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{"created":"2022-01-31T12:36:42.874700+00:00","id":"lit4166","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"K\u00fclpe, Oswald","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 381-446","fulltext":[{"file":"p0381.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\nKritisch er\u00f6rtert von\nOswald Ktilpe.\n(Schluss.)\nB. Die positiven Willenstlieorien.\nDie Betrachtungen des vorigen Abschnitts haben, wie ich glaube, zu dem allgemeinen Ergehniss gef\u00fchrt, dass die bisher besprochenen Theorien den Thatsachen der inneren Erfahrung nicht gerecht werden. Der Grund hierf\u00fcr war erkennbar in den metaphysischen, logischen, genetischen oder physiologischen Voraussetzungen, welche mehr oder weniger bestimmenden Einfluss auf die Beurtheilung des Gegebenen \u00fcbten. Daraus folgt nicht, dass f\u00fcr die Vertreter der nun zu behandelnden Ansichten solche Einfl\u00fcsse keine Bedeutung gehabt haben. Aber dass die unmittelbare innere Erfahrung ihnen die wichtigste Quelle ihrer Ansichten gewesen, wird man behaupten d\u00fcrfen. Einer Gruppe hier logisch zu subsumirender Meinungen k\u00f6nnte man diese Quelle abzusprechen geneigt sein, n\u00e4mlich jenen, welche eine unbewusste Realit\u00e4t des Willens, wie Schopenhauer, vertreten. Diese w\u00fcrden innerhalb der positiven Theorien etwa die Rolle jener relativen spielen, die uns im vorigen Abschnitt besch\u00e4ftigt haben. Aber ich wei\u00df keinen Psychologen, welcher bei Ablehnung der elementaren Bedeutung des Willens im Bewusstsein einen unbewussten Willen gefordert und darauf eine Theorie geistigen Lebens gegr\u00fcndet h\u00e4tte. Und das ist begreiflich genug. Denn der eigenth\u00fcmliche Inhalt des Willensbegriffes verfl\u00fcchtigt","page":381},{"file":"p0382.txt","language":"de","ocr_de":"382\nOswald K\u00fclpe.\nsich zu einer undeutlichen Abstraction, wenn man ihn im Sinne einer psychischen Causalit\u00e4t oder Kraft \u00fcberhaupt gebraucht. Von einem modernen Psychologen darf man einen derartigen R\u00fcckfall in alte psychologische Unwissenschaftlichkeit nicht erwarten. Ich muss es mir versagen, auf solche Anschauungen n\u00e4her einzugehen. Immerhin scheint mir auch bei ihnen die innere Erfahrung Ursprung und Schl\u00fcssel ihrer Speculationen zu sein, denn der bewusste Willensact bildet die Grundlage f\u00fcr solche metaphysische Erweiterung seiner Bedeutung.\nAls Repr\u00e4sentanten der unbewussten Realit\u00e4t des Willens m\u00f6chte ich nur G\u00f6ring hier namhaft machen, weil er mit psychologischen Gr\u00fcnden und ohne Einfluss metaphysischer Voraussetzungen dieselbe vertreten hat1). Er meint, dass Gef\u00fchle die Bewusstseinserscheinung des Willens bilden, dass aber letzterer nicht eine besondere, neben Vorstellung und Gef\u00fchl erkennbare bewusste Existenz besitzt. Diese Ansicht st\u00fctzt er streng genommen nur auf drei Punk'te : erstlich auf die Erfahrungstatsache, dass man sich \u00fcber seinen Willen t\u00e4uschen k\u00f6nne, was nicht m\u00f6glich w\u00e4re, wenn er in unmittelbarer W\u00e8ise wahrgenommen w\u00fcrde; zweitens auf eine Anzahl von Beobachtungen des gew\u00f6hnlichen Lebens, welche die Anerkennung der Priorit\u00e4t des Willens oder seiner untersten Stufe, des Triebes, enthalten sollen; drittens auf die von Kuss ma ul mitgetheilten Erfahrungen \u00fcber die psychische Entwicklung des Neugeborenen. Der erste Grund ergibt aber durchaus nichts, was nicht f\u00fcr Vorstellungen und Gef\u00fchle ebenso g\u00e4lte. Denn genauer besehen, t\u00e4uschen wir uns nicht sowohl dar\u00fcber, ob wir wollen, sondern vielmehr dar\u00fcber, was wir wollen. Dann sind aber Vorstellungen und Gef\u00fchle, welche den Inhalt des Willens ausmachen, mindestens ebenso sehr der T\u00e4uschung unterworfen, wie der Wille selbst. Andererseits muss aber streng unterschieden werden zwischen dem Irrthum, den der Psycholog bei der Feststellung psychischer Thatbest\u00e4nde, vor allem der Elementarph\u00e4nomene begeht, und demjenigen, welchem wir im gew\u00f6hnlichen Leben als erwartende, hoffende, f\u00fcrchtende, erinnernde Wesen unterliegen. In jener Beziehung ist aber bekanntlich eine besondere Classe \u00bbGef\u00fchle\u00ab lange \u00a3eit nicht aner-\n1) System der kritischen Philosophie I S. 60 ff.","page":382},{"file":"p0383.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t383\nkannt worden. Und diese Thatsache begreift sich, weil uns f\u00fcr gew\u00f6hnlich eben nur complicirte psychische Acte gegeben sind und die analysirende Behandlung derselben leicht fehlgreifen kann.\nWas den zweiten Punkt anbetrifft, so scheint mir eine ungen\u00fcgende Auffassung des Triebes den Grund f\u00fcr alle Folgerungen aus einzelnen Beobachtungen zu bilden. Wenn G\u00f6ring z. B. meint, dass wir Gef\u00fchle dadurch am leichtesten beseitigen, dass wir die sie verursachenden Triebe aufheben oder bek\u00e4mpfen, so kann man mit gleichem Recht behaupten, dass wir die Triebe am wirksamsten vertreiben, wenn wir die ihnen zu Grunde liegenden unangenehmen Empfindungen irgendwie fortschaffen. Was ist aber au\u00dferdem ein Trieb, wenn nicht eine aus einem Unbehagen hervorgehende innere und \u00e4u\u00dfere Bewegung? Was ist z. B. der Nahrungstrieb ohne die Hungerempfindung und der Geselligkeitstrieb ohne die qu\u00e4lende Empfindung des Alleinseins? Wie in allem diesem ein unbewusster Trieb sich als eigentlicher Grund soll geltend machen k\u00f6nnen, ist mir unverst\u00e4ndlich. Auch die Beurtheilung der an Neugeborenen constatirten Thatsachen f\u00fchrt zu keinem anderen Resultat. Denn abgesehen davon, dass diese Beurtheilung schwer und mittelbar ist, also nicht den gleichen Erkenntnisswerth besitzt, wie die aus der unmittelbaren inneren Wahrnehmung gesch\u00f6pften Erfahrungen, so ist doch dasjenige, was wir im Kinde als Trieb bezeichnen und aus seinen Bewegungen erschlie\u00dfen, olfen-bar als ein complicirtes, d. h. als ein in einzelne Sondervorg\u00e4nge noch wenig oder gar nicht geschiedenes Ph\u00e4nomen anzusehen, in dem mit einem unbestimmten Empfindungs- und Gef\u00fchlsact ein Willensact untrennbar verschmolzen ist. Die gleiche Realit\u00e4t im Bewusstsein ist daher diesem wie jenem zuzuerkennen.\nAls positive Willenstheorien sehe ich alle diejenigen an, welche die elementare Selbst\u00e4ndigkeit des Willens annehmen. Nachdem ich die Vertreter eines unbewussten Willens insoweit von meiner Untersuchung ausgeschlossen habe, als sie rein metaphysische Tendenzen verfolgen, bleibt mir als Eintheilungsgrund nur folgender \u00fcbrig. Man kann n\u00e4mlich das Elementarph\u00e4nomen Wille den anderen elementaren Bewusstseinsvorg\u00e4ngen in der Weise coordiniren, dass jenem nur ein sehr beschr\u00e4nkter Einfluss auf das innere und \u00e4u\u00dfere Geschehen zugestanden wird, oder demselben eine umfassende","page":383},{"file":"p0384.txt","language":"de","ocr_de":"384\nOswald K\u00fclpe.\nBedeutung f\u00fcr dieses beilegen. Auch der Begriff des Willens wird in beiden F\u00e4llen verschieden sein, und zwar ist der Umfang desselben im letzteren Falle gr\u00f6\u00dfer, als im ersteren. Ich werde daher die beiden Hauptgruppen des vorliegenden Abschnittes unter den Titeln des engeren und des weiteren Willensbegriffs abhandeln d\u00fcrfen.\nI. Der engere Begriff des Willens.\nUnsere Kritik der negativen Theorien forderte in erster Linie die Anerkennung eines selbst\u00e4ndigen Willenselements innerhalb der Bewusstseinserscheinungen und die klare Ber\u00fccksichtigung desselben innerhalb der Theorie des geistigen Geschehens. Beide Postulate d\u00fcrfen wir hier als erf\u00fcllt ansehen, der Wille wird den Vorstellungen und Gef\u00fchlen coordinirt und findet seine eigenth\u00fcmliche Stelle unter den wirksamen Factoren des seelischen Lebens. Hier erhebt sich daher eine andere pr\u00fcfende Frage, n\u00e4mlich nach dem empirischen Wesen des Willens und nach dem entsprechenden Einfluss desselben auf das psychische Geschehen. In verschiedener Weise lautet die Antwort auf diese Frage: von Lotze wird die Bedeutung des Willens in den Entschluss oder die Entscheidung verlegt, von Bain in eine von Gef\u00fchlen der Lust und Unlust geleitete Spontaneit\u00e4t, und Ribot vertritt eine mittlere Ansicht, indem er einerseits den Entschluss, andererseits eine urspr\u00fcngliche Reactionsform lebender Materie als Wollen anspricht. Er bildet auf diese Weise den Uebergang zu der zweiten Gruppe und erinnert zugleich an die relativ negirenden Richtungen, indem er die positive Wirksamkeit des entscheidenden Willens zum blo\u00dfen Symbol oder Kriterium verfl\u00fcchtigt.\n1. Der Wille als Entschluss.\nDie moderne Psychologie verdankt Lotze ihre erste scharfsinnige und umfassende Verbindung mit der Physiologie. Seine Ueberzeugung von der allgemeinen Geltung der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, des Mechanismus im Geschehen der Welt erm\u00f6glichte ihm eine unbefangene Beobachtung des Gegebenen und eine strenge Bearbeitung des Erfahrungsgebietes. Daneben hatte er das eigentlich Werthvolle in ethischen und metaphysischen Ueberlegungen gesichert, welche sich mit jener mechanischen Weltansicht vertragen sollten. Nirgends konnte jedoch ein Conflict dieser beiden Richtungen seines","page":384},{"file":"p0385.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n385\nGeistes leichter erfolgen, als in der Psychologie, zumal in einer physiologischen. Der Zusammenhang mit der \u00e4lteren Auffassung der Psychologie, wonach sie einen rationalen und empirischen Theil habe, ist bei Lotze noch deutlich erkennbar, indem er seine Medicinische Psychologie mit metaphysischen Er\u00f6rterungen beginnt. Die moderne physiologische Psychologie betrachtet sich ganz als empirische Wissenschaft, indem sie auf die Voranstellung metaphysischer Hypothesen \u00fcber das Wesen der Seele und ihre Beziehung zum K\u00f6rper verzichtet.\nAuch Herb art sprach von der Wirkung des K\u00f6rpers auf die Th\u00e4tigkeiten der Seele, aber ohne genauer darauf einzugehen, und in einer Beschr\u00e4nkung derselben auf drei Punkte: den Druck des \u25a0 Leibes, seine Resonanz und seine Mitwirkung beim Handeln. Bei Lotze finden wir das physiologische Moment in st\u00e4rkerem und breiterem Ma\u00dfe betont, aber auch er war noch von dem Gedanken eines durchg\u00e4ngigen Parallelismus des physischen und geistigen Geschehens entfernt. Die Herrschaft dieser Idee charakterisirt nun gerade die moderne physiologische Psychologie. Die metaphysischen Grundlagen sind bei Herb art sehr specieller Art, sie erstrecken sich bis auf die einzelnen psychischen Vorg\u00e4nge; bei Lotze sind sie allgemeiner Natur, behandeln nur Wesen und Sitz der . Seele und das Problem der Wechselwirkung mit dem K\u00f6rper. Nur in einer Frage, welche allerdings die Psychologie offen lassen soll, zeigt sich der \u00fcbergreifende Einfluss der Ethik und Metaphysik, n\u00e4mlich bei dem Freiheitsproblem. Die Idee des allgemeinen Mechanismus verlangte auch hier ihre volle Geltung, ein freier, sich selbst bestimmender Wille steht in offenbarem Widerspruch zu der Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit, welche die ausnahmslose Form allen Wirkens und Geschehens bildeii soll. Der Begriff der Freiheit aber zeigt sich so nahe mit demjenigen des Willens bei Lotze verkn\u00fcpft, dass wir unmittelbar der Bestimmung desselben uns zuwenden d\u00fcrfen.\n/Die alte Dreiheit seelischer Verm\u00f6gen wird von Lotze vertreten1). Doch meint er damit nicht, \u00bbdass Vorstellen, Gef\u00fchl und Wille als drei unabh\u00e4ngige Entwicklungsreihen mit geschiedenen Wurzeln entspringend sich in den Boden der Seele theilen, und, jede f\u00fcr sich fortwachsend, nur mit ihren letzten Verzweigungen\n1) Mikrokosmus I4 199 ff.","page":385},{"file":"p0386.txt","language":"de","ocr_de":"386\nOswald Kiilpe.\nsich zu mannigfachen Wechselwirkungen ber\u00fchren.\u00ab Vielmehr sind meist \u00bbEreignisse des Vorstellungslaufes, die Ankn\u00fcpfungspunkte der Gef\u00fchle\u00ab, und aus diesen pflegen sich begehrende und absto\u00dfende Strebungen zu entwickeln. Aber damit kann nur angedeutet sein, dass jene psychischen Acte Anlass oder Gelegenheit f\u00fcr die Seele werden, neue, etwa den Willen, zu erzeugen. / Denn in den Vorstellungen f\u00fcr sich liegt nichts, was mit Noth Wendigkeit Gef\u00fchle zur Folge h\u00e4tte, und in diesen nichts, was Strebungen unmittelbar hervorriefe.\nDie eigenth\u00fcmliche Bedeutung desWollens1) ist wohl zu unterscheiden von dem Wissen, dass ich handle, und von dem Glauben, dass ich handeln werde, desgleichen von den sinnlichen Trieben und der F\u00fclle gewohnheitsm\u00e4\u00dfiger Handlungen, die uns au\u00dfer Vorstellungen und Gef\u00fchlen kein eigenartiges Element darbieten/\u00bb Nur da sind wir \u00fcberzeugt, es mit einer That des Willens zu thun zu haben, wo in deutlichem Bewusstsein jene Triebe, die zu einer Handlung dr\u00e4ngen, wahrgenommen werden, die Entscheidung dar\u00fcber jedoch, ob ihnen gefolgt werden soll oder nicht, erst gesucht und nicht der eigenen Gewalt dieser dr\u00e4ngenden Motive, sondern der bestimmenden freien Wahl des von ihnen nicht abh\u00e4ngigen Geistes \u00fcberlassen wird.\u00ab\nDer Wille erweist sich demnach nur in verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig seltenen F\u00e4llen wirksam, wir d\u00fcrfen nur da von ihm reden, wo eine Wahl, ein Entschluss stattfindet. Seine Bedeutung f\u00fcr das innere und \u00e4u\u00dfere Geschehen wird sich daher folgenderma\u00dfen bestimmen lassen. Sind uns mehrere Vorstellungen mit entsprechenden Gef\u00fchlen gegeben, so besteht das Wollen in einer klaren Bevorzugung oder Billigung einer von ihnen, und diese hat dann ihrerseits alle diejenigen Zust\u00e4nde oder Bewegungen zur Folge, welche sich mit einer vom Willen unabh\u00e4ngigen Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit an sie kn\u00fcpfen. Eine \u00e4u\u00dfere Willenshandlung w\u00e4re also ausschlie\u00dflich da zu con-statiren, wo unter verschiedenen m\u00f6glichen Bewegungsvorstellungen durch die freie Wahl des Willens eine zur Geltung gebracht wird oder gebracht worden ist. -\nIch meine, dass hier nur ein Doppeltes m\u00f6glich ist: entweder ist der Entschluss, in welchem Lotze die eigentliche That des\n1) Medicin. Psych. 300 ff. Mikrokosmus I 286 ff.","page":386},{"file":"p0387.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t387\nWillens sieht, ein complicirter Act, oder er bildet nichts der Wahlhandlung Eigenth\u00fcmliches und muss demgem\u00e4\u00df auf eine Reihe anderer Erscheinungen ausgedehnt werden. Die freie Wahl des Geistes kann z. B. nach der Erfahrung als vern\u00fcnftige Ueberlegung aufgefasst und dann als eine Folge complicirter Vorg\u00e4nge angesehen werden. Das kann offenbar Lotze\u2019s Meinung nicht sein, da er allen m\u00f6glichen Inhalt des Wollens durch den unwillk\u00fcrlichen Verlauf der Vorstellungen und Gef\u00fchle herbeigef\u00fchrt werden l\u00e4sst und dem Willen die Freiheit unbeschr\u00e4nkter Wahl zwischen dem zuweist, was ihm von dorther geboten wird. Ist aber W\u00e4hlen demgem\u00e4\u00df nicht soviel wie Erw\u00e4gen, Ueberlegen, dann w\u00fcsste ich nicht, worin der entscheidende Impuls der Wahlhandlung sich qualitativ unterschiede vpp.N demjenigen , welchen wir hei den von Wundt sog. eindeutig bestimmten Willenshandlungen in uns wahrnehmen. Die Gr\u00f6\u00dfe des Impulses mag dort vorher oder nachher deutlicher bewusst werden, weil der Kampf der Motive unsere Willensleistung zu verst\u00e4rken scheint. Aber die gleiche innere Th\u00e4tigkeit wird uns in beiden F\u00e4llen bei aufmerksamer Befrachtung des Thatbestandes nicht entgehen. Ich meine also, dass der als F\u00e4higkeit freier Wahl, d. h. freier Entscheidung bestimmte Wille, sofern er einen eigen-th\u00fcmlichen Bewusstseinsvorgang darstellt, sich auch \u00fcberall da nachweisen und annehmen l\u00e4sst, wo ein einziges Motiv uns zu einer inneren oder \u00e4u\u00dferen Handlung veranlasst. Man k\u00f6nnte auch diese Erscheinung als Wahlact bezeichnen, weil dem Willen die F\u00e4higkeit oblag, auch ablehnend sich zu verhalten. Aber wer m\u00f6chte nun in allen den F\u00e4llen, wo der einzig auftauchenden und leitenden Vorstellung gem\u00e4\u00df gehandelt wurde, festzustellen wagen, ob solche Wahl stattgefunden oder nicht? Es zeigt sich hier deutlich, dass, sofern W\u00e4hlen nicht Ueberlegen ist, ein Unterschied zwischen dem Entschluss oder Impuls in dem einen und in dem anderen Falle nicht getroffen werden kann.\nAber eine wichtige Erfahrung darf bei der Wahlhandlung nicht \u00fcbers\u00e8hen werden, n\u00e4mlich die nat\u00fcrliche Ueberzeugung, dass es nicht die Vorstellungen und Gef\u00fchle als solche sind, die durch ihr gegenseitiges Steigen und Sinken, Streben und Widerstreben zu einem festen Resultat f\u00fchren, sondern dass wir noch in besonderer Weise uns wirksam wissen, wenn wir mit Grund einer Vorstellung","page":387},{"file":"p0388.txt","language":"de","ocr_de":"388\nOswald K\u00fclpe.\nzur Herrschaft verhelfen. Mit Nichten kann man diese Thatsache, die wir unmittelbar erleben und welche somit die ganze unwiderstehliche Kraft einer unmittelbaren Gewissheit besitzt, f\u00fcr illusorisch halten. Und man erkl\u00e4rt sie nicht durch ein hinreichend mannigfaches Spiel wider einander streitender Vorstellungen und Gef\u00fchle oder Gehirnerregungen. Dass aber gerade die Wahlhandlung uns diese Thatsache aufdr\u00e4ngt, ist begreiflich genug. Denn der eindeutig bestimmte Willensact erm\u00f6glicht wenigstens eine Interpretation in jenem negativen Sinne, insofern bei der Unteilbarkeit dieses Actes der Vorstellung als solcher zugeschrieben werden kann, was doch aus ihr noch nicht folgt. So wird es auch verst\u00e4ndlich, wie die eigentliche Bedeutung des Willens eben in solchem entscheidenden Impulse gesehen werden konnte, wo seine Wirksamkeit eine zwingende Deutlichkeit annimmt. Hier setzt auch offenbar die Frage nach der Freiheit des Willens ein. Aber da ich bisher derselben in meiner Arbeit n\u00e4her zu treten vermieden habe, will ich auch hier Lotze\u2019s Ansicht dar\u00fcber nicht discutiren, obwohl sie gerade besonderes Interesse bietet1).\n2. Der Wille als die von Gef\u00fchlen geleitete Spontaneit\u00e4t.\nFr\u00fcher als in Deutschland hat in England die empirische Psychologie eine wissenschaftliche Pflege gefunden. Der gesetzm\u00e4\u00dfige Zusammenhang unserer inneren Zust\u00e4nde lenkte vor allem die Aufmerksamkeit auf sich, und so bildete sich fr\u00fch diejenige Richtung hier aus, welche unter dem Namen einer Associationspsychologie bekannt ist. Daneben machte sich dann in unserem Jahrhundert das Streben geltend, die verschiedenen geistigen Vorg\u00e4nge in Bezug auf ihre Eigent\u00fcmlichkeit und Zusammensetzung zu untersuchen, so namentlich bei Thomas Brown und bei J ames Mill. Den ausf\u00fchrlichsten und durch reiches empirisches Material begr\u00fcndeten Versuch, beiden Richtungen zu gen\u00fcgen und zugleich allgemeine physiologische Anschauungen zu verwerten, verdanken wir A. Bain, dessen Werken wir auch eine eigenartige Auffassung des Willens entnehmen k\u00f6nnen. Der Entwicklungsgedanke, dem wir bei Spencer begegneten, ist hier nur in beschr\u00e4nkterem Ma\u00dfe\n1) Die Bedeutung der Strebungen und das Verh\u00e4ltniss derselben zum W\u00fcllen ist leider von Lotze nicht n\u00e4her ber\u00fchrt -worden.","page":388},{"file":"p0389.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n389\nzur Anwendung gelangt, aber in Bezug auf die individuelle menschliche Entwicklung gr\u00fcndlich ber\u00fccksichtigt worden. Gerade der Entwicklung des Willens im Menschen hat Bain eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt und hier theilweise eine vom Hergebrachten abweichende Auffassung zu begr\u00fcnden gesucht.