab\nAls den einfachsten, rein psychologischen Grund, aus welchem eine Begierde entstehen k\u00f6nne, bezeichnet Herbart eine Ver-schmelzungs- oder Complicationshilfe '). Es sei a mit a associirt, und es werde nun a durch eine gleichartige neue Empfindung oder Wahrnehmung reproducirt, zugleich aber sei im Bewusstsein die dem a entgegengesetzte Vorstellung \u00df anwesend. Es wird dann a zugleich gehoben und zur\u00fcckgedr\u00e4ngt, sofern es nun aber wider die Hemmung wirklich ansteigt, ist es Begierde. Deutlicher wird diese \u00bbhervortreten, wenn die dem a gleichartige Wahrnehmung sich h\u00e4ufig und schnell nach einander wiederholt, wodurch jedesmal von Neuem a einen Sto\u00df erh\u00e4lt. Noch deutlicher wird die Sache\n1) VI S. 348. VS. 31 ff.","page":187},{"file":"p0188.txt","language":"de","ocr_de":"188\nOswald K\u00fclpe.\nwerden, wenn nicht blo\u00df eine, sondern mehrere Complicationshilfen Zusammenwirken.\u00ab Uebrigens ist die Zahl und Beschaffenheit der Yorstellungen f\u00fcr die Energie des Begehrens nicht von Belang. Daraus glaubt Herbart erkl\u00e4ren zu k\u00f6nnen, dass die \u00e4ltere Psychologie ein besonderes Begehrungsverm\u00f6gen annahm. Nun kann aber auch eine Begierde das Gemiith anhaltend besch\u00e4ftigen und sich in einer Reihe von Handlungen zeigen; dies ist nur m\u00f6glich, wenn sie mit den Reihen von Vorstellungen in Verbindung steht, die sich gerade im Bewusstsein abwickeln.\nDie zum Begehren gegens\u00e4tzliche Gem\u00fcthsbewegung ist das Verabscheuen. Beide stehen in Beziehung zu einer Vorstellung, die gegen Hindernisse ank\u00e4mpft. Aber w\u00e4hrend dieselbe zugleich der Tr\u00e4ger der Begierde ist, so wird die Gesammtheit der gegen eine Empfindung anstrebenden, diese also zur\u00fcckdr\u00e4ngenden Vorstellungen zum Sitz der Verabscheuung oder Widerstrebung. Die letztere ist also eigentlich auch ein Begehren, das in dem ganzen System zusammen wirkender Vorstellungen liegt, die sich wider eine einzelne, sie alle dr\u00fcckende Vorstellung in Freiheit zu setzen streben und die damit aus irgend einem Grunde nicht sogleich zu Stande kommen k\u00f6nnen. \u00bbIn der Begierde ist die Vorstellung des begehrten Zustandes zugleich die lebhafteste und die herrschende ; im Abscheu ist die einzelne Vorstellung des verabscheuten Gegenstandes klarer, als jede einzelne der gegenwirkenden Vorstellungen; aber alle gegenwirkenden zusammengenommen ergeben ein herrschendes Totalgef\u00fchl und bilden eine Gesammtkraft, durch deren Th\u00e4tigkeit die Gem\u00fcthslage auf \u00e4hnliche Art in einen continuirlichen Ueber-gang versetzt wird, wie beim Begehren.\u00ab\nWenden wir uns nun zum^Wolle n 1).t Dasselbe ist nach Herbart ein Begehren, verbunden mit der Voraussetzung der Erf\u00fcllung. \u00bbDiese Voraussetzung verkn\u00fcpft sich mit der Begierde, sobald in \u00e4hnlichen F\u00e4llen die Anstrengung des Handelns von Erfolg gewesen ist. Denn alsdann associirt sich gleich mit dem Anfang eines neuen, gleichartigen Handelns die Vorstellung eines Zeitverlaufs, den die Befriedigung der Begierde beschlie\u00dfen werde. Hierbei entsteht ein Blick in die Zukunft, der sich immer mehr erweitert, je mehr Mittel zum Zweck der Mensch voranschicken lernfij/\n1) V S. 78. 154.","page":188},{"file":"p0189.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n189\n-<Die willk\u00fcrlichen Bewegungen denkt sich Herbart in einer moderne Ansichten anticipirenden Weise folgenderma\u00dfen entstanden1). Da der Wille nicht das Geringste von dem wei\u00df, was er in Muskeln oder Nerven eigentlich hervorbringt, so kann der Ansto\u00df zum Handeln nicht urspr\u00fcnglich von der Seele ausgehen. Aus dem rein organischen Bed\u00fcrfniss nach Bewegung, wie es sich im Kinde zeigt, gehen vielmehr Bewegungen hervor, welche die Seele anfangs mit ihren Gef\u00fchlen begleitet. Dadurch entstehen Associationen derselben mit den wahrgenommenen Bewegungen. \u00bbWenn nun in der Folge die Vorstellung, die aus einer solchen Wahrnehmung entstand, als Begierde aufstreht, so regt sich auch das damit complicirte Gef\u00fchl, und diesem geh\u00f6ren als begleitende leibliche Zust\u00e4nde alle diejenigen Ereignisse in den Nerven und Muskeln zu, durch welche die organische Bewegung wirklich bestimmt wird.\u00ab\nDies sind die Grundz\u00fcge der von Herbart selbst entworfenen Willenstheorie. Einige Erg\u00e4nzungen d\u00fcrfen wir Drobisch entnehmen, welcher die Anschauungen seines Meisters in diesem Abschnitt v\u00f6llig theilt.\nDrobisch erkennt durchaus drei verschiedene Bewusstseinsvorg\u00e4nge an: Vorstellen, F\u00fchlen und Streben2). Er findet jedoch darin, dass Vorstellungen h\u00e4ufig frei sind von Gef\u00fchlen und Begehrungen, nicht aber das Umgekehrte stattfindet, eine Andeutung, dass sie hinsichtlich ihres Ursprungs sich wohl nicht so coordinirt verhalten k\u00f6nnen, wie hinsichtlich ihrer Qualit\u00e4t.\nVon besonderer Klarheit ist ferner die Begriffebestimmung des Strebens3). \u00bbDasjenige Geschehen in uns, welches sich am unmittelbarsten als Th\u00e4tigkeit und Kraft darstellt, mag es n\u00fcn als solche von einem davon genau unterscheidbaren inneren oder \u00e4u\u00dfer-\n1)\tV S. 37.\n2)\tEmpir. Psych. 1842 S. 36 ff.\t'\n3)\tEbend. S. 220 ff. Im Gegensatz hierzu scheint eine Bemerkung Her-bart\u2019s zu stehen (VI S. 74): \u00bbwir k\u00f6nnen von realen Kr\u00e4ften, Verm\u00f6gen, Strebungen gar nichts unmittelbar in uns wahrnehmen ; und alle Einbildungen der Art, von der rohen Leibeskraft bis zur transcendentalen Freiheit sind nur Beweise, dass es an der Wissenschaft fehle, die wir hier suchen.\u00ab Doch erkl\u00e4rt sich dieser Satz v\u00f6llig aus dem Epitheton \u00bbreal\u00ab, das den Strebungen beigelegt wird. Diejenigen, von denen wir unmittelbar wissen, sind eben nicht real.","page":189},{"file":"p0190.txt","language":"de","ocr_de":"190\nOswald K\u00fclpe.\nliehen Erfolg, der That oder Handlung, begleitet sein, oder nur in einem passiven Widerstand bestehen, kann im Allgemeinen als Streben bezeichnet werden.\u00ab Der Inhalt und die Bedeutung desselben \u00fcberhaupt \u00bbist Ver\u00e4nderung des gegenw\u00e4rtigen Zustands des Bewusstseins, sowohl hinsichtlich der Vorstellungen, als der Gef\u00fchle oder auch anderer Strebungen.\u00ab Ein Begehren oder Verabscheuen aber wird dies Streben, je nachdem es auf einen k\u00fcnftigen oder gegen den jetzigen Zustand gerichtet ist und hierbei sein Gegenstand als ein anziehender oder absto\u00dfender erscheint.\nDass in dieser empirischen, von Herb art\u2019s Ausf\u00fchrungen sich unterscheidenden Beschreibung der genannten Vorg\u00e4nge nicht eine andere Theorie des Willens angedeutet ist, wird weiter unten sofort klar werden.\nFerner sucht Drohisch zu zeigen, dass eine Vorstellung nicht nothwendig dem Begehren voranzugehen brauche und dass wir auch Angenehmes verabscheuen und Unangenehmes hegehren, Lust und Unlust sowohl heim Begehren als auch heim Verabscheuen mit-wirken. Beide sind gespannte Gem\u00fcthszust\u00e4nde, die als solche gleichm\u00e4\u00dfig mit Unlust, deren Ausgleichung mit dem Lustgef\u00fchl der siegenden Kraft verbunden ist. Daher kann man das Angenehme und Unangenehme nicht als Grund dieser beiden Gem\u00fcthszust\u00e4nde betrachten, sondern in dem Begehren nur das Aufstrehen einer Vorstellung gegen Hindernisse, wobei das Angenehme als unterst\u00fctzende Vorstellung wirkt, in dem Verabscheuen nur das Niederdr\u00fccken einer ebenfalls mit anderen verbundenen Vorstellung durch entgegengesetzte m\u00e4chtigere Vorstellungen sehen.\n\u201eJedes seines Ziels sich bewusste Begehren kann zum Wollen werden, wenn n\u00e4mlich eine wiederholte Begehrung des Gleichen oder wenigstens Aehnlichen immer Befriedigung gefunden und sich hieraus eine Gewohnheit das Begehrte zu erlangen gebildet hat, die f\u00fcr alle \u00e4hnlichen F\u00e4lle eine Erwartung des Erfolgs nach sich ziehtJ). Die Herrschaft des Willens beth\u00e4tigt sich nach au\u00dfen in der Bewegung und nach innen in der Lenkung des Gedankenlaufs. Bei einer willk\u00fcrlichen Bewegung ist der begehrte Zweck das Erste ; mit ihm m\u00fcssen associirt sein die Vorstellung von der dazu taug-\n1) Ebend.. S. 246 ff.","page":190},{"file":"p0191.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n191\nliehen Bewegung und die ihr entsprechenden Muskelempfindungen. Diese bringen dann durch Affection der motorischen Nerven die Bewegung wirklich hervor. Die innere Th\u00e4tigkeit des Willens gelangt zur Erscheinung in der willk\u00fcrlichen Aufmerksamkeit und der Reflexion. Jene kann nach au\u00dfen und innen gerichtet sein. Im ersteren Falle ist sie mit einer Handlung verbunden, die von unseren Vorstellungen aus angeregt wird. Hier so wenig wie im zweiten Falle enth\u00e4lt das begehrte Vorbild genau dasselbe wie die entsprechende Wahrnehmung. Jenes stellt nur einen sehr unbestimmten Umriss dar, der von dieser seine Berichtigung und Ausf\u00fcllung erwartet. Der Willensact bei der Reflexion besteht in der zeitweiligen Wiederholung desjenigen Gegenstandes, \u00fcber den man reflectirt, indem man ihn mit anderen Vorstellungen in Verbindung bringt. Der Kern eines sich bildenden neuen Gedankenkreises ist immer ein Vorsatz, d. h. ein Wollen von allgemeinem Inhalt, zu dem sich die Ausf\u00fchrung in einzelnen Willensacten verh\u00e4lt, wie der Umfang eines Begriffs zu seinem Inhalt.\nZum Schluss erhalten wir eine Theorie des Strebens, welche deutlich die Gr\u00fcnde angibt, die zu derselben gef\u00fchrt haben1). Die Thatsachen der wechselnden Aufmerksamkeit, des Kommens und Gehens der Vorstellungen zeigen, dass diese, die immanenten Bewegungen der Seele, ihre verschiedenen Zust\u00e4nde haben, frei und gehemmt sein k\u00f6nnen. In der Hemmung erleidet aber das Dasein der Vorstellungen keine Ver\u00e4nderung, sondern nimmt nur eine andere Form an, n\u00e4mlich die des Strebens. Zu einem Bestandtheil des Bewusstseins wird das Streben nur dann, wenn die Hemmung ein Gef\u00fchl des Druckes hervorruft, d. h. wenn sie vor der vollst\u00e4ndigen Ausgleichung des entgegengesetzten Strebens der Vorstellungen erfolgt. Nur das Gleichgewicht derselben kann einen Ruhepunkt darhieten und die damit verbundene Hemmung den verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kleinsten Druck aus\u00fcben. Der Zustand der noch unausgeglichenen Vorstellungen bildet eine ver\u00e4nderliche Gem\u00fcths-lage, welche in Gef\u00fchlen und Begehrungen im Bewusstsein sich kundgibt. Beide k\u00f6nnen nicht vorgestellt werden als verschieden von den Vorstellungen: dazu fehlt es ihnen an einem bestimmten\n1) -Ebend. S. 346 ff.","page":191},{"file":"p0192.txt","language":"de","ocr_de":"192\nOswald K\u00fclpe.\nvorstellbaren Was, an einem Quale. Gleichwohl sind sie thats\u00e4ch-lich im Bewusstsein. Sie m\u00fcssen sich also als ein mannigfach ver\u00e4nderliches Wie des Vorstellens darin befinden. Wodurch wei\u00df ich von meinen Begehrungen'? Nehme ich den Act des Begehrens unmittelbar wahr? Nein, sondern ich f\u00fchle doch wohl nur den Zustand des Begehrens, unterscheide aber davon noch das Gef\u00fchl, das er mit sich f\u00fchrt. Begehren ist das Aufstreben der Vorstellung, deren Inhalt begehrt wird, gegen Hindernisse. Diese Hindernisse sind in weiterem Sinne selbst Vorstellungen Ihr unterliegendes Widerstreben ist das peinliche Gef\u00fchl, das mit der Verz\u00f6gerung der Erreichung des Begehrten stets verbunden ist. Die mit Widerstreben aus dem Bewusstsein weichende Vorstellung gibt die Verabscheuung.\nb. Kritik der Herbart\u2019schen Willenstheorie.\nF\u00fcr eine jede Kritik kann es sich meines Erachtens blo\u00df darum handeln, auf Grund eines eingehenden Verst\u00e4ndnisses der vorliegenden Anschauungen die etwa vorhandenen ^tats\u00e4chlichen Irr-th\u00fcmer in denselben aufzuweisen. Ueberall da, wo keine bewusste Unrichtigkeit anzunehmen ist, gibt es keine rein logischen Irrth\u00fcmer. Es ist heute vielfach \u00fcblich in dem Gedankengange gro\u00dfer M\u00e4nner, der sie Jahre hindurch besch\u00e4ftigt hat, innerhalb einiger Stunden klaffende Widerspr\u00fcche zu finden. Sieht man genauer zu, so verwandeln sich die vermeinten Widerspr\u00fcche in die consequenten Folgerungen aus Thatsachen, die heute nicht mehr oder in anderer Form anerkannt werden. Von einer sorgsamen Kritik muss eine genaue Kenntniss der thats\u00e4chlichen Voraussetzungen und eine durchaus sachliche Behandlung der zu pr\u00fcfenden Ansichten verlangt werden. Ich hoffe, dass man diese Grunds\u00e4tze in der vorliegenden Arbeit befolgt sehen wird.\nDie Kritik Herb art\u2019s l\u00e4sst sich zwei Gesichtspunkten unterordnen. Es sind zun\u00e4chst die allgemeinen und speciellen Gr\u00fcnde zu untersuchen, welche seine Theorie hervorgerufen haben, und sodann die Frage zu erheben, ob dieselbe alle Thatsachen wirklich zu erkl\u00e4ren im Stande sei.","page":192},{"file":"p0193.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n193\n1) Das Verh\u00e4ltniss der Theorie zu ihrer Begr\u00fcndung.\nDie allgemeine Grundlage f\u00fcr alle Wissenschaft sieht Herbart in der Metaphysik. Ihre Lehren sind auch f\u00fcr die Psychologie, sofern sie nicht blo\u00df beschreiben, sondern auch erkl\u00e4ren will, der ma\u00dfgebende Ausgangspunkt. Hiernach ist die Seele ein einfaches Wesen unter vielen einfachen Wesen. Die St\u00f6rungen, welche sie von diesen erf\u00e4hrt, veranlassen sie zu einfachen Selbsterhaltungen, den Vorstellungen. Nun scheint es mir ein schwer vollziehbarer Gedanke, dass unter diesen Selbsterhaltungen der einfachen Seele selbst Streit entsteht und ihre gegenseitigen Hemmungen der Ausgleichung bed\u00fcrfen. Entweder wird die Einfachheit des Seelenwesens durch die Gegens\u00e4tzlichkeit ihrer Aeu\u00dferungen gef\u00e4hrdet, oder die Vorstellungen unterst\u00fctzen einander s\u00e4mmtlich im Dienste des einen Zweckes der Selbsterhaltung. Ich meine also, nicht die Theorie fordert die Hemmung der Vorstellungen, sondern die That-sachen des Bewusstseins lehren sie. Das hei\u00dft aber soviel, als: die Theorie erkl\u00e4rt uns diese Thatsachen nicht.\nSehen wir von dieser allgemeinen Schwierigkeit ab und fragen wir nach der Berechtigung, welche die Annahme hat, dass von allen Bewusstseinszust\u00e4nden nur die Vorstellungen als solche Selbsterhaltungen gelten d\u00fcrfen. Der modernen Auffassung liegt es ja viel n\u00e4her, die Gef\u00fchle der Lust und Unlust als Selbsterhaltungen der Seele aufzufassen. Die allgemeine Metaphysik kann dar\u00fcber nichts bestimmen, sie fordert nur, dass die Selbsterhaltungen ebenso einfach seien, wie die Seele selbst. Also muss es in den Bewusst-seinsthatsachen begr\u00fcndet liegen, dass nur die Vorstellungen diese Rolle \u00fcbernehmen k\u00f6nnen. Hier macht sich der Nachtheil einer unvollst\u00e4ndigen und ungenauen Zergliederung des Bewusstseins zur Zeit Her hart\u2019s besonders f\u00fchlbar. Die Aufgabe kann zun\u00e4chst nur darin bestehen, das entwickelte Bewusstsein auf seinen Inhalt zu untersuchen. Wir finden in demselben aber weder einfache Vorstellungen noch Gef\u00fchle oder Begehrungen isolirt, sondern stets einen gr\u00f6\u00dferen oder kleineren Complex elementarer Vorg\u00e4nge zu einem Ganzen verbunden. Unserer Abstraction wird es daher sehr wohl m\u00f6glich die nicht weiter zerlegbaren Elemente festzustellen, aber sie wird uns nicht zu der Behauptung f\u00fchren, dass das eine","page":193},{"file":"p0194.txt","language":"de","ocr_de":"194\nOswald K\u00fclpe.\nderselben allein unser Bewusstsein erf\u00fcllen k\u00f6nne. F\u00fcr diese Abstraction gliedern sich zun\u00e4chst alle diese letzten qualitativ verschiedenartigen Bestandtheile in eine lange unterschiedslose Reihe, und es bleibt vorl\u00e4ufig unbestimmt, ob einzelne gr\u00f6\u00dfere Gruppen aus diesen verschiedenen einfachen Inhalten sich werden bilden lassen.\nEin solcher Fall also, wie Herb art ihn sich denkt, dass eine reine Farbe oder ein einfacher Ton f\u00fcr sich allein unser Bewusstsein erf\u00fcllen, existirt nicht. Es liegt hier die Yerwechslung des Blickpunktes und Blickfeldes des Bewusstseins vor. Unsere Apperception kann allerdings eine einfache Vorstellung hervorheben, aber eine appercipirte Vorstellung ist nicht der einzige Inhalt des Bewusstseins. Und gerade in solchem Falle wird sich leicht ein gewisses Gef\u00fchlsmoment, das Interesse, an die so ausgezeichnete Vorstellung kn\u00fcpfen. Auch der genetische Gesichtspunkt ergibt nichts anderes. Wir sehen vielmehr gegen den Beginn der psychischen Entwicklung das Vorstellungsquale hinter Gef\u00fchl und Wille durchaus zur\u00fccktreten.\nEs kann daher von diesem Gesichtspunkt aus eine Bevorzugung der Vorstellungen nicht begr\u00fcndet werden. Dass \u00fcberhaupt Vorstellungen ohne Gef\u00fchle und Begehrungen im Bewusstsein angetroffen werden, ist unwesentlich. Erstlich deshalb, weil uns eine einfache Vorstellung allein nie gegeben ist und die Verbindung mit anderen Vorstellungen schon die geforderte Einfachheit auf hebt. Aber auch aus einem allgemeineren Grunde. Gesetzt, es sei Gef\u00fchl und Begehrung nur die intermittirende Begleitung des Geschehens, wie es sich in den Vorstellungsreihen abspielt, so folgt aus dieser empirischen Beobachtung keineswegs, dass sie keine selbst\u00e4ndige Bedeutung beanspruchen d\u00fcrfen, sondern als blo\u00dfe Modifikationen der Vorstellungen angesehen werden m\u00fcssen. Diese Behauptung ist nur dann eine nothwendige, wenn bereits feststeht, dass alle seelischen Vorg\u00e4nge einfacher Natur sein m\u00fcssen, und nur die Vorstellungen dieser Forderung Gen\u00fcge leisten. Ferner geh\u00f6rt dazu die Voraussetzung, dass das Bewusstsein eine nur unwesentliche Erscheinung oder Aeu\u00dferung des seelischen Geschehens dar-stelle, und dass die in demselben anzutreffende Mannigfaltigkeit an der Einfachheit seelischen Thuns nichts \u00e4ndere. Alle diese","page":194},{"file":"p0195.