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{"created":"2022-01-31T14:20:30.499539+00:00","id":"lit4172","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Martius, G\u00f6tz","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 601-617","fulltext":[{"file":"p0601.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6sse der Gegenst\u00e4nde und ihre Beziehung zur Gr\u00f6sse der Netzhautbilder.\nVon\nDr. Ct\u00f6tz Martius\nin Bonn.\nI.\nDer Gesichtswinkel gilt im allgemeinen als Ma\u00df der Gr\u00f6\u00dfe eines Gegenstandes, d. h. der Winkel, welchen seine Visirlinien mit einander bilden. Gegenst\u00e4nde, die unter gleichem Gesichtswinkel gesehen werden, erzeugen auf der Netzhaut Bilder von gleicher Gr\u00f6\u00dfe, haben also gleiche Richtungsstrahlen. Es w\u00fcrde demnach der Satz gelten:\nGegenst\u00e4nde mit gleichem Gesichtswinkel erscheinen gleich gro\u00df; die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe von Gegenst\u00e4nden, die unter verschiedenem Gesichtswinkel gesehen werden, w\u00e4chst und nimmt ab im geraden Yerh\u00e4ltniss zum Wachsen und Abnehmen des Gesichtswinkels derselben.\nEs ist aber l\u00e4ngst bekannt, dass dieser Satz nur g\u00fcltig ist, wenn die Entfernung der Gegenst\u00e4nde vom Auge die gleiche bleibt, und auch unter dieser Bedingung ist seine G\u00fcltigkeit nur eine ann\u00e4hernde. Denn die Zunahme des Gesichtswinkels findet um ein weniges langsamer statt, als die der Gegenst\u00e4nde, jedoch in einer Weise, dass dieser Unterschied vernachl\u00e4ssigt werden kann. Will man zwei verschiedene Gr\u00f6\u00dfen mit einander vergleichen, so ist unter diesen Umst\u00e4nden nur dann ein zuverl\u00e4ssiges Resultat zu erwarten, wenn die Gr\u00f6\u00dfen in gleicher Entfernung sich befinden. Weitere Bedingungen sind, dass die Gr\u00f6\u00dfen gleiche Richtung haben,","page":601},{"file":"p0602.txt","language":"de","ocr_de":"602\nDr. G\u00f6tz Martius.\nsowie dass sie beide entweder in der Form einer geraden Linie oder als Punktdistanzen gegeben sind (vergl. Wundt, Phys. Psych. Bd. II, S. 116). Denn von der Richtung wie von der Form der Gr\u00f6\u00dfen h\u00e4ngt die Gr\u00f6\u00dfenvorstellung ebenfalls in gewisser Weise ab. Es kann \u00fcberhaupt nicht zweifelhaft sein, dass die M\u00f6glichkeit der Vergleichung von Gr\u00f6\u00dfen abh\u00e4ngt von den Gro\u00df en Vorstellungen, m\u00f6gen diese zu Stande kommen wie sie wollen.\nAuch die Vergleichung von Gr\u00f6\u00dfen in verschiedenen Entfernungen wird m\u00f6glich sein, falls wir nur bestimmte entsprechende Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen besitzen. Es liegen hier\u00fcber meines Wissens bisher nur die von Fechner in den Elementen der Psychophysik (Bd. II, S. 312) erw\u00e4hnten Versuche vor. Fechner sagt : \u00bbMan halte einen Zirkel, am besten Stangenzirkel (um nicht Winkelsch\u00e4tzung mit einzumengen), mit einer gemessenen Distanz der Spitzen, Normaldistanz, vor die Augen, einen anderen ganz gleichen in etwa