\nEr geht aus von der \u00fcblichen Dreitheilung seelischer Th\u00e4tig-keiten, die als F\u00fchlen, Wollen und Denken unterschieden werden1). Das Wollen bedeutet nach ihm alle Activit\u00e4t, soweit sie durch Gef\u00fchle geleitet wird, und als das allgemeinste Gesetz desselben bezeichnet er die Thatsache, dass Lust die Activit\u00e4t hervorruft, um sich zu verl\u00e4ngern, zu wachsen oder erneuert zu werden, und dass Unlust die Activit\u00e4t erregt, um sich zu unterdr\u00fccken, zu verringern oder fernzuhalten. Die Hauptthatsachen des Denkens bestehen in der Unterscheidung, Vergleichung und in dpr Erinnerung. Es erscheint mit dem Wollen stark verschmolzen, und es ist uns kaum m\u00f6glich, in einem exclusiven Zustande der einen oder der anderen Art zu verharren, aber die wissenschaftliche Erkl\u00e4rung setzt voraus eine Trennbarkeit der in Wirklichkeit vereinigt gegebenen Zust\u00e4nde. Unverkennbar wird von Bain auf die Feststellung elementarer Bewusstseinszust\u00e4nde wenig Gewicht gelegt, denn schon in den genannten Thatsachen des Denkens treten uns keine einfachen Th\u00e4tigkeiten entgegen. Es soll diese Dreitheilung nichts weiter sein als eine Classification des erfahrungsm\u00e4\u00dfig Gegebenen, und innerhalb der einzelnen so gewonnenen Gruppen wird dann auch wohl der Gesichtspunkt ihrer Zusammensetzung geltend gemacht. Darin zeigt sich die alte Neigung der englischen Psychologie, mehr die Art des Zusammenhangs und die Entstehung desselben, als die Beschaffenheit des iA solchen Zusammenhang eingehenden Einfachen zu behandeln. Diese Thatsache erschwerte mir sehr die Einordnung Bain\u2019s in meine Arbeit. Er wirft die Frage gar nicht auf, ob in dem Willen ein eigenth\u00fcmliches Elementarph\u00e4nomen anzunehmen sei oder nicht. Dennoch schien es mir richtiger, seine Ansicht innerhalb der positiven Theorien zu betrachten, weil er in der Spontaneit\u00e4t ein wichtiges und nothwendiges Characteristicum aller willk\u00fcrlichen Th\u00e4tigkeit erkannt hat, und ich keinen Grund habe\nI) Les sens et l\u2019intelligence 1874. S. 2 ff.","page":389},{"file":"p0390.txt","language":"de","ocr_de":"390\nOswald K\u00fclpe.\nanzunehmen, dass dieselbe als eine lediglich physiologische Erscheinung, nicht als Bewusstseinsvorgang aufgefasst werden soll. Leider hat er sich auch \u00fcber diese wichtige Frage nicht direct ausgesprochen.\nVielleicht w\u00e4re es dennoch richtiger gewesen, die Bain\u2019sehe Theorie in den ersten Abschnitt zu verlegen und sie hier sogar den absolut negirenden Richtungen zuzuz\u00e4hlen. Denn die Activit\u00e4t oder Spontaneit\u00e4t wird in viel zu allgemeiner Weise eingef\u00fchrt, als dass sie immer als Bewusstseinserscheinung gelten k\u00f6nnte. Sie wird f\u00fcr eine centrale Energie erkl\u00e4rt, die ohne \u00e4u\u00dferen Reiz, als Reaction auf die allgemeine Ern\u00e4hrung die Muskeln innervire. Zum Willen scheint sie nur in Beziehung zu treten, insofern Gef\u00fchle sie veranlassen/Ob in diesem Falle stets diese Activit\u00e4t sich im Bewusstsein als innere Th\u00e4tigkeit kundgebe, wird von Bain nicht gesagt. Da mir dies aber wirklich stattzufinden scheint, so nehme ich keinen Ansto\u00df, insofern der Activit\u00e4t eine eigenth\u00fcmliche, elementare Bedeutung f\u00fcr alle Willensth\u00e4tigkeit beizulegen. Sollte dagegen, wie es zuweilen aussieht, der Wille nach Bain nichts anderes sein, als eine auf physiologischem Wege zu Stande gekommene Verbindung zwischen den Gef\u00fchlen und den Handlungen, also Bewegungen, so w\u00fcrde das meiste von dem, was ich oben gegen die verschiedenen Vertreter der absolut negirenden Anschauungen einzuwerfen gehabt habe, auch auf ihn Anwendung finden. Nur insofern w\u00e4re seine Theorie jenen \u00fcberlegen, als die Annahme einer centralen Spontaneit\u00e4t wenigstens physiologisch den Thatsachen besser entspr\u00e4che. .Wenn ich nun von der Voraussetzung ausgehe, dass die von innen heraus erfolgende Activit\u00e4t auch eine rein psychologische Bedeutung besitze, so gelange ich zu dem Ur-theil, dass diese Auffassung des Willens zu eng ist, weil sie an das Mitwirken der Gef\u00fchle als der jedesmaligen Motive gebunden ist und weil sie dem Willen direct nur einen Einfluss auf die Muskeln, also auf \u00e4u\u00dfere Bewegungen, nicht auf innere Vorg\u00e4nge zuschreibt. Diese Meinung gedenke ich im Folgenden ausf\u00fchrlicher zu begr\u00fcnden. Man wird es begreiflich finden, dass ich bei dem Hauptinteresse, das ich an der Grundlegung der Willenslehre nehme, auf die vielen wichtigen und lehrreichen Einzelausf\u00fchrungen nicht eingehe.","page":390},{"file":"p0391.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n391\na. Darstellung der Bain\u2019schen Willenstheorie.\nAls die beiden Elemente des Wollens werden von Bain die spontane Activit\u00e4t und das Gef\u00fchl bezeichnet1). Der Nachweis der ersteren und die Entstehung einer Verbindung zwischen beiden ist die eigentliche Aufgabe der psychologischen Erkl\u00e4rung des Willens. Jene besteht darin, dass durch einen aus ^den Nervencentren kommenden Reiz in Abwesenheit jedes \u00e4u\u00dferen Eindrucks und ohne vorhergehendes Gef\u00fchl eine Bewegung ausgel\u00f6st wird. Die Begr\u00fcndung dieser Annahme kann ich hier nicht n\u00e4her verfolgen, sie setzt sich aus Thatsachen zusammen, welche mit willk\u00fcrlichen Bewegungen nichts zu thun haben. Ob hier nicht etwa speciellere physiologische Vorstellungen Platz greifen k\u00f6nnen, mag uner\u00f6rtert bleiben, eine spontane Bewegungstendenz ist jedenfalls physiologisch und psychologisch begreiflich und von allgemeinef organischer Bedeutung. E\u00fcr die Gef\u00fchle der Lust und Unlust gelten folgende allgemeine Gesetze : jede Lust ist mit einer Steigerung, jede Unlust mit einer Herabsetzung der Lebensfunctionen verbunden. Darin ist die M\u00f6glichkeit gegeben, eine Verbindung mit \u00e4u\u00dferen Th\u00e4tig-keiten herzustellen, welche jene Erscheinung hervorzurufen oder zu unterst\u00fctzen, diese zu verh\u00fcten oder zu beseitigen verm\u00f6gen. Solch ein Band zwischen Gef\u00fchl und Bewegung existirt nicht von vorn herein, sondern wird im Laufe der individuellen Entwicklung erworben. Als Mittelglied dient hierbei jene spontane Activit\u00e4t, welche in den Dienst der Gef\u00fchle tritt. Voraussetzung f\u00fcr die zweckm\u00e4\u00dfige Entwicklung ist au\u00dferdem die Trennbarkeit der einzelnen Organe, die gesonderte Benutzbarkeit der verschiedenen Muskeln und Glieder, und diese wird durch die Constitution, durch die Existenz isolirter Fasersysteme gew\u00e4hrleistet. Endlich aber muss noch die F\u00e4higkeit angenommen werden, Verbindungen, die sich einmal gebildet und \u00f6fter wiederholt haben, zu behalten, in irgendwelcher Weise so zu bewahren, dass sie leicht wieder in Kraft treten k\u00f6nnen, sobald nur das eine Glied derselben gegeben ist.\nHiernach lassen sich nun die allgemeinen Typen f\u00fcr die Entwicklung jener zweckm\u00e4\u00dfigen Verbindung angeben. Nehmen wir\n1) I S. 258 ff. II S. 303 ff. Ich citire die beiden gro\u00dfen Werke von Bain als I in der franz\u00f6sischen Uebersetzung von Cazelles: Les sens et 1 intelligence 1874, und als II The emotions and the will. Third edition 1880.\nWundt, Philos. Studien. V.\t27","page":391},{"file":"p0392.txt","language":"de","ocr_de":"392\nOswald Kfilpe.\nan, dass die Bewegungen, welche einfach aus einem Ueberma\u00df der Kr\u00e4fte hervorgehen, zuf\u00e4llig von der Art seien, dass sie die vorhandene angenehme Empfindung verst\u00e4rken. Dann w\u00fcrden nicht nur die allgemeinen vitalen Functionen gesteigert werden, sondern auch die betreffenden Bewegungen wachsen und fortdauern, und es w\u00fcrde sich so die Lust seihst n\u00e4hren und damit dem Gesetz der Selbsterhaltung dienen, welches das organische Lehen in seinen mannigfachen Formen beherrscht. Soviel die Bewegungen die Lust vergr\u00f6\u00dfern, soviel f\u00fcgen sie dem inneren Beize hinzu, von dem sie ausgehen. Sobald sie aufh\u00f6ren lusterregend zu wirken, sehen wir ihre Beschleunigung, die Folge eines Wachsthums der inneren Kr\u00e4fte, nachlassen. Hat dagegen urspr\u00fcnglich eine spontane Bewegung Schmerz zur Folge, so tritt Depression der Lebensfunctionen ein und demgem\u00e4\u00df auch eine Aufhebung der veranlassenden Bewegung. Endlich kann eine zuf\u00e4llige Bewegung eine Unlust beseitigen und erh\u00e4lt dadurch eine f\u00fcr die Zukunft folgenreiche Bedeutung. Durch h\u00e4ufige Wiederholung bilden sich dergestalt feste Verbindungen zwischen bestimmten Gef\u00fchlen und Bewegungen aus, und diese Verbindungen sind die elementaren Formen aller Willensacte. Um Bain v\u00f6llig zu verstehen, m\u00fcssen wir uns noch ausdr\u00fccklich vergegenw\u00e4rtigen, dass er dem Begriff Gef\u00fchl \u00bbfeeling\u00ab sowohl alle angenehmen und unangenehmen Empfindungen, als auch die Affecte unterordnet. Nur dies erkl\u00e4rt uns die individuelle Beschaffenheit einer jeden Verbindung; es muss hier nicht nur die Bewegung eine bestimmte, eigenartige sein, sondern ebenso die vorausgehende angenehme oder unangenehme Empfindung specifischen Charakter haben. Dann gen\u00fcgt freilich die physiologische Vorstellung nur, wenn man die Erh\u00f6hung resp. Verminderung der vitalen Kr\u00e4fte hlos auf Lust und Unlust bezieht und davon die specielle Verbindung zwischen Empfindung und Bewegung, wie wir dann sagen w\u00fcrden, in allgemeiner Weise abh\u00e4ngig sein l\u00e4sst. Wir haben uns also zu denken,. dass eine lustf\u00f6rdernde Bewegung einerseits als die Folge einer irgendwie durch bestimmte Empfindungen erregten spontanen Activit\u00e4t auftritt, andererseits verst\u00e4rkend auf die vorhandene allgemeine Lebensenergie wirkt. Ein directes Band zwischen dieser und den einzelnen Bewegungen anzunehmen ist deshalb unm\u00f6glich, weil es nicht zu begreifen w\u00e4re, wie das","page":392},{"file":"p0393.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n393\nEine, Gleichartige verschiedene Bewegungen zu verschiedenen Zeiten in gesetzm\u00e4\u00dfiger Weise hervorzurufen verm\u00f6chte. Das Band besteht also zwischen der einzelnen Empfindung oder dem einzelnen Empfindungscomplex und der einzelnen Bewegung oder dem einzelnen Bewegungscomplex, und die Verst\u00e4rkung oder Herabsetzung der Gesammtheit nerv\u00f6ser Energie wirkt nur als Directive hei der Entstehung einer solchen Verbindung mit, indem jene sie herbeif\u00fchrt und diese sie verh\u00fctet.\nTriebe und Begierden sind Formen des Wollens, hervorgegangen aus den Bed\u00fcrfnissen des organischen Lebens, aus einer unbefriedigten k\u00f6rperlichen Verfassung !). Die Begierde ist nichts Anderes, als das Willensmoment der Empfindung, ihr geht voraus eine aus der Erinnerung bekannte Lust, diese ist kein nothwendiger Bestandteil des Triebes. Die Entwicklung des Willens hat einen gro\u00dfen Schritt gethan, wenn wir unter dem Antrieb von Lust oder Unlust bewusst Bewegungsversuche machen und sie variiren, bis wir unser Ziel erreicht haben1 2). Dieser Fortschritt mag in einer urspr\u00fcnglich vorhandenen schwachen Tendenz begr\u00fcndet sein, die durch die Erfahrung rasch verst\u00e4rkt wird. Zwei Eigenschaften oder Merkmale des gereiften Willens sind das Bewusstsein einer Anstrengung und die Steigerung der verbrauchten Kraft. Jenes zeigt sich nicht nur da, wo sich Widerst\u00e4nde unseren Absichten in den Weg stellen, sondern auch, wo wir eine Bewegung ausf\u00fchren, ohne zu wissen, wieviel Kraft zur Erreichung eines gewollten Zieles erforderlich ist. Es unterliegt keinem Zweifel, dass diese gew\u00f6hnliche und wichtige Thatsache des entwickelten Willens doch nicht eine urspr\u00fcngliche Eigenschaft oder Begleiterscheinung desselben genannt werden kann. Das zweiterw\u00e4hnte Merkmal kann zumTheil instinctiv sein, wenigstens zeigt es sich so bei niederen Ihieien, deren Ortsver\u00e4nderung eine instinctive Steigerung der Energie voraussetzt.\nDie einfache Verbindung zwischen bestimmten Gef\u00fchlen und bestimmten Bewegungen complicirt sich dadurch, dass dieselbe Bewegung verschiedenen Bed\u00fcrfnissen, unvorhergesehenen Umst\u00e4nden gen\u00fcgen kann und sich auf diese Weise neue Associationen bilden. Ebenso k\u00f6nnen vermittelnde Glieder entstehen, indem sich zwischen\n1)\tI S. 203 f.\n2)\tII S. 319 f.\n27*","page":393},{"file":"p0394.txt","language":"de","ocr_de":"394\nOswald Kiilpe.\nden verschiedenen Empfindungen Associationen ankn\u00fcpfen. Es entwickeln sich Verbindungen zwischen Bewegungen und Lauten, wie heim Thiere der Peitschenknall und heim Menschen bestimmte Worte eine befehlende Bedeutung haben. Sodann kommt unsere F\u00e4higkeit der Nachahmung der Entwicklung des Willens zu Gute; das Hauptresultat derselben ist die Sprache. Es bedarf hier weniger einer bestimmten Leitung, als vielmehr einer gewissen Kraft des Impulses, um derartige Bewegungen hervorzurufen. Ferner ist von besonderem Werth, dass wir im Stande sind, einem Wunsche nach irgend einer Bewegung entsprechend zu handeln. Hier wirkt als Veranlassung nicht eine in der Wahrnehmung, sondern eine in der Vorstellung gegebene Bewegung, und die Association besteht dann zwischen den wirklichen Th\u00e4tigkeiten und den Vorstellungen von denselben. Immerhin kommt noch hinzu ein bestimmendes Motiv, d. h. Lust oder Unlust, sei es eine eben vorhandene oder in Aussicht stehende; nur sie k\u00f6nnen eine Willensanstrengung hervorrufen, den Uehergang von Ruhe in Bewegung und von einer Bewegung zur anderen begreiflich machen. Von hier zur Wahlhandlung ist es dann nur ein Schritt, Ueberlegung und Entschluss ver\u00e4ndern den allgemeinen Typus des .Willens nicht. Ohne eine voraufgehende ^ angenehme oder unangenehme Empfindung, sei sie nun unmittelbar gegeben oder vorgestellt, prim\u00e4rer oder abgeleiteter Natur, kann der Wille nicht erregt werden. Die Ausnahmen von diesem Gesetz sind Regungen der einfachen Spontaneit\u00e4t, Gewohnheiten und feste Vorstellungen, aber diese beeintr\u00e4chtigen nicht die Integrit\u00e4t des behaupteten Princips.\nFragen wir endlich nach dem Einfluss des Willens, so erhellt zun\u00e4chst eine ausgiebige Wirksamkeit desselben auf das Muskelsystem. Alle bisher erw\u00e4hnte Entwicklung des Willens bezog sich auf seine F\u00e4higkeit, bestimmte Bewegungen hervorzurufen, zu com-biniren, fortzusetzen, immer auf angenehme oder unangenehme Empfindungen hin, die als die ausschlie\u00dflichen Motive jeder Willens-th\u00e4tigkeit erschienen. Aber die Erfahrung lehrt doch auch einen Einfluss auf unsere inneren Zust\u00e4nde, auf den Vorstellungsverlauf und unsere Stimmungen. Dieser Einfluss kann nur indirect sein. So kann ein Bewegungsreiz, der von irgend einem Affect, z. B. dem Zorn, ausgeht, durch einen anderen, welchen wir dem Willen","page":394},{"file":"p0395.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n395\nverdanken, gehemmt werden, nur ist der letztere hierbei durchaus beschr\u00e4nkt auf diejenigen Muskeln, welche,wir als willk\u00fcrliche bezeichnen k\u00f6nnen. Es ist bemerkenswert!!, dass die Grundlagen einer Gem\u00fcthsbewegung derart mit der vom Willen ausgehenden diffusen Centralerregung Zusammenh\u00e4ngen, dass die letztere jene unterdr\u00fcckt, oder umgekehrt. Auf den Gedankengang kann der Wille in zweierlei Weise einwirken. Erstlich dadurch, dass die von ihm ihren Ursprung nehmende allgemeine Erregung des Nervensystems die Intensit\u00e4t des geistigen Fortschritts hebt. Es liegt in der Natur eines stark empfundenen Zweckes, den ganzen Organismus zu reizen, sowohl nach seiner k\u00f6rperlichen, als nach seiner geistigen Seite, und unter der Herrschaft einer solchen Erregung vollzieht sich Alles, was in uns geschieht, lebhafter. Zweitens aber kann der Wille unsere Aufmerksamkeit lenken und coneentriren und dadurch die Arbeit des Intellects beeinflussen. Auch diese F\u00e4higkeit des Willens l\u00e4sst sich auf seine Verbindung mit den Muskeln zur\u00fcckf\u00fchren. Denn \u00fcberall, wo es sich um willk\u00fcrliche Aufmerksamkeit handelt, kann man ideale Bewegungstendenzen constatiren, die sich zu den wirklichen Bewegungen verhalten wie die Vorstellungen zu den Wahrnehmungen1).\nb. Kritik der Bain\u2019schen Willenstheori'e.\nDiese Theorie gibt mir zum ersten Mal Anlass, auf die Verbindung der Gef\u00fchle mit den Willensacten genauer einzugehen. Ich setze voraus, dass bei Bain auch die spontane Activit\u00e4t eine bewusste Bedeutung hat und nicht blos ein Innervationsvorgang ist. Dann ist doch die Mitwirkung des Gef\u00fchls f\u00fcr das Zustandekommen einer willk\u00fcrlichen Th\u00e4tigkeit, wie ich meine, in ein gar zu starkes Licht gesetzt. Es geht das so weit, dass Bain \u00fcberhaupt nur von Wollen redet, wo Lust oder Unlust eine Handlung hervorruft. Und hier sind doch wohl drei,F\u00e4lle auszunehmen. In erster Linie alle diejenigen Handlungen, die eine vorgestellte Lust oder Unlust zum Motiv haben. Was hei\u00dft: eine Lust vorstellen? Entweder: alles dasjenige vorstellen, was fr\u00fcherer Erfahrung gem\u00e4\u00df mit diesem Gef\u00fchl verbunden war oder dasselbe zur Folge hatte, oder die betreffenden Worte vorstellen, welche als Repr\u00e4sentanten\n1/ I S. 515 ff. II S. 358 ff.","page":395},{"file":"p0396.txt","language":"de","ocr_de":"396\nOswald K\u00fclpe.\nvon Begriffen angenehmer Zust\u00e4nde gelten. Nun kann sich damit ein leises Gef\u00fchl der cliarakterisirten Art gleichfalls einstellen, das actuell erlebt, nicht vorausgesehen wird. Aber das ist meiner Erfahrung nach nicht immer der Fall. Aus einer indifferenten Ge-m\u00fcthslage heraus kann die Vorstellung eines erfreulichen Erlebnisses ohne eine Spur bewusster Lust zu entsprechenden Handlungen f\u00fchren. Wenn solche F\u00e4lle stattfinden, was allerdings bestritten werden kann, so durchbrechen sie jene allgemeine Regel. Denn eine vorgestellte Lust ist dann keine Lust, und es sind lediglich Vorstellungen, welche in solchen F\u00e4llen das Handeln bestimmen. Noch klarer scheint dies bei den anderen noch zu erw\u00e4hnenden Willensacten zu sein, hei den gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen und den Pflichthandlungen. Es ist eine bekannte Thatsache, dass Gewohnheit die urspr\u00fcngliche Lebhaftigkeit der eine Vorstellung begleitenden Gef\u00fchle bis zur Indifferenz abstumpft. Diese Erscheinung \u00e4u\u00dfert sich auch darin, dass f\u00fcr den gew\u00f6hnlichen Ablauf eines geordneten Lebens die Gef\u00fchle als Motive der einzelnen Handlungen nur eine geringe Rolle spielen. Ich verstehe hierbei unter gewohnheitsgem\u00e4\u00df nicht automatisch geworden, es gibt nicht wenige Willensacte, die ohne voraufgehende Gef\u00fchle sich dem gleichf\u00f6rmigen Geschehen des t\u00e4glichen Lehens mit unentbehrlicher Nothwendigkeit einglie-dern, wie die Vorstellungen unserer Umgebung, die sich seit Jahren nicht ge\u00e4ndert hat. Endlich sind es die Pflichten, welche sich nicht immer von Gef\u00fchlen der Lust oder Unlust abh\u00e4ngig machen lassen und doch zweifellos eine bedeutende Stellung in unserem sittlichen Thun einnehmen. Man kann die Pflicht definiren als die feste Ueberzeugung von dem unbedingten Werthe einer Handlung, Handlungsreihe oder Maxime und die derselben entsprechende Empfindung des Zwanges, so und nicht anders zu handeln. Das letztere Merkmal ist dasjenige, was man das Pflichtgef\u00fchl nennt. Werth, hei\u00dft aber nicht soviel als: lustbringender Charakter einer Handlung, es bedeutet die Pflicht eben oft den Verzicht auf irgend eine Lust.-^Psychologisch sind es aber rur Vorstellungen, welche den Willensacten vorausgehen. Auch eines besonderen Pflichtgef\u00fchls werden wir uns nicht immer dabei bewusst, vielmehr nur dann, wenn es irgendwelche Hindernisse zu \u00fcberwinden gibt, die der unweigerlichen Erf\u00fcllung des Pflichtgebotes entgegenwirken. Die","page":396},{"file":"p0397.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n397\nerstmalige Ausf\u00fchrung aller genannten Handlungen mag durch Lust hervorgerufen worden sein, dabei wird doch vielleicht die Pflicht eine Ausnahme bilden, da sie wenigstens im Laufe der individuellen Entwicklung das Resultat einer mehr oder weniger strengen Erziehung zu sein pflegt. Aber das \u00e4ndert an der Thatsache nichts, dass uns hier eine nicht geringe Zahl von Willenshandlungen vorliegt, deren Motive nicht Lust oder Unlust sind.