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n195\nAnnahmen sind aber weder a priori zu begr\u00fcnden, noch f\u00fcr den empirischen Standpunkt m\u00f6glich. Es ist also der einzige Grund, welchen Her hart f\u00fcr die Bevorzugung der Vorstellungen f\u00fcr die Bolle der seelischen Selbsterhaltungen angibt, selbst abgesehen von seinen metaphysischen Grundlagen nicht im Stande das Gew\u00fcnschte zu leisten.\nEinen anderen Grund f\u00fcr die ausschlie\u00dfliche Ber\u00fccksichtigung der Vorstellungen bei der Theorie des seelischen Geschehens hat Drohisch geltend gemacht. Gef\u00fchle und Begehrungen k\u00f6nnen nicht vorgestellt werden. Wodurch aber wei\u00df ich von ihnen? Ich nehme*sie nicht unmittelbar wahr, sondern f\u00fchle sie nur. Das kann doch nur hei\u00dfen: Gef\u00fchle f\u00fchle ich, Begierden hegehre ich, Vorstellungen stelle ich vor. Und das ist doch wohl selbstverst\u00e4ndlich. Das Gef\u00fchl der Lust kann nicht die Vorstellung des Tisches sein u. s. w. Es liegt dieser Auseinandersetzung gleichfalls eine ungen\u00fcgende psychologische Analyse zu Grunde. Was berechtigt mich, ein vorgestelltes Object von einer vorstellenden Th\u00e4tigkeit zu sondern? Logisch hin ich gewiss zu einer Theilung der in Wahrheit nicht getheilten Vorstellung berechtigt. Aber ich muss mir bewusst bleiben, dass ich nur ein Vorgestelltes vorstelle und vorstellen kann, dass ich also keineswegs zu der Forderung gelangen darf, Gef\u00fchle oder Begehrungen vorzustellen. Dann m\u00fcsste ich auch blau oder gr\u00fcn f\u00fchlen und hegehren k\u00f6nnen. Wenn also nicht bereits in der Theorie feststeht, dass Vorstellungen das eigentliche Geschehen der Seele bilden, so l\u00e4sst sich aus dem von Drohisch angegebenen scheinbaren Vorzug derselben jene Theorie nicht begr\u00fcnden. Als ein mannigfach ver\u00e4nderliches Wie des Vorstellens lassen sich Gef\u00fchle und Begehrungen deswegen nicht auffassen, weil sie nicht vorgestellt werden k\u00f6nnen. Verstehen wir unter der unmittelbaren Wahrnehmung nicht das Ahstractum einer vorstellenden Th\u00e4tigkeit, sondern allgemein die unmittelbare innere Erfahrung, so werden Gef\u00fchle und Begehrungen in dieser sich gleich urspr\u00fcnglich erweisen, wie die Vorstellungen.\nDie Pr\u00fcfung der Gr\u00fcnde, welche von Herbart und Drohisch f\u00fcr die rein accessorische Bedeutung des Strebens oder Begehrens angef\u00fchrt werden, hat somit ein negatives Besultat ergeben. Selbst\nWuncPt, Philos. Studien. Y.\t14","page":195},{"file":"p0196.txt","language":"de","ocr_de":"196\nOswald K\u00fclpe.\nvom Standpunkt der Metaphysik Herbart\u2019s lassen sich die That-sachen nicht in der entwickelten Weise verwerthen und deuten.\n2) Das Verh\u00e4ltniss der Theorie zu den Thatsachen.\nEine jede Theorie, erwachsen aus einer hypothetischen Annahme, findet ihren nat\u00fcrlichsten Ma\u00dfstah in den Thatsachen, welche sie erkl\u00e4ren soll. Wir fragen daher in zweiter Linie, unabh\u00e4ngig von den soeben angestellten Erw\u00e4gungen, ob die Her hart\u2019sehe Theorie des Willens im Stande ist, allen unter diesen Ausdruck zu subsumirenden Bewusstseinsthatsachen gerecht zu werden. Auch diese Frage werden wir verneinen m\u00fcssen.\nIch beginne mit dem an die letzten Er\u00f6rterungen sich anschlie\u00dfenden Zweifel, ob Herbart uns begreiflich gemacht hat, wie wir von unseren Gef\u00fchlen und Begehrungen etwas wissen. Er ist zwar selbst auf diesen Gegenstand nicht eingegangen, aber bei Drobisch finden wir entsprechende Aeu\u00dferungen. Nach ihm k\u00f6nnen wir den Act des Begehrens weder vorstellen, noch unmittelbar wahrnehmen, sondern nur f\u00fchlen. Offenbar muss dieser Ausdruck in einem weiteren als dem sonst \u00fcblichen Sinne gebraucht sein, da er bei diesem F\u00fchlen des Begehrens noch das Gef\u00fchl unterscheiden l\u00e4sst, das sich damit verkn\u00fcpft. Was nun aber dies Organ der Erfahrung vom Begehren eigentlich sei, bleibt dunkel, eben weil gerade das, was es wohl sein m\u00fcsste, ausdr\u00fccklich ausgeschlossen wird. In der That wird uns so unerkl\u00e4rlich, wie wir von dem, was nicht Vorstellung ist, etwas wissen k\u00f6nnen.\nAber ich lege hierauf kein besonderes Gewicht. Wesentlicher scheint mir ein anderer Punkt. Das Begehren soll dadurch zu Stande kommen, dass eine Vorstellung gegen Hindernisse aufstrebt. Diese Hindernisse werden durch entgegengesetzte Vorstellungen repr\u00e4sentirt. Ich glaube, dass hier der Begriff entgegengesetzter Vorstellungen bei genauerer Analyse der Thatsachen zu einem anderen Resultat f\u00fchren muss, als dem von Herbart gezogenen. Zwei Vorstellungen a und \u00df sind einander entgegengesetzt in con-tr\u00e4rem Sinne. Woher die Hemmung, welche sie gegenseitig aus\u00fcben sollen? An und f\u00fcr sich k\u00f6nnen ja im Bewusstsein mehrere Vorstellungen gleichzeitig vorhanden sein. Die Theorie macht uns nicht verst\u00e4ndlich, warum dieselben als solche sich hemmen m\u00fcssen.","page":196},{"file":"p0197.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n197\nNehmen wir an, es w\u00e4re das Verm\u00f6gen der Seele Vorstellungen zu erzeugen ein beschr\u00e4nktes oder dasselbe bes\u00e4\u00dfe eine bestimmte, nicht zu steigernde Intensit\u00e4t. Dann w\u00fcrden allerdings die jeweils vorhandenen Vorstellungen sich insofern hemmen m\u00fcssen, als keine derselben der ganzen in der Seele verf\u00fcgbaren Vorstellungsintensit\u00e4t theilhaftig werden k\u00f6nnte. Das h\u00e4tte dann aber nichts mit ihrem Gegensatz zu thun. Diese Hemmung w\u00fcrde alle Vorstellungen treffen, sofern sie eben nicht congruent sind. Im Grunde, meine ich, hat Herbart hei der Hemmung einen anderen, gef\u00fchlten Sinn im Auge gehabt. Es werden sich n\u00e4mlich zwei Vorstellungen, von denen die eine lust-, die andere unlusterregend wirkt, in evidentester Weise hemmen. Eine Hemmung zwischen zwei gleichgiltigen Empfindungen kommt in keiner Weise zum Bewusstsein, auch dann nicht, wenn die eine steigt, w\u00e4hrend die andere schon mit voller Klarheit gegeben ist. Damit ist aber der Theorie des Begehrens der Boden entzogen. Ist die Hemmung einer aufstrebenden, d. h. zun\u00e4chst nur aufsteigenden Vorstellung durch andere im Bewusstsein vorhandene und von ihr verschiedene nur dann von einer Bef-wusstseinserscheinung begleitet, wenn Gegens\u00e4tze des Gef\u00fchls zwischen beiden obwalten, so sind diese und ebenso wenig Begehren und Widerstreben aus blo\u00dfen Verh\u00e4ltnissen der Vorstellungen zu einander ableitbar. An diesem Resultat \u00e4ndert auch die Behauptung von Drobisch nichts, dass wir Unangenehmes begehren und Angenehmes verabscheuen k\u00f6nnen. Denn sie entspricht doch in dieser Weise nicht dem Thatbestand. Wir k\u00f6nnen nicht in demselben Moment dasselbe begehren und verabscheuen, und das liegt in jener Behauptung eigentlich vor. Wohl aber kann eine Vorstellung sinnlich angenehm und intellectuell werthlos oder schlecht erscheinen. Das ist dann keineswegs ein einziger untheilbarer Act, sondern ein wechselnder Gem\u00fcthszustand und ein wechselndes Ur-theil, und so bleibt es bei der Thatsache, dass zum Begehren und Verabscheuen das Verh\u00e4ltniss unangenehmer zu angenehmen Vorstellungen geh\u00f6rt.\nDie Begierde entsteht nach der Theorie aus dem Aufstreben einer Vorstellung, die begehrt wird, gegen hemmende Vorstellungen, die Verabscheuung aus dem Kampf einer Anzahl von Vorstellungen gegen eine mit Widerstreben weichende. Ich finde nicht, dass\n14*","page":197},{"file":"p0198.txt","language":"de","ocr_de":"198\nOswald K\u00fclpe.\nhierdurch die in beiden Gem\u00fcthsbewegungen hervortretenden Unterschiede eine gen\u00fcgende Erkl\u00e4rung erfahren haben. Nehmen wir jenen einfachsten Fall, den Herbart selbst anf\u00fchrt: das mit a complicirte a tauche im Bewusstsein auf und finde hier \u00df vor, welches dem \u00ab entgegengesetzt ist. Indem nun das durch Com-plicationshilfe steigende a gegen \u00df aufstrebt, entsteht eine Begierde. Warum nicht auch eine Verabscheuung? Wenn x a a (wo unter x die das a weckenden Vorstellungen verstanden seien) gegen \u00df, das mit Widerstreben weicht, ansteigen, ist die Bedingung f\u00fcr die Verabscheuung nach Herbart gegeben. Ich meine also, dass die Theorie uns nicht glaublich macht, warum wir nicht in demselben Moment begehren und verabscheuen.\nDies f\u00fchrt uns auf den Hauptmangel der Herbar t\u2019sehen Willenstheorie. Sie vermag die Einheit unseres Wollens, Begehrens, Strebens und der davon abh\u00e4ngigen seelischen Vorg\u00e4nge nicht zu erkl\u00e4ren. Diese Einheitlichkeit ist kein Schein und bedarf der klaren Ber\u00fccksichtigung in jeder Theorie des geistigen Geschehens. Und am besten erkl\u00e4rt sie sich durch eine einheitliche in unserem Bewusstsein wirksame Function./ Man mag den Inhalt des Ich noch so complicirt und noch so wechselnd zu verschiedenen Zeiten finden, man wird die einheitliche Richtung unseres Bewusstseins, wo nicht etwa krankhafte physiologische Ver\u00e4nderungen eine St\u00f6rung seiner Einheitsfunction hervorgerufen haben, immer noch als eine davon unabh\u00e4ngige und der Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftige Thatsache anzusehen gen\u00f6thigt sein. Unser Fortschritt in der Behandlung des Ichproblems liegt aber darin, dass wir Inhalt und Einheit als eigen-th\u00fcmliche Bestandtheile desselben zu sondern wissen. Weder Fichte noch Herbart haben das erkannt. Bei Fichte f\u00fchrte die Erfahrungsthatsache der Einheitlichkeit, des bleibenden Beziehungspunktes aller Handlungen und Gedanken, zu der Ansicht, dass der Ichbegriff selbst durchaus einfacher Natur sei. Herbart aber sah wohl ein, dass diese Einfachheit eine tr\u00fcgerische war und sich in eine gro\u00dfe Mannigfaltigkeit wechselnder Vorstellungen auf l\u00f6sen lasse, verlor jedoch dabei die Einheitlichkeit aus dem Auge und vermochte nicht zu erkl\u00e4ren, warum wir in jedem Moment des Denkens und Handelns unser Ich als den formal identischen Beziehungspunkt ansehen. Dass beides richtig ist, die Einheitlichkeit","page":198},{"file":"p0199.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n199\nund die Vielf\u00e4ltigkeit wechselnder Vorstellungs- und Gef\u00fchlsinhalte, diese Einsicht verdanken wir erst der Erkenntniss, dass \u00fcberall, wo uns jene zum Bewusstsein kommt, eine einheitliche Function, der Wille oder die Apperception wirksam ist.\nIch gehe nicht weiter auf Einzelnes ein. Es gen\u00fcgt das Gesagte, um das Urtheil zu begr\u00fcnden, dass die Herb art\u2019sehe Willenstheorie nicht alle von ihr zu erkl\u00e4renden Thatsachen begreiflich mache. Und das liegt vielleicht an einer gewissen Geringsch\u00e4tzung des im Bewusstsein Gegebenen, ja \u00fcberhaupt des empirisch Gegebenen, wie sie dem Metaphysiker Herbart anhaftet. Aber die Thatsachen fordern ihr Recht. Und der Psycholog hat auszugehen nicht von einer logischen Construction seines Erfahrungsgebiets, sondern von einer treuen und sorgf\u00e4ltigen Zergliederung des inneren Thatbestandes. Herb art\u2019 s Theorie ist unzureichend begr\u00fcndet und erkl\u00e4rt nur unzureichend, was sie erkl\u00e4ren soll. Das \u00e4ndert an dem Verdienste nichts, welches er sich um die wissenschaftliche Begr\u00fcndung der Psychologie erworben hat, und nichts an der dankbaren Anerkennung, welche wir ihm zollen.\n2. Die logisch begr\u00fcndete Willenstheorie.\nAls eine Erneuerung des Herb art\u2019sehen Versuchs, die Psychologie, abgesehen von metaphysischen Voraussetzungen, auf ganz selbst\u00e4ndiger Grundlage aufzubauen, d\u00fcrfen die \u00bbGrundthatsachen des Seelenlebens\u00ab von Lipps gelten. Lehrreich genug ist daher der Vergleich zwischen beiden. Die allgemeinen Vorstellungen, welche Lipps bei der Zergliederung des Bewusstseins entwickelt, haben viel Verwandtes, die Theorie des seelischen Geschehens beruht im Wesentlichen auf gleichen Annahmen. Aber der Ausgangspunkt ist ein bewusst empirischer geworden, die genaue Analyse des _ Gegebenen bildet die eigentliche Aufgabe der Untersuchung, und jene allgemeinen theoretischen Voraussetzungen werden nicht als noth wendige metaphysische Ansichten, sondern mehr als ein vorl\u00e4ufiger Gesichtspunkt und als ein bequemer Sprachgebrauch eingef\u00fchrt. Die Psychologie ist eine Erfahrungswissenschaft geworden, deren Ergebnisse nicht durch eine vorher fertige Metaphysik erst Werth und Deutung erhalten, deren Principien. vielmehr, wie diejenigen anderer Einzelwissenschaften, einer meta-","page":199},{"file":"p0200.txt","language":"de","ocr_de":"200\nOswald K\u00fclpe.\nphysischen Bearbeitung unterzogen werden k\u00f6nnen. Bemerkenswerth erscheint, dass die blo\u00dfe Bezugnahme auf die unmittelbare innere Erfahrung Lipps zu \u00e4hnlichen principiellen Voraussetzungen gef\u00fchrt hat, wie Herbart, und dass eine leise Mitwirkung derselben bei der Entscheidung einzelner Fragen nicht unterblieben ist.\nIch werde bei der Besprechung der Lipps\u2019sehen Willenstheorie Darstellung und Kritik nicht von einander trennen, wohl aber zwei Gesichtspunkte unterscheiden, die sich hier zweckm\u00e4\u00dfig von einander sondern lassen, die Frage nach dem, was in elementarem und in complicirterem Sinne als Wille bezeichnet wird, und die andere nach der Bedeutung und Wirksamkeit desselben innerhalb des seelischen Geschehens. Dass ich diese Willenstheorie eine logisch begr\u00fcndete nenne, hat seine Veranlassung in der Beobachtung, dass ein eigenth\u00fcmlicher logischer Grund bei Lipps eine wichtige Bolle in der Beurtheilung des Willens spielt. Diese logische oder erkenntnisstheoretische Ueberlegung scheint mir das Hauptmotiv zu sein, welches eine eigentliche Causalit\u00e4t dem Willen abzusprechen und eine blo\u00df symptomatische Bedeutung ihm zuzuschreiben gen\u00f6thigt hat, und au\u00dferdem ist diese Begr\u00fcndung vielleicht das wirklich Neue und Selbst\u00e4ndige neben Herb art\u2019s Ausf\u00fchrungen.\na. Das Wesen des Willens1).\nAuch bei Lipps sind es Strebungen, welche in einfachem und elementarem Sinne in allen Willenserscheinungen anzutreffen sind. Diese Strebungen aber will er ebensogut als Empfindungen bezeichnen, wie Farben oder T\u00f6ne. Darin liegt mehr als eine blo\u00dfe Namengebung. Denn es soll damit die Dreiheit seelischer Th\u00e4tig-keiten (Vorstellen, F\u00fchlen, Wollen) abgelehnt werden, die von Alters her in der Psychologie Anerkennung gefunden. In dem Willen ist nach Lipps, sofern es eigenth\u00fcmlicher Bewusstseinsvorgang ist, nichts weiter festzustellen, als ein einfacher Inhalt Strebung, und dieser Inhalt verdient den Namen Empfindung.\nSollen verschiedene seelische Th\u00e4tigkeiten angenommen werden, so kann der Unterscheidungsgrund nur den Bewusstseinsinhalten\n1) Die Grundthatsachen des Seelenlebens S. 19 ff. 594 ff.","page":200},{"file":"p0201.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n201\nselbst entnommen werden. Nun sind allerdings Lust und Strebung untereinander und mit den Vorstellungsinbalten Wau, Sauer, Hart v\u00f6llig unvergleichlich, aber ebensowohl die letzteren unter sich, und zwar nicht blo\u00df sofern sie verschiedenen Sinnen angeh\u00f6ren, sondern auch als verschiedene Qualit\u00e4ten eines und desselben Sinnes. Es lassen sich trotzdem zwei gro\u00dfe Gruppen bilden, von denen die eine die Vorstellung auf Grund \u00e4u\u00dferer Reize oder die Th\u00e4tigkeit der Sinnesempfindung \u00fcberhaupt, die andere Gef\u00fchl und Strebung als R\u00fcckwirkungen der Seele auf die Empfindungen umfasst. Und da wir keinen Grund haben, den letzteren den Namen der Empfindung vorzuenthalten, so ist auch hier von Lust- und Strebungsempfindung zu reden. Beide Klassen lassen sich als Th\u00e4tigkeiten des subjectiven und objectiven Vorstellens unterscheiden. Keine dieser Qualit\u00e4ten zeigt aber \u00bbdas zu Grunde liegende Wirkliche, wie es an sich ist, d. h. wie es ist, wenn es nicht empfunden, wahrgenommen, \u00fcberhaupt vorgestellt wird.\u00ab\nFassen wir zusammen, so ergibt sich: unsere unmittelbare Wahrnehmung weist eine F\u00fclle verschiedenartiger Bewusstseinsinhalte auf, wir d\u00fcrfen alle diese mit dem Namen der Empfindung belegen, und es lassen sich nur zwei gro\u00dfe Gruppen darin unterscheiden, je nachdem wir diese Inhalte auf ein Aeu\u00dferes oder auf uns selbst beziehen. Ich hebe hervor, dass in dem Bisherigen die vollkommene Gleichordnung des Strebens, F\u00fchlens und Vorstellens, sofern sie Bewusstseinsinhalte sind \u2014 und darauf allein kommt es zun\u00e4chst an \u2014 anerkannt ist. Gleichwohl halte ich die allgemeine Anwendung des Begriffs der Empfindung und Vorstellung f\u00fcr unzweckm\u00e4\u00dfig und die Unterscheidung in Th\u00e4tigkeiten des subjectiven und objectiven Vorstellens f\u00fcr unzureichend.\nWas den ersten Punkt betrifft, so will ich nur auf Einiges hier hinweisen, da ich bereits an anderer Stelle ausf\u00fchrlicher darauf eingegangen bin. Gewiss ist es richtig, dass f\u00fcr die logische Betrachtung des im Bewusstsein Gegebenen sich zun\u00e4chst eine F\u00fclle von ungleichartigen Inhalten constatiren l\u00e4sst. Aber wir haben eine Veranlassung, die Empfindungen der verschiedenen Sinne von einander zu sondern, weil wir die Entstehung derselben an bestimmte Orte gebunden sehen. Und es erscheint mir nicht zweckm\u00e4\u00dfig, ohne Grund von einer Terminologie abzugehen, die sich bereits in","page":201},{"file":"p0202.txt","language":"de","ocr_de":"202\nOswald Kfilpe.