halb so gro\u00dfer oder doppelt so gro\u00dfer Entfernung so, dass beider Projectionen auf den Hintergrund nebeneinander fallen, und suche die Spitzendistanz des zweiten, Fehldistanz, nach dem Augenma\u00dfe der Normaldistanz gleich zu machen. Ungeachtet nun die Fehldistanz bei gleicher Gr\u00f6\u00dfe mit der Normaldistanz in Betracht ihrer andern Entfernung ein doppelt so gro\u00dfes oder nur halb so gro\u00dfes Bild im Auge gibt, als die Normaldistanz, macht man sie doch derselben bis auf einen kleinen variablen und consfanten Fehler gleich; und zwar ist der constante Fehler bei mir der Art, dass ich die Fehldistanz, wenn sie entfernter als die Normaldistanz ist, immer ein wenig zu klein, wenn sie n\u00e4her ist, ein wenig zu gro\u00df mache, was den von der verschiedenen Entfernung abh\u00e4ngigen Unterschied zwischen der Gr\u00f6\u00dfe der Distanzbilder nur noch vermehrt. Hingegen machte eine andere Person die Fehldistanz, sowohl wenn sie die n\u00e4here, als wenn sie die entferntere war, immer ein wenig zu gro\u00df, eine dritte die n\u00e4here ein wenig zu klein, die entferntere ein wenig zu gro\u00df\u00ab. Fechner folgert mit Recht, dass die Netzhautbildgr\u00f6\u00dfen nicht die alleinige Ursache unserer Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen sein k\u00f6nnen, und glaubt, dass es die Erziehung durch die Erfahrung ist, welche die der Wahrheit so nahe kommende Gleichsch\u00e4tzung der Bilder hier erm\u00f6glicht.\nDas Letztere sei dahingestellt ; jedenfalls liegt es auf der Hand,","page":602},{"file":"p0603.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc,\n603\ndass diese Versuche ein deutliches Bild von dem untersuchten Vorg\u00e4nge zu gehen nicht im Stande sind. Der Widerspruch im Resultate hei den drei Beobachtern beweist, dass die Methode nicht geeignet war, die doch auch hier von vornherein anzunehmende Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit der Vorg\u00e4nge aufzufinden. Jedenfalls besagen die Versuche nichts f\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen. Denn wenn die Aufgabe gestellt wird, die beiden Gr\u00f6\u00dfen gleich zu machen, so wird von vornherein an die Erfahrung appellirt, und die Unsicherheit, mit welcher die Aufgabe gel\u00f6st wurde, zeigt uns, dass die Erfahrung nicht mit gleicher Sicherheit und Uebung in den drei F\u00e4llen zu Werke ging, was nichts auffallendes hat.\nDie folgenden gleich mitzutheilenden Versuche zeigen, dass eine Vergleichung von Gr\u00f6\u00dfen in verschiedener Entfernung wohl m\u00f6glich ist, und lassen auch den Grad der Genauigkeit dieser Vergleichung und das Verh\u00e4ltniss der scheinbaren Gr\u00f6\u00dfen zu den objectiven wirklichen Gr\u00f6\u00dfen erkennen.\nDie Frage, wie sie zuerst gestellt wurde, lautete: welche Gr\u00f6\u00dfe erscheint einer in constanter N\u00e4he gegebenen Normalgr\u00f6\u00dfe hei verschiedenen Entfernungen gleich?