\nEs ist, wie ich glaube, eine logische Ueberlegung, welche diese Ausdehnung der Gef\u00fchlsmotive veranlasst : man will einen Grund f\u00fcr das Zustandekommen einer Th\u00e4tigkeit angeben, und als einziges ausreichendes Motiv scheint ein Gef\u00fchl gelten zu d\u00fcrfen. Aber der psychische Thatbestand muss unabh\u00e4ngig von derartigen Erw\u00e4gungen zergliedert werden. Es ist vielmehr als eine Aeu\u00dferung psychophysischer Sparsamkeit anzusehen, dass wir nicht jedesmal ein Gef\u00fchl aufzuwenden brauchen, um eine Handlung auszuf\u00fchren, sondern dass, nachdem erst der Werth derselben durch fr\u00fchere Erfahrung und allgemeinere Ueberlegung festgestellt ist, sie ohne weiteres erfolgt, sobald die Vorstellung derselben appercipirt worden ist. Nirgends kann man dies deutlicher merken, als wo ein Willensact zur wiederholten Aufgabe im Verlaufe psychophysischer Experimente wird. Bei der sensoriellen Reaction habe ich nach Apperception des Eindrucks den Willensimpuls zur Bewegung zu ertheilen. Ich unterscheide beide Vorg\u00e4nge durchaus und bin mir keines leitenden Gef\u00fchls dabei bewusst. Eine solche vollkommen eindeutige Thatsache l\u00e4sst sich unter der Bain\u2019sehen Voraussetzung nicht erkl\u00e4ren. Sein Willensbegriff ist also zu eng, weil er nicht alle Willensacte umfasst, sondern nur diejenigen, wo ein Gef\u00fchl der Lust oder Unlust das Motiv gewesen. Daraus ist zu folgern, dass wir dem Willen eine gr\u00f6\u00dfere Selbst\u00e4ndigkeit im seelischen Geschehen beizulegen haben, indem weder vorausgehende, noch, wie ich gleich hinzuf\u00fcge, nachfolgende Zust\u00e4nde f\u00fcr sein Auftreten und seine Wirksamkeit charakteristisch sind. Die eigene Theorie von Bain l\u00e4sst \u00fcbrigens sehr wohl eine den erw\u00e4hnten Thatsachen entsprechende Modification zu. Ich habe oben ausgef\u00fchrt, dass die specielle Verbindung zwischen einer Empfindung und einer Bewegung besteht und die Gef\u00fchle der Lust oder Unlust nur die Entstehung derselben beeinflussen. Es ist daher m\u00f6glich, dass sp\u00e4terhin das Gef\u00fchl","page":397},{"file":"p0398.txt","language":"de","ocr_de":"398\nOswald K\u00fclpe.\nnicht mehr reproducirt wird und die Verbindung ohne dasselbe entsteht und wirksam wird. Vielleicht hat der psychologisch ungen\u00fcgende Begriff feeling Bain an der richtigen Erkenntniss verhindert.\nDer Willensbegriff von Bain ist auch deshalb zu eng, weil er den unmittelbaren Einfluss dieses psychischen Agens auf eine Gruppe \u00ab von Muskeln beschr\u00e4nkt, die \u00fcberhaupt in den Dienst des Willens treten k\u00f6nnen. Ich lege hierbei kein Gewicht auf die Ausdehnung der spontanen Activit\u00e4t auf andere motorische Organe, welche nie einem Willensact unterworfen sind. Denn dieselbe kommt doch f\u00fcr diesen nur insofern in Betracht, als sie eine Bewusstseinserscheinung ist und sich als solche in best\u00e4ndiger Abh\u00e4ngigkeit von den Gef\u00fchlen befindet. Nun lehrt aber die innere Erfahrung, dass unser Vorstellungsverlauf in hohem Ma\u00dfe vom Willen beeinflusst wird. Die Interpretation, welche Bain diesem Thatbestande gibt, scheint mir zu folgender Alternative ver\u00e4ndert werden zu m\u00fcssen : entweder kommen die einzelnen Vorstellungen \u00fcberhaupt nicht ohne ideale oder actuell werdende motorische Impulse zu Stande, oder der Wille hat auf sie einen ebenso unmittelbaren Einfluss, wie auf die Muskeln. Es handelt sich hier nicht um jene allgemeine Steigerung nerv\u00f6ser Erregbarkeit, die auch auf den Vorstellungsverlauf belebend einwirkt, sondern um die willk\u00fcrliche Lenkung und Concentration der Aufmerksamkeit. Sodann aber ist der Zustand der Aufmerksamkeit nicht ein unabh\u00e4ngig vom Willen denkbarer Grad der Vorstellungsintensit\u00e4t, sondern recht eigentlich Th\u00e4tigkeit des Willens, und es ist eine auch von anderen Psychologen anerkannte Ansicht Wundt\u2019s, dass zwischen willk\u00fcrlicher und unwillk\u00fcrlicher Aufmerksamkeit kein wesentlicher Unterschied besteht.\nBain\u2019s Meinung muss in dem ersten Gliede jener Alternative ihren ad\u00e4quaten Ausdruck finden. Ein vorgestellter Kreis setzt voraus eine ideale Vollziehung derjenigen Augenbewegungen, welche bei der Wahrnehmung desselben stattfinden. Dann m\u00fcssen alle Vorstellungen nicht irgend welchen Associationen mit anderen, sondern idealen motorischen Acten ihre unmittelbare Entstehung verdanken. Dann bewirkt der Wille also im gleichen Sinne mittelbar, wie irgend eine Vorstellung B etwa die Reproduction und Eixation einer mit B associirten Vorstellung A. Eine solche Ansicht,","page":398},{"file":"p0399.txt","language":"de","ocr_de":"399\nDie Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n/\u00bb\nderen Consequenzen man noch weiter ziehen kann, entbehrt aber durchaus der St\u00fctze der inneren Erfahrung. Wir werden uns keineswegs im Ablauf der Vorstellungen vermittelnder motorischer Tendenzen bewusst, und wo dies geschieht, da machen wir nur die Beobachtung, dass dieselben als Begleiterscheinungen auftreten, die ihrerseits mit den einzelnen Vorstellungen associirt sind. Im Bewusstsein k\u00f6nnen sich derartige Impulse nur in Form von Innervationsempfindungen geltend machen, sagen wir allgemein, in Form von reproducirten Bewegungsempfindungen, als welche wahrscheinlich die Innervationsempfindungen angesehen werden k\u00f6nnen. Dass diese die stetigen Mittelglieder der einzelnen Vorstellungen w\u00e4ren, kann man nicht sagen, aber sie sind selbstverst\u00e4ndlich mit ihnen associirt und k\u00f6nnen daher eine jede von ihnen begleiten. Der indirecte Einfluss des Willens m\u00fcsste demnach richtiger auf diese Bewegungsempfindungen bezogen werden. Man hat sich dann die Wirksamkeit des Willens so zu denken, dass die motorischen Tendenzen, welche von ihm ausgehen, bestimmte Innervationsempfindungen erregen und diese die mit ihnen associirten Vorstellungen reproduciren. Gewiss wird es sich vielfach so verhalten, n\u00e4mlich \u00fcberall da, wo nicht diese Vorstellungen, sondern die Bewegungsempfindungen das Object meines Wollens bilden. Aber wo ich meine Aufmerksamkeit einer bestimmten Vorstellung, z. B. eines Freundes, zuwende, da ist die Bewegungsempfindung, die sich an die motorischen Impulse kn\u00fcpft, welche ich idealiter meinen Augen ertheile, durchaus nicht das prius, sondern erscheint gleichzeitig mit der Gesichtsvorstellung. Und das ist begreiflich genug. Denn ich brauche ja, um bei geschlossenen Augen etwa eine solche Vorstellung zu erzeugen, keine Bewegung vorher zu machen. In dem Gesichtsfelde, wie es gerade ist, entsteht zun\u00e4chst ein Bild des gewollten Objects, aber vielleicht nicht vollst\u00e4ndig, sondern nur fragmentarisch, und mit H\u00fclfe von idealen oder wirklichen Bewegungen wird es nun vervollst\u00e4ndigt. Endlich aber w\u00e4re mir unbegreiflich, wie Bewegungstendenzen gleichartiger Natur die Entstehung verschiedenartigster Vorstellungen erkl\u00e4ren sollten. Ich mache doch keine anderen Augenbewegungen, um ein gr\u00fcnes oder rothes Object gleicher Form zu sehen, und spanne mein Trommelfell, wenn ich einen Mollaccord h\u00f6ren will, nicht anders, als zum","page":399},{"file":"p0400.txt","language":"de","ocr_de":"400\nOswald K\u00fclpe.\nEmpfange eines Duraccordes. Was aber die Bewegungen bei der wirklichen Wahrnehmung nicht leisten k\u00f6nnen, das ist ihnen auch f\u00fcr die Vorstellungsreproduction unm\u00f6glich. Daraus ist zu schlie\u00dfen, dass mein Wille beides zu thun f\u00e4hig ist, eine Bewegung hervorzurufen und in den Vorstellungslauf einzugreifen. Dann darf er abei nicht blos spontane Activit\u00e4t motorischer \u2022 Art sein. Er ist also auch in dieser Hinsicht von Bain zu eng gefasst worden.\nAber die Aufmerksamkeit selbst ist ein Willensph\u00e4nomen und der wichtigste Ausgangspunkt f\u00fcr die Feststellung eines solchen. Wir haben nicht nur einen productiven, sondern auch einen recep-tiven Willen. Jener \u00e4u\u00dfert sich am deutlichsten in den Bewegungsimpulsen, welche eine Handlung unmittelbar veranlassen, dieser kommt am reinsten zur Erscheinung in der Aufmerksamkeit. In beiden F\u00e4llen f\u00fchlen wir uns th\u00e4tig, und dieses Bewusstsein eines inneren selbst\u00e4ndigen Geschehens ist ehen das allgemeine Kriterium der inneren oder \u00e4u\u00dferen Willenshandlung. Und noch ein Letztes gibt uns die Bain\u2019sche Theorie zu bedenken. Wenn wirklich Lust und Unlust die nothwendigen Triebfedern des Willens w\u00e4ren, so w\u00e4re selbstverst\u00e4ndlich die st\u00e4rkere Lust der st\u00e4rkere Motor. Nun ist aber h\u00e4ufig nicht die unmittelbar empfundene, sondern die in Aussicht stehende, also kaum leise sich regende Lust das entscheidende Motiv. Wie soll das nach Bain erkl\u00e4rt werden? Mit der st\u00e4rksten Lust ist die lebhafteste Anregung vitaler Energie verbunden, und demgem\u00e4\u00df m\u00fcsste die Willensentscheidung stets zu Gunsten derselben ausfallen. Wenn das nicht geschieht, so folgt daraus, dass der Wille nicht schlechthin von der Lust oder Unlust psychophysisch abh\u00e4ngig, sondern in viel allgemeinerer Weise den mannigfaltigsten Motiven zug\u00e4nglich ist. Und so f\u00fchrt auch diese Betrachtung zu einpr Ablehnung der besprochenen Lehre.\nIch schlie\u00dfe hiermit die Behandlung der Bain sehen Willenstheorie. Auf die Entwicklung des Willens n\u00e4her einzugehen sehe ich mich bei meiner Auffassung jener Theorie nicht gen\u00f6thigt. Die Hauptpunkte, auf die Alles ankam, glaube ich gen\u00fcgend hervorgehoben zu haben. Die Bedeutung des reichhaltigen Werkes liegt aber weniger in den principiellen Behauptungen, als vielmehr m Einzelausf\u00fchrungen von gro\u00dfer Sorgfalt der Beobachtung und einer fast ersch\u00f6pfend zu nennenden F\u00fclle von Erfahrungen.","page":400},{"file":"p0401.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n401\nEine Modification der B ain\u2019schen Willenstheorie vertritt Ser gi: La psychologie physiologique trad, de l\u2019italien par M. Mouton 1888 S. 407 ff. Er l\u00e4sst das Wollen von einem Unlustgef\u00fchl seinen Anfang nehmen, betrachtet die Spontaneit\u00e4t als die allgemeine Eigenschaft lebender Materie und erblickt das Charakteristische des Wollens in einer w\u00e4hrend der Pause zwischen sensibler Erregung und motorischem Effect hervortretenden Anticipation des letzteren. Man sieht, dass die Ansicht von Bain hier eine betr\u00e4chtliche Umformung erfahren hat und sich Sergi eigentlich n\u00e4her mit der Spencer\u2019sehen Theorie ber\u00fchrt. Denn diese Anticipation kann doch keinen anderen Sinn haben als den, eine Vorstellung zu sein. Die Spontaneit\u00e4t hat hier entschieden jede bewusste Bedeutung verloren.\nB. Vermittelnde Ansicht.\nEinen dankenswerthen Beitrag zur Kenntniss der Willenserscheinungen hat Ribot durch eine Untersuchung der pathologischen St\u00f6rungen geliefertv Es lohnte sich der M\u00fche, dem psychologischen Problem einmal in dieser Weise nahe zu treten, dass man alle die F\u00e4lle, wo eine krankhafte Ver\u00e4nderung des Wollens vorzuliegen schien, analysirte und interpretirte. Die der Entwicklung entgegengesetzte Dissolution vollzieht sich nach einer verbreiteten Annahme so, dass die h\u00f6chsten Stadien zuerst afficirt werden. Soll aber die Analyse derartiger Vorg\u00e4nge einen wirklichen Werth besitzen, so muss man sich schon einigerma\u00dfen klar sein \u00fcber die Natur desjenigen, was in pathologischen Zustand ger\u00e4th. Und so erhalten wir auch in einer Einleitung der Maladies de la volont\u00e9 (1882) eine Mittheilung dar\u00fcber, was Ribot unter dem Willen versteht. x \\\nUnter dem Gesichtspunkt der Entwicklung betrachtet liegt der Wille innerhalb der Activit\u00e4tsreihe auf der Linie, die von dem Reflex zum abstracten Begriff f\u00fchrt. Jener hat unmittelbar und selten gehemmt die Bewegung zur Folge, dieser ist fast unf\u00e4hig eine solche hervorzurufen. Der Trieb erscheint als ein complicir-terer Reflex physiologisch betrachtet, wird aber zugleich von einer Bewusstseinserscheinung, einer angenehmen oder unangenehmen Empfindung begleitet. Ein h\u00f6heres Stadium repr\u00e4sentiren die ideomotorischen Bewegungen, wo Vorstellungen verschiedener Art als","page":401},{"file":"p0402.txt","language":"de","ocr_de":"402\nOswald K\u00fclpe.\ndie treibenden Kr\u00e4fte erscheinen, in Wahrheit nur als die begleitenden Bewusstseinsvorg\u00e4nge auftreten. In diese Classe geh\u00f6ren auch die willk\u00fcrlichen Bewegungen, welche von einer vern\u00fcnftigen Ueberlegung ihren Anfang nehmen.\nDer eigentliche Willensact besteht in der Wahl. Diese ist nichts Anderes als ein Urtheil bejahender oder verneinender Art, nur durch die Beziehung, in welcher sie zu Bewegungen steht, verschieden von dem theoretischen Urtheil. Der eigentliche Grund der Wahl ist aher die Angemessenheit oder Unangemessenheit des zu W\u00e4hlenden zum Ich, und diese Beziehung findet ihren Ausdruck in Gef\u00fchlen der Lust oder Unlust. Ich w\u00e4hle immer, was mir gut oder n\u00fctzlich oder angenehm, und verwerfe immer, was mir schlecht oder sch\u00e4dlich oder unangenehm ist. Nun hat aber das \u00bbIch will\u00ab keinen Einfluss, es deutet nur an einen Zustand, der eventuell eine Bewegung zur Folge hat. Die eigentliche Wirksamkeit liegt in dem psychophysischen Organismus, welcher allein die F\u00e4higkeit besitzt zu handeln oder zu hemmen. F\u00fcr den Willen ist ganz wesentlich der momentane Zustand des Ich, d. h. alle jene bewussten und unbewussten Regungen, welche den Charakter constituiren. Und\u00ab so kann man den Willen auch bezeichnen als eine individuelle'R\u00e9action. Die Reflexbewegung erscheint als eine allgemeine, keineswegs eigenth\u00fcmliche, die willk\u00fcrliche als eine durchaus originelle Reaction. Im Ursprung aber m\u00fcssen Reactionen individuell gewesen sein, und so hat der Wille seine Entstehung in der ersten Reaction lebender Materie. Ihre F\u00e4higkeit, sich an bestimmte Reactionen zu gew\u00f6hnen, l\u00e4sst erst Reflexe hervorgehen und beschr\u00e4nkt die rein individuellen Aeu\u00dferungen auf ein bestimmtes variables Ma\u00df.\nDass diese Ansicht eklektischer Natur ist, bedarf kaum der Erl\u00e4uterung. Einerseits soll die urspr\u00fcnglichste Aeu\u00dferung eines Lebewesens als Wollen gelten, andererseits nur dasjenige diesen Namen tragen, was als eine durch den Charakter bestimmte Wahl in das Bewusstsein des entwickelten Menschen tritt. Zwischen diesen beiden Behauptungen scheint mir doch etwas zu sehr die Br\u00fccke zu fehlen. Das Einzige, was dem Wollen im einen und im anderen Sinne zukommt, ist die Subsumtion unter den Begriff einer individuellen Reaction. Aber der Wille ist als Bewusstseins-","page":402},{"file":"p0403.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n403\nthatsache in erster Linie zu begreifen, und es handelt sich also darum, ob zwischen dem w\u00e4hlenden und auf irgend einen Reiz reagirenden Willen ein derartiger Zusammenhang besteht, dass der letztere als bewusstes Rudiment des ersteren angesehen werden kann. Der Begriff der individuellen Reaction kann doch zun\u00e4chst keine andere Bedeutung haben, als diejenige einer eigenthiimlichen, durch allgemeine Gesetze nicht vorausbestimmbaren Bewegungsreihe. Es liegt also in diesem Begriff nichts, was mich veranlassen k\u00f6nnte die gestellte Frage in bejahender Weise zu beantworten.\nDie Meinung Ribot\u2019s, dass die Wahl weiter nichts sei als ein Urtheil affirmativer oder negativer Art, gibt mir zu folgender Auseinandersetzung Anlass. Die innere Wahrnehmung, verm\u00f6ge deren wir feststellen, was in uns geschieht, kann einen zweifachen Sinn haben. Wir haben bei diesem Begriff zu unterscheiden zwischen unmittelbarem Erleben, unmittelbarer Erfahrung und dem Wissen von derselben oder der Reflexion \u00fcber das Gegebene. Jenes ist die eigentliche Quelle f\u00fcr alles Thats\u00e4chliche, dieses das Mittel unsere Erfahrungen zu verallgemeinern. Setzen wir voraus, dass sich im Laufe der Entwicklung Begriffe und Worte f\u00fcr die einzelnen inneren Zust\u00e4nde gebildet haben. Die innere Wahrnehmung der zweiten Art besteht dann in der Subsumtion eines bestimmten Vorgangs unter den zugeh\u00f6rigen Begriff. Diese Subsumtion braucht nicht in einem vollst\u00e4ndigen Urtheil zu geschehen, meist wird sie sich als blo\u00dfe Namengebung vollziehen. An der Thats\u00e4c-h-lichkeit einer Erscheinung kann dadurch nichts ge\u00e4ndert werden. Ist daher ein unmittelbares Erlebniss in mir constatirbar, welches weder mit einer Empfindung noch mit einem Gef\u00fchl verglichen werden kann, so wird die innere Wahrnehmung dasselbe durch eigenen Begriff und Namen auszeichnen. \u00bbIch will\u00ab bedeutet also nicht allein ein bejahendes Urtheil, sondern zugleich ein sich, in mir vollziehendes eigenth\u00fcmliches Erlebniss, und aus dem Auftreten jenes Urtheils darf ebenso wenig gefolgert werden, dass weiter nichts der Handlung vorausgehe, wie aus dem unwillk\u00fcrlichen Ausbruch in die Worte: \u00bbFreude, sch\u00f6ner G\u00f6tterfunke\u00ab etc., wenn man lebhaft freudig erregt ist, geschlossen werden darf, dass nichts weiter in uns vorgehe, als die Reproduction eines Verses.","page":403},{"file":"p0404.txt","language":"de","ocr_de":"404\nOswald K\u00fclpe.\nIch muss es mir hier versagen, auf die interessanten pathologischen F\u00e4lle einzugehen, welche von Ribot mitgetheilt werden. Er fasst das Resultat derselben in einem Schlusskapitel zusammen, und diesem m\u00f6chte ich noch einige Worte widmen. Er weist hier besonders hin auf das schon fr\u00fcher erw\u00e4hnte Gesetz der Dissolution, welches auch die Krankheiten des Willens durchwalte. In den verschiedenen pathologischen Zust\u00e4nden, welche mit Bewegungsst\u00f6rungen verbunden sind, verschwinden stets die feinsten und die compli-cirtesten Bewegungen zuerst. Die am sp\u00e4testen entstandenen Functionen degeneriren am fr\u00fchesten \u2014- so lautet das allgemeine Gesetz der Dissolution, das, wie schon fr\u00fcher hervorgehoben wurde, nicht als einfache Umkehrung des Evolutionsprincips bezeichnet werden darf. Der menschliche Wille wird nun von Ribot als ein h\u00f6chstentwickelter Complex angesehen, der nicht nur das einfache \u00bbje veux\u00ab enth\u00e4lt, sondern noch eine F\u00fclle von \\ orstellungen, Stimmungen, Ideen, welche den Charakter bilden und die eigentlichen Urheber der Handlungen sind, die wir beobachten. Alle diese Elemente, welche sich bei einer Ueberlegung th\u00e4tig erweisen, haben einerseits denjenigen Bewusstseinszustand zur Folge, welchen er das \u00bbIch will\u00ab nennt, andererseits diejenige Bewegung oder Hemmung, allgemein denjenigen Act, welchen man f\u00e4lschlich als eine Wirkung des Wol-lens ansieht. Das letztere constatirt nur eine Situation, aber schafft sie nicht, es ist ein Effect, ohne Ursache zu sein. Diese Behauptung ist nur dann richtig, wenn man das Wollen als ein Urtheil bejahender oder verneinender Art auffasst, nur ist es mir schwer begreiflich, wie man, abgesehen von dem Satz \u00bbIch will\u00ab, zu einer solchen Meinung gelangen kann. Ich war deshalb wohl berechtigt auf den Unterschied hinzuweisen, welcher zwischen der nachtr\u00e4glichen, vielleicht auch gleichzeitigen Reflexion \u00fcber ein unmittelbares inneres Geschehen und diesem letzteren stattfindet. Jene constatirt allerdings nur, aber es bedarf ihrer nicht, damit ein Wollen sich vollziehe. Unabh\u00e4ngig von dem Satz \u00bbje veux\u00ab und nicht als ein Urtheil ereignet sich in uns das Wollen als ein allerdings mit anderen Vorg\u00e4ngen vereinigter, aber in seiner Eigenth\u00fcm-lichkeit erkennbarer Act des Bewusstseins.","page":404},{"file":"p0405.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n405\nII. Der weitere Willensbegriff.\nSchon fr\u00fch begann man in der deutschen Psychologie die Lehre vom Willen auf eine breitere Basis zu stellen. So spricht bereits Christian Wei\u00df in seinen Untersuchungen \u00fcber das Wesen und Wirken der menschlichen Seele 1811 von zwei Elementen Trieb und Sinn oder Richtung und Bildung, aus denen sich das ganze Seelenleben zusammensetzen soll. Von diesen w\u00fcrde das erstere allen Willensph\u00e4nomenen zu Grunde liegen, man sieht, wie umfassend der Begriff gew\u00e4hlt ist, er bedeutet das Richtung Gebende, das Treibende. Schon in diesem Versuch tritt das Eigenth\u00fcmliche solcher Erweiterung des gew\u00f6hnlichen Willensbegriffs hervor. Es wird das allgemeinste Merkmal aller Willensth\u00e4tigkeit als das Element derselben bezeichnet, wodurch sie sich von allen anderen Seelenvorg\u00e4ngen unterscheidet. Ich darf daher diese Richtung, die in Beneke und Fort la ge ihre Hauptvertreter gefunden hat, als die logisch-metaphysische Erweiterung des Willensbegriffs charakterisiren. Dem gegen\u00fcber ist in neuerer Zeit, als die unmittelbare innere Erfahrung auch erkenntnisstheoretisch als das unmittelbar Gewisse, das schlechthin Wirkliche anerkannt wurde, eine empirische Erweiterung des Willenshegriffs durchgef\u00fchrt worden, mit deren Darstellung ich meine Arbeit beschlie\u00dfen werde.