\nder Psychologie ein gewisses Heimathsrecht erworben. Es sei denn, dass darin mehr liegen soll als eine blo\u00dfe Aenderung des Sprachgebrauchs. Zun\u00e4chst aber -wird kein anderes Motiv f\u00fcr seine Benennung von Lipps angef\u00fchrt, au\u00dfer dem schon erw\u00e4hnten, dass ihm kein bestimmender Grund vorliege, der ihn von einer allgemeineren Anwendung des Namens, als der bisher \u00fcblichen, abhalte. Will man nun durchaus Empfindung gleichbedeutend mit Bewusstseinsinhalt \u00fcberhaupt gebrauchen, so mag man das immerhin thun; man ist dann aber gen\u00f6thigt, f\u00fcr diejenige Gruppe von Inhalten, die von der Psychologie gew\u00f6hnlich als Empfindungen bezeichnet werden, einen besonderen Namen einzuf\u00fchren. Lipps selbst gibt zu, dass eine solche Gruppe von allen anderen Inhalten abgesondert werden kann. Dann liegt aber die Grundlosigkeit auf Seiten seines Sprachgebrauchs, nicht auf derjenigen des sonst \u00fcblichen. Ich meine also, dass der bisherige Begriff der Empfindung ein klarer, auf logisch berechtigter Scheidung beruhender ist und dass wir keine Veranlassung haben denselben aufzugeben.\nIn zweiter Linie behaupte ich, dass der Thatbestand die Sonderung in Th\u00e4tigkeiten des subjectiven und objectiven Vorstellens nicht nahelege. In doppeltem Sinne habe ich dagegen Bedenken. Ich nehme zuerst an, dass diese Zweitheilung sachlich richtig sei. Dann m\u00f6chte ich doch die Ausdehnung des psychologischen Sprachgebrauchs, wie sie hier in derVerwendung des Namens Vorstellen liegt, beanstanden. Vor Allem deshalb, weil diese Ausdehnuug zu Missverst\u00e4ndnis und Missbrauch Anlass gibt. Denn es mag daraus abgeleitet werden, dass man ebenso, wie man Vorstellungen (im engeren Sinne) vorstellt, auch Gef\u00fchle und Willensacte vorstelle. Das ist aber in gleicher Weise ungereimt, wie die aus der entgegengesetzten Behauptung von Drobisch1) gezogene Folgerung, dass Gef\u00fchle und Strebungen eine nur ph\u00e4nomenale Existenz h\u00e4tten. Die Begriffe des Vorstellens, F\u00fchlens und Strebens sind correlat denjenigen der Vorstellung, des Gef\u00fchls und der Strebung. Es hat daher keinen Sinn von einem Vorstellen ohne Vorstellung zu sprechen, sowenig wie von einem F\u00fchlen ohne Lust oder Unlust. Trotzdem ist die Unterscheidung speciell beim Vorstellen eine\n1) A. a. O. S. 17.","page":202},{"file":"p0203.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n203\nberechtigte, denn sie beruht auf der Gegen\u00fcberstellung von Ich und Nicht-Ich und auf der Beobachtung, dass f\u00fcr das Zustandekommen einer Wahrnehmung unser Verhalten neben der Einwirkung \u00e4u\u00dferer Objecte ma\u00dfgebend ist. Zu welchem Resultat die Pr\u00fcfung dieses unseres Verhaltens f\u00fchrt, wird an anderer Stelle zu er\u00f6rtern sein. Die Begriffe des F\u00fchlens und Strebens, abgesehen von dem einzelnen wirklichen Gef\u00fchls- oder Strebungsinhalt, sind nach Analogie des Vorstellens gebildet, ohne doch den gleichen Grund zu haben. Nun muss aber f\u00e8stgehalten werden, dass Vorstellen f\u00fcr sich ein Abstractum ist und dass es nur abstrahirt werden kann von Vorstellungen, d. h. jenen Bewusstseinsinhalten, welche sich auf die Empfindungen (im oben bezeichneten engeren Sinne) zur\u00fcckf\u00fchren lassen. Dieser Sachverhalt wird dadurch verdeckt, dass man den Begriff des Vorstellens so erweitert, wie es Lipps thut; es hat dies nur dann einen sachlich berechtigten Sinn, wenn man (aus anderen Gr\u00fcnden) das einzig Wirkliche des geistigen Geschehens im Vorstellen erblickt, also schon eine bestimmte theoretische Hypothese damit verbindet.\nDass aber auch die Unterscheidung von Empfindung und Gef\u00fchl (von den Strebungen sehe ich vorl\u00e4ufig ab) auf anderen Th\u00e4t-sachen beruht, als auf der von Lipps angef\u00fchrten, erhellt aus Folgendem. Es ist bekannt, dass zu dem Ichbegriff die Vorstellung des eigenen K\u00f6rpers geh\u00f6rt. Nun werden sinnliche Gef\u00fchle ganz ebenso wie Empfindungen des Tast-, Geruchs- und Geschmackssinns in Theilen unseres K\u00f6rpers localisirt, auf diese als ihren Herd bezogen. Es kann also die Unterscheidung des Subjectiven und Objectiven hier nicht zutreffen. Offenbar hat dieselbe bei Lipps eine andere Bedeutung: \u00bbLust- und Strebungsempfindung denken wir uns \u00fcbereinstimmend nicht unmittelbar durch \u00e4u\u00dfere Reize, sondern erst durch die Art, wie die durch die Reize erzeugten Empfindungen in der Seele wirken, miteinander oder mit dem Seelenganzen in Beziehung treten, zuwege gebracht.\u00ab Bei der Pr\u00fcfung dieses unterscheidenden Merkmals kann es sich nat\u00fcrlich nur um den Vergleich der sinnlichen Gef\u00fchle und Empfindungen handeln, da ja Phantasie- und Erinnerungsvorstellungen auch nicht durch \u00e4u\u00dfere Reize erzeugt gedacht werden. Und da, meine ich, ist der Sachverhalt in jenem Satze nicht richtig zum Ausdruck","page":203},{"file":"p0204.txt","language":"de","ocr_de":"204\nOswald Kfllpe.\ngelangt. Ich sagte schon vorhin, dass auch f\u00fcr die Entstehung der bewussten Vorstellungen (der Empfindungscomplexe) unser Verhalten wesentlich sei. In keinem anderen Sinne ist dies bei den sinnlichen Gef\u00fchlen der Fall. Aeu\u00dfere Reize erregen Lust und Unlust, wie die Apperception des Tisches oder des Accords, und Lust und Unlust k\u00f6nnen ausbleiben wie die genannten Vorstellungen trotz Einwirkung der gleichen* Reize. Keineswegs liegt also in dieser Thatsache ein Unterscheidungsgrund f\u00fcr Empfindungen und Gef\u00fchle. Derselbe scheint mir vielmehr haupts\u00e4chlich folgender Erfahrung entnommen zu sein. Die gleichen Reize haben (wenn \u00fcberhaupt) qualitativ dieselben Empfindungen zur Folge, aber nicht die gleichen sinnlichen Gef\u00fchle. Gef\u00fchle \u00fcberhaupt sind weder eine constante noch eine gleichartige 'Begleitung der Vorstellungen und weisen damit auf eine besondere, ihnen eigenth\u00fcmliche Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit hin. Die Vorstellung eines bestimmten Tisches ist immer ein bestimmter, qualitativ gleichartiger Empfindungscomplex, aber die gef\u00fchlerregende Wirksamkeit desselben ist von Umst\u00e4nden abh\u00e4ngig, die mit dem \u00e4u\u00dferen Reiz so wenig zu thun haben, wie mit den Empfindungen. Darin ist ein ausreichender Grund f\u00fcr die Unterscheidung der beiden Klassen Empfindung und Gef\u00fchl gegeben, und zwar ein Grund, welcher in dem Verhalten der Bewusstseinserscheinungen selbst gefunden ist.\nLipps meint, dass Gef\u00fchle und Strebungen n\u00e4her mit einander verwandt sind, als Empfindungen verschiedener Sinne, und daher eine einzige Klasse subjectiven Vorstellens gegen\u00fcber dem objectiven bilden m\u00fcssen. Keine Strebung ohne einige Lust und Unlust und keine Lust ohne Streben. Aber in diesem Sinne kann ich gewiss auch sagen: kein Streben ohne eine Vorstellung. Damit w\u00fcrde aber der enge Zusammenhang von Gef\u00fchl und Strebung durchbrochen werden. Ueberhaupt ist es doch noch fraglich, ob wirklich jedes Streben Lust oder Unlust und umgekehrt mit sich f\u00fchrt. Ich gla\u00fcbe wenigstens, dass es F\u00e4lle gibt, in denen Gef\u00fchle angenehmer Art ohne eine Spur von Strebung in unserem Bewusstsein gegeben sind und andererseits die Entstehung eines Strebens an die blo\u00dfe Vorstellung (allerdings an eine appercipirte) eines Gegenstandes oder einer Bewegung gebunden erscheint. Und au\u00dferdem besteht noch ein wesentlicher Grund, der wohl entscheidend genannt werden","page":204},{"file":"p0205.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n205\nkann, weshalb eine Sonderung des Wollens von anderen Bewusst-Seinserscheinungen vorgenommen werden muss. .Der Wille ist diejenige Function des Bewusstseins, welche sich mit allen anderen verbinden kann und welche mit keiner verbunden zu sein braucht. Es ist au\u00dferdem diejenige Function, welche qualitativ gleichartig nur der Intensit\u00e4t nach variabel ist und in verschiedenen Graden mit demselben Vorstellungs- und Gef\u00fchlsinhalt sich vereinigt. Dieses Verhalten des Willens unterscheidet ihn deutlich von anderen Inhalten des Bewusstseins.\nDies f\u00fchrt uns auf die Hauptfrage, welche wir der Ansicht von Lipps \u00fcber das Wesen des Willens noch entgegenhalten m\u00fcssen: Ist \u00fcberhaupt das Eigenthiimliche desjenigen Bewusstseinsvorgangs, den wir Willen nennen, in den Strebungen oder Strebungsempfin-dungen richtig zum Ausdruck gebracht? Soll in denselben weiter nichts gesehen werden, als Innervationsempfindungen, so durfte doch damit mir eine Begleiterscheinung, nicht die Natur des Willens bezeichnet sein. Qualitativ gleichartig mit den Innervationsempfindungen sind jedenfalls nach Lipps die Strebungs- oder Spannungsempfindungen, und sie werden in der Theorie auf gleiche Vorstellungs- resp. Empfindungsverh\u00e4ltnisse zur\u00fcckgefuhrt1). Aber der Widerstand, und nur bei dem Vorhandensein eines solchen entstehen Anstrengungsgef\u00fchle, ist weder ein zweifelloser Ma\u00dfstab f\u00fcr die St\u00e4rke des Willens, noch ein nothwendiges Zeichen f\u00fcr das Vorhandensein desselben. So ist es schon im gew\u00f6hnlichen Sprachgebrauch. Wir werden sp\u00e4ter andere Kriterien f\u00fcr die Wirksamkeit des Willens kennen lernen.\nDas Resultat der bisherigen Er\u00f6rterungen ist also dies: Lipps hat uns nicht nachgewiesen, dass die \u00fcbliche Dreitheilung der Bewusstseinserscheinungen unberechtigt sei, und uns in dem Wollen nicht dasjenige erkennen gelehrt, was seinen eigent\u00fcmlichen Inhalt ausmacht.\nNach Analogie dessen, was in der materiellen Welt als Streben bezeichnet wird, redet Lipps auch von seelischen Strebungen, d. h. von psychischen Ursachen, die in ihrer Wirkung gehemmt sind, aber in Aufhebung der Wirkungen anderer Ursachen sich wirksam\n1) S. 648 f.","page":205},{"file":"p0206.txt","language":"de","ocr_de":"206\nOswald Kttlpe.\nerweisen. Alles seelische Streben ist Empfindungs- und V or-stellungsstreben.^. Seine Leistung besteht in einer negativen Arbeit, in einer Bindung \u00fcberhaupt verf\u00fcgbarer seelischer Kraft. Daneben wird zwischen qualitativem und erfahrungsgem\u00e4\u00dfem Streben unterschieden. Jenes wird dadurch charakterisirt, es sei das Empfindungs- und Vorstellungsstreben, \u00bbdas oder soweit es in der Qualit\u00e4t der Vorstellungen oder ihren qualitativen Verh\u00e4ltnissen zu andern, bezw. zum \u00bb\u00bballgemeinen seelischen Leben\u00ab\u00ab seinen Grund hat.\u00ab Erfahrungsgem\u00e4\u00dfe Strebungen dagegen sind solche, \u00bbwelche oder soweit sie durch den erfahrungsgem\u00e4\u00dfen Zusammenhang mit anderen, in der Seele bereits lebendigen Vorstellungen oder Empfindungen erzeugt sind.\u00ab'''Das qualitative Empfindungsstreben nennt Lipps das Begehreii. Nun f\u00fchlen wir uns activ in jedem Streben, ja dasselbe bildet neben den Gef\u00fchlen den eigentlichen Kern unseres Ich, offenbar weil sich in beiden die Beziehungen der seelischen Inhalte zu einander und zum seelischen Ge-sammtleben dem Bewusstsein unmittelbar ank\u00fcndigen Aber so gut der Begriff der Activit\u00e4t empirisch erzeugt ist, so sind auch Streben nach und Widerstreben gegen etwas erst in der Erfahrung entstanden. Unmittelbar wissen wir nur von dem gleichzeitigen Vorhandensein gewisser Vorstellungsinhalte und Strebungsempfindungen. Das Streben hei\u00dft \u00bbStreben nach einem a, wenn wir wissen, dass es in der Verwirklichung des a sein Ende findet.\u00ab Und \u00bbwir nennen es unser Streben nach a umso eher, ein je umfassenderes seelisches Streben in der Verwirklichung des a sein Ende findet.\u00ab Da nun aber jede solche Verwirklichung eine Befriedigung mit sich f\u00fchrt, so nennen wir unser Streben auch dasjenige, dessen Verwirklichung unsere Befriedigung erregt oder erregen w\u00fcrde. Dadurch erkl\u00e4rt sich auch das Widerstreben und unser Widerstreben. Dasselbe finden wir \u00fcberall da, wo das Streben mit der Verwirklichung eines a sich verst\u00e4rkt oder verst\u00e4rken w\u00fcrde, dagegen in Befriedigung \u00fcberginge, wenn a ganz ~ aus dem Bewusstsein verdr\u00e4ngt w\u00fcrde. /'\"Den Begriff des Wollens\n? _ endlich verwendet Lipps so, dass er den Wunsch, dass etwas sei,\n{n und das Begehren zu handeln einschlie\u00dft, dass er also das Streben\nI\t...\nnach etwas M\u00f6glichem, Erreichbarem bezeichnet^\t\u2014\n1) Vgl. S. 40S.","page":206},{"file":"p0207.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n207\nUnverkennbar zeigen sich die Grundanschauungen Herbart\u2019s in diesen Ausf\u00fchrungen. Ich kann jedoch nicht finden, dass die von Lipps vorgezogene Nebeneinanderstellung von Streben zum Bewusstsein und Streben im Bewusstsein zur Kl\u00e4rung der Sachlage beitr\u00e4gt. Mir scheinen Herbart und Drobisch hierin strenger zu verfahren, indem sie den Begriff des Strebens im allgemeinen Sinne von dem Bewusstseinsph\u00e4nomen gleichen Namens deutlich sondern. In einem Punkte verdient aber die Theorie von Lipps besonders hervorgehoben zu werden : sie versucht der Hauptschwierigkeit, die wir bei der Her bar t\u2019sehen Ansicht constatiren konnten, abzuhelfen. Sie will der Thatsache gerecht werden, dass wir uns im Streben oder Wollen activ wissen. Aber es ist ihr nicht gelungen, die eigenth\u00fcmliche Verbindung, in welcher das Ich mit dem Willen steht, zu erkl\u00e4ren. Diejenige Activit\u00e4t, welche die Seele \u00fcberhaupt entwickelt, ist f\u00fcr uns weder eine Bewusstseinsthat-sache, noch etwas mehr, als eine hypothetische Annahme, und \u00e4u\u00dfert sich ja in allem psychischen Geschehen. So bleibt f\u00fcr die Erkl\u00e4rung des in unserem Streben hervortretenden Vorgangs nur dieVoraussetzung \u00fcbrig, dass es die relativ umfassendsten Strebungen sind, d. h. solche, denen das Ganze des seelischen Lebens in h\u00f6herem Ma\u00dfe zugewandt ist, als anderen. Dieses Ganze besteht aber in Vorstellungen und Vorstellungsdispositionen. So kommt also die Lipps\u2019sehe Ansicht im Grunde auf das Gleiche heraus, wie die von Herbart entwickelte, und es erheben sich dagegen die gleichen Bedenken. In der That l\u00e4sst sich weder das Ich vollst\u00e4ndig aus Vorstellungsinhalten ahleiten noch bei der Voraussetzung eines solchen Ich das Willensleben erkl\u00e4ren. Ueberall wo wir uns wollend verhalten, f\u00fchlen wir uns th\u00e4tig, selbst bei dem Kampf der Motive und Zwecke, der Begierden und Entschl\u00fcsse. Dieser unmittelbare Zusammenhang alles Wollens mit dem Ich bedarf der Ber\u00fccksichtigung.\nb. Die Bedeutung des Willens*).\nDie Theorie des geistigen Geschehens, wie sie Lipps entwickelt, weist den unbewussten seelischen Th\u00e4tigkeiten eine bedeu-\n1) Edend. S. 45 ff.","page":207},{"file":"p0208.txt","language":"de","ocr_de":"208\nOswald Kiilpc.\ntende Wirksamkeit an. Nach seiner Ansicht ist was im Bewusstsein erscheint, nur der unmittelbar wahrnehmbare Reflex dessen, was in der Seele eigentlich geschieht. Beide Th\u00e4tigkeiten, die im Bewusstsein sich vollziehenden und die unbewussten, bleiben an sich v\u00f6llig unvergleichlich, und nur in Beziehung auf das causale Verh\u00e4ltniss, welches zwischen ihnen besteht, lassen sich beide als Vorstellungsth\u00e4tigkeiten bezeichnen. Auch der Wille ist Vorstellung und somit Product der Vorstellungsth\u00e4tigkeit. Er ist, n\u00e4her bestimmt, ein Nebenerfolg des Vorstellungsverlaufs, \u00bbder unter gewissen Umst\u00e4nden den unbewusst arbeitenden Mechanismus des seelischen Geschehens begleitet.\u00ab In ihm als einem subjectiven Kraftgef\u00fchl k\u00fcndigt sich f\u00fcr unser Bewusstsein seelische Arbeit bestimmter Art an. Da unsere innere Erfahrung Anderes \u00fcber das Wollen zu lehren scheint und psychologische Theorien ebenfalls abweichend urtheilen, so muss diese Anschauung n\u00e4her begr\u00fcndet werden.\nDieselbe ist nun nicht dahin zu interpretiren, als w\u00e4re Gef\u00fchl oder Strebung identisch mit Vorstellungsverh\u00e4ltnissen. F\u00fcr unser Bewusstsein, also auch die unmittelbare innere Wahrnehmung sind Lust und Unlust ebenso urspr\u00fcnglich wie Blau oder Sauer. Der Gedanke kann vielmehr nur der sein, dass die an sich unbewussten Hemmungen oder Unterst\u00fctzungen, welche die Vorstellungen oder richtiger die ihnen zu Grunde liegenden seelischen Erregungen auf einander aus\u00fcben, in unserem Bewusstsein sich als Gef\u00fchle oder Strebungen kundgeben. Die Annahme, dass den letzteren noch eine andere, objective Existenzvzukomme, ist weder eine nat\u00fcrliche noch eine richtige. Jenes nicht, weil ja, so gut wie psychische Thatsachen vorhanden sein m\u00fcssen, die nicht bewusster, wahrnehmbarer Natur sind, auch umgekehrt solche existiren k\u00f6nnen, deren Dasein ein ausschlie\u00dflich bewusstes ist. Aber der Gedanke ist auch widersinnig, weil er die Meinung enth\u00e4lt, es entspreche Gef\u00fchlen und Strebungen ein damit \u00fcbereinstimmendes Reales. Diese Meinung verkennt durchaus, was die innere Wahrnehmung eigentlich lehrt. Gegeben sind uns in derselben nur Inhalte, nicht die erzeugenden Th\u00e4tigkeiten, und so .wenig man Farben oder T\u00f6nen eine Wirklichkeit zuschreibt, au\u00dfe^ctesa- vorstellenden Bewusstsein^ so wenig geb\u00fchrt Gef\u00fchlen und Strebungen au\u00dferhalb desselben","page":208},{"file":"p0209.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t209\nreale Existenz. Sie sind ebenso wie jene \u00bbInhalte unserer Wahrnehmung oder was dasselbe hei\u00dft, Producte unserer vorstellenden Th\u00e4tigkeit.