\nDa nach der bestehenden Theorie die Erfahrung und die Bekanntschaft mit der Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde auf die Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen den bestimmendsten Einfluss hat, war es n\u00f6thig, vor allen Dingen Gegenst\u00e4nde zur Vergleichung zu bringen, die abgesehen von der Gr\u00f6\u00dfe keine sonstigen erkennbaren Unterschiede darboten. Ich lie\u00df mir daher regelm\u00e4\u00dfige, rechtwinklige St\u00e4be aus trocknem Ahomholz, das sich nicht verzog, schneiden. Als Normalgr\u00f6\u00dfe wurden 20, 50 und 100 cm gew\u00e4hlt, von diesen also zwei Exemplare angefertigt. Zu jeder Normalgr\u00f6\u00dfe geh\u00f6rte eine entsprechende Anzahl kleinerer und gr\u00f6\u00dferer St\u00e4be, die je um 1 cm, bei der ersten Normalgr\u00f6\u00dfe =20 cm um */2 cm von einander verschieden waren. Die Seite der quadratischen Grundfl\u00e4che der St\u00e4be erster Gr\u00f6\u00dfe betrug 4 mm, die der \u00fcbrigen 5 mm.\nSchon die ersten Probeversuche zeigten, dass die Befestigung der St\u00e4be und der Hintergrund von gro\u00dfem Einfluss auf die Sch\u00e4tzung war. Sobald man der Versuchsperson einen Stab mit der Hand entgegenhielt, zeigte sich die Wahrnehmung der Gr\u00f6\u00dfe durch die Unterbrechung der Hand getr\u00fcbt, die Frage nach der Gleich-","page":603},{"file":"p0604.txt","language":"de","ocr_de":"604\nDr. G\u00f6tz Martius.\nheit und Ungleichheit mit der Normalgr\u00f6\u00dfe schwer beantwortbar. Es wurden daher in die Enden der St\u00e4be kleine N\u00e4gel eingeschlagen, die nur ca. 1 mm aus dem Stabe hervorsahen ; an diesen N\u00e4geln wurde ein schwarzer Faden befestigt, mit dessen H\u00fclfe der Stab so gehalten werden konnte, dass gerade nur der Stab selbst sich von dem Hintergr\u00fcnde abhob.\nDie weitere Anordnung ergab sich von selbst. Die Versuchsperson setzte sich auf einen niedrigen Schemel. In ihrer N\u00e4he befand sich ein Schirm, vor welchem der Normalstab, auch an einem Faden h\u00e4ngend, sichtbar war. In der entsprechenden, wechselnden Entfernung war ein zweiter gr\u00f6\u00dferer Wandschirm aufgestellt, vor welchem der Versuchsperson die zu vergleichende Stabgr\u00f6\u00dfe gezeigt werden konnte. Die beiden Schirme hatten eine v\u00f6llig gleiche, aus einem indifferent braunen Tuche hergestellte Farbe. Der Normalstab war so vor dem Beschauer aufgeh\u00e4ngt, dass der Blick in der Prim\u00e4rlage ungef\u00e4hr auf die Mitte des Stabes fiel. Durch ein Nachbild lie\u00df sich die richtige Stellung des Kopfes vor jeder Versuchsreihe leicht controliren. Der Vergleichsstab wurde in der dem Normalstab entsprechenden H\u00f6he auf der zweiten Wand dargeboten. Die beiden Schirme waren so voreinander gerichtet und der Vergleichsstab wurde so hingehalten, dass der Blick des Beobachters durch eine blo\u00dfe Seitenwendung von dem einen Stahe auf den anderen \u00fcbergehen konnte, ohne eine Kopfbewegung zu erfordern, und dass ein Wechsel des Hintergrundes hierbei nicht stattfand, insofern der n\u00e4here Hintergrund ohne L\u00fccke in den entfernteren \u00fcberging. Das Bewusstsein der gro\u00dfem Entfernung des letzteren lie\u00df sich nat\u00fcrlich nicht ausschlie\u00dfen.