\n1. Die logisch-metaphysische Erweiterung des Willenshegriffs.\nEine gro\u00dfe Rolle bei der Ausdehnung des Willensbegriffs \u00fcber die im Bisherigen erw\u00e4hnten Grenzen spielt die Annahme eines unbewussten Seelenlebens und die Verlegung der in dem bewussten constatirbaren Vorg\u00e4nge in dasselbe. Am vorsichtigsten und am meisten empirisch verf\u00e4hrt in dieser Richtung Beneke, welcher die Strebung als psychisches Elementarph\u00e4nomen im weiteren Sinne auffasst. Weit constructiver sind die Ausf\u00fchrungen Fortlage\u2019s gehalten, der den Trieb als Grund und Ursache des Bewusstseins ansi\u00e9ht und dasselbe in der auch bei Vertretern negirender Richtungen hervortretenden Weise als einen Ueberschuss und Luxus des psychischen Wirkens betrachtet. Vollends metaphysisch ist die Meinung J. H. Fichte\u2019s, welcher in dem Triebe die urspr\u00fcnglichste","page":405},{"file":"p0406.txt","language":"de","ocr_de":"406\nOswald Kfllpe.\nAeu\u00dferung des Geistes erkennt und sich im wesentlichen an Fortlage und Beneke anschlie\u00dft.\na. Die Strebung als elementares psychisches Ph\u00e4nomen.\nNeben Herhart hat sich besonders Beneke um die wissenschaftliche Behandlung der Psychologie verdient gemacht. Gerade in denjenigen Punkten, welche wir jenem vorzuwerfen hatten, dass er diese empirische Wissenschaft auf metaphysische Voraussetzungen gr\u00fcndet und Mathematik auf Erscheinungsreihen anwendet, deren Erkenntniss noch nicht weit genug gediehen war, berichtigt Beneke seine Lehre. Die innere Erfahrung ist f\u00fcr ihn die letzte und einzige Quelle psychologischer Forschung, und in der sorgf\u00e4ltigen Beobachtung des unmittelbar Gegebenen sieht er seine vornehmste Aufgabe. Es konnte nicht ausbleiben, dass beide Richtungen, die mit dem Anspruch auftraten, die Psychologie reformiren zu wollen, mit einander in Conflict geriethen. Die Herbartianer und Herbart selbst haben es an schroffen und scharfen Kritiken nicht fehlen lassen, man vgl. die Recensionen von Herbart im XII. Bande der S\u00e4mmtl. Werke (Ausg. Hartenstein) \u00fcber Beneke\u2019s Erfahrungsseelenlehre und Psychologische Skizzen, das Urtheil von Drobisch in seiner Empirischen Psychologie \u00a7 133, und die jeder Selbst\u00e4ndigkeit entbehrende, aber zahlreiche kritische Bemerkungen anderer Autoren anf\u00fchrende \u00bb Kritik der Psychologie von Beneke\u00ab von A. Weber, 1872. Die Angriffe beziehen sich einerseits auf den Mangel grundlegender metaphysischer Anschauungen, also auf das rein Empirische, andererseits auf die bei aller Verwandtschaft mit Herb art\u2019s Lehren verschwommene, unklare Ausdrucksweise. Was den ersten Punkt anlangt, so wird der Vorwurf heute zur\u00fcckgewiesen werden m\u00fcssen; die Aehnlichkeit mit Her hart ist zum gro\u00dfen Theil nur scheinbar, und darauf wird noch n\u00e4her von mir einzugehen sein ; endlich der Mangel an Pr\u00e4cision in der Darstellung findet sich in auffallender und st\u00f6render Weise in dem Lehrbuch der Psychologie als Naturwissenschaft, dagegen sind die Psychologischen Skizzen sehr lesbar und f\u00fcr ein wirkliches Verst\u00e4ndniss der Beneke\u2019sehen Anschauungen unentbehrlich. Ich habe daher auch dieses Werk vor allem benutzt. Die Erkl\u00e4rung, welche Beneke selbst \u00fcber sein Verh\u00e4ltniss zu Herbart in der Neuen Psychologie","page":406},{"file":"p0407.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n407\n1845 gegeben, wird jeden unbefangen Urtbeilenden zur Beistimmung veranlassen. Er hat klar und objectiv die wesentlichen Differenzen hervorgehohen, die zwischen seinen und Her hart\u2019s psychologischen Ansichten obwalten.\nIch versuche im Folgenden ein Bild von den uns hier inter-essirenden Anschauungen Beneke\u2019s im Hinblick auf Herb art zu entwerfen. W\u00e4hrend der letztere mit dem Begriff einer einfachen Seele und einfacher Selbsterhaltungen an die Psychologie herantritt, betont Beneke die empirische Methode, die voraussetzungslose Feststellung und Bearbeitung des Thats\u00e4chlichen1). Er verlangt eine Lehre von den Elementen des Seelenseins, wie sie schon Jacob nach Analogie der physikalisch-chemischen Elementen-lehre gefordert hatte. Leider sucht Beneke die Elemente des psychischen Lebens nicht in den qualitativ einfachsten Thatsachen des Bewusstseins, sondern in formalen Anlagen, die nur durch eine erst zu rechtfertigende Theilung des inneren und \u00e4u\u00dferen Seins als rein psychisch festgestellt werden k\u00f6nnten. Trotz der vollst\u00e4ndigen Kritik, mit welcher Herbart die Verm\u00f6genslehre ersch\u00fcttert hatte, finden wir bei Beneke wieder den Begriff des Verm\u00f6gens. Aber in der reichlichen Verwendung des Unbewussten sehen wir beide Hand in Hand gehen. Weder das Eine noch das Andere ist Erfahrungsthatsache, man kann es nur aus dem Gegebenen erschlie\u00dfen. Und wir sind hei einem Empiriker vor allem berechtigt nach dem Motiv solcher Annahmen zu fragen. Es ist offenbar die Thatsache, dass wir die Entstehung von Empfindungen an \u00e4u\u00dfere Ursachen, Reize gebunden sehen, und ferner die Thatsache, dass Vorstellungen nach l\u00e4ngerer Pause wieder in das Bewusstsein ein-treten, f\u00fcr Beneke der Ausgangspunkt seines Verm\u00f6gensbegriffs und seiner Annahme und Bestimmung unbewusster 'Seelenvorg\u00e4nge. Die urspr\u00fcngliche Beschaffenheit der Seele, die noch nicht Reize empfangen hat, wird durch den Begriff von Urverm\u00f6gen zum Ausdruck gebracht. Es gibt deren so viele, als es Reizarten gibt, die besondere seelische Acte oder Erscheinungen hervorrufen. Sie sind wesentlich Strebungen, d. h. sie streben zu der Erf\u00fcllung durch Reize \u00bbals zu der ihnen durch ihre Natur bestimmten Erg\u00e4nzung\n1) Psycholog. Sk. I S. 16 ff.\nWundt, Philos. Studien. V.\n28","page":407},{"file":"p0408.txt","language":"de","ocr_de":"408\nOswald K\u00fclpe.\nauf\u00ab1). Die erf\u00fcllten Urverm\u00f6gen hei\u00dfen Grundverm\u00f6gen, dieselben verlieren bald von der Reizmenge, die sie in sich aufgenommen, durch die allgemeine Ausgleichung der beweglichen Elemente, und sofern sie durch Reizentschwinden wieder frei Werden, entstehen abermals Strebungen2). Diese letzteren unterscheiden sich von der erstgenannten Form der Strebungen \u00bbwesentlich dadurch, dass sie Strebungen nach etwas (nach einer bestimmten Reizerf\u00fcllung) sind.\u00ab Die aus dem Bewusstsein verdr\u00e4ngten Seelenth\u00e4tigkeiten bilden sich zu unbewusstem Angele gth ei ten oder Spuren f\u00fcr k\u00fcnftige gleichartige Seelenth\u00e4tigkeiten aus. bn-bewusstes und Bewusstes unterscheiden sich f\u00fcr Beneke nur dem Grade nach, so dass jenes als geschw\u00e4chtes Bewusstes und dieses als gesteigertes Unbewusstes angesehen werden kann. Daraus erkl\u00e4rt sich, wie eine unbewusste Seelenth\u00e4tigkeit zu einer bewussten wird: entweder wird ihr Verm\u00f6gen oder ihr Reiz oder beides zugleich gesteigert. Das erstere geschieht bei allen willk\u00fcrlichen Th\u00e4tig-keitserweckungen, das zweite bei den unwillk\u00fcrlichen lebendigeren und kr\u00e4ftigeren Aufregungen ; das dritte endlich in dem Vorstellungswechsel des gew\u00f6hnlichen Gedankenlaufs3).\nEine F\u00fclle von Angelegtheiten hei\u00dft Raum, und so gibt es einen Strebungs-, Vorstellungs- und Lustraum4 5). W\u00e4hrend ihre Unterscheidung in der Theorie keine Schwierigkeiten mache, seien sie thats\u00e4chlich nicht geschieden, weil jedes Begehren zugleich Lustreproduction und Vorstellung sei. Unter dem Begehren versteht Beneke das Anstreben einer reproducirten Lustempfindung6). Bei der Bildung der letzteren wird eine gr\u00f6\u00dfere F\u00fclle von Reizen aufgenommen, aber nicht so vollkommen angeeignet, wie bei den gew\u00f6hnlichen Wahrnehmungen. Es kann also auch mehr von dem Angeeigneten wieder verloren gehen, zugleich aber auch das Grundverm\u00f6gen durch die h\u00f6here Reizung einen h\u00f6heren Grad der Ausbildung erfahren. Jede von einer Lustempfindung zur\u00fcckgebliebene Spur ist einer zwiefachen Reproduction f\u00e4hig : als Lust erinner ung\n1)\tEbend. I S. 77 ff. II S. 91 f. Lehrbuch etc. \u00a7 25.\n2)\tPs. Sk. II S. 92 ff. Lehrb. \u00a7 168.\n3)\tPs. Sk. I S. 80.\n4)\tEbend. S. 114 ff.\n5)\tEbend. S. 78.","page":408},{"file":"p0409.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n409\noder Lusteinbildung und als Begehren1). Der Unterschied zwischen beiden ist nur ein quantitativer, insofern er von der gr\u00f6\u00dferen oder geringeren Festigkeit der Reizaneignung und von dem leichteren oder schwereren Zufluss der erg\u00e4nzenden Reize abh\u00e4ngt. Begehren aber ist eine reproducirte Lustempfindung, \u00bbinwiefern der fr\u00fcher aufgenommene Reiz in ihr verloren gegangen ist; Vorstellung desselben, inwiefern er sich in ihr erhalten hat: und zwar so, dass diese beiden Elemente nicht als zwei besondere Th\u00e4tigkeiten neben einander, sondern in einer und derselben Th\u00e4tigkeit unmittelbar in einander liegen.\u00ab So kann also eine Seelenth\u00e4tigkeit zugleich, nur in verschiedenen Beziehungen, Vorstellung, Gef\u00fchl und Strebung sein2). \u00bbVorstellung ist eine Seelenth\u00e4tigkeit, inwiefern dieselbe, mehr oder weniger klar, in dem Urtheilsverh\u00e4ltnisse steht (auch bei der einfachsten Wahrnehmung zeigt eine genaue Zergliederung ein solches); Gef\u00fchl ist dieselbe in Bezug auf das unmittelbare Sich-messen ihrer Elemente gegen die Elemente anderer zugleich oder nach ihr gjegebener Seelenth\u00e4tigkeiten; und Streben, inwiefern sie unerf\u00fclltes Grundverm\u00f6gen in sich enth\u00e4lt, durch dessen Ueber-tragung sie dann gewisse Bewegungen in der Seele hervorzubringen im Stande ist.\u00ab Alle Triebe und Begehrungen geh\u00f6ren zu den Gef\u00fchlen der Unlust, weil sie auf ein bewusstes unerf\u00fclltes Grundverm\u00f6gen zur\u00fcckgehen, das sich in diesem seinem eigenth\u00fcmlichen Ma\u00dfverh\u00e4ltniss kundgibt3). / Ein Unlustgef\u00fchl ohne alles Aufstreben entsteht nur dann, wenn auf irgend eine Weise eine Ert\u00f6dtung des seiner Natur nach aufstrebenden unerf\u00fcllten Grundverm\u00f6gens vorangegangen ist. Lust- und Schmerzth\u00e4tigkeiten sind an und f\u00fcr sich keine Strebungen, k\u00f6nnen aber sehr leicht in solche verwandelt werden, sobald die Reizung aufh\u00f6rte, welche sie zu Lust und Schmerz bildete. Denn ein Theil des aufgenommenen Reizes entschwindet und muss sich demgem\u00e4\u00df als Strebung ank\u00fcndigen.\nDas allgemeine Gesetz, welches die verschiedenen Seelenth\u00e4tigkeiten in ihrem Verh\u00e4ltniss zu einander beherrscht, besteht darin, \u00bbdass alle zugleich gegebenen Th\u00e4tigkeiten unserer Seele in dem\n1)\tLehrb. \u00a7 172. Ps. Sk. II S. 209 ff.\n2)\tJ2fc-Sfe-r*Sr*-223.\n3)\tX\u201eS-\u00ee25 f.\n28*","page":409},{"file":"p0410.txt","language":"de","ocr_de":"410\nOswald K\u00fclpe.\nbest\u00e4ndigen Streben begriffen sind, den Grad ihrer Erregtheit oder ihrer Bewusstseinsst\u00e4rke gegen einander auszugleichen.\u00ab Dieses Gesetz reicht offenbar nicht aus, um dasjenige zu erkl\u00e4ren, was man als Enge des Bewusstseins bezeichnet, und es ist eigenth\u00fcmlich, dass weder Herbart noch Beneke in ihrer Theorie dieser That-sache gerecht geworden sind. Durch die Erweiterung des Seelenlebens in das Unbewusste konnte doch nur erkl\u00e4rt werden, was aus allen denjenigen inneren Zust\u00e4nden oder Erlebnissen geworden, die aus dem Bewusstsein verschwunden waren, keineswegs aber ein Grund daf\u00fcr angegeben sein, weshalb das Bewusstsein nur einer verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig kleinen Zahl von YorStellungen gleichzeitig zu Theil werde.\nEs er\u00fcbrigt uns noch der Vergleich der Beneke\u2019sehen Ansicht \u00fcber die Strebungen mit derjenigenHer bart\u2019s. Es l\u00e4sst sich vor allem ein durchgreifender Unterschied nicht verkennen: das Streben wird von Beneke nicht aus der Theorie eliminirt, sondern erh\u00e4lt eine dem bewussten Thatbestande entsprechende Rolle. Die Urverm\u00f6gen sind Strebungen, die unerf\u00fcllten Grundverm\u00f6gen gleichfalls, \u00fcberall im psychischen Leben, wo ein Rest, ein Mangel, eine Abnahme gegen\u00fcber fr\u00fcherer oder sp\u00e4terer F\u00fclle und Vollst\u00e4ndigkeit zu constatiren ist, liegt eine Strebung vor. Das ber\u00fchrt sich mit H erbart\u2019s Theorie nur entfernt und hat ganz andere Bedeutung als diese. Jener spricht von eirj\u00eam Streben, wo eine Vorstellung sich gegen Hindernisse aufarbeitet, und dasselbe soll nach ihm nur ein wirkungsloser bewusster Effect sein, der das eigentliche Geschehen begleitet. Bei Beneke sind es die Urverm\u00f6gen oder die Angelegtheiten, die als Strebungen sich geltend machen, jene nicht einmal bewusster Weise, und ihre Wirklichkeit wird ohne jeden Vorbehalt anerkannt. Nicht sowohl deshalb, weil etwa die Strebungen elementare seelische Acte w\u00e4ren, welche sich der Gesammtheit inneren Geschehens mit eigenth\u00fcmlicher Nothwendigkeit eingliederten, sondern weil f\u00fcr Beneke die Begriffe Strebung, Gef\u00fchl und Vorstellung nur Beziehungen oder Gesichtspunkte von gleicher Wichtigkeit bedeuten, die an den einzelnen inneren Erscheinungen festgestellt werden k\u00f6nnen. Hier tritt uns zuerst die f\u00fcr die weitere Entwicklung fruchtbare Meinung entgegen, dass an jedem seelischen Act jene Dreiheit gleich hetheiligt ist, dass nur verm\u00f6ge unserer logischen","page":410},{"file":"p0411.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t411\nAbstraction die Sonderung der einzelnen Verm\u00f6gen und Leistungen gelingt.\nWir d\u00fcrfen daher in doppeltem Sinne von einer Erweiterung des Willensbegriffs bei Beneke reden: erstlich insofern, als die Strebungen ohne Aenderung ihrer Bedeutung auch in\u2019s Unbewusste verlegt werden, und zwar an den Anfang der psychischen Entwicklung, zweitens insofern, als in jedem seelischen Vorgang vermittelst der theoretischen Erkenntniss ein Strebungselement gefunden wird. Beide Beziehungen sind logischer Natur. Denn nur auf dem Wege einer \u00fcber das Gegebene hinausf\u00fchrenden halb metaphysischen Betrachtung mag die Vergleichbarkeit, die blos graduelle Verschiedenheit des Bewussten und des Unbewussten angenommen werden. Und nur bei einer abstracten Auffassung der elementaren psychischen Processe wird man zu jenen Erkl\u00e4rungen oder Verallgemeinerungen derselben gelangen, wie sie in Beneke\u2019s Begriffen von Gef\u00fchl, Vorstellung und Strebung vorliegen./ Au\u00dferdem ist aber das Operiren mit den mannigfaltigsten Verm\u00f6gen auch nicht eigentlich empirisch, sondern erschlossen und abstract. Die unmittelbare innere Erfahrung lehrt weder Urverm\u00f6gen noch Grundverm\u00f6gen, weder Erf\u00fcllung durch Reize noch Entschwinden derselben, sondern Vorstellungen und Gef\u00fchle und Willensacte, untheilbare innere Vorg\u00e4nge. ^iVenn wir nach etwas streben, so wissen wir nichts von einem unerf\u00fcllten Grundverm\u00f6gen, sondern nur von einer Vorstellung und einem Gef\u00fchl und einem Wollen. / Diese einzelnen in dem complicirten Seelenvorgang enthaltenen elementaren That-sachen feststellen hei\u00dft wenigstens ebensoviel leisten, als sich allgemeine Begriffe von denselben bilden und sie diesen subsumiren. Beneke beginnt seine Arbeit sofort mit hypothetischen Voraussetzungen, statt mit Thatsachen, und ist noch in dem alten Irrthum befangen, dass ein Gegebenes erkl\u00e4rt sei, wenn man einen m\u00f6glichst allgemeinen Begriff davon gewonnen. In dieser Hinsicht ist Herbart\u2019s scharfe Kritik solchen Verfahrens dem Beneke\u2019sehen Schematismus weit \u00fcberlegen. Aber es liegen fruchtbare Keime in den geschilderten Lehren. Freilich nicht in der Verwendung des Unbewussten, in der ganzen Auffassung des Bewusstseins ; hier musste sorgf\u00e4ltigere Ueberlegung und ein wahrhaft empirischer Standpunkt zu anderem Urtheil gelangen. Wohl aber in der Behauptung,","page":411},{"file":"p0412.txt","language":"de","ocr_de":"412\nOswald K\u00fclpe.\ndass jeder psychische Act einen Complex darstelle, dessen Zergliederung der Verstand zum Zweck einer Theorie zu \u00fcbernehmen habe, und in der darin liegenden M\u00f6glichkeit einer freieren und vielseitigeren Beurtheilung des Gegebenen. Diese Erkenntniss m\u00fcssen wir Beneke zum besonderen Verdienste anrechnen.\nZum Schluss habe ich noch die Ansicht Bene ke\u2019s \u00fcber Widerstreben und Wollen im gew\u00f6hnlichen Sinne dieses Wortes mitzu-theilen. Jenes entsteht, wo Vollreizth\u00e4tigkeiten von reizmangelnden Gebilden gleicher oder doch sehr \u00e4hnlicher Art ihrer Beize schnell beraubt werden. Dieselben hei\u00dfen in Bezug auf die unerf\u00fcllten Unlustgebilde Widerstrebungen *). Diese Erkl\u00e4rung leidet an den schon hervorgehobenen M\u00e4ngeln und l\u00e4sst sich schwerlich empirisch zureichend bew\u00e4hren. Da auch hier die bestimmte Beziehung auf das Ich fehlt, so wird die Einheitlichkeit des ganzen Actes nicht klar. Widerstreben hei\u00dft : gegen etwas Unlust Erregendes sich ablehnend oder gar abwehrend verhalten, also alles das thun, was von jenem befreien kann. Auf verschiedene Weise kann das geschehen, durch Bewegungen, wo es sich um etwas Wahrgenommenes oder Empfundenes handelt, durch Apperception anderer Vorstellungen oder Gedanken, wo solche den Gegenstand des Widerstrehens bilden. Dass die rasche Entleerung der Vollreizth\u00e4tigkeiten dasjenige sei, was mir diesen Act verst\u00e4ndlich machte, kann ich ebenso wenig und noch weniger sagen, als dass Herb a r t\u2019s fr\u00fcher erw\u00e4hnte Ansicht mich befriedigte. Denn die Unlust entsteht hier gar nicht aus einem leeren Verm\u00f6gen, sondern aus einer klaren Vorstellung oder Wahrnehmung von etwas Inad\u00e4quatem, Unangenehmem, und ich w\u00fcsste die Vollreizth\u00e4tigkeiten nicht anzugeben, denen in pl\u00f6tzlicher und heftiger Weise durch dieselbe von ihrem Inhalt genommen w\u00fcrde.\nDie Ausbildung zum Willen besteht vorz\u00fcglich darin : \u00bb dass erstens die Begehrung zugleich vorgestellt oder gedacht werde ; dass sie ferner gedacht werde in Verkn\u00fcpfung mit der AggregatvorStellung unseres Ich oder als unser Begehren; und dass sie endlich gedacht werde in Verbindung mit einer Beihe von Mitteln, welche zu ihrer Verwirklichung f\u00fchren k\u00f6nnen\u00ab1 2). Da das Begehren\n1)\tPs. Sk. II 219 f. Lehrb. \u00a7 183.\n2)\tPs. Sk. II 517.","page":412},{"file":"p0413.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n413\nauf ein unerf\u00fclltes Grundverm\u00f6gen zur\u00fcckgeht, also Streben desselben nach Erg\u00e4nzung ist, so beruht alle Wirksamkeit unserer Willensth\u00e4tigkeiten darauf, dass sie ihre Verm\u00f6gen in den Aus-gleichungsprocess mit anderen Seelenth\u00e4tigkeiten und mit den unbewussten Spuren hineinbringen1). Wo also Mittheilung von Reizen zur Ausbildung eines Verm\u00f6gens nothwendig ist, wie bei den Gef\u00fchlen, da vermag der Wille nichts, seiner Herrschaft unterworfen sind nur diejenigen Seelenth\u00e4tigkeiten, deren Bildung aus den im Unbewussten gegebenen Angelegtheiten durch die Steigerung des J blo\u00dfen Grundverm\u00f6gens geschehen kann, wie z. B. das abstracte ) Denken. Nun ist die Reihenfolge der unwillk\u00fcrlichen Th\u00e4tigkeiten derart, dass die Erweckung \u00fcberwiegend auf die denselben fr\u00fcher gefolgten fortschreitet, w\u00e4hrend bei den willk\u00fcrlichen der sp\u00e4tere Zustand den Anfang bildet und die fr\u00fcher vorangegangenen folgen. Vorher and Nachher beruhen auf einem beschr\u00e4nkten Zugleich. \u00bbDie Geeignetheit einer Seelenth\u00e4tigkeit also, die ihr fr\u00fcher gefolgte oder die ihr vorangegangene zu wecken, wird vor Allem davon abh\u00e4ngen, ob dieselbe jetzt, wo sie diese Weckung vollziehen soll, mehr ihrem fr\u00fcheren Ende oder ihrem fr\u00fcheren Anf\u00e4nge gleich ist. Nun aber findet sich jenes offenbar, wo ein Uebergewicht des Reizes, dieses, wo ein Uebergewicht des Verm\u00f6gens gegeben ist.\u00ab Die k\u00fcnstliche Erkl\u00e4rung der bei der Willenshandlung stattfindenden Anticipation des Effects ist charakteristisch f\u00fcr die psychologische Arbeit mit Begriffen. Die ganze Theilung in Reiz und Verm\u00f6gen ist eine weder von Beneke gerechtfertigte noch sonst empfehlenswerthe. Sein empirischer Standpunkt h\u00e4lt nur zum Theil, was er verspricht, und seine psychologischen Anschauungen entbehren der inneren Cons\u00e9quenz und Pr\u00e4cision, welche im Ganzen . denjenigen Herbart\u2019s zugesprochen werden muss. Doch zeigen sich die Keime fruchtbarer Gesichtspunkte und eine F\u00fclle von feinen und treffenden Einzelbeobachtungen in seinen Schriften.