\u00ab\nDiese Ablehnung betrifft eine Meinung, welche doch kaum mehr von Psychologen vertreten wird, die behaupten, dass Gef\u00fchl und Wille gleiche Realit\u00e4t besitzen, wie Empfindung und Vorstellung. Ich w\u00fcsste auch nicht, wie die Ansicht von Lipps allein aus den Bewusstseinsthatsachen gefolgert werden k\u00f6nnte. Und es scheint mir, als ob das Missliche einer ungenauen Terminologie sich hier geltend mache. Wir wissen, dass Lipps Empfindung und Vorstellung als so allgemeine Begriffe verwendet, dass auch Gef\u00fchle und Strebungen diesen Namen erhalten. Aber daneben redet er von Vorstellungen und Vorstellungsth\u00e4tigkeiten im engeren Sinne und sieht er demgem\u00e4\u00df den Willen als einen blo\u00dfen Nebenerfolg des Vorstellungsverlaufs an. Nun, glaube ich, liegt in der allgemeinen Bedeutung des Begriffs Vorstellung nichts, was die Realit\u00e4t des Willens unter diejenige der Vorstellungen (im engeren Sinne) herabdr\u00fcckte. Denn sofern Strebungen auch Empfindungen sind, sofern lassen sich die sie erzeugenden Th\u00e4tigkeiten auch als vorstellende bezeichnen. Dann haben sie also die gleiche Realit\u00e4t, wie die Empfindungen oder Vorstellungen im engeren Sinne.\nAn diesem Resultat wird auch durch die folgenden Er\u00f6rterungen nichts ge\u00e4ndert. Lipps wendet sich gegen die alte Behauptung, dass der Wille einen Einfluss auf Vorstellungslauf und Bewegung habe. Er sucht zuerst nachzuweisen, dass wir etwas nicht Gegebenes nicht wollen und die Richtung der Reproduction nicht bestimmen k\u00f6nnen. Auch sei der Wille nicht im Stande Vorstellungen festzuhalten, weil die Dauer ihres Vorhandenseins nothwen-dige Voraussetzung f\u00fcr die Dauer des Wollens bilde, und ebensowenig Inhalte zu verdr\u00e4ngen, die vielmehr kraft eigener St\u00e4rke oder Schw\u00e4che aus dem Bewusstsein weichen oder an die Stelle anderer treten. Das Alles kann doch nicht beweisen, was bewiesen werden soll. Denn welch ein Recht habe ich an dem Bewusstseinsganzen, das eine im Blickpunkt sich befindende, also volle Aufmerksamkeit erhaltende Vorstellung darbietet, alles eigentlich Wirksame ausschlie\u00dflich dem Vorstellungsmoment zuzuweisen und jenes Bewusstsein der Selbstth\u00e4tigkeit, welches alles Wollen und","page":209},{"file":"p0210.txt","language":"de","ocr_de":"210\nOswald K\u00fclpe.\nalles Willk\u00fcrliche auszeichnet, f\u00fcr blo\u00dfen Nebenerfolg zu erachten? Es verh\u00e4lt sich ja nie so, dass mir ein Wollen abgesehen von allem Inhalt gegeben w\u00e4re. Wohl aber sind mir Vorstellungen bekannt, die das nicht enthalten, was in den appercipirten hervortritt. Aus den Thatsachen, welche Lipps anf\u00fchrt, l\u00e4sst sich daher kein Schluss auf die Unwirksamkeit des Willens machen. Dieser Schluss ist nur dann nat\u00fcrlich, aber auch werthlos, wenn man den vorgebrachten Beispielen bereits eine bestimmte Ansicht vom Wollen zu Grunde legt.\nWichtiger scheint mir daher eine logische Ueberlegung zu sein, welche von Lipps zum Beweise seiner Ansicht herangezogen wird. Dieselbe ist, wie ich meine, das Wesentliche an seiner Begr\u00fcndung der bekannten Theorie, und ihr lege ich daher eine besondere Bedeutung bei1). \u00bbNiemand leugnet, dass das Hervortreten eines Vorstellungsinhaltes a ein anderer psychischer Act ist als die Reproduction des davon verschiedenen Inhaltes b, ebenso die Festhaltung oder Verdr\u00e4ngung eines c ein anderer Act als die Festhaltung oder Verdr\u00e4ngung des davon verschiedenen d.v. Verschiedene Wirkungen verlangen aber verschiedene Ursachen. In den Willensacten bieten sich jedoch solche Verschiedenheiten nicht dar, wie sie allen jenen genannten Thatsachen entsprechen m\u00fcssten. Also muss auch von der Annahme einer Regelung des VorstellungsVerlaufs durch den Willen abgesehen werden. Eine doppelte Auskunft scheint nach Lipps m\u00f6glich zu sein: erstlich die Meinung, dass die eigentliche Wirksamkeit des Willens in\u2019s Unbewusste falle, damit gebe man f\u00fcr das Bewusstsein zu, was er behaupte, zweitens die Ansicht, dass der gleichartige Wille in nothwendiger Weise erg\u00e4nzend, mitwirkend das Resultat herbeif\u00fchren helfe, welches in den angegebenen Beispielen zum Ausdruck gelangt. \u00bbOffenbar w\u00e4re damit wirklich die Causalit\u00e4t des Willens gerettet; aber sie w\u00e4re nicht in dem Sinne gerettet, wie sie die Behauptung einer Regelung des Vorstellungsverlaufs voraussetzt.\u00ab An der besonderen Beschaffenheit desselben w\u00e4re der Wille dann \u00bbv\u00f6llig unschuldig und von einem Einfluss\n1) So wird sie z. B. auch von Lipps in seiner Recension der Wundt -sehen Ethik (Gotting, gel. Anz. 1888) hei der Besprechung der Willensauffassung in den Vordergrund gestellt.","page":210},{"file":"p0211.txt","language":"de","ocr_de":"211\nDie Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\ndem sonstigen psychologischen Mechanismus zum Trotz w\u00e4re keine Rede.\u00ab\nDiese Ausf\u00fchrung w\u00e4re allerdings beweisend, wenn nicht ge rade der letztgenannte Ausweg, der eine zu kurze Ablehnung erf\u00e4hrt, diejenige Meinung w\u00e4re, welche allein, soviel mir bekannt, noch von Psychologen aufrecht erhalten wird. Der Sinn meiner Behauptung, dass der Wille auf den Vorstellungslauf Einfluss habe, ist gewiss nicht der, er k\u00f6nne beliebig Vorstellungen erzeugen. Aber worin soll denn der Unterschied liegen zwischen dem bewussten, geordneten Denken und dem tr\u00e4umerischen Wechsel der Vorstellungen, dem ich mich willenlos \u00fcberlasse, und worin der Unterschied zwischen dem zweckbewussten Handeln und dem halb automatischen, halb reflectorischen Spiel der Glieder? Liegt er in den Vorstellungen, so ist nicht einzusehen, warum sie sich das eine Mal so, das andere Mal anders verhalten. Da sich aber auch in beiden F\u00e4llen au\u00dfer der Steigerung der Vorstellungsmtensitat oder -klarheit das Bewusstsein einer gewissen Selbstth\u00e4tigkeit als unterscheidendes Merkmal des vom Willen geleiteten inneren Vorgangs geltend macht, so wird man nicht umhin k\u00f6nnen auch dieses zu erkl\u00e4ren. Lipps sucht demselben dadurch gerecht zu werden, dass er der Seele, d. h. dem nicht im Bewusstsein gegebenen Tr\u00e4ger und Grunde desselben Activit\u00e4t, erzeugende und lenkende Kraft zuschreibt. Aber da wir in dem, was nicht bewusst ist, auch blo\u00dfe physiologische Processe sehen k\u00f6nnen, also bei dessen Bestimmung den Boden der Erfahrung verlassen, um zu einer metaphysischen Hypothese zu greifen, so verdient gewiss die Zur\u00fcckf\u00fchrung der Selbstth\u00e4tigkeit auf eine im Bewusstsein, wie sie selbst,\nwirksame Function den Vorzug.\nSo zeigt sich auch der Ausgangspunkt jener logischen Betrachtung als ein verschiedener Interpretation f\u00e4higer. Das Hervortreten eines Vorstellungsinhaltes a ist ein anderer psychischer Act als die Reproduction eines davon verschiedenen Inhaltes b das kann soviel hei\u00dfen als : die Vorstellungen a und b sind verschieden. Dann ist damit ein Selbstverst\u00e4ndliches in weitl\u00e4ufiger Weise ausgedruckt. Oder es soll das Hervortreten im Bewusstsein, also die formale Bedingung f\u00fcr die Erscheinung verschiedener Vorstellungen, gemeint sein, und dann ist dessen qualitative Verschiedenheit auf zwei Falle zu\nWundt, Philos. Studien. V.\t^","page":211},{"file":"p0212.txt","language":"de","ocr_de":"212\nOswald K\u00fclpe.\nreduciren. Die Art, wie Vorstellungen in unserem Bewusstsein sich geltend machen, kann eine doppelte sein, je nachdem Aufmerksamkeit ihnen zu Theil wird oder nicht. Setzen wir nun den Fall, dass a und b nach einander in den Blickpunkt des Bewusstseins eintreten, so ist damit auch schon angedeutet, dass hei aller inhaltlichen Verschiedenheit die Art ihres Erscheinens etwas Gleichartiges besitzt. Ich will von \u00ab zu 5 \u00fcbergehen, d. h. nicht: ich will l erzeugen, sondern ich will b in den Blickpunkt meines Bewusstseins erheben. Dies geschieht aus irgend einem Grunde, einem Interesse oder einer vern\u00fcnftigen Ueberlegung gem\u00e4\u00df, und setzt voraus die M\u00f6glichkeit, dass b \u00fcberhaupt f\u00fcr mein Bewusstsein gegeben sei. Dann bleibt doch die Th\u00e4tigkeit des Willens eine wesentliche und nothwendige. Nur muss freilich die ganze Er\u00f6rterung dieses schwierigen Punktes nicht von dem Glauben geleitet sein, als k\u00f6nne dieses Bewusstseinselement Wille mehr sein als ein durch Abstraction aus complexen Vorg\u00e4ngen gewonnenes Resultat. Aber dasselbe empfiehlt sich durch seine empirische Grundlage, durch seine F\u00e4higkeit, mit monistischen und dualistischen Gedankenkreisen verschiedener Art in Einklang gebracht zu werden, und durch die Einfachheit, mit welcher es sich den Bewusstseinsthat-sachen einordnen und dieselben begreiflich werden l\u00e4sst. Hat aber der Wille solchen Einfluss auf die Vorstellungen, dann bleibt auch nicht mehr Raum f\u00fcr die Behauptung, er w\u00e4re \u00bbein Luxus, den sich das seelische Leben erlaubt\u00ab.\nV Die Activit\u00e4t ist nicht eine unbewusste, sondern eine bewusste, so k\u00f6nnen wir endlich sagen, und da sie bewusst ist, so muss sie auch irgend einen Bewusstseinsvorgang zum Tr\u00e4ger haben. Einen solchen hat man gew\u00f6hnlich im Willen gefunden, und man hat Recht daran gethan. Was wei\u00df ich vom Unbewussten? Mein Bewusstsein ist meine Wirklichkeit, in meinem Bewusstsein erlebe ich Activit\u00e4t, und dieses Erlebniss nenne ich Wollen. /Das scheint mir so klar, dass ich den Widerspruch nicht aus einer empirischen Beobachtung, sondern aus einer vielleicht unbewusst mitwirkenden hypothetischen Voraussetzung erkl\u00e4ren m\u00f6chte.\nSo hat auch die Lipps\u2019sche Willenstheorie diejenige Bedeutung, welche der Wille in unserem Bewusstsein besitzt, nicht zureichend gew\u00fcrdigt. Ich glaube gezeigt zu haben, dass dies haupt-","page":212},{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n213\ns\u00e4chlich in Folgendem begr\u00fcndet ist. Erstlich ist das Wesen des Willens nicht richtig bestimmt worden. Sodann aber bereitet die Annahme des Willens als einer neben Vorstellung und Gef\u00fchl bestehenden einfachen Thatsache eigenth\u00fcmliche Schwierigkeiten der Theorie des geistigen Geschehens. Und diese theoretischen, prin-cipiellen Schwierigkeiten sind es wohl im Grunde, welche den Willen f\u00fcr Her hart und Lipps zu einer blo\u00dfen Bewusstseinserscheinung machen. Zeigt sich nun aber die M\u00f6glichkeit, dem Thatbestand des Bewusstseins in einer Theorie voll entsprechen zu k\u00f6nnen bei Anerkennung eines in besonderer Weise wirksamen realen Willens, so wird man erst recht die Herbart-Lipps\u2019sehe Ansicht aufzugeben allen Grund haben.\nII. Die absolut negirenden Richtungen.\nDie unmittelbare innere Erfahrung ist weder fr\u00fcher noch jetzt als die letzte und ausschlie\u00dfliche Quelle und Norm psychologischer Untersuchung allgemein anerkannt worden. Das spiegelt sich deutlich in dem Wechsel der Methoden wieder, die zu verschiedenen Zeiten von verschiedenen Psychologen angewandt und empfohlen sind. Der speculativen steht die empirische, der analytischen die genetisch - synthetische gegen\u00fcber, und innerhalb dieser gro\u00dfen Klassenbegriffe sind die Verfahrungsweisen mannigfaltig. Die speculative Methode ist nun freilich heute kaum mehr von Bedeutung ; wenigstens ist die von speculativen Voraussetzungen freie Bearbeitung des Erfahrungsgebietes das deutliche Ziel der psychologisch Forschenden. Aber die empirische Methode hat sich in eine rein psychologische, eine experimentelle und eine physiologisch-pathologische gegliedert, und die beiden Formen der analytischen und synthetisch-genetischen Methode stehen sich noch heute gegen\u00fcber. Auch f\u00fcr die Theorie des Willens ist dies Verh\u00e4ltnis von gro\u00dfer Bedeutung. Wir sahen, dass, sofern Herbart und Lipps die unmittelbare innere Erfahrung zu Rathe zogen, sich ihnen ein Wollen als eigenth\u00fcmlicher Bewusstseinsvorgang ergab. Aber bei dem Versuch, demselben eine Stelle in einer mit speculativen Annahmen arbeitenden Theorie des seelischen Geschehens anzuweisen, ging sowohl dem Gef\u00fchl als auch dem Willen die von der Erfahrung empfohlene Gleichordnung mit den Vorstellungen verloren. Nicht aus","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nOswald K\u00fclpe.\nder inneren Beobachtung konnte solche Wendung in der Theorie stammen, sie verdankte Ueberlegungen allgemeinerer Natur, metaphysischen oder logischen, ihre Entstehung.\nAber auch als eine eigent\u00fcmliche Bewusstseinsthatsache ist der Wille nicht immer angesehen worden. D. h. man hat in dem, was gew\u00f6hnlich so genannt wird, nichts gefunden, was au\u00dfer Empfindung und Gef\u00fchl sich noch kundg\u00e4be. Auch in diesem Falle zeigt sich eine Beeinflussung der psychologischen Arbeit durch Gesichtspunkte, die nicht aus der inneren Erfahrung unmittelbar erwachsen. Wir k\u00f6nnen zwei solche Gesichtspunkte unterscheiden : den genetischen und den physiologischen. ^ In dem ersten Falle leitet das Bestreben aus urspr\u00fcnglich gegebenen Bewusstseinselementen die gesammte Mannigfaltigkeit des psychischen Geschehens zu entwickeln. In dem zweiten Falle werden physiologische Ansichten zu bestimmenden Factoren f\u00fcr die Auffassung psychischer Thatbest\u00e4nde.\n1. Der genetische Ausgangspunkt.\nF\u00fcr die hier in Betracht kommenden Psychologen ist dasjenige elementar in unserem psychischen Leben, was auf einer fr\u00fcheren Entwicklungsstufe in einfacher Weise hervortritt. Unser Bewusstsein enth\u00e4lt eine F\u00fclle complicirter Zust\u00e4nde, ihre Erkl\u00e4rung wird nur m\u00f6glich durch den R\u00fcckgang auf einfachere Lebewesen oder durch die hypothetische Annahme solcher Elemente, aus denen unsere - seelischen Vorg\u00e4nge im Laufe der Zeit entstanden gedacht werden k\u00f6nnen. Selbstverst\u00e4ndlich liegt in diesem allgemeinen Ausgangspunkt nicht ein Grund vor, dem Willen eine derartige elementare Bedeutung abzusprechen, und man hat auch rein genetisch verfahrende Arbeiten, welche auf ein anderes Resultat, als die hier zu besprechenden, hinauskommen. In dreifacher Weise kann jedoch eine Ablehnung der elementaren Selbst\u00e4ndigkeit des Willens erfolgen: man sieht in ihm entweder einen aus Vorstellung und Gef\u00fchl zusammengesetzten Vorgang oder eine Vorstellung oder endlich ein entwickeltes Gef\u00fchl. Th. Waitz erscheint als Vertreter der ersten, H. Spencer als derjenige der zweiten und Horwicz als derjenige der dritten Ansicht.","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t215\na. Der Wille als Verbindung von Vorstellung und Gef\u00fchl.\nDie Psychologie Herbart\u2019s lie\u00df zwar einen Ausbau im Einzelnen, nicht aber eine Ver\u00e4nderung der Principien zu. Der gro\u00dfe Fortschritt der Naturwissenschaften machte jedoch eine Neubearbeitung der Psychologie von rein empirischem Charakter w\u00fcnschens-werth. Man wollte der Wissenschaft von der inneren Erfahrung eine gleiche Bedeutung erwerben, wie denjenigen von der \u00e4u\u00dferen Erfahrung. Und dazu war die Abstraction von speculativen Voraussetzungen nothwendig. In engem Anschluss an Herhart versuchte Drobisch dies zu leisten, in selbst\u00e4ndigerer Methode ging Th. Waitz vor. Er wendet sich in seinem \u00bbLehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft\u00ab (1849) gegen die analytische Methode und empfiehlt anstatt deren die synthetisch-genetische *). Es scheint mir, als treffe seine Polemik nur ungeeignete Anwendungen der analytischen Methode. Gibt man \u00fcberhaupt zu, dass unsere unmittelbare innere Erfahrung uns nur complicirte psychische Vorg\u00e4nge darbiete, so ist doch wohl unsere wissenschaftliche Aufgabe in erster Linie die analytische Behandlung dieses Gegebenen, um so mehr als unser Bewusstsein f\u00fcr die Psychologie das Erste und Letzte bleiben wird und muss. Nur mit Verleugnung dieser Grundwahrheit l\u00e4sst sich die Bevorzugung einer anderen Methode erkaufen. Hypothetischer Natur werden die auf dem Wege der Analyse gewonnenen Resultate insofern sein, als die letzten einfachen Bewusstseinselemente nicht wirklich aufgewiesen werden k\u00f6nnen. Aber das trifft in noch h\u00f6herem Ma\u00dfe die Waitz\u2019sche Methode. Sie soll nur die M\u00f6glichkeit der Entstehung der complicirteren Zust\u00e4nde zeigen. Indem sie jedoch auf Entwickelungsstufen zur\u00fcckgreift, von denen wir keine unmittelbare Kenntniss besitzen, wird ihr Ausgangspunkt von vornherein ein hypothetischer. Wirkliche Berechtigung kann derselbe nur haben, sofern bereits die Kenntniss des unmittelbar Gegebenen vorausgesetzt wird, und von gro\u00dfem Werthe ist sie bei einer Combination mit dem analytischen Verfahren. Die genetische Methode kann also f\u00fcr sich keine Anwendung finden und ist auf eine durch Analyse unseres Bewusstseins gewonnene Kenntniss psychischer Vorg\u00e4nge gegr\u00fcndet.\n1) S. 22 ff.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nOswald K\u00fclpe.\nDie Instinctbewegungen sind nach Waitz die urspr\u00fcnglichste Aeu\u00dferung des menschlichen Seelenlebens 'j./ Sie haben ihren Grund in unangenehmen Empfindungen, welche durch \u00e4u\u00dfere oder innere Beize hervorgerufen werden, und enden mit angenehmen Empfindungen, wenn es gelungen mit Hilfe der Bewegungen die Unlust zu beseitigen. Etwas Anderes liegt im Instinct, sofern er Bewusstseinsph\u00e4nomen ist, nicht vor.