\nAls Methode der Untersuchung hot sich sowohl die Methode der Minimal\u00e4nderungen, als die der r. und f. F\u00e4lle unmittelbar als gleich m\u00f6glich dar. Es wurde die erste Methode bevorzugt, die geeignet war, \u00fcber die gesammten Vorg\u00e4nge, um die es sich handelt, zun\u00e4chst am leichtesten Licht zu verbreiten; f\u00fcr die end-giltige Feststellung der Zahlen mag die Methode der r. und f-F\u00e4lle sich schlie\u00dflich als gleich werthvoll erweisen, was sp\u00e4teren Versuchen \u00fcberlassen bleiben muss. Es lag in der Natur des angewandten Verfahrens, dass die \u00bbMinimal\u00e4nderungen\u00ab ihrer Gr\u00f6\u00dfe nach an die einmal gegebenen Gr\u00f6\u00dfenunterschiede der St\u00e4be ge-","page":604},{"file":"p0605.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n605\nbunden waren, ein Umstand, welcher das Resultat nicht wesentlich beeinflussen d\u00fcrfte.\nJede Versuchsreihe wurde aufsteigend und absteigend direct hintereinander gemacht. Das Verfahren war unbewusst ; die sch\u00e4tzende Person wusste weder, mit welcher Gr\u00f6\u00dfe der Experimentator seine Fragen begann, noch ob er in stetiger Folge oder mit Ueber-schlagung einiger oder mehrerer Gr\u00f6\u00dfen die St\u00e4be dem Auge darbot. In der N\u00e4he der Gleichsch\u00e4tzung musste selbstverst\u00e4ndlich jede vorhandene Gr\u00f6\u00dfe gezeigt werden, um m\u00f6glichst genaue Resultate zu erhalten. Auch die Zahlen der ersten (etwa absteigenden) Reihenh\u00e4lfte wurden nicht mitgetheilt, bis auch die zweite (aufsteigende) H\u00e4lfte vollendet war. Diese Ungewissheit des Sch\u00e4tzenden ist f\u00fcr die Versuche von gr\u00f6\u00dfter und wesentlicher Bedeutung. Sie allein bewirkt es, die anf\u00e4nglich vorhandene Neigung des Beobachtenden, \u00fcber die wirkliche Gr\u00f6\u00dfe des Vergleichsstabes im Verh\u00e4ltniss zum Normalstabe zu reflectiren, zu beseitigen. Diese Neigung, die auch Fechner\u2019s Versuche beeinflusste und gegenstandslos machte, stammt aus der Praxis des t\u00e4glichen Lebens und seinen Bed\u00fcrfnissen. Es hat f\u00fcr uns in der Regel nur die Frage nach der wirklichen Gr\u00f6\u00dfe eines Gegenstandes Interesse, indem wir unter der wirklichen Gr\u00f6\u00dfe zumeist diejenige verstehen, wie der Gegenstand uns in der Weite des deutlichsten Sehens oder in \u00bbhandlicher\u00ab Entfernung erscheinen w\u00fcrde; von den Gr\u00f6\u00dfen dieser Entfernung pflegen wir zugleich mehr oder minder deutliche Ma\u00dfvorstellungen zu besitzen, je nachdem wir in der praktischen oder vorstellungsm\u00e4\u00dfigen Anwendung eines Ma\u00dfsystems ge\u00fcbt sind. Aus diesen Gr\u00fcnden erscheint es nat\u00fcrlich, dass im Anfang jede von mir herangezogene Versuchsperson ihren Zweifel ausdr\u00fcckte, ob sie die an sie gerichtete Frage beantworten k\u00f6nne, die Frage n\u00e4mlich, ob die Vergleichsgr\u00f6\u00dfe gr\u00f6\u00dfer oder kleiner als