\nb. Der Trieb als Grund des Bewusstseins.\nIn seinem \u00bbSystem der Psychologie als empirischer Wissenschaft aus der Beobachtung des inneren Sinnes\u00ab (2 Bde. 1855) hat\n1) Ibid. I 410 ff.","page":413},{"file":"p0414.txt","language":"de","ocr_de":"414\nOswald K\u00fclpe.\nFortlage das Unternehmen Beneke\u2019s selbst\u00e4ndig weitergef\u00fchrt und von Neuem begr\u00fcndet. Die innere Wahrnehmung steigert er zu einer Methode der Selbstbeobachtung, und die psychologischen Grundgesetze werden von ihm auf physiologische Vorg\u00e4nge \u00fcbertragen. Sehr stark tritt aber auch hei ihm die eigenth\u00fcmliche logische Zergliederung und Umarbeitung des Gegebenen hervor, seine\u2018Auseinandersetzungen machen zuweilen den Eindruck dialektischer K\u00fcnstelei. Die Erweiterung des Willenshegriffs gelangt hier bereits zu der Annahme, dass der Trieb als elementares Willensph\u00e4nomen Grund des Bewusstseins sei und das eigentlich Wirkliche des seelischen Lebens repr\u00e4sentire. Es wird daher nothwendig sein sich, wenigstens kurz, die principiellen Er\u00f6rterungen vorzuf\u00fchren, welche diese Annahme begr\u00fcnden sollen.\nDie Frage, nach dem Verh\u00e4ltniss des Bewussten zum Unbewussten wird vor allem einer eingehenden Untersuchung von Fortlage unterworfen1). Die Thatsache des Ged\u00e4chtnisses f\u00fchrt auch ihn zu der Voraussetzung unbewusster psychischer Vorg\u00e4nge, die Meinung ferner, dass der Vorstellungsinhalt als solcher im Unbewussten erhalten bleibe, dass also der erinnerbare Vorstellungsinhalt unbewusst sei, hat die Behauptung zur Folge, dass die Bewusstheit eine Form ist, welche vom Vorstellungsinhalt abgetrennt werden kann. Trotzdem ist aber der Unterschied zwischen Bewusstsein und Unbewusstsein kein Gradunterschied der Vorstellungsst\u00e4rke, sondern jenes bedeutet eine durch die Wahrnehmung hinzukommende ganz neue Eigenschaft. Au\u00dferdem sucht Fort l\u00e4ge zu zeigen, dass Vorstellungen als bewusst zugleich solche sind, deren wir uns bewusst sind, dass es also nichts Bewusstes gibt, von dem ich nicht wei\u00df. Es erhebt sich nun die Frage nach dem Wesen des Bewusstseins, dieser neuen Eigenschaft des in dasselbe eintretenden Vorstellungsinhalts. Offenbar besteht dieselbe in der Klarheit und Deutlichkeit, das Unbewusste ist dunkel, ist Nacht, das Bewusste zeichnet sich durch besondere Helligkeit aus. Eine solche Klarheit ist aber allen Zust\u00e4nden der Aufmerksamkeit, des Zweifels, der Frage eigen. \u00bbNur die Vorstellungen also, welche vom Umkreis unserer Aufmerksamkeit umspannt werden, sind die bewussten.\u00ab\n1) System der Psych. I S.\u25a0 53 ff.","page":414},{"file":"p0415.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n415\nJede Aufmerksamkeit ist ein gespannter, wartender, fragender Zustand, das Bewusstsein ist eine Frage an die Zukunft.\nIn jeder Frage ist eine Disjunction, ein Ja oder Nein? enthalten und eine Spannung. Die letztere gibt sich kund als eine Th\u00e4tigkeit der Neugier, der Begierde. Die gehemmte und auf die Zukunft verschobene Th\u00e4tigkeit der Begierde hei\u00dft die Bejahung, die Hemmung oder Suspension der Th\u00e4tigkeit dagegen die Verneinung. Ja und Nein sind also Trieb-Kategorien. Eine Begierde oder ein Interesse erscheint immer als erregender Reiz der Frage, richtet sich aber nicht auf die Frage, sondern auf das Resultat, eine zu bejahende oder zu verneinende Vorstellung. W\u00e4re nur der Trieb von unmittelbarer Wirkung, so g\u00e4be es keinen Zustand der Frage oder des Zweifels.\nDaraus erhellt, dass das Bewusstsein gekn\u00fcpft ist an die F\u00e4higkeit zu warten, Geduld zu \u00fcben, die Triebe zu hemmen. Innerhalb der so bezeichneten Grenzen ist dann die St\u00e4rke der Frage derjenigen des Triebes proportional. Letzterer ist w\u00e4hrend seiner Hemmung nicht gel\u00e4hmt, sondern die Art seiner Wirksamkeit ist eine andere geworden, n\u00e4mlich die Frage. Das Erscheinen des mit dem Triebe verkn\u00fcpften Vorstellungsinhaltes ist das Nebenph\u00e4nomen, welches die Selbsterscheinung des Triebes durch Suspension seiner Wirkung in die Au\u00dfenwelt begleitet. Fortlage unterscheidet sodann zwischen Bewusstseinsfeld und Bewusstseinsfocus, wobei immer Bewusstsein mit Aufmerksamkeit identifient wird. Beides ist aber wieder nur anderer Ausdruck f\u00fcr Frage oder Wahrnehmung, und alle diese Begriffe bezeichnen die Richtung des Triebes auf eine noch nicht vorhandene und erst in Zukunft zu erwartende Anschauung.\nDas Bisherige belehrt uns \u00fcber die Bedeutung, welche der Trieb f\u00fcr das Bewusstsein hat, und \u00fcber das Verh\u00e4ltniss desselben zur Vorstellung. W\u00e4hrend bei Herbart Triebe, Strebungen, Begierden Nebenerscheinungen des Vorstellungsverlaufes sind, werden hier umgekehrt die Vorstellungen als Begleitph\u00e4nomene der Triebe aufgefasst, wenigstens soweit sie bewusst werden. Wir haben weiter zu fragen, welche Rolle nun die Gef\u00fchle spielen. Auch sie sind nach Fortlage nicht eine Erscheinungsreihe von selbst\u00e4ndiger","page":415},{"file":"p0416.txt","language":"de","ocr_de":"416\nOswald Kiilpe.\nWirksamkeit, sondern dem Wesen nach identisch mit den Trieben \u2019). Man unterscheidet begehrende oder verlangende Triebe und solche des Abscheus./ Jene streben nach einem gewissen nicht vorhandenen Zustande, welcher, sobald er mit Bewusstsein eintritt, als Lust empfunden wird, diese trachten nach der Befreiung von einem unangenehmen Zustande. Zum bewussten Triebe geh\u00f6ren demnach:\n1)\tgewisse Gef\u00fchle der Lust und Unlust als Begleitung,\n2)\tgewisse Zust\u00e4nde, von denen hinweg oder zu denen hingestrebt wird,\n3)\tdie Zeitanschauung , wobei der verabscheute Zustand die Gegenwart, der begehrte die Zukunft bildet,\n4)\tgewisse Bewegungen, entweder im inneren oder \u00e4u\u00dferen Sinne, wodurch entfernt oder herbeigef\u00fchrt wird.\nWollen wir die Lust oder Unlust definiren, so sind wir auf die Triebe dabei angewiesen. Wir k\u00f6nnen nur sagen: Lust ist derjenige Trieb, welcher den vorhandenen Zustand festzuhalten, zu verl\u00e4ngern oder zu erneuern sucht, Unlust der Trieb, einen vorhandenen Zustand zu fliehen oder zu beseitigen. Demnach/sind Gef\u00fchl und Trieb Wechselbegriffe, die sich auf denselben Vorgang beziehen^. Der Unterschied besteht in Folgendem. Unlust bezeichnet den Bewusstseinsinhalt, sofern er ein schlechthin einbewusster ist, d. h. sofern er nur durch den inneren Sinn eines Jeden f\u00fcr das eigene Bewusstsein erkannt werden kann, Abscheu oder abwehrender Trieb denselben, sofern er ein sowohl einbewusster als vielbewusster sein kann. Viele Triebe scheinen blo\u00dfe Strebungen zu sein und sind dann nat\u00fcrlich lediglich einbewusst, geben sie sich aber durch die r\u00e4umliche Bewegung kund, so werden sie vielbewusst, d. h. zugleich von anderen Individuen wahrgenommen. Aber selbst wenn die von einer Strebung ausgehende Ver\u00e4nderung blos den inneren Sinn, also das Bewusstsein betrifft, so hei\u00dft sie nicht mehr Unlust, sondern Trieb. /Der Unterschied zwischen Gef\u00fchl und Trieb besteht also nur darin, dass ich \u00fcberall, wo der dadurch bezeichnete Vorgang eine Ver\u00e4nderung \u00e4u\u00dferlich oder innerlich hervorgerufen, denselben einen Trieb nenne, wo er dagegen ohne derartige Wirkung auftritt, Lust oder Unlust./Diese\n1) I S. 300 ff.","page":416},{"file":"p0417.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n417\nbeiden Zust\u00e4nde unterscheiden sich aber auch ihrerseits in folgender Beziehung. Die reine Lust besteht fort, wenn kein Hinderniss eintritt, die reine Unlust verschwindet im gleichen Falle. Da sich demnach die Unlust nur durch Hindernisse erhalten kann, so ist sie etwas Accidentelles, w\u00e4hrend die Lust substantiell ist. Die Wurzel des Lebens ist die primitive Lust oder der innere Sinn. Indem die Sensationen, d. h. wohl die Reize eindringen, erleidet derselbe \u00e4u\u00dfere Schmerzen, durch die Selbstverluste werden innere Schmerzen erregt. Angriffs- und Widerstandstrieb sind die beiden Reactionen gegen diese Schmerzen. Ihr Streben verschmilzt mit demjenigen der primitiven Lust nach Fortsetzung ihres Zustandes zu Einem Product, einer Strebungsgr\u00f6\u00dfe, \u00bbderen Natur es mit sich bringt, sich selbst.. an Begehren, W ollen oder Pr\u00e4tension dessen, was sie ausf\u00fchren m\u00f6chte, stets gleichzubleiben, und in dieser gleichbleibenden Gr\u00f6\u00dfe die Summe der Kraft oder des Selbst-bestandes anzugeben, welche dem Selbst bei einer v\u00f6lligen Restitution seiner s\u00e4mmtlichen . . . Verluste zukommen w\u00fcrde.\u00ab\n' Ein directer Schmerz entsteht aber nicht aus blo\u00dfer Verminderung der Selbstlust, sondern \u00bberst dann, wenn dieses Streben in seiner eigenen Existenz, in den Bewegungsr\u00e4umen seiner eigenen Triebe angegriffen wird\u00ab, also in seinem Willen (den Strebungsr\u00e4umen). Der Strebungsraum setzt aber die Existenz einer directen Unlust voraus. Man muss also neben der Grundlust einen directen primitiven Grundschmerz annehmen, aus welchem sofort Streben oder Wille hervorgehen.\nDer Begehrungstrieb, welcher sich auf eine noch nicht vorhandene Lust richtet, wird von einer Unlust begleitet. Diese ist nicht im Stande ihn seinem Ziele zuzulenken, weil sie als solche kein Ziel hat, sondern es wird diese Lenkung bewirkt von der in Form einer Ahnung, Hoffnung, Erwartung etc. auftretenden Anticipation des erstrebten Zieles. Eine jede solche Anticipation enth\u00e4lt etwas von dem Zustande in sich, den sie anticipirt, und da dieser ein Zustand der Lust ist, so f\u00fchrt sie immer einen Grad von Lustempfindung mit sich. Diese Lust strebt zu beharren mni den vorhandenen Unlustzustand zu verdr\u00e4ngen. Die Anticipation oder Begehrung ist aber ein\u00e9 dreifache. Das reine Lustgef\u00fchl begehrt die Fortsetzung seines Zustandes, das reine Unlustgef\u00fchl das","page":417},{"file":"p0418.txt","language":"de","ocr_de":"418\nOswald K\u00fctpe.\nAuf h\u00f6ren seines Zustandes. \u00bbDas aus beiden gemischte Gef\u00fchl begehrt neben dem Aufh\u00f6ren seiner Unlust eine Vergr\u00f6\u00dferung des Lustzustandes, von dem es die Anticipation bei sich tr\u00e4gt.\u00ab Da der Lusttrieb nur die Fortsetzung seiner selbst begehrt, so kann man ihn auch den Trieb nach \u00bbzukunftloser Gegenwart\u00ab nennen. Der Unlusttrieh ist also der eigentlich zeiterzeugende. Die Zeitanschauung ist das einzige stets zutreffende Unterscheidungsmerkmal zwischen Gef\u00fchl und Trieb, der letztere anticipirt die Zukunft, jenes ist der Trieb abgesehen von seiner Anticipation. Die Grade der eine Begierde begleitenden Unlust sind denjenigen des Strebens proportional. Diese Unlust ist eine indirecte Empfindung, weil sie aus dem Nichtvorhandensein eines vorgestellten Zustandes her-v\u00f6rgeht. Aber auch directe Gef\u00fchle werden durch Vorstellungen erzeugt. Es gehen demnach ein indirecter und ein directer Trieb von einem Phantasiebilde aus. Die indirecten stellen sich um so eher und um so st\u00e4rker ein, je gr\u00f6\u00dfer der Gegensatz zwischen dem Inhalt der Phantasiebilder und demjenigen der Wirklichkeit ist. Das eigentlich Treibende im Triebe ist hierbei das Gef\u00fchl der indirecten Unlust.\nIch breche damit ab und wende mich nun zu einer Beurtheilung der dargestellten Anschauungen. Das Begriffliche, Dialektische derselben tritt so deutlich hervor, dass ich kaum die Punkte anzugeben brauche, in denen die logische Erweiterung des Willensbegriffs constatirt werden kann. Zun\u00e4chst gilt dies nat\u00fcrlich wieder von der reichlichen Verwendung des Unbewussten, von der ganzen Auseinandersetzung \u00fcber das Verh\u00e4ltnis des Bewussten zum Unbewussten. Wohl sucht Fortlage den Schein zu vermeiden, als w\u00e4re Bewusstsein nur ein gesteigertes Unbewusstsein, aber die fac-tische unterscheidende Bestimmung ergibt doch wenig Anderes. Helligkeit soll das Bewusstsein charakterisiren, w\u00e4hrend v\u00f6llige Dunkelheit im Gebiet des Unbewussten herrsche, die Inhalte sollen dabei dieselben bleiben. Aber woher wei\u00df Fortlage das? Die innere Beobachtung sagt uns \u00fcber das Unbewusste schlechterdings nichts aus, f\u00fcr sie kann daher alles, was aus dem Bewusstsein verschwindet, nur das Pr\u00e4dicat \u00bbnicht bewusst\u00ab erhalten, womit dann \u00fcberhaupt nichts \u00fcber das Wesen desselben bestimmt wird. Warum soll der erinnerbare Vorstellungsinhalt als solcher im Unbewusstsein","page":418},{"file":"p0419.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n419\n\u00bb\nfortexistiren ? Es ist ja eben so gut empirisch m\u00f6glich, dass er als rein physiologischer Vorgang au\u00dferhalb des Bewusstseins bestehe. Bewusstes und Unbewusstes verhalten sich also zu einander, wie A und Non-^4, und so gut ich unter Non-^f eine F\u00fclle der mannigfaltigsten Bestimmungen begreifen kann, so wohl darf ich auch von vornherein \u00fcber die Natur des Nicht-Bewussten alle m\u00f6glichen Com-binationen anstellen. Die eindeutige Entscheidung zwischen diesen f\u00e4llt vorl\u00e4ufig nicht der Psychologie, sondern der Metaphysik anheim.\nDamit ist dem ganzen logischen Geb\u00e4ude im Beich des Unbewussten der Boden entzogen. Pr\u00fcfen wir die einzelnen Theile desselben etwas n\u00e4her. Grundlust und Grundschmerz sind die Anf\u00e4nge seelischen Lebens. Jene muss als allgemeines Princip des Lebens, diese als Voraussetzung des Willens angenommen werden. Denn es gen\u00fcgt nicht den Schmerz blos durch \u00e4u\u00dfere Reize oder durch innere Verluste entstehen zu lassen, und daher die Grundlust allein an den Anfang zu setzen. Da der Trieb oder das Streben der letzteren nach einfacher Fortdauer in seinem eigenen Gebiet angegriffen sein muss, damit ein directer Schmerz entstehe, so hat man neben die Grundlust den Grundschmerz zu stellen. Diese Deduction ist mir am wenigsten klar geworden. Das Wesen des Schmerzes besteht ja nach Fortlage darin, zu verschwinden, wenn kein Hinderniss da ist. Als ein solches wird man nun gewiss die Grundlust, welche zuerst allein da ist, nicht bezeichnen k\u00f6nnen. Wie soll vollends aus diesem Grundschmerz sofort Trieb oder Wille hervorgehen? Sofern \u00e4u\u00dfere St\u00f6rungen oder innere Verluste, deren Eintritt auch nicht recht klar wird, sich geltend machen, wird nat\u00fcrlich die Grundlust als Trieb dagegen reagiren. Dann bedarf es aber gewiss keines Grundschmerzes mehr zur Erkl\u00e4rung dieses Triebes. Die Annahme eines Grundschmerzes scheint mir daher v\u00f6llig in der Luft zu schweben.\nWodurch entsteht ferner das Bewusstsein? Durch Hemmung der Triebe. Der Trieb anticipirt eine zuk\u00fcnftige Anschauung, seine augenblickliche Befriedigung w\u00fcrde kein Bewusstsein hervorrufen. In dem Ma\u00dfe aber, als dieselbe hinausgeschoben wird, entsteht ein Zwischenzustand, die Frage, die Aufmerksamkeit oder das Bewusstsein. So wird also Bewusstsein und Aufmerksamkeit entgegen","page":419},{"file":"p0420.txt","language":"de","ocr_de":"420\nOswald K\u00fclpe.\ndem psychologischen Sprachgebrauch und der inneren Erfahrung identifient. Die Gr\u00fcnde daf\u00fcr sehe ich erstlich in der unterscheidenden Bestimmung des Bewusstseins, dass es durch Helligkeit, Klarheit, Deutlichkeit der Inhalte charakterisirt sei, zweitens in der Behauptung, dass \u00abbewusst sein\u00ab gleichbedeutend sei mit \u00bbsich bewusst sein\u00ab. Jener Grund verleitet zu der Meinung, dass nur die Aufmerksamkeitszust\u00e4nde bewusst sind, weil gerade diese durch Klarheit vor anderen sich auszeichnen. Der zweite Grund aber enth\u00e4lt einen anderen Irrthum: ich bin mir einer Sache bewusst hei\u00dft soviel wie: ich achte auf dieselbe, beobachte sie; von einem Bewusstseinsvorgang dagegen spreche ich \u00fcberall da, wo ich etwas unmittelbar erfahre. Daher ist jene Thatsache ohne weiteres gleichbedeutend mit der Aufmerksamkeit, diese dagegen nicht. Vielleicht hat die Methode der Selbstbeobachtung Fortlage \u00fcber den wahren Sachverhalt get\u00e4uscht, ihn zu der Ansicht veranlasst, dass alles dasjenige bewusst sei, was ich und insofern ich es beobachte.\nSehen wir endlich zu, was es mit der Anticipation auf sich hat. Hier tritt das dialektische Verfahren besonders deutlich hervor. Der Trieb anticipirt die Zukunft, abgesehen von solcher Anticipation ist er Gef\u00fchl der Lust oder Unlust. Da aber nur der Unlusttrieb wirklich auf etwas in der Gegenwart noch nicht Vorhandenes sich richtet, so ist er der eigentliche Trieb. Diese Anticipation ist selbstverst\u00e4ndlich kein Bewusstseinsact, sondern in das seelische Geschehen hineininterpretirt worden. Die Zukunft spielt \u00fcberall da eine Kolle in unserem inneren Leben, wo sie in Form einer Vorstellung k\u00fcnftigen Geschehens sich geltend macht. In dem einfachen Triebe ist von einer solchen Vorstellung noch nichts vorhanden, also auch nichts von einer Anticipation oder Zeitanschauung. Mit welchem Hechte wird nun von Fortlage eine solche schon in den einfachen Trieb verlegt? Kein empirischer Grund kann ihn dazu veranlassen, sondern nur die falsche Uebertragung des Inhalts entwickelter seelischer Acte, wie der Begierden oder Willensentscheidungen, auf die einfachen. W\u00e4re das Verh\u00e4ltniss beider genetisch gedacht, so w\u00fcrde sieh Alles leichter und nat\u00fcrlicher erkl\u00e4ren, so aber wird, was sich in der Selbstbeobachtung eines erwachsenen Menschen w\u00e4hrend complicirter Bewusstseinsvorg\u00e4nge nachweisen l\u00e4sst, zu","page":420},{"file":"p0421.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t421\nlogisch nothwendigen Merkmalen auch des einfachsten und urspr\u00fcnglichsten, auch des unbewussten Geschehens.\nBemerkenswerth ist, dass die Vorstellungen hei Fortlage \u2014 eine der Herb art\u2019sehen entgegengesetzte Einseitigkeit \u2014 zu einem unbedeutenden Nebenerzeugniss des Trieblehens werden, nur bei Hemmung oder Suspension desselben erscheinen sie im Bewusstsein, ihre unbewusste Existenz wird \u00fcberhaupt nicht deutlich. Sie sind also ein intermittirendes Ph\u00e4nomen von unwesentlichem Werthe. Das entspricht der Erfahrung durchaus nicht. In unserem Bewusstsein vermissen wir Vorstellungen nie, und nur die Geringsch\u00e4tzung, welche dem Bewusstsein hei Fortlage zu Th eil wird, kann auch seine Auffassung der Vorstellungen erkl\u00e4ren. Dieser Geringsch\u00e4tzung fehlt aber jeglicher empirische Boden.\nc. Der Trieb als urspr\u00fcnglichste Aeu\u00dferung des Geistes.\nSchon bei dem Vertreter der lediglich unbewussten Realit\u00e4t des Willens, G\u00f6ring, sahen wir den Trieb als urspr\u00fcnglichstes Ph\u00e4nomen des psychischen Lebens anerkannt. Fortlage bezeichnet denselben nicht nur als Ursache des Gef\u00fchlslebens, sondern \u00fcberhaupt des Bewusstseins. F\u00fcr Immanuel Hermann Fichte aber ist der Trieb nur ein Theil der unbewussten Seele, daneben besteht noch das Vorstellen, und der Geist ist nach seiner metaphysischen Ansicht dasjenige Wesen, welches beides erzeugt./Tn psychologischer Beziehung werden wir wenig Eigenth\u00fcmliches bei ihm entdecken, das Hauptinteresse, welches ihn bei der Abfassung seiner Psychologie (2 Bde. I 1864, II 1874) geleitet hat, ist ein metaphysisches und ethisches gewesen. Gegen den Materialismus, welcher kurz zuvor eifrig bekannt worden war, richten sich seine Ausf\u00fchrungen in erster Linie. Bei einer solchen Sachlage ist es verst\u00e4ndlich, dass uns seine Willenslehre in psychologischer Beziehung als eine begriffliche Erweiterung des thats\u00e4chlich Gegebenen erscheinen wird.\n\u00bbBewusstsein\u00ab, sagt Fichte, \u00bbbringt nichts eigentlich Neues, specifisch H\u00f6heres oder Anderes in den Geist hinein ; es beleuchtet nur, was in ihm schon vorhanden ist\u00ab1). Diese Anschauung trat\n1) Psychol. I S. 155 ff. Vgl. zum Folgenden : S. 163 \u00ffy 175 ff. 194 ff. 222 ff.","page":421},{"file":"p0422.txt","language":"de","ocr_de":"422\nOswald Kfllpe.