\nErst sp\u00e4ter entwickelt sich das Begehren. Dasselbe setzt einige Ausbildung des Vorstellungslebens voraus. Wir m\u00fcssen das Begehrte uns vorstellen k\u00f6nnen und durch unangenehme Gef\u00fchle zum Begehren getrieben werden./ Ein blo\u00df vorgestelltes Object ist ein begehrtes dann, wenn das wirkliche Vorstellen desselben dei Sitz eines unangenehmen Gef\u00fchls geworden ist, oder eine Begierde ist dasjenige unangenehme Gef\u00fchl, welches entsteht, wenn wir etwas als angenehm Vorgestelltes zugleich als nicht sinnlich gegenw\u00e4rtig vorzustellen uns gen\u00f6thigt finden. Das Angenehme wird zugleich begehrt; wo dies nicht der Fall ist, da wird es auch gar nicht wirklich als angenehm vorgestellt. Soll etwas gewollt werden, so muss es zun\u00e4chst begehrt, ferner als Endpunkt einer Beihe von Ursachen und Wirkungen vorgestellt werden und endlich m\u00fcssen wir entweder den Anfangspunkt dieser ganzen Beihe oder einen wesentlich modificirenden Eingriff in sie an einer bestimmten Stelle als abh\u00e4ngig von unserer Selbstth\u00e4tigkeit betrachten. Beim einfachen Willensact haben wir eine Verbindung der Vorstellung einer angenehmen Empfindung und etwa einer Gliederbewegung, wrobei jene zugleich Begierde ist. Das Scheuen betrachtet Waitz nicht als directen Gegensatz zum Begehren: es entstehe vielmehr nur dann, wenn das als unangenehm und nicht sinnlich gegenw\u00e4rtig Vorgestellte erwartet werde. Dem Scheuen odei F\u00fcrchten steht so das Hoffen gegen\u00fcber. Offenbar wird hier unter Scheuen nicht das Verabscheuen im Sinne Herbart\u2019s, das sich auf eine gegenw\u00e4rtige Vorstellung bezieht, verstanden.\nPr\u00fcfen wir diese Anschauungen abgesehen von ihren Ankl\u00e4ngen an Herb art\u2019s Ausf\u00fchrungen, so werden wir uns ausschlie\u00dflich mit der Bestimmung des Begehrens besch\u00e4ftigen k\u00f6nnen. Auf die Frage\nJ) S. 417ft\u2019.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n217\nnach der Entstehung des Instincts einzugehen w\u00e4re unbillig gegen Waitz, dem die moderne Entwicklungstheorie fremd war. Bei der Auffassung des Willens ist allerdings die Betonung der Selbst-th\u00e4tigkeit wichtig, aber sie wird nicht als ein urspr\u00fcnglicher Act, sondern in Form einer Betrachtung oder Reflexion in den Willen aufgenommen. Dadurch verliert sie die Bedeutung, welche ihr sonst bei der Erscheinung des Willens zuk\u00e4me. Ich stelle mir vor, dass ich dies oder jenes werde ausf\u00fchren k\u00f6nnen \u2014 hei\u00dft ja nichts weiter, als dass in dem Vorstellungsverlauf, der mit einem unangenehmen Gef\u00fchl, der Begierde, anhebt, der umfassende Vorstel-lungsco\u00f6fplex, den ich mein Ich nenne, eine eingreifende Rolle spielen, dass derselbe eventuell durch seine Verbindung mit Bewegungsvorstellungen und Muskelgef\u00fchlen die Hauptanregung zur Willenshandlung geben werde. F\u00fcr den einfachen Willensact f\u00e4llt selbst dieser Eingriff fort. Derselbe kann nach Waitz als eine hlo\u00dfe Verbindung der Vorstellung einer angenehmen Empfindung und einer Gliederbewegung auftreten.\nDas Begehren soll also ein unangenehmes Gef\u00fchl sein, und zwar dasjenige, welches in der Vorstellung eines nicht sinnlich gegenw\u00e4rtigen Angenehmen seinen Ursprung hat. Was hei\u00dft: etwas Angenehmes vorstellen'? Ein Object vorstellen, welches fr\u00fcheren Erfahrungen gem\u00e4\u00df angenehme Gef\u00fchle zu erregen vermag. Mit einer solchen Vorstellung wird sich dann meist schon ein leises Lustgef\u00fchl verbinden, das als solches ja nicht vorgestellt werden kann. Insofern ich nun wei\u00df, dass die durch \u00e4u\u00dfere Reize hervorgerufene Vorstellung vielfach ein intensiveres Gef\u00fchl erweckt, als die reproducirte, wird sich mit jener Vorstellung auch h\u00e4ufig der W unsch nach ihrer sinnlichen Erscheinung einstellen. Aber nicht Alles begehrt man, was als angenehm vorgestellt wird, und die gegen-theilige Behauptung von W aitz scheint mir durch die innere Erfahrung entschieden widerlegt zu werden. Und nicht immer geh\u00f6rt zum Begehren ein unangenehmes Gef\u00fchl. Dasselbe tritt vielmehr nur dann ein, wenn Hindernisse eine leichte und rasche Befriedigung der Begierde unm\u00f6glich machen. Das Begehren besteht in einem Streben nach dem angenehmen Gef\u00fchl, welches entweder vermittelst des Objects in der angegebenen Weise nur vorgestellt wird oder nur leise und schwach sich schon mit dieser","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nOswald K\u00fclpe.\nVorstellung verbindet. Dieses Streben ist nicht ein unangenehmes Gef\u00fchl, kann jedoch von einem solchen begleitet werden. Verbindet sich eine gen\u00fcgend starke Lust schon mit der reproducirten Vorstellung, so tritt keine Begierde ein, und es liegt in der Natur gewisser Vorstellungen, dass sie durch sinnliche Repr\u00e4sentation nicht gewinnen. Der eigentliche Grund der Begierde ist also das Nichtvorhandensein oder die Schw\u00e4che eines angenehmen Gef\u00fchls, in Verbindung mit einer Vorstellung. Worin besteht also das Begehren? In der Apperception einer Vorstellung, die als Begleitoder Folgeerscheinung ein angenehmes Gef\u00fchl mit sich f\u00fchrt. D. h. aber: es liegt ein eigenth\u00fcmlicher, weder als Vorstellung noch als Gef\u00fchl zu bezeichnender Vorgang in dem Begehren vor, und derselbe darf als Willenselement bezeichnet werden.\nEs ergibt sich also, dass Waitz das Begehren seinem wesentlichen Inhalte nach nicht richtig aufgefasst hat. Vielleicht tr\u00e4gt hieran ein vielfach noch heute angestellter Schluss die Schuld. Verlangen nach einem anderen, als dem gegenw\u00e4rtigen Zustande, so meint man, setze Unzufriedenheit mit dem letzteren voraus, folglich sei Unlust Grund und eigentlicher Inhalt des Begehrens. Aber die innere Wahrnehmung belehrt uns \u00fcber das Unzureichende dieses Schemas ohne Zweifel. Auch aus der indifferenten Gem\u00fcthslage k\u00f6nnen Begierden aufsteigen, und nur die Hemmung der Befriedigung erregt Unlust. Und selbst dies ist nur dann der Fall, wenn die Begierde widerspruchslos das Bewusstsein beherrscht. Gelangen werthvollere Vorstellungen in den Blickpunkt und verdr\u00e4ngen jene, so pflegt das unbefriedigte Gef\u00fchl kaum mehr als Momente die Freude an dem Siege des Besseren zu beeintr\u00e4chtigen.\nDen einfachen und den complicirten Willensact hat uns Waitz ebenso wenig entsprechend analysirt. Da hierbei stets das Begehren zur Grundlage genommen wird, so trifft das \u00fcber dieses Gesagte auch den Willen. Bemerkenswerth ist die Polemik gegen Herbart. Das Ank\u00e4mpfen oder sich Aufarbeiten der Vorstellungen gegen ein Hinderniss k\u00f6nne nicht ein Begehren genannt werden, weil dasselbe sonst nothwendig au\u00dferhalb des Bewusstseins fallen m\u00fcsste, da nur eine solche Vorstellung emporstrebt, die noch nicht im Bewusstsein ist. Au\u00dferdem k\u00f6nnte nach dieser Auffassung eine mit vollkommener Deutlichkeit gegenw\u00e4rtige Vorstellung nicht mehr","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t219\nder Sitz des Begehrens sein/' Beides widerspreche der Erfahrung. Mir scheint diese Polemik ungerecht zu sein. Denn erstlich k\u00f6nnen Vorstellungen nach Herhart noch aufstreben, wenn sie schon die Schwelle des Bewusstseins \u00fcberschritten haben, und offenbar wird nicht das Streben zum Bewusstsein, sondern im Bewusstsein zur Grundlage des Begehrens, sofern es b\u00e8wusster Vorgang ist. Zweitens ist der Unterschied zwischen der reproducirten und der sinnlich erregten Vorstellung desselben Inhalts bei Herbart kein qualitativer, sondern ein solcher der Intensit\u00e4t oder Deutlichkeit. So kann daher im Allgemeinen Herbart behaupten, dass eine zur vollen Klarheit gelangte Vorstellung Ziel und Ende der Begierde sei. Diese Kritik von Waitz zeigt, dass er mit anderen Voraussetzungen arbeitet, als Herb art, und dass erbem\u00fcht ist, empirische Beobachtungen als letzte Kriterien einer Lehre zu verwenden. Aber logische Gr\u00fcnde spielen noch eine zu gro\u00dfe K\u00f6lle bei seiner Reconstruction der geistigen Entwicklung, die ganze Mannigfaltigkeit derselben hat er weder a priori anerkannt noch empirisch gefunden. Das gesammte Seelenleben m\u00fcsste nach ihm mit einer unangenehmen Empfindung beginnen, weil allein darin der Grund zu einer Ver\u00e4nderung liegen kann. Mit Recht hat die moderne Entwicklungslehre diese Anschauung aufgegeben.\nb. Der Wille als Vorstellung.\n/ Als einer der Hauptvertreter der Entwicklungslehre, des Evo-lutionsprincips hat Herbert Spencer zu gelten. In allen philosophischen Schriften desselben tritt es in beherrschenderWeise hervor./Nicht nur die \u00e4u\u00dfere, physische, sondern auch die innere, psychische Seite des organischen Lebens wird unter diesem Gesichtspunkt betrachtet.\nEs sind im Wesentlichen zwei Vorstellungen, welche die moderne Entwicklungslehre ausgebildet hat. Erstlich denkt sie sich das Verh\u00e4ltniss des Einfachen zum Complicirten im Laufe der Entwicklung nicht als eine mechanische Vermehrung oder als eine Verbindung fr\u00fcher getrennter Elemente, sondern als einen Differenzi-rungsprocess, wonach das urspr\u00fcnglich Einfache nur als ein Unge-theiltes, nicht als ein Elementares angesehen werden darf. Sodann aber ist der r\u00fcckl\u00e4ufige Vorgang, die R\u00fcckbildung nach der","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nOswald K\u00fclpe.\nEvolutionslehre ein progressives Verschwinden h\u00f6chster Functionen bis zu den einfachsten herab. Beides steht nicht .in vollst\u00e4ndigem Einkl\u00e4nge mit einander. Die Differenzirung hat man sich als ein Auseinandergehen urspr\u00fcnglich ungeschiedener Momente vorzustellen, jeder neue Theil kann zum Ursprung neuer Differenzirung werden. Darnach m\u00fcsste, wenn eine wirkliche Umkehrung der Entwicklung darin gegeben w\u00e4re, die Dissolution, ein Zur\u00fcckgehen in urspr\u00fcngliches Miteinander sein, statt dessen ist sie ein Absterben einzelner Theile desselben Keims. Aus a gehen hervor a, a\u201e, aus a, ferner \u00ab2 etc. Nun besteht die Dissolution nicht in einem Zur\u00fccksinken von \u00ab, \u00ab2 in \u00ab/, sondern in einem ersten Verschwinden des sp\u00e4testen Differenzirungsproductes. Aber Differenziren \u2019 hei\u00dft nicht nach einander Erzeugen, sondern die allm\u00e4hliche, aber gleichzeitige Sonderung in verschiedene Theile. Sp\u00e4ter kann also nur sein, was einer sp\u00e4teren Differenzirung angeh\u00f6rt, und die Dissolution k\u00f6nnte dann nur bestehen in einem gleichzeitigen Verschwinden relativ sp\u00e4ter Differenzirungsproducte. Es ist vielleicht nicht unn\u00fctz sich diesen Sachverhalt zu vergegenw\u00e4rtigen, auf den ich sp\u00e4ter zur\u00fcckzukommen Gelegenheit habe.\nNach Spencer1) ist die gesammte geistige Entwicklung aufzufassen als ein Uebergang von einer unbestimmten unzusammenh\u00e4ngenden Gleichartigkeit zu einer bestimmten zusammengeh\u00f6renden Ungleichartigkeit. Die ersten Anf\u00e4nge der Empfindung zeigen sich, sobald die psychischen Ver\u00e4nderungen allzu complicirt werden, um noch vollkommen automatisch sein zu k\u00f6nnen/ Ged\u00e4chtniss, Vernunft, Gef\u00fchl und Wille nehmen gleichzeitig ihren Ursprung., Der allgemeine Inhalt aller Entwicklung ist aber Anpassung innerer an \u00e4u\u00dfere Vorg\u00e4nge. Urspr\u00fcnglich geschieht dieselbe im lebenden Organismus unbewusst, automatisch, bei der bewussten Anpassung sind alle genannten Functionen zugleich betheiligt. So ist z. B./der einfache Willensact nichts weiter, \u00bbals die geistige Repr\u00e4sentation des Actes, worauf die thats\u00e4chliche Ausf\u00fchrung desselben folgt.\u00ab Zwischen einer unwillk\u00fcrlichen und einer willk\u00fcrlichen Bewegung besteht der Unterschied, dass jene ohne vorhergehendes Bewusstsein der auszuf\u00fchrenden Bewegung stattfindet, w\u00e4hrend die willk\u00fcrliche\n1) Principien der Psychologie, \u00fcbers, v. Vetter I 198. 501 ff. 517 ff.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n221\nerst eintritt, nachdem sie im Bewusstsein vorgestellt worden war. Da nun aber diese Vorstellung nichts weiter ist, als eine schwache Form des die thats\u00e4chliche Bewegung begleitenden psychischen Zustandes, so ist sie auch nichts weiter, als eine auftauchende Erregung der hier in Frage kommenden Nerven, welche ihrer thats\u00e4ch-Hchen Erregung vorausgeht. Bei den complicirteren Willensacten haben wir die Vorstellungen verschiedener Bewegungen mit ihren Associationen, aber im Grunde den gleichen Vorgang. Nehmen wir alle Empfindungen und Gef\u00fchle weg. so bleibt kein Wille \u00fcbrig. Erregen wir einige von ihnen, so tritt der Wille erst dann hervor, wenn eine Gruppe derselben das Uebergewicht bekommt.\nSuchen wir uns zun\u00e4chst genauer die Grundlagen dieser Ansicht zu vergegenw\u00e4rtigen.\nIn der Meinung, dass Gef\u00fchl, Wille, Vernunft, Ged\u00e4chtniss zugleich sich entwickeln, alle dem gemeinsamen Zweck bewusster Anpassung dienend, liegt eine Anwendung des Entwicklungsgedankens unverkennbar vor. Nun kann aber nach dem fr\u00fcher Gesagten eine Differenzirung in verschiedene einzelne Formen oder Elemente unbeschadet vorhergehender Einheit statthaben. Wir werden demnach a priori anzunehmen berechtigt sein, dass die von Spencer aufgef\u00fchrten geistigen Functionen solche durch Entwicklung entstandene differente Vorg\u00e4nge repr\u00e4sentiren. Aber es darf nicht vergessen werden, dass sie urspr\u00fcnglich ein und dasselbe sind, und dass sie nur als besondere Formen der Anpassung unterschieden werden k\u00f6nnen. Der Mannigfaltigkeit \u00e4u\u00dferer Reize entsprechend bildet sich allm\u00e4hlich eine Mannigfaltigkeit von innen erfolgender Reactionen aus, zun\u00e4chst automatisch, sp\u00e4ter bewusst. Eine vollkommene Continuit\u00e4t ist dabei f\u00fcr die ganze Reihe zu constatiren. Als solche geistige Repr\u00e4sentationen der urspr\u00fcnglich unbewussten Th\u00e4tigkeiten haben alle Seelenvorg\u00e4nge zu gelten. Die bewusste Entwicklung, welche, obwohl dies nicht nachgewiesen werden kann, als ein allm\u00e4hlich aus bewusstlosen Vorg\u00e4ngen entstandenes Product angesehen werden muss, hebt an mit einem unbestimmten Ge-sammtzustande und gliedert sich allm\u00e4hlich in einzelne geistige Acte. Dass diese \u00e4u\u00dferen Vorg\u00e4ngen entsprechen, liegt in der Natur der Sache. Die Verbindungen, welche sie eingehen, werden gleichfalls \u00e4u\u00dferen Verbindungen correspondiren, und der Grad ihrer","page":221},{"file":"p0222.txt","language":"de","ocr_de":"222\nOswald K\u00fclpc.\nFestigkeit wird sich richten nach der geringeren oder gr\u00f6\u00dferen L\u00f6slichkeit der letzteren. Der Zusammenhang in unserem Bewusste sein besteht demnach in Associationen, welche \u00e4u\u00dferen Vereinigungen und nerv\u00f6sen Verbindungsbahnen entsprechen. Und so werden auch f\u00fcr Spencer die Associationen die wesentlichste Erscheinung des geistigen Lehens.\nAus der einfachen Reflexbewegung geht nach Spencer durch eine Reihe successiver Complicationen der Instinct hervor. Derselbe besteht in einer Combination von Bewegungen, 'welche bestimmte Reizcombinationen zur Voraussetzung hat, Ansammlung fr\u00fcherer Erfahrungen und erbliche Uebertragung sind die inneren Bedingungen seiner Entwicklung. Im Bewusstsein sind Ged\u00e4chtniss und Vernunft nach der einen, Gef\u00fchl und Wille nach der anderen Seite seine complicirteren Entwicklungsformen. Auch f\u00fcr den Instinct ist eine Wiederholung fr\u00fcherer Bewegungen oder Th\u00e4tigkeiten noth-wendig, das Ged\u00e4chtniss ist die geistige^ Repr\u00e4sentation solcher Wiederliolung.^-Vernunft ist ein complicirter Instinct, und mit ihren Acten stehen Gef\u00fchle in engster Verbindung. Auch ihre Entwicklung beruht auf einer solchen der Beziehungen. Urspr\u00fcnglich einfache Eindr\u00fccke und einfache Gem\u00fcthsregungen, die niedrigste Stufe wird von dem Triebe repr\u00e4sentirt, dann einige Mannigfaltigkeit dieser einfachen Vorg\u00e4nge, dann bilden sich Vereinigungen, die wieder mit einander die verschiedensten Associationen eingehen.\n/Auch der Wille kann nichts anderes sein als eine neue Betrachtungsweise des n\u00e4mlichen allgemeinen Processes. Ein Willensact ist die geistige Repr\u00e4sentation desjenigen Vorgangs, welchen man physisch als eine durch Erregung verschiedener Eindr\u00fccke und Tendenzen entstandene Verz\u00f6gerung der Reaction oder Bewegung anzusehen hat. Der Willenshandlung geht physiologisch eine Reproduction derjenigen nerv\u00f6sen Erregung voraus, welche bei dem thats\u00e4chlichen Act fr\u00fcher stattgefunden hat. Die Erregung des thats\u00e4chlichen Actes aber konnte psychisch nur in einer mit Gef\u00fchl verbundenen Bewegungsvorstellung repr\u00e4sentirt werden. Also kann auch der Wille nur in einer Reproduction dieser Vorstellung in seiner einfachsten Form bestehen.\nDamit ist nun dasjenige erreicht, was ich in der bisherigen Auseinandersetzung, die Einiges der klaren Darstellung von Spen-","page":222},{"file":"p0223.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n223\ncer\u2019s Ansichten in Ribot\u2019s La psychologie anglaise contemporaine verdankt, angestrebt habe : n\u00e4mlich das Yerst\u00e4ndniss des Zusammenhangs, in welchem die Willensauffassung hei Spencer mit seinem genetischen Princip steht. Ich darf mich jetzt zu einer W\u00fcrdigung dieser Auffassung wenden. ' Ich verzichte auf eine allgemeine Polemik gegen den Ausgangspunkt Spencer\u2019s, er hat in seinen Principien der Psychologie eine philosophische und nicht eine empirische Arbeit in erster Linie leisten wollen. Aber wie sein Evolutionsgedanke ja selbst einer Verallgemeinerung verschiedener Erfahrungen seine Entstehung verdankt, so wird er auch in der Erfahrung seinen unabweisbaren Ma\u00dfstah finden und ertragen m\u00fcssen. Ohne mich bei der Frage aufzuhalten, ob die Entwicklung der \u00fcbrigen geistigen Functionen sich dem von Spencer entworfenen Bilde einordnet und ob die allgemeinen Annahmen, die ihm zu Grunde liegen, eine durchg\u00e4ngige Wahrscheinlichkeit beanspruchen d\u00fcrfen, wende ich mich sofort zu den beiden speciellen kritischen Fragen: Ist die Willensauffassung eine nothwendige Folge der entwicklungstheoretischen Ansichten Spencer\u2019s, und ist sie der ad\u00e4quate Ausdruck unserer thats\u00e4chlichen unmittelbaren Erfahrung?