die Normalgr\u00f6\u00dfe sei, indem sie hierbei an die wirkliche Gr\u00f6\u00dfe dachten und unwillk\u00fcrlich die Unm\u00f6glichkeit, bei verschiedenen Entfernungen objectiv genau zu vergleichen, in Rechnung zogen. Es bedurfte einer jedesmaligen Aufkl\u00e4rung, dass es sich nicht um das gr\u00f6\u00dfer Sein, sondern um das gr\u00f6\u00dfer oder kleiner Scheinen handele. Und es gibt ein sicheres Mittel, den Sinn der gemeinten Frage Jedem klar-.zustellen, darin bestehend, dass man dem Gefragten eine sehr viel","page":605},{"file":"p0606.txt","language":"de","ocr_de":"606\nDr. G\u00f6tz Martius.\nkleinere oder sehr viel gr\u00f6\u00dfere Stabgr\u00f6\u00dfe, als die zu vergleichende, entgegenh\u00e4lt. Alsdann erfolgt die Antwort \u00bbkleiner\u00ab oder \u00bbgr\u00f6\u00dfer\u00ab sehr rasch, und es wird dem Beobachter sogleich innerlich klar, dass wir eine deutliche unmittelbare Auffassung f\u00fcr Gr\u00f6\u00dfenunterschiede, auch bei Vergleichung verschieden entfernter Gegenst\u00e4nde, besitzen.\nUnd doch stellten sich bei den anf\u00e4nglichen Versuchen die Bedenken wieder ein, sobald die Vergleichsgr\u00f6\u00dfen in der Sch\u00e4tzung den Normalgr\u00f6\u00dfen nahe kamen und nur wenig sich von ihnen zu unterscheiden schienen. Es lag das, wie sich bald herausstellte, an der urspr\u00fcnglichen Fragestellung. Es zeigte sich, dass mehrere St\u00e4bchen dem Normalstabe gleich, und wiederum mehrere ihm nahezu gleich erscheinen konnten, dass also ein sicheres Gef\u00fchl der Gleichheit in einem einzelnen Falle sich \u00fcberhaupt nicht einstellte. W\u00e4hrend daher im Anfang die Absicht gewesen war, eine bestimmte, der Normalgr\u00f6\u00dfe gleich erscheinende Stabgr\u00f6\u00dfe zu finden, musste infolge der gemachten Erfahrung die Frage ver\u00e4ndert und die Reihe von Gr\u00f6\u00dfen aufgesucht werden, innerhalb welcher das deutliche Gef\u00fchl des Gr\u00f6\u00dfenunterschiedes verschwunden ist. Gleichheit ist eben nichts anderes als Mangel des Unterschieds. So war hei einer Vergleichung mit einer Normalgr\u00f6\u00dfe von 50 cm in einem der Vorversuche das Urtheil einer aufsteigenden Versuchsreihe schwankend von 51 cm bis 57 cm, in einer andern, ebenfalls aufsteigenden Reihe wurde von 53 cm bis 56 cm \u00bbgleich\u00ab geantwortet. Entsprechend diesen Erfahrungen mussten auch f\u00fcr die Antworten weitere und unbestimmtere Ausdr\u00fccke gew\u00e4hlt werden ; es wurde festgesetzt, dass \u00bbgr\u00f6\u00dfer\u00ab (gr.) oder \u00bbkleiner\u00ab (kl.) im Fall des deutlichen Unterschiedes, dagegen \u00bbetwas gr\u00f6\u00dfer\u00ab (e. gr.) oder \u00bbetwas kleiner\u00ab (e. kl.) im Falle nicht unbedingter Gewissheit geantwortet werden sollte; war dagegen nach vorhandener Gleichheitsempfindung die Neigung vorhanden, auch noch weitere Gr\u00f6\u00dfen f\u00fcr gleich mit der Normalgr\u00f6\u00dfe zu halten, jedoch ebenfalls mit Unsicherheit und Schwanken des Urtheils, so wurden die Ausdr\u00fccke \u00bbgleich nach oben\u00ab (gl. n. o.) und \u00bbgleich nach unten\u00ab (gl. n. u.) vorgezogen. Die letzteren Ausdr\u00fccke unterscheiden sich also von den oben genannten \u00bbe. gr.