\nuns bereits h\u00e4ufiger entgegen, sie ist eine specifisch metaphysische Behauptung, denn keine empirische Beobachtung kann sie jemals ergeben, sie ist als solche hier auch recht eigentlich undiscutirbar. Aber damit ist nun die M\u00f6glichkeit er\u00f6ffnet, das Wirken der Seele in\u2019s Ungemessene hinein zu erweitern. Zun\u00e4chst werden alle organischen Verrichtungen als Instincthandlungen der Seele bezeichnet und unter dem Instinct ein durch apriorisches und darum unbewusst bleibendes Vorstellen, die vorbewusste Vernunft, geleiteter Trieb begriffen. Der Trieb, welcher als Willensph\u00e4nomen betrachtet werden muss, ist demnach der urspr\u00fcnglichste und einfachste Act der Seele. Das erhellt auch aus folgender Er\u00f6rterung. Der Geist kann sich selber die Richtung seines Bewusstseins geben, offenbar geschieht dies nur auf denjenigen Vorstellungsinhalt hin, zu welchem ein bestimmtes Interesse ihn hinzieht, Interesse aber ist ein Trieb. Also ist es eine bestimmte Willensrichtung, welche (unwillk\u00fcrlich oder willk\u00fcrlich) dem Bewusstsein zun\u00e4chst seine Richtung gibt, welche sodann quantitativ seine Helligkeitsgrade steigert und so endlich das in ihm erzeugt, was wir als intensives Verweilen des Bewusstseins, als \u00bbAufmerksamkeit\u00ab bezeichnen m\u00fcssen. Hier wird richtiger, als bei Fortlage, die; Aufmerksamkeit nicht mit Bewusstsein \u00fcberhaupt identificirt und dieselbe insbesondere in eine nahe Beziehung zum Willen gebr\u00e4cht.\nIn charakteristischer Weise wird nun von Fichte zwischen einem allgemeinen und bestimmten Bewusstsein unterschieden. Die Erregbarkeit von Trieben im Geiste \u00fcberhaupt soll der allgemeine Grund des Bewusstseins, die Richtung eines bestimmten Triebes dagegen der Grund eines bestimmten Bewusstseins sein. Aufmerksamkeit setzt die Erregtheit eines Triebes voraus, begleitet von der schon eingetretenen Beziehung auf das ihm entsprechende Gut, auf welches eben damit die Aufmerksamkeit sich richten kann. Jedes Bewusstsein, so gewiss es in einem erregten Triebe seinen ersten Ursprung findet, kann nur, wie dieser, ein inhaltlich begrenztes sein, neben welchem der Geist noch ein unbestimmt Vieles besitzt, weil es gerade jetzt an der Erregung des Triebes f\u00fcr dasselbe gebricht. Man sieht deutlich, wie von vornherein nicht das unmittelbar Gegebene, sondern die auf dem Wege irgend welcher Specu-lationen gewonnene Erkl\u00e4rung desselben entgegen unseren empirischen","page":422},{"file":"p0423.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n423\nBed\u00fcrfnissen den Ansgangspunkt bildet. Die logische Analyse der psychologischen Begriffe wird hier besonders lebhaft zur Anwendung gebracht. Doch ich fahre fort in der Darstellung.\nTrieb beruht auf Erg\u00e4nzungsbed\u00fcrfniss durch ein bestimmtes Gut. \u00bbDer Trieb in jeglicher Gestalt\u00ab muss den Inhalt des Erg\u00e4nzenden \u00bbin apriorischem Vorbilde, in innerer Sp\u00fcrung schon besitzen.\u00ab Sobald diese das Erg\u00e4nzende getroffen hat, so wird sie erhellt, d.h. der dadurch gesteigerte Trieb entbrennt zum \u00bbBewusstsein\u00ab ' dieses Verh\u00e4ltnisses, zu seinem Erg\u00e4nzenden. Solches Bewusstsein ist daher ebenso Erkenntnissact, wie Gef\u00fchlsact./Als ideale Anlagen sind\u2019 so tiie Triebe der Gesammtheit des Objectiven zubereitet. Wie sehr der Entwicklungsgedanke unsere Ansichten \u00fcber die Natur der Triebe auf eine nat\u00fcrliche und einfache Basis gebracht hat, wird bei derartigen halb mystischen, halb willk\u00fcrlichen Auseinandersetzungen besonders deutlich.\nVorstellungen und Gef\u00fchle werden von Fichte in einseitige Abh\u00e4ngigkeit vom Triebe gebracht. Jede Vorstellung verdunkelt sich nur deshalb, weil die Aufmerksamkeit, der auf etwas Bestimmtes gerichtete Trieb oder Wille, aufh\u00f6rt als diese Bewusstseinsquelle zu wirken, indem er sich auf etwas Anderes richtet. Das Gef\u00fchl ^entspringt aus der F\u00f6rderung oder Hemmung irgend eines im objectiven Wesen des Geistes liegenden Triebes und ist nichts Anderes, als das unwillk\u00fcrlich entstehende Bewusstsein dieses Doppelverh\u00e4ltnisses. Das sinnliche Gef\u00fchl ist nur der unwillk\u00fcrliche Ausdruck des Verh\u00e4ltnisses, in welchem dem innerlich pr\u00e4-formirten Triebe ein analoger Reiz entgegentritt. So ist auch der Empfindungsinhalt nur das gemeinschaftliche Product aus den beiden Factoren, Trieb und Reiz. Dies erinnert offenbar an Beneke\u2019s Ansicht von den Urverm\u00f6gen als Strebungen, die der Erf\u00fcllung durch Reize entgegendr\u00e4ngen.\nEmpfindung und Gef\u00fchl erweisen sich als unabtrennlich verbunden, ebenso unmittelbar gesellt sich zu beiden das Streben, den als angenehm gef\u00fchlten Zustand zu erhalten oder zu erreichen, den entgegengesetzten zu entfernen oder zu vermeiden: die Willenserregung des Begehrens und Verabscheuens. Auch dies ist kein neues Verm\u00f6gen, welches zu den beiden vorhergehenden fertig hinzutr\u00e4te, sondern die unmittelbare Wirkung\nWundt, Philos. Studien. V.\t29","page":423},{"file":"p0424.txt","language":"de","ocr_de":"424\nOswald K\u00fclpe.\ndes Geistes, der, als in sich geschlossene Substanz und urspr\u00fcngliches Triebwesen, v\u00f6llig unwillk\u00fcrlich reagiren muss gegen die von au\u00dfen ihm kommenden Erregungen, aber dabei geleitet wird durch das von ihnen verschieden angesprochene Gef\u00fchl. Die Grund-Eigenschaft des Geistes, allen Eindr\u00fccken gegen\u00fcber sich auf eigent\u00fcmliche Art aneignend oder gegenwirkend zu verhalten, k\u00f6nnen wir Wille nennen. Auch das Erkennen kann in letzter Instanz nur erscheinen als ein durch das Bewusstsein irgend eines Objec-tiven zum Stillstand gebrachter Wille. An einer anderen Stelle1) definirt Fichte den Willen folgenderma\u00dfen: \u00bbWille im Allgemeinen ist die F\u00e4higkeit des Geistes, seinen gegebenen Zustand zu ver\u00e4ndern oder ihn gegen die ein tretende Ver\u00e4nderung festzuhalten, \u00fcberhaupt also das Verm\u00f6gen, aus sich selbst sich zu bestimmen auch in den Zust\u00e4nden und Ver\u00e4nderungen, welche von au\u00dfen in ihm angeregt werden.\u00ab Das h ewusste Wollen \u00e4u\u00dfert sich als ein Begehren oder Verabscheuen, und dieses wird angeregt durch Vorstellung und Gef\u00fchl. Es gibt eigentlich nur zwei Th\u00e4tigkeitsweisen (Verm\u00f6gen) des bewussten Geistes : das Erkennen und den Willen, F\u00fchlen ist nur der unwillk\u00fcrliche Begleiter von beiden.\nEs w\u00e4re ein dankenswerth.es Unternehmen, den Einfluss der ontologischen Methode auf die Bearbeitung verschiedener Erfahrungsgebiete historisch-kritisch zu untersuchen und die psychologischen Grundlagen festzustellen, welche ihrer Wirksamkeit immer wieder Eingang verschafft haben. Unter der Erkl\u00e4rung verstehen wir die Zur\u00fcckf\u00fchrung eines Thatbestandes auf einen anderen, von einer Erkl\u00e4rung kann daher hei der begrifflichen Verallgemeinerung einer Thatsache eigentlich nicht geredet werden. Wir k\u00f6nnen auch in der Fichte\u2019 sehen Theorie des geistigen Lehens wegen der darin angewandten ontologischen Methode keine wirkliche Erkl\u00e4rung desselben erblicken. Den Schein einer solchen aber gewinnen die nach dieser Methode erhaltenen Resultate, wie ich glaube, dadurch, dass der Umfang eines Begriffs die Br\u00fccke bildet, wodurch von einer Thatsache zur anderen die f\u00fcr die Erkl\u00e4rung noth wendige Verbindung hergestellt wird. W\u00e4hrend eine empirische Erkl\u00e4rung die sorgf\u00e4ltige Analyse des Gegebenen zur Voraussetzung hat, verf\u00e4hrt\n1) Ebend. II \u00a7 75 ff.","page":424},{"file":"p0425.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n425\nman hier in dialektischer Begriffsspaltung und hypostasirt dann die so gefundenen Merkmale als Thatsachen. So macht es Fichte, wenn er den Trieb auf ein Erg\u00e4nzungsbed\u00fcrfniss durch ein bestimmtes Gut zur\u00fcckf\u00fchrt, wenn er eine vorbewusste Vernunft im Instinct annimmt, wenn er den Willen als das Verm\u00f6gen des Geistes definirt, aus sich seihst sich zu bestimmen. Beharrt man auf dem einfachen Thats\u00e4chKchen, so wird diese Erkl\u00e4rungsweise vollst\u00e4ndig im Stich lassen. Das Thats\u00e4chliche ist aber das im Bewusstsein Gegebene, und wer das Bewusstsein als eine Eigenschaft des Geistes, als ein Licht ansieht, welches das auch ohnedies Vorhandene beleuchte, der verschlie\u00dft sich dem Quell und Ende aller Empirie, n\u00e4mlich der unmittelbaren inneren Wahrnehmung.\n2. Die empirische Erweiterung des Willenshegriffs.\nDie innere Wahrnehmung hatte der Physiologie erhebliche Dienste geleistet, ehe die psychologische Arbeit bei der letzteren Erg\u00e4nzung und Unterst\u00fctzung suchte und fand. Was der psychische Thatbestand als Aufgabe und Direction der Physiologie darbot, kam in exacter Weise bestimmt und dadurch wissenschaftlich verwerthbar der Psychologie zur\u00fcck. Es entwickelte sich aus diesen Wechselbeziehungen eine physiologische Psychologie, deren erkenntnisstheoretisch - metaphysische Deutung noch aussteht, aber hoffentlich nicht mehr lange auf sich warten lassen wird. Der leitende Gedanke dieser neuen Wissenschaft ist die Annahme eines durchg\u00e4ngigen Parallelismus des psychischen und physischen Geschehens; daraus entspringt im Einzelnen die Aufforderung, zu irgend einem gegebenen psychischen Thatbestande den zugeh\u00f6rigen nerv\u00f6sen Vorgang aufzufinden. Bedingung hierf\u00fcr ist die genaue Analyse des unmittelbar Gegebenen, denn es w\u00e4re selbstverst\u00e4ndlich ein vergebliches Unternehmen, die complicirten Thatbest\u00e4nde unseres Bewusstseins mit bestimmten, eindeutigen physiologischen Vorg\u00e4ngen zu*parallelisiren. Zweierlei hat man sich bei dem \"V erfahren, welches in dieser Disciplin \u00fcblich ist, zu vergegenw\u00e4rtigen. Erstlich muss man von einer unbeeinflussten Feststellung des unmittelbar Gegebenen seinen Ausgang nehmen; denn abgesehen davon, ob es je gelingen wird die zahllosen centralen Molecularbewegungen unabh\u00e4ngig von psychologischen Motiven in bestimmter Weise zu","page":425},{"file":"p0426.txt","language":"de","ocr_de":"426\nOswald K\u00fclpe.\ngruppiren und zu sondern, so sind wir doch heute und wohl noch auf lange hinaus dazu ohne Zweifel nicht im Stande. Die Annahme bestimmter centraler Vorg\u00e4nge ist daher im wesentlichen abh\u00e4ngig von der Direction der inneren Wahrnehmung. Sodann aber ist in dem Gedanken des Parallelismus weiter nichts enthalten, als eine unbestimmte Beziehung beider Erscheinungsreihen. Er l\u00e4sst also in Anerkennung eines unbestreitbaren Sachverhalts die Frage v\u00f6llig offen, welche Deutung jener Beziehung zu Theil werden kann oder muss. Die Entscheidung dieser Frage ist dem Boden der empirischen Wissenschaft vorl\u00e4ufig durchaus entzogen.\nDie Begr\u00fcndung und den Ausbau der physiologischen Psychologie in dem bezeichneten umfassenden Sinne verdanken wir Wilhelm Wundt. Zum Verst\u00e4ndniss seiner psychologischen Ansichten ist es nothwendig, vor allem zwei eng mit einander verkn\u00fcpfte Gesichtspunkte festzuhalten. Beide sind vielleicht am beredtesten und eindringlichsten in der Ethik1) von ihm entwickelt worden. Es ist erstlich der Hinweis auf den continuirlichen Fluss des inneren Geschehens, in welchem die einzelnen Acte nicht als Objecte, sondern als Vorg\u00e4nge anzusehen sind, die mit einander verschmolzen ein Ganzes, das jeweils vorhandene Bewusstsein, ergeben. Es ist andererseits die Auffassung, welche Wundt den einzelnen psychologischen Begriffen beigelegt wissen will. \u00bbWir nennen eine innere Regung Gef\u00fchl, wenn das active Moment, das wir vorzugsweise in den Begriff des Willens verlegen, ganz zur\u00fccktritt ; wir nennen sie Begehren, wenn dasselbe bemerkbar wird, ohne aber unmittelbar als ver\u00e4ndernde Kraft auf den Verlauf des inneren Geschehens einzuwirken; wir reden von einem Wollen, wenn sich der innere Zustand mit der Wahrnehmung der Selhstth\u00e4tigkeit und der ver\u00e4ndernden Wirkung, welche diese entweder in unseren inneren Processen oder in den nach au\u00dfen bezogenen Vorstellungen hervorbringt, verbindet.\u00ab Also thats\u00e4chlich ein Ganzes und ein wechselndes Geschehen, begrifflich elementare Qualit\u00e4ten desselben und verschiedene Zusammensetzung aus ihnen. Aber diese Begriffe werden nicht zu realen Wesen, die hinter den Bewusstseinserscheinungen stehen und wirken, und das Bewusstsein nicht zu einer\n1) S. 372 ff.","page":426},{"file":"p0427.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre rom Willen in der neueren Psychologie.\n427\nEigenschaft oder Aeu\u00dferung des allein activen Unbewussten, sondern jene bleiben die logisch fixirten Bestandtheile eines unaufh\u00f6rlichen Flusses erlebter Vorg\u00e4nge, und dieses ist der zusammenfassende Ausdruck f\u00fcr alle unserer inneren Wahrnehmung jeweils zug\u00e4nglichen psychischen Acte.\nIch werde im Folgenden die Wundt\u2019sehe Willenslehre unter d\u00ebn einzelnen Titeln: Der Begriff, die Wirksamkeit, die physiologische Grundlage, und die Entwicklung des Willens darzustellen suchen. Wenn ich einen Weg nehme, der nicht durchweg mit dem von Wundt gew\u00e4hlten \u00fcbereinstimmt, so leitet mich dabei einerseits die Thatsache, dass seine Ansicht nicht selten missverstanden worden ist, was bei ihrer Eigenth\u00fcmlichkeit und Schwierigkeit wohl zu begreifen, andererseits die Erwartung, dass die Darstellung desjenigen Weges, auf dem ich selbst mit einiger M\u00fche zum Verst\u00e4ndnisse derselben gelangt bin, auch \u00e4nderen forderlich sein werde.\na. Der Begriff des Willens1 *).\nWenn wir die Thatsachen unseres Bewusstseins auch nur oberfl\u00e4chlich zergliedern, so k\u00f6nnen wir einen wesentlichen Unterschied constatiren. Wir finden unter unseren unmittelbaren Erlebnissen solche, die mit voller Deutlichkeit uns gegenw\u00e4rtig sind oder waren, und solche, die nur halb verschwommen oder dunkel sich in uns ereignen oder ereignet haben. Ganz besonders tritt dieser Unterschied hervor bei den Vorstellungen des Gesichtssinnes, wo ich mit den Namen Blickpunkt und Blickfeld die entsprechenden Thatsachen belege. Diese Ausdr\u00fccke kann man als inneres Blickfeld und innerer Blickpunkt auf die beiden hervorgehobenen Unterschiede der Bewusstseinsthatsachen \u00fcberhaupt beziehen. W\u00e4hrend gew\u00f6hnlich die erw\u00e4hnten Falle durch den Begriff der Aufmerksamkeit, die im ersteren th\u00e4tig gedacht wird, auseinandergehalten werden, entsteht f\u00fcr die eindringende psychologische Forschung die Frage, ob nicht in der Aufmerksamkeit ein allgemeineres Ph\u00e4nomen sich kundgebe, welches durch dieses Wort in seinem \u00fcblichen\n1) Grundz\u00fcge der physiolog. Psychol. Il3 235 ff. Ethik S. 372 ff. Philos.\nStudien I S. 337 ff.","page":427},{"file":"p0428.txt","language":"de","ocr_de":"428\nOswald Ki\u00eflpe.\nSinne nicht gedeckt werde, und die N\u00f6thigung, auch f\u00fcr den zweitgenannten Fall etwas nicht blos Negatives, wie den Ausdruck Unaufmerksamkeit, als Bezeichnung einzuf\u00fchren.\nBeschr\u00e4nken wir uns zun\u00e4chst auf die Vorstellungen. Wir machen hier die Erfahrung, dass wir uns bei allen den im Blickfelde des Bewusstseins befindlichen Empfindungen der reinen Passivit\u00e4t oder Receptivit\u00e4t bewusst werden, falls wir dar\u00fcber reflectiren. Diejenigen Vorstellungen dagegen, welche im Blickpunkt des Bewusstseins erscheinen, sind verkn\u00fcpft mit der Erfahrung einer gewissen Selbstth\u00e4tigkeit oder einer inneren Th\u00e4tigkeit. Diese letztere wurzelt in der Thatsache, dass f\u00fcr die Entstehung der mit Aufmerksamkeit erfassten Vorstellungen unser Verhalten abgesehen von \u00e4u\u00dferen Reizen ma\u00dfgebend ist. Wir k\u00f6nnen hier demnach ein Vorgestelltes und ein Vorstellen unterscheiden. W\u00e4hlen wir f\u00fcr diejenigen Vorstellungen, die im Blickfelde des Bewusstseins gegeben sind, obgleich sich die Berechtigung eines besonderen Begriffs vorstellender Th\u00e4tigkeit hier nicht nachweisen l\u00e4sst, eine analoge Bezeichnung, so werden wir die Namen Perception und Apperception einf\u00fchren d\u00fcrfen. Jener bezeichnet den Eintritt einer Vorstellung in das Blickfeld des Bewusstseins, dieser den Eintritt einer Vorstellung in den Blickpunkt des Bewusstseins. Aber w\u00e4hrend die Apperception als eine innere Th\u00e4tigkeit von uns wahrgenommen wird, ist die Perception nur das Resultat einer nach Analogie gebildeten logischen Distinction. Ihre Berechtigung beruht abgesehen davon nur auf der allgemeinen Unterscheidung des Innen und Au\u00dfen, des Ich und des Nicht-Ich.\nDie Deutlichkeit und Vollst\u00e4ndigkeit der Vorstellungselemente zeichnet die appercipirten Vorstellungen vor den percipirten aus, nicht minder eine Einheitlichkeit, welche unabh\u00e4ngig ist von der Zahl der appercipirten Empfindungen. Ausdehnung und Deutlichkeit der Apperception stehen f\u00fcr gew\u00f6hnlich in reciprokem Ver-h\u00e4ltniss zu einander. Als ihre Bedingungen aber kann man \u00e4u\u00df ere und innere namhaft machen. Unter den ersteren sind hervorzuheben diejenigen Ver\u00e4nderungen des motorischen Apparats, welche zuf\u00e4llig bestimmte Objecte in den Vordergrund unseres Bewusstseins r\u00fccken, ferner St\u00e4rke, Dauer und Umfang der Eindr\u00fccke. Ueberall da, wo wir solche \u00e4u\u00dfere Bedingungen allein nachweisen k\u00f6nnen,","page":428},{"file":"p0429.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n429\nreden wir vorzugsweise von unwillk\u00fcrlicher oder passiver Apperception. Zu den inneren Bedingungen rechnen wir erstlich die Erinnerung, welche durch Reproduction einer einem gegebenen Object entsprechenden oder mit ihm associirten\u2018Vorstellung die verst\u00e4rkende oder bevorzugende Apperception auf dasselbe richtet, zweitens das Gef\u00fchl der Lust oder Unlust, welches sich an eine der im Bewusstsein vorhandenen Vorstellungen heftet und sie dadurch hervorzuheben veranlasst, endlich die relative Leere des Bewusstseins. Diese f\u00fcnf Bedingungen combiniren sich in mannigfaltiger Weise. Von der ersten wird man selten behaupten k\u00f6nnen, dass sie allein ausreiche, um ein Object in den Blickpunkt des Bewusstseins zu heben, h\u00e4ufiger wird sie im Verein mit der zweiten diesen Erfolg haben. Alle f\u00fcnf Bedingungen k\u00f6nnen gemeinsam dazu beitragen. Je mehr die inneren Bedingungen hierbei eine wesentliche Bolle spielen oder zu spielen scheinen, um so mehr gewinnt die Apperception den Charakter einer willk\u00fcrlichen oder activan. Dies hat seinen Grund darin, dass wir uns hier meist einer w\u00e4hlenden Th\u00e4tigkeit bewusst werden, die als mehrdeutig bestimmte von der eindeutig bestimmten unterschieden werden kann. Selbstverst\u00e4ndlich bringt die Zahl der mitwirkenden Bedingungen keine qualitative Ver\u00e4nderung an dem Vorgang der Apperception selbst hervor. Nur fur die Beurtheilung ihres Grades ist allerdings die Zahl der Motive und die ihnen beigemessene St\u00e4rke wesentlich.\nAls die Grundeigenschaften der Apperception ersch\u00e9inen demnach die Selbstth\u00e4tigkeit und die Einheitlichkeit. Jene kann sich in begleitenden Empfindungen der Muskelspannung verst\u00e4rken und bald als Besinnung, bald als Gef\u00fchl des Aufmerkens bezeichnet werden. Diese Haupteigenschaften aber sind es gerade, welche wir bei der Absonderung der Vorstellungs- und Gef\u00fchlsbestandtheile in dem Wollen zur\u00fcckbehalten. Wir sind demnach berechtigt, die Apperception als primitive Willensth\u00e4tigkeit zu bezeichnen. Wir reden gew\u00f6hnlich von einem Wollen \u00fcberall da, wo verm\u00f6ge einer entscheidenden Wahl eine Handlung oder Handlungsreihe begonnen wird. Gew\u00e4hlt wird aber zwischen Vorstellungen, die verschiedene ausf\u00fchrbare Handlungen mir vergegenw\u00e4rtigen. Es zeigt sich also darin weiter nichts, als was oben in dem Begriff der mehrdeutig bestimmten Apperception zusammengefasst wurde. Eine","page":429},{"file":"p0430.txt","language":"de","ocr_de":"430\nOswald K\u00fclpe.\nappercipirte Vorstellung ist demnach die Bedingung \u00e4u\u00dferer Willenshandlung. Das Wollen selbst also ist, sofern es einen eigent\u00fcmlichen Bewusstseinsvorgang bedeutet, als Apperception aufzufassen.