\nZuerst erscheint es mir unbegreiflich, wie aus unbewussten Vorg\u00e4ngen sich bewusste entwickeln sollen. Es ist das eine Behauptung, die, wie ich glaube, unserem Verst\u00e4nde eine unl\u00f6sbare Aufgabe zumuthet. Es ist mir v\u00f6llig unklar, wie aus emer^blo\u00dfen Complexion unbewusster automatischer Processe die N\u00f6thigung zur Entstehung von Bewusstseinserscheinungen abgeleitet werden kann. Welche Bedeutung hat nun ferner das Bewusstsein, wenn es nichts weiter sein soll als eine Begleitung physischer Processe, die allein wirksam sind und dem Zwecke der Anpassung dienen? Wir erhalten hier auf einer latent materialistischen Grundlage dieselbe Meinung, wie sie auf spiritualistischem Boden bei Herb art und Li p p s erkennbar wird, dass n\u00e4mlich das Bewusstsein ein Luxus ist, den sich dort die Materie, hier die Seele erlaubt. Es ist be-merkenswerth, dass trotz sonstiger Verschiedenheiten auch die Willenslehre sich in beiden F\u00e4llen nahe ber\u00fchrt, Als eine nothwendige Folge aus diesen Voraussetzungen wird man sie trotzdem nicht bezeichnen k\u00f6nnen. Geben wir zu, dass das Bewusstsein nur eine","page":223},{"file":"p0224.txt","language":"de","ocr_de":"224\nOswald K\u00fblpe.\nBegleiterscheinung physischer Erregungen ist, dass sich eine gro\u00dfe Mannigfaltigkeit der Erregungen im Verh\u00e4ltniss zu \u00e4u\u00dferen Eindr\u00fccken gebildet hat und dass sich jene mit bestimmten motorischen Reactionen verbinden. Nun ist es doch denkbar, dass nicht jede reproducirte Erregung die ihr entsprechende motorische Th\u00e4tigkeit nach sich zieht, selbst dann nicht, wenn sie nicht durch irgend welche andere Erregungen in ihrer ausschlie\u00dflichen Wirkung auf den Bewegungsapparat beeintr\u00e4chtigt wird. Es kommt doch sicherlich auch auf die Intensit\u00e4t der reproducirten Erregung an, und es sind F\u00e4lle annehmbar, wo dieselbe an und f\u00fcr sich zu schwach ist, um ohne Weiteres die Bewegung herbeizuf\u00fchren. Solchen physiologisch wohl erkl\u00e4rbaren F\u00e4llen wird aber bei Spencer nicht Rechnung getragen, und doch war das von seinen Voraussetzungen aus zu erwarten.\nWenden wir uns nun zum Bewusstsein, also zur eigentlichen Pr\u00fcfung der Thatsachen. Ueberall da, wo wir uns wollend verhalten, haben wir in keiner Weise die Meinung, es sei das ein Ueberschuss, ein Luxus, den wir uns auch hinwegdenken k\u00f6nnten, sondern die Ueberzeugung von einer Selbstth\u00e4tigkeit, die in bestimmender Weise in das innere oder \u00e4u\u00dfere Geschehen eingreift. Dies ist eine unleugbare Thatsache und muss in jeder Psychologie ihre Ber\u00fccksichtigung oder Erkl\u00e4rung finden. Auf dem Standpunkte Spencer\u2019s erscheint sie als eine Illusion und erh\u00e4lt sie nicht einmal als solche die zureichende Darlegung ihrer Entstehung. Warum ferner f\u00fchrt nicht jede Bewegungsvorstellung die Bewegung herbei? Spencer stellt sich nach dem Effect, einer Bewegung, die Frage: Was ging voraus? und findet bei der willk\u00fcrlichen Bewegung eine Vorstellung derselben, bei der unwillk\u00fcrlichen ihren Mangel. Aber nicht nur hat nicht jede Bewegungsvorstellung eine Bewegung zur Folge, so z. B. im Traume, sondern wir reden auch keineswegs \u00fcberall, wo sie der Bewegung vorausgeht, von einer Willenshandlung. Die sog. automatischen Bewegungen z. B. werden durch blo\u00dfe Vorstellungen regulirt und angeregt, aber nur etwa ihr Beginn wird als gewollt bezeichnet. Alle ideomotorischen Bewegungen bilden ja eine besondere Klasse, die mit den willk\u00fcrlichen nicht verwechselt werden darf. Es muss also doch in dem Willen noch etwas Anderes hervortreten, als blo\u00dfer Vorstellungsinhalt. Spencer","page":224},{"file":"p0225.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n225\nbleibt uns die Erkl\u00e4rung der genannten Thatsachen schuldig. Wir k\u00f6nnen also seine Willenslehre weder eine nothwendige Folge seiner allgemeinen Voraussetzungen noch eine gen\u00fcgende Theorie der zu erkl\u00e4renden Thatsachen nennen.\nc. Der Wille als entwickeltes Gef\u00fchl.\nDer Verfasser der \u00bbPsychologischen Analysen auf physiologischer Grundlage\u00ab ist bekanntlich zu dem Resultat gelangt, dass das Gef\u00fchl als fr\u00fchester psychischer Vorgang anzusehen sei und aus demselben sich Vorstellen und Wollen entwickelt habe/ Leider liegt uns eine ausf\u00fchrliche Darstellung der Entwicklung des Willens nicht vor, sondern nur ein Vortrag, den Horwicz in Magdeburg im J. 1876 gehalten1). Wenn ich diesen dennoch zur Unterlage meiner Er\u00f6rterungen \u00fcber die Ansicht von Horwicz mache, so geschieht dies einmal wegen des Interesses, welches dieser Standpunkt beansprucht, sodann wegen der Sicherheit, mit welcher auch aus diesem Vortrage die erw\u00e4hnte Meinung entnommen werden kann.\nIn vier Stadien zerlegt Horwicz den Entwicklungsprocess des Willens. Als das erste derselben bezeichnet erden Trieb. \u00bbTrieb ist ganz w\u00f6rtlich das Treibende, er ist der unmittelbare Ausfluss des Gef\u00fchls, der Lust oder Unlust, indem er ohne weiteren Umschweif auf Festhaltung der Lust und Fernhaltung der Unlust gerichtet ist.\u00ab \u00bbEs sind zumeist einfache, sinnliche Gef\u00fchle, wie Nahrungstrieb, Athmungstrieb, Geschlechtstrieb.\u00ab Drei Phasen unterscheidet Horwicz am Triebe, zun\u00e4chst die \u00bbReflexbewegung, hei der ein sinnlicher Reiz mit schwacher Empfindung und ganz dunklem Bewusstsein, wo nicht v\u00f6llig unbewusst, auf Bewegungsapparate \u00fcbertragen wird.\u00ab Sodann den \u00bbrohen Trieb, d. h. ein mehr oder weniger starkes Lust- oder Unlustgef\u00fchl, welches, ohne die Mittel seiner Befriedigung zu kennen, in allerlei Bewegungen sich Luft zu machen sucht. Endlich den erfahrenen Trieb, welcher schon den Uebergang zur Begierde bildet, da er sich auf Grund fr\u00fcherer Befriedigung \u00e4u\u00dfert.\u00ab \u00bbDas zweite Stadium beginnt mit der vollendeten Entwicklung der Erinnerung und des deutlichen Bewusstseins.\u00ab Die Bewegung, womit wir auf\n1) Zur Entwicklungsgeschichte des Willens.","page":225},{"file":"p0226.txt","language":"de","ocr_de":"226\nOswald K\u00fclpe.\ndas Gef\u00fchl reagiren, ist hier eine durch Uebung erlernte und gel\u00e4ufige geworden. Die Namen Wunsch und Begierde kennzeichnen diese Entwicklungsstufe. Die Unterschiede gegen\u00fcber dem Triebe bestehen in Folgendem. W\u00e4hrend der Trieb \u00fcberwiegend von der Unlust ausgeht, ist die Begierde die Vorstellung einer Lust und auf diese gerichtet, w\u00e4hrend jener zeitlos ist, umspannt diese Vergangenheit und Zukunft, w\u00e4hrend die Zahl der Triebe sehr gro\u00df ist, sind die Begierden verm\u00f6ge ihrer gr\u00f6\u00dferen Einheitlichkeit an Zahl geringer. Wunsch und Begierde sind nur einzelne Punkte einer reich modulirten Scala, bei der letzteren verbindet sich mit der vorgestellten Lust die Vorstellung ihrer Erreichbarkeit und'Verwirklichung, die heim einfachen Wunsche fehlt. Je nach der Lebhaftigkeit des vorgestellten Lustgef\u00fchls und nach dem Ma\u00dfe der Gew\u00f6hnung an dasselbe ergeben sich eine F\u00fclle von mannigfaltigen Zust\u00e4nden des Wunsches und der Begierde.\nUeberlegung, Streben und Trachten bilden das dritte Stadium der Willensentwicklung. Unter den Begierden gelangen einzelne durch Uebung und Gew\u00f6hnung allm\u00e4hlich zu einer Vorherrschaft \u00fcber andere. Dieselben kann man als Maximen bezeichnen. Sie sind es, deren Wirksamkeit in dem vern\u00fcnftigen Streben und Trachten hervortritt. Wo die einfachen, fl\u00fcchtigen Begierden mit ihnen einen Kampf eingehen, da wird nur \u00fcberlegt, und diese Ueberlegung nimmt immer mehr die Form der Wahl an. \u00bbMit dem die Ueberlegung beendenden Entschl\u00fcsse ist das letzte Stadium, das des Willens gegeben.\u00ab \u00bbIm vollen Sinn des Wortes aber ist Wille erst dann vorhanden, wenn nicht nur die wichtigsten Lebensrichtungen und Lehensgebiete je zu ihren obersten Grunds\u00e4tzen entwickelt sind, sondern wenn auch diese auf den Einzelgehieten leitenden Maximen untereinander in feste Verh\u00e4ltnisse der Ueher- und Unterordnung treten, wenn sie anfangen, gewisserma\u00dfen ein einheitliches System zu bilden.\u00ab\nNur \u00fcber einen, den wichtigsten Punkt in diesen Ansichten m\u00f6chte ich einige Worte sagen. Denn im Uebrigen ist doch die Darstellung zu kurz und zu popul\u00e4r gehalten, um zum Gegenst\u00e4nde ausf\u00fchrlicher Controverse gemacht werden zu k\u00f6nnen. So schiebe ich den harmlosen Gebrauch des Ausdrucks \u00bbvorgestellte Lust\u00ab auf die R\u00fccksicht gegen\u00fcber dem Zuh\u00f6rerkreise und nicht auf einen","page":226},{"file":"p0227.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n227\nsachlichen Irrthum, so wei\u00df ich auch mit der Entwicklung der einzelnen Stadien aus einander nicht immer einen klaren Sinn zu verbinden und h\u00e4tte gr\u00fcndlichere Darlegung gew\u00fcnscht. Aber der eine Punkt, in welchem ich auch auf Grund dieses V ortrags meinen Widerspruch glaube kundgehen zu d\u00fcrfen, ist gerade der interessanteste und eigenth\u00fcmlichste und der grundlegende, es ist die Auffassung des Triebes.\nDer Trieb ist nach Horwicz weiter nichts als ein Gef\u00fchl der Lust und Unlust, welches sich in gewissen Bewegungen \u00e4u\u00dfert. Da nun die ganze Entwicklung des Willens auf den Trieb zur\u00fcckgef\u00fchrt wird, so ist in dem Gef\u00fchl der Lust und Unlust das Element des Willens zu erblicken. Zun\u00e4chst ist diese Ansicht dahin zu berichtigen, dass der Trieb nicht nur \u00fcberwiegend von der Unlust ausgeht, sondern ausschlie\u00dflich in derselben seine Wurzel hat. Man kann bei einer Lust, welche bleibt, doch nur verm\u00f6ge eines unerlaubten Hineininterpretirens behaupten, sie strebe sich zu erhalten oder der in ihr liegende Trieb trachte nach Befestigung derselben. Die Lust ist \u00fcberhaupt kein Trieb, nur die Unlust veranlasst denselben. Nun sind f\u00fcr uns psychisch entwickelte Wesen Lust, Unlust und Trieb allerdings unterschiedene oder wenigstens unterscheidbare Vorg\u00e4nge, aber ein in solcher Weise als eigent\u00fcmlich festgestelltes Elementarph\u00e4nomen an den Ausgang der ganzen psychischen Entwicklung setzen involvirt eine v\u00f6llige Verkennung des Entwicklungsgedankens. Als ein Differenzirungspro-cess wurde bereits fr\u00fcher der Verlauf der Evolution gekennzeichnet. So hat sich die Anwendung dieses Princips im Gebiet des Mate-teriellen, der organischen Materie ausnahmslos bew\u00e4hrt, und nur in dieser Form kann man es daher auch auf die geistigen Erscheinungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit anzuwenden suchen, wie es Spencer, Wundt, Schneider gethan haben. Wenn dagegen Elorwicz ein in unserem entwickelten psychischen Leben zu bestimmter Unterscheidbarkeit gelangtes Elementarph\u00e4nomen als den Ursprung der psychischen Vorg\u00e4nge ansieht, so verf\u00e4hrt er ungef\u00e4hr ebenso, als wenn Jemand die gegliederte liaum-anschauung des Erwachsenen zu einem Theil dem Neugeborenen zuschreibt. Nicht eine bestimmte Empfindung, nicht ein bestimmtes Gef\u00fchl oder einen bestimmten Willensact darf man daher als\nWundt, Philos. Studien. V.\t16","page":227},{"file":"p0228.txt","language":"de","ocr_de":"228\nOswald K\u00fclpe.\nden ersten Anfang seelischen Lebens ansehen, sondern ein in alle diese Sonderph\u00e4nomen noch nicht differenzirtes Ganzes.\nAus verschiedenen Gr\u00fcnden hat sich uns so die vom genetischen Standpunkt aus versuchte Negation des Willens als eines eigenth\u00fcm -liehen Elements psychischen Wirkens als unzureichend erwiesen. Wie -weit wir auch die Entwicklung derselben zur\u00fcckverfolgen m\u00f6gen, \u00fcberall k\u00f6nnen wir nur ein Ineinanderlaufen sp\u00e4ter geschiedener oder scheidbarer Glieder constatiren. Es kommt also darauf an, oh wir im entwickelten Leben den Willen als elementares Ph\u00e4nomen anzusehen haben. M\u00fcssen wir diese Frage bejahen, so wird die Entwicklung daran nichts \u00e4ndern k\u00f6nnen. Und so bleibt immer der zu nehmende Ausgangspunkt derjenige der unmittelbaren inneren Erfahrung oder Wahrnehmung.\n2. Der physiologische Ausgangspunkt.\nIch habe bereits oben bemerkt, in welchem Sinne ich diese Ueberschrift verstanden wissen will. Es sind neuerdings Psychologen der Ansicht, dass man psychologische Thatbest\u00e4nde klarer und sicherer festzustellen im Stande sein werde, wenn man physiologische Wahrheiten oder geltende Hypothesen zum normirenden Ausgangspunkt w\u00e4hle. Diese Behauptung kann eine verschiedene Bedeutung besitzen. Entweder will man nur eine vorl\u00e4ufige, durch sp\u00e4tere Detailarbeit zu bew\u00e4hrende Richtschnur gewinnen, die eine gewisse Planm\u00e4\u00dfigkeit den Studien verleiht, oder man w\u00e4hlt den bezeich-neten Weg im Sinne einer nat\u00fcrlichen Consequenz aus metaphysischen Ueberzeugungen. Diese letzteren k\u00f6nnen entweder spinozisti-scher Monismus oder Materialismus sein. Nach jener Ansicht hat man keinen Grnnd die psychische Seite zu bevorzugen und kann daher auch einmal mit der parallelen physischen Seite beginnen, die vielleicht den Vortheil hat, genauer bekannt zu sein. Nach dieser betrachtet man zuerst die Ursache und dann erst die Wirkung, zuerst das eigentlich und allein Wirkliche und dann das blo\u00df Scheinende, Symbolische. Den hier zu behandelnden Psychologen werden wir nicht metaphysische Voraussetzungen vorzuwerfen haben, f\u00fcr sie hat der Ausgang von physiologischen S\u00e4tzen und Ausf\u00fchrungen zun\u00e4chst nur den Sinn einer bequemen Regelung des schwierigen und umfassenden Erfahrungsgebietes, das im eigent-","page":228},{"file":"p0229.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre rom Willen in der neueren Psychologie.\n229\nliehen Sinne der Psychologie \u00fcberwiesen ist. Ich werde mich hier mit Steinthal, einem theilweisen Anh\u00e4nger Herbart\u2019s, und mit M\u00fcnsterberg, einem modernen Vertreter der physiologischen Psychologie, besch\u00e4ftigen. Beide sind, wenn auch auf verschiedenem Wege, zu einer Ablehnung des Willens als selbst\u00e4ndiger Bewusst-seinserscheinung gelangt. Da sich Steinthal nur verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig kurz \u00fcber diesen Gegenstand ge\u00e4u\u00dfert hat, so werde ich nur wenig \u00fcber ihn zu sagen haben.\na. Steinthal.\nSteinthal1) geht aus von der physiologischen Unterscheidung sensibler und motorischer Nervenfasern. Die Psychologie habe sich darnach zu richten und m\u00fcsse daher der Seele zwei Hauptverm\u00f6gen zuschreiben, n\u00e4mlich: von au\u00dfen her Bewegungen aufzunehmen und nach au\u00dfen hin Bewegungen zu veranlassen. Vorstellungen sind in dem einen wie in dem anderen Falle die Tr\u00e4ger des im Bewusstsein Geschehenden. F\u00fcr die einfache Willenshandlung sind die Vorstellungen der Bewegungen ma\u00dfgebend. Die Vorstellung oder Wahrnehmung- einer Bewegung des eigenen Leibes ist als eine Gehirnerregung anzusehen, welche sich auf diejenigen motorischen Nerven \u00fcbertr\u00e4gt, die diese Bewegung bewirken. In diesem Sinne darf man also von einer unmittelbaren motorischen Kraft solcher Vorstellungen oder Wahrnehmungen reden, und man muss annehmen, dass das Ausbleiben der Bewegung auf einer Hemmung beruht, der jene Gehirnerregung unterliegt. Weiter nichts kann damit ausgedr\u00fcckt sein, dass man von gewolltem Vorgestellten redet, als die Thatsache, dass der Vorstellung motorische Kraft innewohne. \u00bbDass sie nur zuweilen Absicht ist und sichtbare Bewegungen veranlasst, liegt nicht an ihr, sondern an Verh\u00e4ltnissen, in welche sie tritt.\u00ab Dieselben sind aber nicht besondere Willenserregungen, sondern Verbindungen mit anderen Vorstellungen. \u00bbWenn ich schwimmen will, so hei\u00dft dies nur: die Vorstellung des Schwimmens dr\u00e4ngt nach der Verbindung mit der Empfindung und dem Gef\u00fchl des Wassers und mit der Empfindung, welche die Schwimmbewegungen erregen. Die Macht dieser Verbindungsmerkmale wird dann als\n1) Einleitung in die Psychologie und Sprachwissenschaft. 2. Aufl. 1881 S. 349\u2014373.\n16*","page":229},{"file":"p0230.txt","language":"de","ocr_de":"230\tOswald K\u00fblpe.\njene Spannung gef\u00fchlt, welche wtf als besondere Willenserregung zu bezeichnen geneigt sind.\u00ab\nEs liegt auf der Hand, dass der gew\u00e4hlte Ausgangspunkt ungen\u00fcgend ist. Zun\u00e4chst kann die Physiologie, sofern sie keine Anleihe bei dem psychischen Thatbestande maCht, unm\u00f6glich mehr beobachten und feststellen, als dass es centripetal und centrifugal leitende Nerven gibt. Nennt sie die ersteren sensibel,, so urtheilt sie nach dem psychischen Effect, welcher einer Erregung jener Nerven zu entsprechen pflegt. Und motorisch hei\u00dfen die Nerven der anderen Classe, sofern sie die Muskeln in Th\u00e4tigkeit zu versetzen im Stande sind. Aber erstlich ist jener psychische Effect durchaus nicht constant, die Beflexbewegungen k\u00f6nnen ohne jede Betheiligung des Bewusstseins vor sich gehen, und sodann kann die Psychologie unm\u00f6glich darin eine Veranlassung sehen, alle ihre Thatsachen solchem Schema einzugliedern. Die Kenntniss des Bewusstseins wird weder erleichtert noch vereinfacht durch die Anwendung eines solchen einfachen Schemas, vor Allem aber wird die selbst\u00e4ndige Untersuchung der psychischen Ph\u00e4nomene dadurch nicht erspart. Das Einzige, was man aus jener physiologischen Unterscheidung folgern kann, ist dies : dass die centripetalen Nerven der Weg sind, auf welchem \u00e4u\u00dfere Beize zu uns gelangen, und dass die centrifugalen Nerven das Mittel bilden, durch welches sich innere Vorg\u00e4nge nach au\u00dfen kundgeben. Welcher Art nun aber der innere Zustand ist, welcher im einen und im anderen Falle unser Bewusstsein beherrscht, muss ganz und gar auf dem Wege innerer Wahrnehmung gefunden werden. Nun finden wir aber in uns, d. h. in unserem Bewusstsein keineswegs blo\u00df Endglieder sensibler und Anfangsglieder motorischer Nerven. Was in aller Welt soll uns dann veranlassen, alle Ph\u00e4nomene der inneren Erfahrung nur in diese beiden Classen zu bringen?