\nDie Einfachheit des so gewonnenen Willensbegriffs leuchtet ohne weiteres ein, doch m\u00fcssen angesichts so mancher Angriffe gegen denselben noch einige Bemerkungen \u00fcber seine empirische Grundlage hier ausgesprochen werden. Man kann an dem Begriff der inneren Th\u00e4tigkeit, welcher den Ausgangspunkt bei Wundt bildet, Ansto\u00df nehmen, vor allem die Frage aufwerfen, ob nicht dieser Begriff ein durch nachtr\u00e4gliche Reflexion \u00fcber innere Vorg\u00e4nge geschaffener ist und keine tats\u00e4chliche Grundlage in der unmittelbaren Erfahrung besitzt. Der Vergleich zumal mit den logisch erweiterten Willenslehren k\u00f6nnte die Meinung nahelegen, als w\u00e4re auch hier nichts weiter geschehen, als ein durch analy-sirende speculative Betrachtung gewonnenes abstractes Merkmal als Wille oder Wollen hypostasirt worden. Dem gegen\u00fcber muss nun der streng empirische Ausgangspunkt bei Wundt energisch betont werden. Nicht ob wir in dem Willen eine innere Th\u00e4tigkeit zu sehen oder anzuerkennen haben, ist f\u00fcr ihn die Frage, sondern ob wir eine solche unmittelbar in uns erfahren. Indem er diese letztere Frage bejaht, f\u00fchlt er sich berechtigt, diesen Bewusstseinsvorgang, der weder als Empfindungsinhalt, noch als Gef\u00fchl bezeichnet werden darf, Wollen zu nennen. Um nun aber den zun\u00e4chst aus einer Analyse der Vorstellungen gewonnenen Begriff des elementaren Willens von dem complicirten Ph\u00e4nomen gleichen Namens ausdr\u00fccklich zu sondern, wird f\u00fcr jenen der alte Begriff der Apperception in Anwendung gebracht. Leibniz, welcher diesen Begriff zuerst einf\u00fchrte, verstand darunter den Eintritt einer Perception in das Selbstbewusstsein. Im Grunde stimmt diese Unterscheiduns\no\nmit der von Wundt gew\u00e4hlten gut \u00fcberein, nur ist ein wichtiger Umstand dabei zu beachten. Sich eines Vorgangs bewusst sein oder werden und in seinem Bewusstsein etwas erleben ist nicht dasselbe. Ich kann z. B. auf einen Schalleindruck aufmerksam und mir doch dessen nicht bewusst gewesen sein, d. h. nicht darauf geachtet, nicht dar\u00fcber reflectirt haben. Es ist demnach der Wundt\u2019sche Begriff ffer Apperception weiter, als der von Leibniz gew\u00e4hlte, und ent-","page":430},{"file":"p0431.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n431\nspricht besser derjenigen Bedeutung, welche das unmittelbare Bewusstsein f\u00fcr die Psychologie besitzt.\nDer zuletzt hervorgehobene Unterschied ist aber auch noch in anderer Beziehung beachtenswerth. Man kann zweifeln, ob wirklich eine innere Th\u00e4tigkeit immer in F\u00e4llen der aufmerksamen Beobachtung uns bewusst wird. So ausgedr\u00fcckt bedeutet dieser Zweifel, ob immer eine Apperception von uns appercipirt werde. Und das ist gewiss zu bestreiten. Damit ist aber nicht geleugnet, dass \u00fcberall da, wo wir uns appercipirend verhalten, wir eine innere Th\u00e4tigkeit unmittelbar erleben. Es liegt hier eine eigenth\u00fcmliche Schwierigkeit vor, die aber nicht minder an anderen Bewusstseinsvorg\u00e4ngen haftet. Eine Freude, die ich erlebe, braucht mir nicht bewusst zu werden,. d. h. ich brauche nicht zugleich festzustellen, dass ich sie erlebe. Darum werde ich doch an ihrer Thats\u00e4ch-lichkeit nicht zweifeln. Eine percipirte Vorstellung k\u00f6nnte\" sonst ebenfalls in ihrem Vorhandensein bestritten werden, denn indem ich sie beobachte, appercipire ich sie, ist sie also nicht mehr per-cipirt. Alle diese Erfahrungen zeigen, dass auch bei der Aufmerksamkeit nur die Erinnerung an eine innere Th\u00e4tigkeit oder die nachtr\u00e4gliche Feststellung derselben vielfach stattfinden kann, und dass ich daraus nicht zu schlie\u00dfen brauche, sie w\u00e4re nicht vorhanden gewesen. Die Erinnerung als Quelle spielt \u00fcberhaupt die gr\u00f6\u00dfte Bolle bei der psychologischen Arbeit.\nEndlich aber scheint eine gewisse Scheu vorhanden zu sein, von einer inneren Th\u00e4tigkeit als Bewusstseinserlehniss zu reden. Man ist gew\u00f6hnt, diesen Ausdruck in so abstracter Weise zu gebrauchen, dass er auf eine bestimmte Wirklichkeit nur in allgemeinem Sinne Anwendung zu verdienen scheint. Aber wenn wir unser Bewusstsein sorgf\u00e4ltig analysiren und Vorstellungs- und Empfindungsinhalte, Gef\u00fchle und Stimmungen darin feststellen, so bleibt noch ein qualitativ gleichartiger Vorgang nach, den man gerade als Spontaneit\u00e4t oder Activit\u00e4t oder innere Th\u00e4tigkeit v\u00f6llig ad\u00e4quat wird bezeichnen d\u00fcrfen. Ist dies aber so, dann ist der erw\u00e4hnte Name der richtige Ausdruck f\u00fcr ein Elementarph\u00e4nomen unseres Bewusstseins und von gleicher psychologischer Bedeutung, wie Lust oder Blau.","page":431},{"file":"p0432.txt","language":"de","ocr_de":"432\nOswald K\u00fclpe.\nBesondere Beachtung geb\u00fchrt der Thatsache, dass wir den Unterschied Blickfeld und Blickpunkt nicht auf die Gef\u00fchle ausdehnen k\u00f6nnen. Wenn sie \u00fcberhaupt vorhanden sind, so stehen sie im Vordergr\u00fcnde des Bewusstseins in Verbindung mit appercipirten Vorstellungen. Dieser enge Zusammenhang der Apperception mit den Gef\u00fchlen der Lust und Unlust findet in der sp\u00e4ter zu erw\u00e4hnenden Ansicht Wundt\u2019s von der Entstehung der letzteren seine Ber\u00fccksichtigung.\nb. Die Wirksamkeit des Willens1).\nUeber die Wirksamkeit des Willens habe ich in doppelter Weise zu reden, erstlich indem ich nach den Bedingungen frage, welchen dieselbe unterliegt, sodann in Bezug auf die Vorg\u00e4nge, in denen der Wille sich wirksam erweist.\nHinsichtlich der Motive des Willens darf ich mich kurz fassen, insofern ich bereits hei der Besprechung der Bain\u2019sehen Willenstheorie meine Ansicht dar\u00fcber ausgesprochen und andererseits schon in der Darstellung des Willenshegriffs die \u00e4u\u00dferen und in,neren Bedingungen namhaft gemacht habe, welche nach Wundt die Apperception bestimmen. Da unter den letzteren nicht ausschlie\u00dflich Gef\u00fchle der Lust oder Unlust angef\u00fchrt werden, so glaube ich auch, dass sie von Wundt nicht als die ausschlie\u00dflichen Motive jeder Willensth\u00e4tigkeit angesehen werden. Alle Aeu\u00dferungen, welche diesen Inhalt zu haben scheinen, d\u00fcrfen, wie ich meine, auf die erstmalige Entstehung von Willenshandlungen bezogen werden, und dann ist diese Behauptung von unbestreitbarer Wahrheit. Ein Object, das zum ersten Mal meine Aufmerksamkeit erregt, verbindet sich sofort in der Vorstellung mit einem Gef\u00fchl der Lust, das ich als Interesse bezeichne, eine Bewegung, zu der ich einen ersten Willensimpuls sende, wird durch ein Werthgef\u00fchl hervorgerufen, dem ich nachgebe. Aber auch \u00fcber diese Grenze hinaus sind Gef\u00fchle der Lust oder Unlust h\u00e4ufig treibende Anl\u00e4sse meiner Handlungen und Gedanken. Nur in jenen F\u00e4llen, die ich fr\u00fcher angef\u00fchrt habe, k\u00f6nnen wir keine solchen Motive unmittelbar f\u00fcr die Entstehung\n1) Phys. Psych. I\u00ab 535 ff. IF S. 239 ff. 364 ff 408 ff. 487 ff. Philosophische Studien a. a. O.","page":432},{"file":"p0433.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n433\neiner Willensth\u00e4tigkeit nacliweisen. N\u00e4her besehen beruht dies auf dem Einfluss der Uebung oder Gewohnheit und des in diesem Sinne ungest\u00f6rten Ablaufs unserer Vorstellungen und Th\u00e4tigkeiten. Denn selbst, wo es sich um eine bekannte, h\u00e4ufig ausgef\u00fchrte Apperception handelt, wird dieselbe von einem Gef\u00fchl unterst\u00fctzt sein, wenn sie in einen gewissen Gegensatz tritt zu den gerade geschehenden inneren Vorg\u00e4ngen. Darin zeigen sich die bekannten Einfl\u00fcsse des Contrastes und der Gewohnheit auf das Gef\u00fchlsleben.\nDass der Wille eine \u00fcberaus weitgehende Mitwirkung in den mannigfaltigsten Bewusstseinsvorg\u00e4ngen besitze, wird man bei dem gegen\u00fcber der gew\u00f6hnlichen Ansicht so erheblich erweiterten Willensbegriff Wundt\u2019s selbstverst\u00e4ndlich finden. Ich kann mich hier nicht auf eine ausf\u00fchrliche Darstellung der einzelnen Th\u00e4tig-keitsweisen des Willens einlassen und mich umsomehr nur auf eine Hervorhebung der principiellen Gesichtspunkte beschr\u00e4nken, als eine zusammenfassende und klare Uebersicht der Apper\u00e7eptions-th\u00e4tigkeit von Staude in seiner Arbeit \u00fcber den Begriff der Apperception1) bei der Behandlung der Wundt\u2019sehen Ansichten geliefert worden ist.\nZun\u00e4chst kn\u00fcpfen wir an den einfachsten Fall an, wo die Apperception einer Empfindung stattfindet. Dasjenige, was der Wille hierbei leist\u00e8t, war eine gr\u00f6\u00dfere Klarheit derselben. Aber damit eine solche Deutlichkeit eintrete, muss die Aufmerksamkeit sich an die St\u00e4rke des Eindrucks anpassen. \u00bbDie Apperception ist scharf, wenn die Spannung der Aufmerksamkeit der St\u00e4rke des Eindrucks genau entspricht; sie ist stumpf im entgegengesetzten Falle.\u00ab Es ist also eine gewisse Intensit\u00e4t der zu appercipirenden Vorstellung nothwendig, damit eine deutliche Auffassung zu Stande komme. Die Spannungsempfindungen, welche die Adaptation der Aufmerksamkeit begleiten, sind ein Ma\u00df f\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfe derselben. Man beobachtet sie auch, wenn Erinnerungsbilder die Objecte der Apperception sind, und hier gelten im Uebrigen die gleichen Umst\u00e4nde, wie bei den Empfindungen.\nDiese Spannungsempfindungen, welche mehr oder weniger\n1) Philos. Studien 1 S. 149 ff.","page":433},{"file":"p0434.txt","language":"de","ocr_de":"434\nOswald K\u00fclpe.\nconstante Nebenerscheinungen der Aufmerksamkeit sind, zeigen uns bereits den Einfluss der Apperception auf die Bewegungen. Weder der sensorische noch der motorische Effect \u00bbl\u00e4sst sich mit Bestimmtheit als der prim\u00e4re nachweisen, sondern beide erscheinen als unmittelbar an einander gebundene, aber allerdings zugleich als wechselseitig sich verst\u00e4rkende Elemente.\u00ab Bei den Empfindungen kann die Verst\u00e4rkung auch durch erneute Reizungen, bei den Erinnerungsbildern dagegen nur durch central erregte Bewegungsempfindungen vor sich gehen. Daher entsteht hier die Meinung, als w\u00e4ren diese und die ihnen zu Grunde liegenden Muskelinnervationen die eigentliche Ursache des Auftretens von reproducirten Vorstellungen. Aber die Muskelinnervation setzt den Impuls voraus, und dieser empf\u00e4ngt seinen Ansto\u00df durch eine Empfindung des entsprechenden Sinnesgebiets. Dies findet seine Erg\u00e4nzung in dem, was ich oben Bain gegen\u00fcber bemerkt habe. ^ Es ist also der unmittelbare Einfluss des Willens nicht auf die motorische Innervation beschr\u00e4nkt, sondern er zeigt sich auch wirksam in der Erhebung von Vorstellungen in den inneren Blickpunkt.\nOffenbar werden die Verbindungen der Vorstellungen nicht minder von der Apperceptionsth\u00e4tigkeit abh\u00e4ngen, als die Empfindungen. Nur ist hier der Unterschied der passiven und activen Apperception von ma\u00dfgebender Bedeutung. Ueberall da, wo in ganz eindeutiger Weise zwei Vorstellungen sich mit einander verbinden, sprechen wir von Associationen, wo dagegen mit einer durch die ganze Entwicklungsgeschichte des Bewusstseins causal bestimmten Th\u00e4tigkeit aus mehreren Associationen bestimmte Vorstellungen ausgew\u00e4hlt werden, treten uns apperceptive Verbindungen entgegen. Da die passive Apperception der activen vorangeht, so wird man auch annehmen m\u00fcssen, dass die letztgenannten Verbindungen der Vorstellungen sich auf Grund der Associationen entwickelt haben. Wenngleich wir bei diesen, zumal ihrer simultanen Form, uns einer inneren Willensth\u00e4tigkeit nicht bewusst werden, so gelangen sie doch nur vermittelst einer solchen \u00fcberhaupt Zu unserer Wahrnehmung. Der Unterschied zwischen der Apperceptionsth\u00e4tigkeit im einen und im anderen Falle besteht also wesentlich darin, dass bei den Associationen die simultanen und succes-siven Verbin d\u00fcngen der Vorstellungen als solche nicht von der","page":434},{"file":"p0435.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n435\nApperception hergestellt, sondern ihr fertig gegeben werden, w\u00e4hrend die eigentlich logischen Verbindungen, welche bestimmte Beziehungen unter den m\u00f6glichen associativen Verkn\u00fcpfungen hervorheben, nur durch die Wirksamkeit der Apperception entstanden gedacht werden.\nAuch mit den Gef\u00fchlen h\u00e4ngt die Apperception zusammen* Nicht nur insofern, als Lust oder Unlust die h\u00e4ufigsten Motive derselben sind, sondern auch in dem Sinne, dass sie als die Reactions-formen der Apperception angesehen werden.* Zun\u00e4chst ist nach Wundt die Entstehung der sinnlichen Gef\u00fchle aus einer Reaction der Apperception gegen den Sinneseindruck zu erkl\u00e4ren. Diese \u00fcber die unmittelbare Erfahrung hinausf\u00fchrende Ansicht findet in derselben folgende St\u00fctzen. Erstlich sind wir uns in den Gef\u00fchlen aller Art einer gr\u00f6\u00dferen Selbst\u00e4ndigkeit, einer in\u00fceren Th\u00e4tigkeit * bewusst, die bei den Perceptionen mangelt, w\u00e4hrend sie als der eigentliche Bewusstseinsinhalt der Apperception anzusehen ist. Die Thatsache, dass wir unsere Gef\u00fchlsqualit\u00e4ten nicht ebenso wie die Empfindungsqualit\u00e4ten den Dingen au\u00dfer uns beilegen, kann nicht lediglich daraus erkl\u00e4rt werden, dass wir die Entstehung derselben oder ihren Bestand nicht an den Bestand der erregenden Reize gekn\u00fcpft sehen. Denn von vielen Empfindungen gilt das Gleiche, dass sie \u00fcber die unmittelbare Reizung hinaus andauern. Aber wir erfahren, dass die Gef\u00fchlsf\u00e4rbung der Empfindungen von allgemeineren Bedingungen abh\u00e4ngig ist, als die Qualit\u00e4t derselben, aus dem Mangel an Constanz, den sie in Bezug auf ihre St\u00e4rke, wie ihre Qualit\u00e4t zeigt Zweitens sind sowohl der Wille als auch das Gef\u00fchl in der Weise von der Uebung oder Gewohnheit abh\u00e4ngig, dass sie beide sich abstumpfen; so werden die Willensbewegungen automatisch und fr\u00fcher appercipirte Vorstellungen erregen nicht mehr die Aufmerksamkeit, und so verlieren- die Gef\u00fchle allm\u00e4hlich in Folge h\u00e4ufiger Wiederholung der Eindr\u00fccke ihre ganze urspr\u00fcngliche Lebhaftigkeit und Frische. Drittens wird das Auftreten einer Perception ohne weiteres an das Vorhandensein eines entsprechenden Reizes sich kn\u00fcpfen, die Entstehung von Gef\u00fchlen dagegen ist wenigstens im entwickelten psychischen Leben an Dispositionen des Bewusstseins gebunden, welche ihre Geschichte haben. Das n\u00e4mliche gilt, wie wir bereits gesehen haben, von der","page":435},{"file":"p0436.txt","language":"de","ocr_de":"436\nOswald K\u00fclpe.\nApperception. Viertens finden wir diejenigen Formen des Wollens, denen wir am h\u00e4ufigsten im gew\u00f6hnlichen Leben begegnen, das Legehren und Widerstreben, in einem so nat\u00fcrlichen und nahen Zusammenh\u00e4nge mit Gef\u00fchlen der Lust und Unlust, dass es nur einer scharfen Analyse gelingen mag, die einzelnen Bestandtheile zu sondern. Sie scheinen sich als einfache Vorg\u00e4nge unserer inneren Wahrnehmung kundzugehen, als strebende Lust und widerstrebende Unlust, als Verlangen und Abscheu. Dagegen ist f\u00fcr diesen Ge-m\u00fcthszustand der ihn erregende Gegenstand oder die denselben repr\u00e4sentirende Vorstellung von verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfig geringerer Bedeutung.\nSchon in dem Bisherigen ist theilweise angedeutet worden, dass diese Beziehung zwischen der Apperception und den Gef\u00fchlen nicht blos auf die sinnliche Lust und Unlust beschr\u00e4nkt werden kann. F\u00fcr die \u00e4sthetischen Elementargef\u00fchle, die auf den Zeit-und Raumverh\u00e4ltnissen der Vorstellungen beruhen, braucht der gleiche Zusammenhang mit der Apperception nicht besonders nachgewiesen zu werden, ebensowenig f\u00fcr die intellectuellen Gef\u00fchle, welche die apperceptiven Verbindungen der Vorstellungen begleiten und so als unmittelbare Wirkungen der Apperception erscheinen. Nur von den Affecten soll in diesem Sinne noch besonders die Rede sein. Als einen Affect einfachster Art darf man den Eindruck bezeichnen, welchen ein unerwarteter Reiz auf das Bewusstsein hervorbringt. Unerwartet ist aber ein Reiz, wenn die Apperception sich nicht an ihn adaptirt hat, in den Blickpunkt des Bewusstseins dr\u00e4ngt er sich dann nur verm\u00f6ge seiner St\u00e4rke. Andererseits kann selbst bei vorhergehender Adaptation ein Affect entstehen, wenn der Reiz so stark ist, dass er die Apperception rasch ersch\u00f6pft. Die Triebe endlich unterscheiden sich dadurch von den Affecten, dass \u00e4u\u00dfere Bewegungen bei ihnen in den Dienst der Gem\u00fcthserregungen treten. Auf sie werde ich bei der Darstellung der Entwicklung des Willens noch zur\u00fcckkommen.\nWundt unterscheidet ferner solche Bewegungen, \u00bbdie als mechanische Erfolge bestimmter Nervenerregungen ohne wesentliche Betheiligung psychischer Zwischenglieder auftreten \u00ab, und solche, bei denen gewisse Bewusstseinszust\u00e4nde als die psychischen tJr-sachen der Bewegungen von uns wahrgenommen werden oder","page":436},{"file":"p0437.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie. .\n437\nvorausgesetzt werden k\u00f6nnen. In dem ersteren Falle handelt es sich um automatische Bewegungen, wenn der erregende Impuls vom motorischen Centralgehiet ausgeht, um re fl ecto rische, wenn ein sensibler Reiz die unmittelbare Veranlassung der Bewegung ist. Im zweiten Falle liegen entweder Trieb- oder willk\u00fcrliche Bewegungen vor, hier ist also immer der Wille in eindeutig oder mehrdeutig bestimmter Weise der Ursprung der Bewegung. Da zwischen den beiden Grundformen des Triebes, Begehren und Widerstreben, ebenso eine Indifferenzlage besteht, wie zwischen Lust und Unlust, so haben wir den Triebbewegungen auch solche eindeutig bestimmte Bewegungen zu subsumiren, welche der appercipirten Vorstellung ohne begleitende Gef\u00fchle ihren Ursprung verdanken. Die gro\u00dfe Classe dieser Bewegungen ist die der gewohnheitsm\u00e4\u00dfigen.\nIch hatte h\u00e4ufiger Gelegenheit, auf die nahe Beziehung hinzuweisen, in welcher Wille und Selbstbewusstsein zu einander stehen. Bei Wundt findet dieselbe ihren klaren und vollst\u00e4ndigen Ausdruck. Das Selbstbewusstsein entsteht nach ihm einerseits aus einer Summe von Vorstellungen, die einen permanenten Charakter annehmen, andererseits aus der Abh\u00e4ngigkeit, in welcher dieselben von unserem Willen stehen. Sp\u00e4ter wird dann \u00fcberhaupt die innere Th\u00e4tigkeit der Apperception zum eigentlichen Inhalt des Ich, und alle jene halb sinnlichen, halb begrifflichen Bestandtheile desselben werden von mehr oder weniger accessorischer Bedeutung.\nUeberblicken wir die gesammte Wirksamkeit des Willens, wie wir sie in kurzen Z\u00fcgen zu schildern suchten, so erhellt ohne weiteres die bedeutende Rolle, welche ihm nach Wundt in dem seelischen Leben zukommt. Streng genommen gibt es f\u00fcr das entwickelte Bewusstsein nur einen Inhalt, der nicht vom Willen abh\u00e4ngig ist oder bei welchem diese Function nicht betheiligt ist, das sind die Perceptionen, die percipirten Empfindungen oder Vorstellungen. Aber dieselben f\u00fchren f\u00fcr uns auch nur eine Schattenexistenz. Sie bilden einen umfangreichen Stoff, den wir uns nur mit H\u00fclfe apperceptiver Th\u00e4tigkeit verwerthbar machen k\u00f6nnen. So wird auch alles das, was von ihnen ausgeht \u2014 es werden sicherlich auch automatische Bewegungen zum Theil durch sie angeregt oder regulirt \u2014, von uns als nicht zu unserem eigentlichen inneren","page":437},{"file":"p0438.txt","language":"de","ocr_de":"438\nOswald K\u00fclpe.\nLeben geh\u00f6rig betrachtet. Dasselbe concentrirt sich vielmehr auf alles das, was in d,en inneren Blickpunkt des Bewusstseins f\u00e4llt und die damit in engster- Verbindung stehenden Gem\u00fcthsbewegungen. Zweifellos wird durch diese Auffassung den Thatsachen vollauf Rechnung getragen.\nc. Die physiologische Grundlage der Apperception').\nF\u00fcr die physiologische Psychologie erhebt sich nach einer Feststellung des psychischen Thatbestandes die Frage nach dem centralen Vorgang, den man als die Begleiterscheinung desselben an-sehen d\u00fcrfe. Dass man hier bei seinen Annahmen einer solchen auf die Beziehungen angewiesen ist, welche auf entwicklungsgeschichtlichem oder pathologischem oder experimentellem We^e zwischen psychischen und centralen Functionen ermittelt werden, ist selbstverst\u00e4ndlich. In diesem Gebiet herrscht aber noch eine gro\u00dfe Unsicherheit einerseits, eine gro\u00dfe Uneinigkeit andererseits. Ich muss mich damit hegn\u00fcgen, die allgemeinen Anschauungen Wundt\u2019s \u00fcber die Bedeutung centraler Functionen und die besondere Annahme eines Apperceptionsorgans zu reproduciren.\nIch hebe vor allem das Princip der Indifferenz der Function, das Princip der stellvertretenden Function und das Princip der localisirten Function hervor. Jedes Element leistet, was es leistet, nur durch die Verbindung mit anderen Elementen. Kein Element vollbringt daher \u00bb specifische Leistungen, sondern die Form seiner Function ist von seinen Verbindungen und Beziehungen abh\u00e4ngig.\u00ab Beweis daf\u00fcr ist, dass f\u00fcr Elemente, deren Function gehemmt oder aufgehoben ist, andere die Stellvertretung \u00fcbernehmen k\u00f6nnen, sofern sich dieselben in den geeigneten Verbindungen befinden. Die Localisation einer bestimmten Function kann daher nur den Sinn haben, dass ihr unter gegebenen Bedingungen der Leitung eine bestimmte Region im Centralorgan entspricht, von welcher sie ausgeht, d. h. deren Elemente in den zur Ausf\u00fchrung der Function geeigneten Verbindungen stehen. Daneben aber betont Wundt die Einfachheit der zu localisirenden Function. Nicht Verstand oder Ged\u00e4chtniss u. s. w. sind an besondere Regionen gebunden,\n1) Phys. Psych. I3 S. 233 ff. Il3 S. 240 f.","page":438},{"file":"p0439.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n439\nsondern die einfachen, durch psychologische Analyse gewonnenen Elementarph\u00e4nomene.\nBeachten wir nun, dass bisher mit einiger Sicherheit motorische und sensorische Regionen in der Hirnrinde haben festgestellt werden k\u00f6nnen; und dass pathologische Beobachtungen einen Zusammenhang von StimhirnVerletzungen oder -degenerationen mit St\u00f6rungen der Intelligenz und des Willens gelehrt haben, so werden mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit in den Stirnregiotien des Gro\u00dfhirns diejenigen physiologischen Vorg\u00e4nge localisirt werden k\u00f6nnen, welche die Apperception begleiten. Denn gerade in dem Denken erweist sich neben Vorstellungen und sprachlichen Bewegungen psychologisch noch die Apperception wirksam, und dieselbe haben wir zugleich als die primitive Willensth\u00e4tigkeit bestimmen k\u00f6nnen. Gest\u00fctzt wird ferner die Vermuthung einer physiologischen Grundlage der Apperception durch die Thatsache, dass sich mit der Aufmerksamkeit h\u00e4ufig die Empfindung einer Anstrengung verbindet und letztere wahrscheinlich immer von Muskelspannungen begleitet wird, welche auf eine gleichzeitige motorische Erregung zur\u00fcckzuf\u00fchren sind.\n/-Nach der psychologischen Bedeutung der Apperception haben wir eine Verbindung der sie begleitenden physiologischen Vorg\u00e4nge mit motorischen wie sensorischen Centren anzunehmen. Dieser Forderung entspricht das von Wundt entworfene Schema der Leitungsbahnen, welche zwischen diesen verschiedenen Organen bestehen. Das Apperceptionsorgan erh\u00e4lt auf einem centripetalen Wege die in den s\u00e4mmtlichen K\u00f6rperorganen stattfindenden sinnlichen Erregungen, auf einem centrifugalen Wege f\u00fchrt es untergeordneten Centren Impulse zu, die, wenn sie an Sinnescentren \u00fcbertragen werden, der Apperception von Empfindungen, wenn sie Muskelcentren zu Theil werden, der Ausf\u00fchrung willk\u00fcrlicher Bewegungen zu Grunde liegen. Da in der Regel beides zugleich geschieht, so entstehen selbst in den F\u00e4llen, wo die wirkliche Bewegung unterbleibt, schwache Miterregungen der Muskeln, die sich als Spannungsempfindungen in unserem Bewusstsein kundgeben. Der Grad der Apperception und die Intensit\u00e4t der Empfindungen sind von einander unabh\u00e4ngig. Wo jene die Gr\u00f6\u00dfe der letzteren steigert, da geschieht es nur in geringem Grade und mit dem\nWundt, Philos. Studien. V.\n30","page":439},{"file":"p0440.txt","language":"de","ocr_de":"440\nOswald Kiilpe.\ndeutlichen Bewusstsein eines Willenseinflusses. Das findet physiologisch seinen Ausdruck in der Selbst\u00e4ndigkeit der beiden Centren. \u00bbVon der St\u00e4rke der Sinneserregung ist die Intensit\u00e4t der Empfindung, von der St\u00e4rke der apperceptiven Erregung die Klarheit derselben abh\u00e4ngig.\u00ab\nDiese Ausf\u00fchrungen lassen die physiologische Grundlage der Apperception in Erregungen erkennen, welche von einem besonderen Organ ausgehen und, abgesehen von der gesammten Entwicklung desselben, im einzelnen centripetalen Eindr\u00fccken ihre Entstehung verdanken, ihrerseits aber .auf sensorische und motorische Centren sich \u00fcbertragen und so entweder als Aufmerksamkeit oder als Bewegungsimpuls wirken.\nd. Die Entwicklung des Willens1).\nDie Frage nach der Entwicklung des Willens hat durch die Behauptung verschiedener Psychologen, dass das Unwillk\u00fcrliche dem Willk\u00fcrlichen vorangehe, ein besonderes Interesse erlangt. Man hat dabei einerseits nur die Bewegungen, andererseits nur die individuelle Entwicklung in Betracht gezogen. Die Ansicht, welche wir meinen, lautet demnach folgenderma\u00dfen: urspr\u00fcnglich, d. h. am Anfang der menschlichen Entwicklung, wei\u00df die Seele und wei\u00df der Wille noch nichts von dem motorischen Mechanismus, welcher ihr zur Disposition gestellt wird, erst durch eine F\u00fclle von reflecto-rischen oder automatischen Bewegungen, welche entsprechende Vorstellungen in ihr erregen, lernt sie allm\u00e4hlich mit Bewusstsein, d. h. absichtlich Bewegungen ausf\u00fchren. Diese Anschauung finden wir bereits bei Herbart, sodann bei Fotze, neuerdings ist sie von Baumann2) in theilweisem Anschluss an Bain vertreten worden. Dem gegen\u00fcber hat Wu n d t diese heterogenetische Theorie der Entstehung willk\u00fcrlicher Bewegungen mit Gr\u00fcnden bek\u00e4mpft, welche ich f\u00fcr durchschlagend halte.\nEs ist bemerkenswerth, dass die heterogenetische Ansicht durchaus geleitet wird von dem Willensbegriff, den sich die erw\u00e4hnten Psychologen gebildet haben. Wer, wie Herbart, unter dem\nF a- a- II S. 463 ff. Essays S. 286 ff Philos. Stud. a. a. O.\n2) Philos. Monatshefte Bd. 17 S. 558 f\u00ef.","page":440},{"file":"p0441.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n441\nWollen nur ein Verh\u00e4ltniss zwischen Vorstellungen und unter Willenshandlung nur die Wahlhandlung versteht, wird gen\u00f6thigt sein, dieselbe auf einfachere Vorg\u00e4nge, d. h. eigentlich auf Unwillk\u00fcrliches zur\u00fcckzuf\u00fchren. Ebenso verh\u00e4lt es sich mit Lotze und Baumann, die unter dem AFollen nur die \"Wahl oder den Entschluss verstehen. Etwas anders liegt die Sache hei Bain. Auch er hat ausf\u00fchrlich nachzuweisen gesucht, dass automatische und spontane Bewegungen den willk\u00fcrlichen vorangehen m\u00fcssen. Der Nachweis aber besteht hier wesentlich darin, dass die \"V erhindung zwischen spontanen Impulsen und Gef\u00fchlen der Lust oder Unlust eine durch die Erfahrung entstandene sei. Wenn nun in der Spontaneit\u00e4t seihst nach ihm ein wirkliches Element allen Wollens gesehen werden muss, so wird in gewissem Sinne schon fr\u00fch, d. h. schon bei den fr\u00fchesten Bewegungen ein Willenselement sich betheiligen. Er ist daher nicht ganz zu den Vertretern jener heterogenetischen Theorie zu z\u00e4hlen, wie die anderen genannten Psycho- ^ logen.\nDa sich also die heterogenetische Theorie von der Entstehung willk\u00fcrlicher Bewegungen auf die entsprechenden Ansichten vom Wesen und Wirken des Willens im allgemeinen zur\u00fcckf\u00fchren l\u00e4sst, so bin ich fr\u00fcher auf diese Frage nicht n\u00e4her eingegangen. Jenen negativen und positiven Willenstheorien gegen\u00fcber aber habe ich bereits auf die Punkte hingewiesen, welche mir wesentlich schienen, so einerseits darauf, dass ein Wollen als prim\u00e4rer Bewusstseinsvorgang nur aus in differ enzir ten, nicht aber aus gleich prim\u00e4ren Zust\u00e4nden entwickelt zu denken sei, andererseits darauf, dass der Wille als Entschluss oder Wahl entweder ein complicirter Vorgang ist oder nichts dem w\u00e4hlenden Willen allein Eigent\u00fcmliches darstellt. Nur auf dem Standpunkt einer vollkommen negativen Ansicht vom Willen ist man berechtigt, die Entstehung der willk\u00fcr-liehen Bewegungen in der geschilderten W eise aufzufassen, oenn wo man einen Willen als elementares Bewusstseinsph\u00e4nomen nicht anerkennt, da kann man selbstverst\u00e4ndlich nicht ein urspr\u00fcngliches Wirken desselben annehmen. Ist der Wille ein aus Vorstellungen und Gef\u00fchlen zusammengesetzter Act, so k\u00f6nnen auch nur diese etwas leisten, er ist dann blos ein Name, keine urspr\u00fcngliche Eneigie des Bewusstseins.\n30*","page":441},{"file":"p0442.txt","language":"de","ocr_de":"442\nOswald K\u00fclpe.\nWo man dagegen in dem Willen eine eigent\u00fcmliche Function sieht, da kann man weder seine Leistungen durch andere vertreten lassen, noch ihn aus entwickelten Vorg\u00e4ngen des Bewusstseins ableiten. Denn jede elementare Function desselben ist ebenso urspr\u00fcnglich wie das Bewusstsein selbst. Dieser notwendigen (Konsequenz tr\u00e4gt die von Wundt vertretene autogenetische Ansicht von der Entwicklung des Willens Beehnung. -Sie verzichtet von vornherein auf eine Beantwortung der empirisch jedenfalls unl\u00f6sbaren Frage nach der Entstehung des Willens im eigentlichen Sinne des Wortes, sie beschr\u00e4nkt sich vielmehr darauf das Verh\u00e4lt-niss des Willens zu den anderen Functionen des Bewusstseins zu er\u00f6rtern, die Entstehung der \u00e4u\u00dferen Willensth\u00e4tigkeit aus der inneren darzustellen und die Entwicklung der complicirten aus den einfachen Willenshandlungen begreiflich zu machen.\nIndem ich von dem ersten Punkte, den ich bereits bei der Schilderung der Wirksamkeit des Willens erledigt zu haben glaube, hier absehe, wende ich mich sofort zu der Besprechung des zweiten und dritten. Wir m\u00fcssen uns hier vor allem vergegenw\u00e4rtigen, dass nach Wundt die Apperception als innere Willensth\u00e4tigkeit sowohl sensorische, als auch motorische Erregungen unmittelbar hervorzurufen resp. zu beeinflussen vermag. Es liegt daher kein Grund vor, an der M\u00f6glichkeit einer rein impulsiven Apperception zu zweifeln. Wundt unterscheidet zwischen einer reproductiven und einer impulsiven Apperception. In jener tritt das Bewegungsbild, d. h. die Vorstellung der Bewegung hervor und die Innervationsempfindung zur\u00fcck, umgekehrt verh\u00e4lt es sich bei der impulsiven Apperception. Au\u00dferdem aber lehrt die Erfahrung, dass jene nur auftaucht, wo eine Verz\u00f6gerung des Impulses durch Wahl oder Ueberlegung stattfindet. Setzen wir weiterhin voraus, was durch Thierbeobachtungen gro\u00dfe Wahrscheinlichkeit gewinnt, dass die eindeutig bestimmten Willensacte den mehrdeutig bestimmten zeitlich vorangehen, und halten wir daran fest, dass die reprodu-cirten Vorstellungen den Empfindungen nachfolgen. Dann ergibt sich f\u00fcr die \u00e4u\u00dfere Willenshandlung folgende Anschauung. Urspr\u00fcnglich durch impulsive Apperception zu Stande gekommen, hat sie die Bewegungsvorstellung dann in sich aufgenommen. Eine ann\u00e4hernd reine impulsive Apperception l\u00e4sst sich auch im entwickelten","page":442},{"file":"p0443.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\t443\nLeben beobachten, z. B. bei einfachen Reactionen ohne vorausgehende Bewegungsvorstellung mit deutlicher Innervations- und Spannungsempfindung. Aber jederzeit kann durch \"V erz\u00f6gerung des Impulses eine reproductive Apperception den Bewegungsact anticipiren. W\u00e4hrend also nach der heterogenetischen Ansicht die Bewegungsvorstellung das nothwendige Motiv einer \u00e4u\u00dferen Willens-handlung bildet und dieselbe die Wahrnehmung willenloser Bewegungen zur Voraussetzung hat, sind hier die letzteren \u00fcberhaupt erst als mechanisch gewordene Willenshandlungen begreiflich und die1 Bewegungsvorstellungen die Folgeerscheinungen urspr\u00fcnglich ohne sie sich vollziehender Triebbewegungen.\nSchon fr\u00fcher habe ich bemerkt, dass Wundt die Triebhandlungen als einfache Willenshandlungen bezeichnet, die sich nur dadurch von den complicirten Wahlacten unterscheiden, dass ein vorausgehendes Motiv unmittelbar wirksam wird. Die Entwicklung des Willens denkt sich nun Wundt so, dass er den Trieb an den Ursprung der geistigen Th\u00e4tigkeit \u00fcberhaupt setzt und in dem Triebe neben einer mehr oder weniger gef\u00fchlsstarken Empfindung ein apperceptives Element annimmt, das bei der urspr\u00fcnglichen Un-geschiedenheit der einzelnen Bestandtheile in dem einfachen Bewusstseinsganzen enthalten gedacht werden muss. Gerade bei den iliedersten Lebewesen \u00bbtreten die K\u00f6rperbewegungen von automatischem und reflectorischem Charakter durchaus zur\u00fcck gegen\u00fcber solchen Handlungen, die auf eine vorangegangene Empfindung oder Vorstellung und einen daraus entstandenen Trieb hinweisen, und denen wir danach den Charakter einfacher Willenshandlungen bei-legem m\u00fcssen.\u00ab Es ist daher richtiger, alle Bewegungen auf eine urspr\u00fcngliche Wirksamkeit des Willens zur\u00fcckzuf\u00fchren, also auch die automatischen und reflectorischen Bewegungen als mechanisch gewordene Trieb- oder Willk\u00fcrhandlungen aufzufassen. Die erste Entstehung einer Willenshandlung ist demnach so zu denken, \u00bbdass ein \u00e4u\u00dferer Eindruck und mit ihm gleichzeitig die von ihm ausgel\u00f6ste Bewegung appercipirt wurde.\u00ab Von dem eigentlichen Reflex, mit dem sie im allgemeinen Typus \u00fcbereinstimmt, unterscheidet sich diese primitive Willenshandlung erstlich durch eine vorausgehende gef\u00fchlsstarke Vorstellung und zweitens durch die impulsiv appercipirte Bewegungsempfindung. So entwickeln sich also will-","page":443},{"file":"p0444.txt","language":"de","ocr_de":"444\nOswald Kfllpe.\nk\u00fcrliche Bewegungen, Triebbewegungen und Reflexe gemeinsam aus einer Form der Bewegung, \u00bbwelche in gewissem Sinne die Merkmale der Willenshandlung und des Reflexes gleichzeitig an sich tr\u00e4gt.\u00ab\nIch erw\u00e4hne noch zum Schluss meiner Darstellung der Wundt-schen Willenslehre, dass im Wesentlichen \u00fcbereinstimmende Ansichten v\u00f6n G. H. Schneider in seinen schon erw\u00e4hnten Werken und von H\u00f6ffding in seiner Psychologie (deutsch \u00fcbersetzt 1887) entwickelt worden sind. Ich sehe mich daher nicht veranlasst n\u00e4her auf dieselben einzugehen. Auch Ladd in seinen Elements of physiological psychology 1887 hat sich der Wundt\u2019sehen Theorie zum gro\u00dfen Theil angeschlossen.\nSchluss.\n7\t4\nMeine Darstellung hat mit dem Referat \u00fcber diejenige Willenslehre, welche ich f\u00fcr richtig halte, ihren nat\u00fcrlichen Abschluss gefunden. Ich blicke nun zur\u00fcck auf den durchmessenen Weg und suche mir zu vergegenw\u00e4rtigen, ob Absicht und Ausf\u00fchrung meiner Arbeit in einigem Einkl\u00e4nge stehen. Ich wollte einen kritischen Beitrag zur Theorie des Willens liefern, eine Verst\u00e4ndigung \u00fcber diesen wichtigen Gegenstand der Psychologie herbeif\u00fchren helfen. Dazu wurde auf Grund einer einfachen, aber, wie ich meine, gen\u00fcgenden Eintheilung die Begr\u00fcndung gepr\u00fcft, welche die einzelnen Theorien zum Ausgangspunkt genommen haben, und die Thatsachen in Betracht gezogen, welche sich jener Erkl\u00e4rung f\u00fcgen sollten.\nEs fand sich zun\u00e4chst, dass, wo man den Willen als eigen-th\u00fcmlichen Bewusstseinsvorgang anerkannt hatte, metaphysische oder logische Ueberlegungen die Veranlassung gaben, eine ohne den Willen arbeitende Theorie des geistigen Lebens zu entwickeln. Ich glaubte zeigen zu k\u00f6nnen, dass jene allgemeineren Erw\u00e4gungen weder diese Folgerungen nothwendig ergeben, noch die letzteren dem Thatbestand in befriedigender Weise gerecht geworden sind. Diese Kritik der relativ negirenden Richtungen hat ihre Vollendung in der positiven Darstellung einer Theorie erhalten, welche jenen metaphysischen und logischen Schwierigkeiten keine Angriffspunkte","page":444},{"file":"p0445.txt","language":"de","ocr_de":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\n445\nmietet und bei ihrer ausschlie\u00dflichen Bem\u00fchung das Gegebene zu erkl\u00e4ren wahrhaft empirisch genannt werden muss.\nIn h\u00f6herem Grade, als hei den relativ negirenden Richtungen, fand der empirische Gesichtspunkt bei den absolut negirenden seine Verwendung. Sollte m'an in dem Wollen kein elementares Ph\u00e4nomen des Bewusstseins entdecken k\u00f6nnen, so musste dies Resultat durch eine sorgf\u00e4ltige Analyse des unmittelbar Gegebenen gerechtfertigt werden. Trotzdem zeigten sich auch hier weitere Grunde f\u00fcr die einzelnen Behauptungen, theils ein genetischer, theils ein physiologischer, die vollkommen deutlich die Interpretation des Thatbestandes beeinflussten. Auch hier konnte darauf hmgewiesen werden, dass entweder die Analyse des Bewusstseins ungen\u00fcgend oder der gew\u00e4hlte Ausgangspunkt unrichtig verwerthet oder \u00fcberhaupt in seiner Berechtigung zu bestreiten sei.\nAm Eingang des zweiten Abschnitts begegnete uns zuerst fl\u00fcchtig die Meinung, dass der Wille nur eine unbewusste Realit\u00e4t besitze. Auch dieser Ansicht mussten wir entsagen, weil sie ungen\u00fcgend begr\u00fcndet war. In den Thatsachen vor allem konnte sie keine ausreichende St\u00fctze finden, weil ja das Unbewusste verschiedener Deutung empirisch zug\u00e4nglich hlieb. Dem rem empirischen Standpunkt sahen wir dann die eigentlich positiven Willenstheorien zuneigen. Wir konnten hier zwischen einem engeren und weiteren Willensbegriff unterscheiden. In Bezug auf jenen lie\u00df sich zeigen, dass der Wille als Entschluss auf einfachere Vorg\u00e4nge zur\u00fcckgef\u00fchrt werden k\u00f6nne, und dass f\u00fcr seine Wirksamkeit weder bestimmte Motive noch bestimmte Leistungen bindend und charakteristisch seien.\nDie Besprechung einer eklektischen Ansicht, die uns zu einiger Klarheit \u00fcber das Wesen der inneren Wahrnehmung verhalf, leitete hin\u00fcber zu den Vertretern eines weiteren Willensbegriffs. Eine erste logische Gruppe derselben befriedigte die psychologischen Anforderungen nicht, welche zu erheben waren. Nach ontologischer Methode suchte man hier den Thatsachen die n\u00f6thige Erkl\u00e4rung zu schaffen. Aber nur der t\u00e4uschende Schein einer Erkl\u00e4rung kam auf diese Weise zu Stande. Man entfernte sich in demselben Grade von den concreten Thatsachen, als man sich ihnen zu n\u00e4hern glaubte, und man verh\u00fcllte in einem abstracten Dunkel, was die unmittelbare Helligkeit des Bewusstseins an sich trug. Um so mehr wurden","page":445},{"file":"p0446.txt","language":"de","ocr_de":"446\tOswald Kiilpe. Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie.\ndie bisher in der Kritik hervorgehobenen Grunds\u00e4tze und Postulate von der empirischen Erweiterung des Willensbegriffs befriedigt, deren Darstellung ich meine letzten Bem\u00fchungen widmete und deren Schwierigkeiten f\u00fcr die gew\u00f6hnliche Auffassung ich ein wenig zu heben versuchte.\nBei dem engen Zusammenhang, in welchem die Ansicht vom Willen mit der Entwicklung der modernen Psychologie \u00fcberhaupt steht, habe ich auf die letztere mit einigen Worten hingewiesen. Es ist interessant zu bemerken, wie die Werthsch\u00e4tzung des Gegebenen immer mehr in den Vordergrund tritt, und wie eine sorgf\u00e4ltige Analyse desselben allm\u00e4hlich die wichtigste Aufgabe der psychologischen Arbeit wird. Von gro\u00dfer Bedeutung f\u00fcr eine richtige L\u00f6sung derselben ist die Auffassung der inneren Wahrnehmung und des Bewusstseins, und hierauf einzugehen war an einigen Stellen Gelegenheit geboten.\nDie psychologische Forschung ist bisher noch mehr oder wenijk: in einer Uebersch\u00e4tzung des im Vorstellungsinhalt Gegebenen begriffen gewesen. Vielleicht hat dies seinen Grund in dem alten Bed\u00fcrfniss, die seelischen Vorg\u00e4nge zu substantiiren. Es lie\u00df sich leichter begreifen, wie Vorstellungen au\u00dferhalb des Bewusstseins psychisch fortdauerten, als Gef\u00fchle und Willensacte. Die Vorstellungen konnten als etwas Dingliches aufgefasst und demgem\u00e4\u00df gleich den Objecten der \u00e4u\u00dferen Wahrnehmung mit einer objectiven Existenz bedacht werden. Diese Ansicht wird wahrscheinlich immer vollst\u00e4ndiger der anderen Platz machen, wonach Vorstellungsinhalte nicht minder als Gef\u00fchle und Willensacte in unserem Bewusstsein zu einheitlichen Vorg\u00e4ngen verschmelzen und aus diesen als Resultate logischer Analyse gewonnen werden. Dann haben die Vorstellungen keine gr\u00f6\u00dfere empirische Realit\u00e4t, als die anderen von ihnen unterscheidbaren Elementarph\u00e4nomene, und man hat dann auch kein Recht, sie in der Theorie des geistigen Lebens zu bevorzugen.","page":446}],"identifier":"lit4166","issued":"1889","language":"de","pages":"381-446","startpages":"381","title":"Die Lehre vom Willen in der neueren Psychologie, II","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:36:42.874706+00:00"}