\nJedenfalls berechtigt dieser Ausgangspunkt noch nicht zu der Annahme, dass Vorstellungen wie das Endglied sensibler Beizung so auch das Anfangsglied motorischer Erregung bilden, und dass wir von einem besonderen Willen im letzteren Falle nicht zu reden haben. Ich wende mich also zur Pr\u00fcfung dieses aus einer Bewusstseinsanalyse hervorgegangenen Besultats. Bewegungs Vorstellungen sind das nat\u00fcrliche Antecedens der Bewegungen. Ihnen oder vielmehr","page":230},{"file":"p0231.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie,\t231\nden sie begleitenden Gehirnerregungen wohnt motorische Kraft inne, deren Beth\u00e4tigung von dem Vorhandensein oder Mangel nebenher wirkender Tendenzen abh\u00e4ngig ist. Ich wiederhole dem gegen\u00fcber nicht, was ich \u00fcber diese mit der Spencer\u2019sehen Ansicht \u00fcbereinkommende Anschauung bei der Besprechung der letzteren gesagt habe. Aber ich m\u00f6chte hier betonen, dass ip der einfachen Annahme, welche Steinthal entwickelt, eine einseitige Generalisation einzelner Thatsachen vorliegt. Vielfach ist eine blo\u00dfe Bewegungsvorstellung die Veranlassung einer Bewegung, vielfach l\u00e4sst sich das Ausbleiben derselben aus gegenwirkenden Vorstellungen erkl\u00e4ren. Aber keineswegs \u00fcberall. .Und es muss n\u00e4her gezeigt werden, warum, selbst bei Abwesenheit direct hemmender Bedin-grrngen, eine Bewegungsvorstellung nicht immer eine Bewegung zur Folge hat. Streng genommen m\u00fcsste nach der Steinthal\u2019schen Anschauung z. B. jede BewegungsVorstellung in einer Anzahl von solchen nicht einander direct widersprechenden eine Bewegung zur Folge haben. Und warum werden einzelne bevorzugt? Das wird nun aus den Complicationshilfen erkl\u00e4rt werden. Immerhin bleibt ungesagt, worin eigentlich die 'Hemmung besteht. Bei einer genaueren Er\u00f6rterung derselben w\u00e4re vielleicht Steinthal zu derjenigen Ansicht gelangt, di^jCch vertrete, und nach welcher es nicht in dem Wesen der Vorstellung allein liegen kann, Bewegungen hervorzurufen. Vollkommen uner\u00f6rtert l\u00e4sst ferner Steinthal den Willen als innerlich wirksame Kraft in seinem wenigstens scheinbaren Einfluss auf den Vorstellungsverlauf. Und diese Vernachl\u00e4ssigung erkl\u00e4rt sich doch wohl aus dem physiologischen Gesichtspunkt, der eine so beherrschende Holle spielt. Der \u00e4u\u00dferen Willenshandlung mag man immerhin die Bewegungsvorstellung als einziges bewusstes Antecedens zu Grunde legen, die innere Willenshandlung schwebt aber dann noch der Erkl\u00e4rung bed\u00fcrftig in der Luft. Ist hier ein selbst\u00e4ndiger Wille wirksam und erkennbar, so wird auch die \u00e4u\u00dfere Willenshandlung von demselben Einfluss und Richtung empfangen.\nb. M\u00fcnsterberg.\nEine ausf\u00fchrlichere Behandlung werde ich der Willensauffassung von H. M\u00fcnsterberg zu Theil werden lassen, weil sie eine","page":231},{"file":"p0232.txt","language":"de","ocr_de":"232\nOswald K\u00fclpe.\neingehende Darstellung in einer interessanten Monographie rj gefunden hat, und weil ich meinen abweichenden Standpunkt sorgf\u00e4ltig darzulegen mich verpflichtet f\u00fchle. Es scheint mir, dass die physiologische Psychologie gegen den Sinn ihrer Begr\u00fcnder und Hauptvertreter hier zu einer dogmatischen Voraussetzung geworden, welche die Resultate gewisserma\u00dfen vorwegnimmt. Ferner meine ich, dass die von M\u00fcnsterberg entwickelte Ansicht gerade in den Grundgedanken, auf die er besonderen Werth legt, nicht wesentlich Neues bietet. Ich behaupte endlich, dass die Vertretung verschiedener Standpunkte f\u00fcr die Psychologie, Erkenntnisstheorie und Metaphysik entweder sehr missverst\u00e4ndlich oder einfach unzul\u00e4ssig genannt werden muss.\n\u2022 In einem doppelten Sinne rede ich bei M\u00fcnsterberg von einem physiologischen Ausgangspunkt. Erstlich insofern als er mit der Willenshandlung als physischem Vorgang seine Arbeit beginnt. Es ist das nicht zuf\u00e4llig, sondern in der bestimmten Absicht gegr\u00fcndet, die beiden Gebiete des physischen und psychischen Geschehens als zwei gesonderte Causalreihen zu behandeln. Dazu war es zuerst erforderlich zu zeigen, dass innerhalb der physischen Cau-salreihe, welche die Willenshandlung \u00e4u\u00dferlich bildet, kein Raum ist f\u00fcr den Eingriff eines psychischen Agens, dass also vollkommen selbst\u00e4ndig, sei es auf Anlass \u00e4u\u00dferer Reize, sei es spontan, d. h. auf Grund innerer Vorg\u00e4nge sich alle nerv\u00f6sen Molecularbewegungen abspielen.--' Zweitens aber ist der physiologische Ausgangspunkt in der Behauptung erkennbar, die an die Spitze der eigentlich psychologischen Untersuchung gestellt wird, n\u00e4mlich dass \u00bbdie moderne Psychologie\u00ab bekanntlich die letzten auf einander nicht zur\u00fcck-f\u00fchrbaren Bestandteile des Bewusstseins als Empfindungen bezeichne. Der Empfindung komme Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t und Gef\u00fchlston zu. Diese Behauptung regelt die ganze Fragestellung, die folgenderma\u00dfen lautet: \u00bbWelche Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t und Gef\u00fchlsf\u00e4rbung kommt den unseren Willen zusammensetzenden Empfindungen zu und in welcher Anordnung sind sie mit einander verbunden?\u00ab\nWas den ersten physiologischen Abschnitt anlangt, so gen\u00fcgt\n1) Die Willenshandlung. Ein Beitrag zur physiolog. Psychologie. 1888.","page":232},{"file":"p0233.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n233\nes f\u00fcr meinen Zweck Einiges hervorzuheben. Der Gedanke, die physische Causalreihe als eine in sich geschlossene anzusehen, ist so alt als die monistische Auffassung des psychophysischen Geschehens. Er wurzelt in der Schwierigkeit, welche die Annahme einer Wechselwirkung zwischen psychischen und physischen Vorg\u00e4ngen f\u00fcr unser Denken hat. Vielleicht w\u00e4re es doch am Platze gewesen dieser Schwierigkeit etwas n\u00e4her zu treten. Lotze hat ja darauf aufmerksam gemacht, dass dieselbe dem Begreifen physischer Wechselwirkung nicht minder anhaftet, und darauf seine Metaphysik zum Theil gegr\u00fcndet. Die Unvergleichbarkeit physischer und psychischer Erscheinungen wird als Grund f\u00fcr die Unm\u00f6glichkeit einer Wechselwirkung zwischen ihnen angegeben. Ob derselbe wirklich gen\u00fcgt, ist eine Frage, der nachzugehen sich wohl der M\u00fche lohnte. Die physikalischen Gr\u00fcnde, welche M\u00fcnsterberg f\u00fcr eine geschlossene physische Causalreihe anf\u00fchrt, sind, wie ich glaube, nicht entscheidend. Doch will ich hier davon absehen, da ja diese Frage in ein ganz anderes Gebiet geh\u00f6rt.\nDer Versuch M \u00fcn st er berg\u2019s, die Durchf\u00fchrbarkeit der angegebenen Ansicht f\u00fcr die Willenshandlung unter dem Gesichtspunkt der Entwicklung zu zeigen, scheint mir nicht einwandsfrei zu sein. F\u00fcr den centrifugalen Weg bot es keine Schwierigkeit, da ja Niemand behauptet, dass der Wille etwa direct auf die Muskeln oder die motorischen Nerven einwirke. Das eigentliche Problem beginnt erst mit der Frage nach der Entstehung jener Gehirnerregung, welche die motorischen Nerven innervirt. Aus dem vorhandenen Bau und Zustand des nerv\u00f6sen Mechanismus und einem Complex centripetaler Erregungen sucht M\u00fcnsterberg die centralmotorische Innervation zu erkl\u00e4ren. Kein physiologisch betrachtet sei die Willenshandlung nichts Anderes als ein Reflex. Ich finde die Erweiterung dieses bekannten und bestimmten Begriffs nicht gl\u00fccklich und nicht nothwendig. Denn offenbar ist derselbe nur anwendbar auf alle diejenigen Bewegungen, welche von Bewusstseinsvorg\u00e4ngen nicht begleitet werden. Selbstverst\u00e4ndlich ist diese Bestimmung keine zuf\u00e4llige, sondern auf eine bestimmte That-sachenreihe ausschlie\u00dflich zu beziehen. Die Bahnen f\u00fcr den Reflex sind im centralen Gebiet andere, als bei den Willenshandlungen, es muss daher der Unterschied auch physiologisch festgehalten und","page":233},{"file":"p0234.txt","language":"de","ocr_de":"234\tOswald K\u00fclpe.\ndurch verschiedene Namen angedeutet werden. Ich komme darauf sp\u00e4ter zur\u00fcck.\nDie ganze Fragestellung wird nun folgende : Wie ist es denkbar, dass der nerv\u00f6se Apparat auf die Mannigfaltigkeit \u00e4u\u00dferer Heize mit zweckm\u00e4\u00dfigen Bewegungen antwortet? Zur L\u00f6sung dieser Frage wird der ganze Umfang biogenetischer Principien herangezogen und zu zeigen versucht, dass sich mit Nothwendigkeit ein Mechanismus herausbilden musste, welcher das F\u00f6rderliche oder Sch\u00e4dliche der einzelnen Reize mit entsprechenden Muskelcontrac-tionen sucht oder abwehrt. Auf diese Weise glaubt M\u00fcnsterberg bewiesen zu haben, dass die Willenshandlung physiologisch eine zusammenh\u00e4ngende Reihe von physikalischen und chemischen Vorg\u00e4ngen ist, welche ohne die Annahme eines immateriellen Einflusses erkl\u00e4rt werden kann.\nDiese Untersuchung halte ich insofern f\u00fcr unvollst\u00e4ndig, als die Entstehung spontaner, nicht auf \u00e4u\u00dfere Reize erfolgender Bewegungen, die es unzweifelhaft gibt, nicht in den Kreis der Behandlung gezogen wird. Und doch sind dieselben, wie Bain ausf\u00fchrlich gezeigt hat, eine wichtige Grundlage f\u00fcr die Willenshandlung \u00fcberhaupt. Selbst wo ein \u00e4u\u00dferer Reiz die Veranlassung zu einem Willensact geboten, sind wir uns stets bewusst, etwas Anderes, als was in dem Sinne desselben lag, haben thun zu k\u00f6nnen, d. h. wir sind uns der Wahlm\u00f6glichkeit bewusst, welche den Einfluss dieses Reizes zu modificiren im Stande w\u00e4re. Ich glaube daher, dass M\u00fcnster!)erg seine Ausf\u00fchrungen nicht als eine physiologische Erkl\u00e4rung der Willenshandlung, sondern nur als eine solche der Reflex- und der ideomotorischen Bewegung ansehen darf. Und zu diesem Missverst\u00e4ndniss des eigentlichen Wesens der Willenshandlung hat ihn offenbar die Meinung gef\u00fchrt, dass dieselbe physiologisch als ein Reflex betrachtet werden m\u00fcsse. Die Com-plexit\u00e4t der Bedingungen, welche wir f\u00fcr die Willenshandlung vorauszusetzen gen\u00f6thigt sind, bedeutet doch wohl mehr als einen blo\u00dfen graduellen Unterschied vom Reflex^- Reize, die ich vor einigen Tagen erhalten habe, werden vielleicht heute in Form von Erinnerungsbildern zum Anlass einer Willenshandlung, irgend ein Interesse, welches ich an l\u00e4ngst vergangenen Erlebnissen scheinbar pl\u00f6tzlich nehme, erwirkt eine nachhaltige Reihe von willk\u00fcrlichen Th\u00e4tig-\ni","page":234},{"file":"p0235.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n235\nSeiten \u2014 alle derartige Erscheinungen innerlich, also central erregter Bewegungen d\u00fcrfen nicht nach dem Schema des Reflexes beurtheilt und erkl\u00e4rt werden. Diese Thatsachen aber sind es gerade, welche der gew\u00f6hnlichen Ansicht von einer Einwirkung der Seele oder des Willens auf den K\u00f6rper zu Grunde liegen, den Reflex als eine Kette rein physischer Processe zu begreifen wird ihr nicht schwer.\nSchlie\u00dflich mag noch auf zweierlei hingewiesen werden. Di\u00ea Annahme eines besonderen Willensorgans wird durch die in dem ersten Abschnitte von M\u00fcnsterberg entwickelten Anschauungen gar nicht ber\u00fchrt. Es ist dies eine Frage, welche ohne Mitwirkung psychologischer Erfahrungen oder Gesichtspunkte gegenw\u00e4rtig wenigstens nicht beantwortet werden kann, und hei der allgemeinen Besprechung des nerv\u00f6sen Apparates ist selbstverst\u00e4ndlich die Gliederung desselben im Einzelnen nicht bestimmt worden. Sodann m\u00f6chte ich erw\u00e4hnen, dass dieser Abschnitt sich mit den Werken Schneider\u2019s1) nahe ber\u00fchrt. Dieselben gen\u00fcgen dem entwicklungstheoretischen Standpunkt in hervorragender Weise und haben den Vorzug, dass sie ausf\u00fchrlicher die einzelnen Behauptungen begr\u00fcnden. Au\u00dferdem m\u00f6chte ich daran erinnern, dass bei Bain und bei Wundt treffliche Versuche vorliegen, die Willenshandlung auch in ihrer rein physiologischen Gestalt begreiflich zu machen, dass aber beide freilich die psychologischen Erfahrungen in erster Linie ber\u00fccksichtigen, wie es auch geschehen muss. Ohne die psychologische Direction muss eine Untersuchung der Willenshandlung des eigentlichen Sinnes ganz entbehren. Unser nerv\u00f6ser Organismus vollzieht sicherlich zu jeder Zeit eine Unsumme von mo-lecularen Ver\u00e4nderungen, die einzelnen materiellen Elemente m\u00f6gen ihrer Qualit\u00e4t nach an verschiedenem Stellen des Gehirns verschieden und ihrer Quantit\u00e4t nach verschieden vertbeilt sein. Die Veranlassung aus dieser zahllosen Menge von Processen eine bestimmte Reihe herauszugreifen kann nur in bestimmten inneren Erfahrungen liegen, deren Erkl\u00e4rung wir zu geben w\u00fcnschen. Diese Erfahrungen ihrem Wesen nach genau zu constatiren und zu analysiren ist daher nothwendig erste Aufgabe psychologischer Untersuchung.\nEs scheint mir also die physiologische Erkl\u00e4rung der Willens-\n1) Der thierische Wille. 1880. Der menschliche Wille. 1882.","page":235},{"file":"p0236.txt","language":"de","ocr_de":"236\nOswald K\u00fclpe.\nhandlung in dem ersten Abschnitte der Miin st erb er g\u2019sehen Arbeit nicht geliefert zu sein. Ich wende mich nunmehr zu der wichtigen Frage nach dem Wesen des Willens als einer Bewusstseins-erscheinung. Dieser Frage ist der zweite Abschnitt gewidmet.\nIch habe oben bemerkt, dass M\u00fcnsterberg in doppeltem Sinne einen physiologischen Ausgangspunkt f\u00fcr seine Untersuchungen w\u00e4hle, und an zweiter Stelle dabei namhaft gemacht, dass er die Empfindung von einer bestimmten Qualit\u00e4t, Intensit\u00e4t und Gef\u00fchlsf\u00e4rbung als letzten Bestandtheil des Bewusstseins der modernen Psychologie gem\u00e4\u00df auffasse. Ich m\u00f6chte wissen, wer als Vertreter der letzteren eigentlich gemeint ist. Weder kann das Gesagte von Herbart und seiner Schule noch von Bain, weder von Lotze noch von Wundt gelten, und das sind Psychologen, die in erster Linie als moderne bezeichnet werden m\u00fcssen. Es scheint mir doch etwas billig, sich in dieser Weise sofort das Ergebniss seiner Untersuchung zu sichern. Ja, wenn die Frage nach dem Wesen des Willens nur darin best\u00e4nde die Empfindungen anzugeben, aus denen er sich zusammensetze, dann bedarf es freilich kaum mehr einer weitl\u00e4ufigen Arbeit. Wir haben bei keinem der bisher besprochenen Psychologen einen derartigen Ausgangspunkt gefunden. Ich darf denselben als physiologisch bezeichnen, weil er mir aus der Schwierigkeit entstanden zu sein scheint, welche eine physiologische Fixation des Willens als selbst\u00e4ndiger elementarer Function mit sich bringt. Aber von einem derartigen Vorurtheil die ganze Fragestellung beeinflussen zu lassen ist schlechthin unerlaubt. Die physiologische Grundlage oder Begleiterscheinung eines Bewusstseinsvorgangs anzugeben oder anzunehmen ist naturgem\u00e4\u00df stets das Secund\u00e4re und die genaue Analyse des unmittelbar Gegebenen erste Aufgabe der psychologischen Forschung.\nEs wird nun von M\u00fcnsterberg zun\u00e4chst die sich im Denken, Besinnen, Ueberlegen \u00e4u\u00dfernde innere Willensth\u00e4tigkeit betrachtet. Er findet den Unterschied zwischen der willk\u00fcrlichen und der unwillk\u00fcrlichen Vorstellungsbewegung darin, dass bei der ersteren \u00bbdem klaren Bewusstwerden der Vorstellung a ein anderer Bewusstseinszustand vorausging, der dem Inhalt nach auch schon die Vorstellung a enthielt.\u00ab Es stimmt diese Angabe mit dem \u00fcberein, was Drobisch, wie oben reproducirt wurde, \u00fcber die Natur des","page":236},{"file":"p0237.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n237\nVorsatzes bemerkt hat. In dieser richtigen Beobachtung kann doch sicherlich nicht die Veranlassung liegen, eine besondere Wirksamkeit des Willens zu verkennen, vielmehr wird sie auf das Nat\u00fcrlichste - durch eine solche, die sich ja deutlich in dem Bewusstsein innerer Th\u00e4jtigkeit kundgibt, erkl\u00e4rte Nun gesteht M\u00fcnsterberg selbst zu, dass- die Innervationsgef\u00fchle keine constanten Factoren der inneren Willensth\u00e4tigkeit sind. Aber diese komme uns, wo jene fehlen, gar nicht zum Bewusstsein, erst bei nachtr\u00e4glicher Reflexion ergebe sich, dass es wirklich Willensleistung war, und diese Erkennt-niss st\u00fctze sich \u00bbdann lediglich auf jenes wichtigste Kriterium, dass die Vorstellung schon im jedesmal vorangehenden Moment dem Inhalte nach im Bewusstsein gegeben war.\u00ab Dieser Behauptung liegt, glaube ich, ein Irrthum zu Grunde. Es kommt mir etwas zum Bewusstsein oder es wird mir etwas bewusst kann entweder hei\u00dfen : in meinem Bewusstsein geht etwas vor oder ich constatire durch Reflexion oder Subsumtion, dass etwas in demselben vorgeht. An dem Zustande selbst \u00e4ndert sich dadurch qualitativ gar nichts. Eine Freude kann man haben, ohne davon im zweiten Sinne zu wissen, aber auch bei ausdr\u00fccklicher Feststellung dieses Fhatbe-standes etwa durch das Wort Freude oder einen entsprechenden Satz. Diese zweifache Bedeutung haftet auch dem Begriff der inneren Wahrnehmung an und kann sich auf alle Bewusstseinserscheinungen beziehen. Da aber vielleicht ein nebenher gehendes Reflectiren oder Constatiren den betreffenden Vorgang ver\u00e4ndern, wenigstens abschw\u00e4chen k\u00f6nnte, so sind wir bei psychologischen Beobachtungen vielfach auf die Erinnerung als Quelle angewiesen. Nun kann man gewiss nicht meinen, dass wir uns einer Willensth\u00e4tigkeit jedesmal bewusst werden, wenn sich Innervationsempfindungen zeigen, und niemals, wenn dieselben fehlen. Daraus ist abzuleiten, dass \u00fcber das Vorhandensein besonderer Willensth\u00e4tigkeit aus jenem von M\u00fcnsterberg ausgesprochenen Urtheil eine bestimmte Ansicht nicht zu gewinnen ist. Ich kann daher das Resultat, womit die Analyse der inneren Willenswirksamkeit schlie\u00dft, dass Vorstellungsreihen bestimmter Art und Innervationsgef\u00fchle den inneren Willen zusammensetzen, durchaus nicht begr\u00fcndet finden.\nAls unzureichend erweist sich diese Ansicht aber aus Folgendem. Es darf als feststehend gelten, dass die mannigfaltigsten","page":237},{"file":"p0238.txt","language":"de","ocr_de":"238\nOswald K\u00fclpe.\nund complicirtesten Zust\u00e4nde unmittelbar gegeben und die einfachen Begriffe der Empfindung, des Gef\u00fchls und Strebens erst die elementaren Resultate einer durch das Experiment vielleicht unterst\u00fctzten logischen Operation sind. Dieselbe ist haupts\u00e4chlich eine pr\u00fcfende Vergleichung der verschiedenen Complexe. Ich behaupte, dass das Bewusstsein innerer Th\u00e4tigkeit alle Willens\u00e4u\u00dferungen gegen\u00fcber den unwillk\u00fcrlichen begleitet und dass man weder in den Wirkungen des Willens noch in den keineswegs con-stanten Innervationsempfindungen das Wesen des Willens zu erkennen berechtigt ist. Als eine Wirkung des Willens ist aber das oben angegebene Merkmal der willk\u00fcrlichen Vorstellungsbewegung zu betrachten. Einmal deshalb, weil wir sonst gen\u00f6thigt w\u00e4ren den Unterschied zwischen beiden Vorstellungsbewegungen f\u00fcr einen rein zuf\u00e4lligen zu. erkl\u00e4ren, d. h. \u00fcberhaupt auf jede Erkl\u00e4rung desselben zu verzichten. Sodann aber auch deshalb, weil wir in dem Bewusstsein innerer Th\u00e4tigkeit, -welches wir bei jeder Willens-th\u00e4tigkeit in uns finden, dasjenige haben, wonach wir bei der Feststellung jenes Unterschiedes suchen. Die Innervationsempfindungen sind lediglich ein Ma\u00dfstab f\u00fcr die Intensit\u00e4t des Willens, ganz ebenso wie bei einer Wahlhandlung das Vorhandensein mehrerer Motive, denen wir eine gewisse Kraft zuschreiben, unser Urtheil \u00fcber die aufgewandte Willensst\u00e4rke leitet. Endlich aber ist noch ein wichtiger Umstand zu erw\u00e4hnen, n\u00e4mlich, dass nicht alle innere Willensth\u00e4tigkeit dem von M\u00fcnsterberg angegebenen Schema sich unterordnet. Setzen wir den einfachen Fall einer unsere Aufmerksamkeit erregenden Vorstellung. Unzweifelhaft ist hier abgesehen von Spannungsempfindungen das Bewusstsein einer inneren Th\u00e4tigkeit vorhanden, aber dieselbe Vorstellung kann in meinem Bewusstsein gegeben sein, ohne dass sich jenes mit ihr verbindet. Dieser Fall subsumirt sich nicht dem von M\u00fcnsterberg angenommenen Unterschiede zwischen unwillk\u00fcrlicher und willk\u00fcrlicher Vorstellungshewegung. Wir sehen also, dass dieser letztere nicht auf alle innere willk\u00fcrliche Th\u00e4tigkeit bezogen werden und dass er demgem\u00e4\u00df nur die angegebene Bedeutung besitzen kann, eine Wirkung des Willens zu repr\u00e4sentiren.\nEine Frage ist f\u00fcr M\u00fcnsterberg noch \u00fcbrig geblieben, diejenige nach dem Wesen der Innervationsempfindungen./Dieselbe","page":238},{"file":"p0239.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n239\nl\u00e4sst sich nicht erledigen ohne eine Pr\u00fcfung der \u00e4u\u00dferen Willenshandlung: \u00bbWelche Erscheinungen treten in unser Bewusstsein, wenn wir eine \u00e4u\u00dfere Willenshandlung ausfiihren, also unsere Muskeln contrahiren?\u00ab Auch hier scheint mir die Frage von vornherein schief gestellt zu sein. Die Handlung oder die Contraction betrachte ich als gewollt, aber nicht als Theil oder Wesen des Willens. Daher kann ich auch diejenigen Empfindungen, welche eine Muskel-contraction begleiten, nicht als Willenselemente auffassen. Das was denselben vorausgeht, bildet das eigentliche Problem und die Frage hat somit zu lauten: Was ereignet sich in unserem Bewusstsein, wenn wir handeln, unsere Muskeln contrahiren wollen? Es ist daher nicht zweifelhaft, dass die folgenden Auseinandersetzungen uns das Wesen der \u00e4u\u00dferen Willenshandlung nur unvollkommen oder eigentlich gar nicht klar machen werden, falls sie nicht von dem offenbaren Sinn jener Fragestellung unbemerkt abweichen.\nDies geschieht auch : die Untersuchung widmet sich ausschlie\u00dflich den einer Bewegung oder Contraction vorausgehenden Innervationsempfindungen. Dieselben werden entsprechend der von Wundt1) vertretenen Ansicht als reproducirte Bewegungsempfindungen bestimmt, und diese. Meinung wird durch eine Anzahl wichtiger Gr\u00fcnde gest\u00fctzt. Damit glaubt M\u00fcnsterberg bereits die Frage nach dem psychologischen Wesen der \u00e4u\u00dferen Willenshandlung erledigt zu haben. Aber woher kommt es denn, dass durchaus nicht immer Bewegungsvorstellungen die entsprechenden Bewegungen zur Folge haben? M\u00fcnsterberg sagt, ein st\u00e4rkerer Impuls hemme ihre Wirksamkeit. Worin besteht nun dieser Impuls? Darauf erhalten wir keine Antwort, und doch geh\u00f6rte das zweifellos zu der hier behandelten Aufgabe. Es reducirt sich dergestalt der Grundgedanke von M\u00fcnsterberg\u2019s Ausf\u00fchrungen auf die von Spencer und Steinthal aufgestellte Behauptung, und es lassen sich gegen sie dieselben Einw\u00e4nde auf Grund der Thatsachen geltend machen, wie gegen jene.\nAls letzte Best\u00e4tigung seiner Ansicht, dass der Wille Vorstellung ist, wird von M\u00fcnsterberg diejenige Handlung betrachtet, welche auf die Erreichung eines ^u\u00dferen Effectes gerichtet ist. Hier\n1) Physiolog. Psychologie I3 404.","page":239},{"file":"p0240.txt","language":"de","ocr_de":"240\nOswald K\u00fclpe.\nsei die vorangehende Motivwahl nicht zur Willenshandlung zu rechnen, vielmehr nur die Vorstellung eines Zweckes und die Wahrnehmung seiner Erreichung. Die Instincthandlung, welche jener entbehre, sei nicht durch den Begriff eines unbewussten Willens in die hier behandelte Thatsachenreihe hineinzubringen, und die eindeutig bestimmte Handlung k\u00f6nne als Triebhandlung bezeichnet werden. Daran kn\u00fcpfen sich Bemerkungen \u00fcber die Begriffe W\u00fcnsch, Begierde, Vorsatz, Entschluss und \u00fcber die psychische Causalit\u00e4t. Jenen wird eine mehr oder weniger theoretische Bedeutung beigelegt, diese als ein unvollziehbarer Begriff abgelehnt. Auch diesem letzten Theile der psychologischen Analyse habe ich entgegenzuhalten, dass sie uns nur mit Leistungen, aber nicht mit dem Wesen des Willens bekannt maclit. Die Vorstellung eines \u00e4u\u00dferen Effectes wird nur dann zum Zweck, also zum Ursprung einer Bewegungsreihe, wenn sie appercipirt wird, wenn ihr also vor anderen m\u00f6glichen Vorstellungen aus irgend welchem Grunde die besondere Gunst des Bewusstseins zu Theil wird. Und dass hierin eine Wil-lensth\u00e4tigkeit zu erkennen, scheint mir unzweifelhaft. Die Wahrnehmung eines erreichten Effects ist selbstverst\u00e4ndlich erst eine Folge der Bewegung selbst, daher erst recht nicht bei der Frage nach der Natur des Willens von Bedeutung.\nDer letzte Abschnitt besch\u00e4ftigt sich mit der Aufgabe, eine psychophysische Theorie f\u00fcr die beiden dargestellten Erscheinungsreihen zu finden. Aus den thats\u00e4chlichen Wechselbeziehungen zwischen der Seelen- und der K\u00f6rperwelt, die man nicht als zuf\u00e4llig ansehen d\u00fcrfe, erwachse die Aufforderung, eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr diese bekannte Erscheinung zu liefern. Nun sei dabei von der er-kenntnisstheoretischen und der metaphysischen Betrachtung v\u00f6llig abzusehen und ausschlie\u00dflich eine einfache psychophysische Theorie zu suchen, welche den n\u00e4chstliegenden wissenschaftlichen Bed\u00fcrfnissen Gen\u00fcge leistet. Von diesem Standpunkte ist die Annahme einer pr\u00e4stabilirten Harmonie aufzugeben, denn sie erkl\u00e4rt ein Problem durch ein anderes. Aber auch die spiritualistische Hypothese ist unangemessen. Denn erstlich ist das psychische Geschehen nicht l\u00fcckenlos und zweitens unterliegt es nicht der causalen Betrachtung, so dass uns jeder neue Zustand als eine nothwendige Folge des vorhergehenden erschiene. Endlich aber w\u00fcrde, selbst wenn diese","page":240},{"file":"p0241.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n241\nM\u00e4ngel hinweggedacht werden, das Vorhandensein eines anderen Bewusstseins au\u00dfer dem unsrigen unter jener Voraussetzung eine unm\u00f6gliche Annahme bilden. So bleibt also als psychophysische Hypothese einzig die Ansicht \u00fcbrig, \u00bb dass die Reihenfolge der Bewusstseinserscheinungen bedingt sei durch den gesetzm\u00e4\u00dfigen Ablauf des materiellen Geschehens.\u00ab /Es l\u00e4sst sich dann die specielle Frage der Willenstheorie in folgender Form stellen: \u00bbWelche Erregungen des Centralnervensystems m\u00fcssen ablaufen, damit die dabei innerlich auftauchenden Empfindungen sich zur psychischen Willenshandlung combiniren?\u00ab Nun ist der Wille ein Empfindungs-complex, folglich wird auch seine materielle Bedingung in den sensorischen Centren zu suchen sein. Empfindung und Vorstellung sind an die n\u00e4mliche materielle Grundlage gekn\u00fcpft, da sie sich blos der Intensit\u00e4t nach unterscheiden. Also wird auch die eine Willenshandlung einleitende BewegungsVorstellung ebenda ihren Sitz haben, wo die Bewegungsempfindungen des Muskel- und Tastsinns entstanden sind. Ferner ist die Annahme isolirter motorischer Centren \u00fcberfl\u00fcssig und durch die andere zu ersetzen, dass in jedem Rindenganglion eine sensorische und eine motorische Bahn m\u00fcndet resp. ihren Ursprung nimmt. Vergegenw\u00e4rtigt man sich endlich das Resultat der physiologischen Er\u00f6rterungen, wonach die Willens-h\u00e4ndlung als ein Reflex aufgefasst werden d\u00fcrfe, so wird man sich einen Reflexbogen durch jedes Rindenganglion oonstruiren k\u00f6nnen. Ein solcher Bogen, der nur durch die Mitwirkung zahlreicher asso-ciativ verkn\u00fcpfter Erregungen, besonders der Summe jener Vorstellungen, die das Ich repr\u00e4sentiren, eine mannigfaltige Complication erfahren kann, ist thats\u00e4chlich in der Willenshandlung zu erkennen. Nur eins bedarf hierbei noch der Erkl\u00e4rung, n\u00e4mlich die Bedeutung der Bewegungsvorstellung. Wir haben sie uns als eine associativ entstandene Begleiterscheinung der Willenshandlung zu denken, welche deshalb der Bewegung vorausgeht, weil die von dem Ganglion fortschreitende Erregung in k\u00fcrzerer Zeit zu dem Sitze jener, als zu den Muskeln gelangt./ Die Entwicklung automatischer aus willk\u00fcrlichen Bewegungen legt endlich die Vermuthung nahe, dass der durch die Rinde gehende Reflexbogen sich fr\u00fcher ausbilde, als der durch die subcorticalen Centren verlaufende. Der letztere entsteht dadurch, dass sich zwischen den im ganzen Verlauf der","page":241},{"file":"p0242.txt","language":"de","ocr_de":"242\nOswald K\u00fclpe.\ncentralen Faserung befindlichen sensiblen und motorischen Zwischenstationen Verbindungsbahnen geringeren Widerstandes entwickeln. Zum Schluss wird nochmals ausdr\u00fccklich darauf hingewiesen, dass in dieser psychophysischen Theorie weder erkenntnisstheoretische noch metaphysische Gesichtspunkte Eingang gefunden haben und daher auch nicht f\u00fcr die Beurtheilung derselben geltend gemacht werden d\u00fcrfen. In dem Urgrund der Willenshandlung ruhe das tiefste R\u00e4thsel des Daseins metaphysisch betrachtet, psychophysisch aber bringe sie uns dem Problem des Lebens keinen Schritt n\u00e4her.\nNur Weniges m\u00f6chte ich hierzu bemerken, da das Resultat fr\u00fcherer Er\u00f6rterungen ja auch auf die hier entwickelte Theorie Anwendung findet. Ichhatte hervorgehoben, dass eine Willenshandlurig durchaus nicht immer centripetalen Erregungen ihren Ursprung verdanke, dieselben also f\u00fcr sie keineswegs charakteristisch seien, und daher der Name Reflex als ein die Sachlage mehr verdunkelnder als aufkl\u00e4render abgelehnt werden m\u00fcsste. Ich kann deshalb auch die an Ansichten von Munk und Meynert anschlie\u00dfende Vermuthung, dass jede Willenshandlung einen Reflexbogen durch die Rinde darstelle, nicht wahrscheinlich finden. Ferner scheint mir die Annahme, dass dieser Reflex zuerst in Th\u00e4tigkeit gerathe und darnach erst die subcorti-calen, den Thatsachen der individuellen Entwicklungsgeschichte zu widersprechen (vgl. Flechsig). Sodann verstehe ich die Rolle nicht, welche in der Theorie der Bewegungsvorstellung zugetheilt ist. W\u00e4hrend dieselbe als das den Willen psychologisch Consti-tuirende dargestellt wurde, wird sie hier zu einer durch centripetale Erregungen entstandenen Begleiterscheinung der Willenshandlungen. Mindestens die erste derselben muss also, wenn wir mit der eben erw\u00e4hnten Entwicklungsansicht Ernst machen, ohne diese Begleitung im Bewusstsein vor sich gehen. Das hei\u00dft aber nichts anderes, als dass von einer Willenshandlung auch abgesehen von einer Bewusstseinserscheinung die Rede sein k\u00f6nne. Aber damit wird nicht nur der Sachverhalt verdeckt, sondern auch die eigene Meinung M\u00fcn-sterberg\u2019s von der psychologischen Bedeutung des Willens nicht verwerthet. Die vorausgehende Bewegungsvorstellung ist f\u00fcr unsere Erfahrung die Bedingung der \u00e4u\u00dferen Willenshandlung, d. h. diejenige centrale Erregung, welche derselben correspondirt, ist die Ursache f\u00fcr den motorischen Effect. In den psychologischen","page":242},{"file":"p0243.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t243\nEr\u00f6rterungen M\u00fcnsterberg\u2019s lag kein Grund vor, die Bewegungsvorstellung als unwesentliche Begleiterscheinung aufzufassen. Es hat also hier abermals der physiologische Gesichtspunkt' die Theorie in einseitiger Weise beeinflusst.\nEndlich scheint mir die allgemeine Theorie, wonach die Bewusstseinserscheinungen durch materielle \\ org\u00e4nge, insbesondere die molecularen Processe im Gehirn bedingt sind, nicht ohne Bedenken. Wer in der Erkenntnisstheorie und Metaphysik einen Luxus sieht, den sich nur die Philosophen erlauben d\u00fcrfen, wird in jener Anschauung den Ausdruck der ihm \u00fcberhaupt erreichbaren Wahrheit finden und sich zum Materialismus bekennen. Gewiss ist das nicht M\u00fcnsterberg\u2019s Meinung. Aber es fragt sich doch sehr, ob wirklich jene Theorie die nat\u00fcrlichste Consequenz der Thatsachen bildet. W\u00fcrde unser Bewusstsein eine ununterbrochene Continuit\u00e4t darstellen, so w\u00e4re die Frage nach einer Ursache f\u00fcr seine einzelnen Erscheinungen, die au\u00dferhalb des Bewusstseins l\u00e4ge, gar nicht aufgeworfen worden. Die L\u00fccken, welche uns die Erfahrung in demselben aufweist, veranlassen -uns eine Erkl\u00e4rung f\u00fcr das Beginnen und Schwinden unserer inneren Vorg\u00e4nge zu suchen. Eine solche Erkl\u00e4rung, die also die Entstehung des Bewusstseins zum Object hat, muss metaphysischer Natur sein, weil die Inhalte desselben das letzte erfahrungsm\u00e4\u00dfig Gegebene bilden. Die physiologische Psychologie hat nicht die Aufgabe dieses Problem zu l\u00f6sen, sie wird sich damit begn\u00fcgen d\u00fcrfen und m\u00fcssen, gesetzm\u00e4\u00dfige Beziehungen zwischen physischen und psychischen Erscheinungen aufzufinden, und es allgemeineren Untersuchungen \u00fcberlassen die Natur derselben festzustellen. Deshalb ist der Name Parallelismus die einfachste und zugleich inhaltsleerste Bezeichnung f\u00fcr solche Beziehungen in dem Rahmen der physiologischen Psychologie. Spricht man dagegen schon von Bedingungen oder Ursachen des psychischen Geschehens, so bestimmt man sofort das Verh\u00e4ltniss beider Erscheinungsreihen in eindeutiger Weise, und die weiteste metaphysische Perspective kann nichts daran \u00e4ndern, dass damit ein klarer Schritt in die Metaphysik hinein gethan ist. Und es wird nicht recht begreiflich, wie gerade in der Willenshandlung, welche ihrer Eigent\u00fcmlichkeit sowohl nach der physiologischen, wie nach der psychologischen Seite hin entkleidet worden ist, das tiefste R\u00e4thsel des\nWundt, PhiMfc Studien. V.\t17","page":243},{"file":"p0244.txt","language":"de","ocr_de":"244\tOswald K\u00fclpe. Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\nDaseins ruhen soll. Die Metaphysik kann eine psychologische Theorie tiefer begr\u00fcnden, darf aber nicht ein derselben widersprechendes Resultat ergehen1).\nIch schlie\u00dfe damit meine Behandlung der M\u00fcns terberg\u2019schen Ansicht und den ersten Abschnitt meiner Arbeit. Auch der physiologische Ausgangspunkt mit seiner Auffassung des Willens als Vorstellung hat sich weder recht begr\u00fcndet noch den Thatsachen gen\u00fcgend erwiesen. Im Allgemeinen aber k\u00f6nnen wir eine intellec-tualistische Tendenz in den negativen Willenstheorien constatiren : die Vorstellung wird in der Theorie des geistigen Geschehens in eigenth\u00fcmlicher Weise bevorzugt.\n1) Man vergl. zu der Ansicht, dass die Willenshandlung als ein complicirter Reflex aufzufassen sei, und zu der psychophysischen Theorie die entsprechenden Aeu\u00dferungen von F. A. Lange: Gesch. d. Materialismus 3. Aufl. II S. 358. 396 ff.\n(Schluss folgt im n\u00e4chsten Hefte.)","page":244}],"identifier":"lit4161","issued":"1889","language":"de","pages":"179-244","startpages":"179","title":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie, I","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:35:49.935969+00:00"}