\u00ab und \u00bbe. kl.\u00ab nur dadurch, dass bei jenen die Gleichheit, bei diesen der Unterschied im Vorder-","page":606},{"file":"p0607.txt","language":"de","ocr_de":"Deber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n607\ngr\u00fcnde des Bewusstseins sind, sie stimmen \u00fcberein in der mangelnden Sicherheit der Entscheidung.\nEs folgen die Versuchsreihen.\nNg. ist die Normalgr\u00f6\u00dfe des constanten Stabes. E. ist die Entfernung der beiden St\u00e4be von einander, Ae. ist die Entfernung des Auges des Beobachters von dem ersten Stabe, E. + Ae. also die Entfernung des Vergleichsstabes vom Auge des Beobachters. Die Versuche waren s\u00e4mmtlich zwei\u00e4ugig. Die beiden Versuchspersonen,-deren Zahlen mitgetheilt sind, sind mit G. M. und M. M. bezeichnet.\nI. E. \u2014 5,25 m. Ae. = 50 cm.\n1. Ng. =\t= 20 cm.\t2. Ng. =\t= 50 cm.\t3. Ng. =\t= 100 cm.\nAufst.\tAbst.\tAufst.\tAbst.\tAufst.\tAbst.\nM.\tM.\tM.\tM.\tM.\tM.\n19,5 e. kl.\t24,5 gr.\t52 e. kl.\t62 e. gr.\t103 e. kl.\t110 e. gr.\n21 gl.\t24 e. gr.\t55 e. kl.\t61 e. gr.\t105 gl.\t109 gl.\n22 e. gr.\t23,5 gl.\t56 gl.\t60 gl.\t107 e. gr.\t107 e. kl.\n22,5 gr.\t22 gl. n. u.\t58 gl.\t57 gl.\t109 gr.\t103 kl.\n\t21,5 e. kl.\t59 e. gr.\t56 e. kl.\t\t\n\t19,5 kl.\t62 gr.\t54 kl.\t\t\nG.\tM.\tG.\tM.\tG.\tM.\n20,5 e. kl.\t24,5 e. gr.\t55 e. kl.\t64 e. gr.\t105 gl.\t115 e. gr.\n21 gl.\t23 gl. n. o.\t57 gl.\t61 gl.\t106 kl.\t111 gl. n. o.\n21,5 gl.\t22,5 gl.\t60 e. gr.\t57 e. kl.\t107 gl.\t110 gl.\n22,5 e. gr.\t21 gl. n. u.\t61 e. gr.\t56 kl.\t113 e. gr.\t108 e. kl.\n23 gr.\t20,5 e. kl.\t62 gr.\t\t115 e. gr.\t105 kl.\n\t20 kl.\t\t\t\t\nII. E. = 2,50 m. Ae. -\t50 cm.\n1. Ng. =\t= 20 cm.\t2 Ng. =\t= 50 cm.\t3. Ng. =\nAufst.\tAbst.\tAufst.\tAbst.\tAufst.\nM.\tM.\tM.\tM.\tM.\n19 gl. n. u.\t22,5 e. gr.\t49 e. kl.\t59 e. gr.\t101 e. kl.\n20 gl.\t22 gl. n. o.\t51 gl. n. u.\t57 gl. n. o.\t104 gl. n. u.\n21 e. gr.\t21,5 gl.\t53 gl.\t55 gl.\t106 gl. n. o.\n21,5 gr.\t20 e. kl.\t55 gl. n. o.\t53 gl.\t108 e. gr.\n\t19,5 kl.\t57 gr.\t52 e. kl.\t110 gr.\n\t\t\t51 kl.\t\nG.\tM.\tG.\tM.\tG.\n19,5 kl.\t24 e. gr.\t52 e. kl.\t61 e. gr.\t103 e. kl.\n20 gl.\t23,5 gl. n. o.\t54 gl. n. u.\t60 gl. n. o.\t105 gl.\n21 u.\t23 gl.\t55 gl. n. o.\t58 gl.\t108 e. gr.\n21,5 gl. n. o.\t22 gl. n. u.\t56 gl. n. o.\t56 gl. n. u.\t114 gr.\n22,5 gr.\t21 e. kl.\t57 e. gr.\t55 e. kl.\t\n\t20,5 kl.\t61 gr.\t54 kl.\t\nAbst.\nVf.\n112 e. gr. 111 gl. n. o. 110 gl. n. u. 108 e. kl. 107 kl.\n114 gr.\n112 gl. n. o. 111 gl. n. u. 110 e. kl. 108 kl.","page":607},{"file":"p0608.txt","language":"de","ocr_de":"608\nDr. G\u00f6tz Martius.\nYon den gefundenen Zahlen wurden die Durchschnittswerthe berechnet, indem von jeder Reihe je vier Zahlen passend ausgew\u00e4hlt wurden nach dem Schema der ersten Zahlenreihe. Das Er-gebniss ist nicht wesentlich anders, wenn man alle Zahlen ber\u00fccksichtigt.\nEs ergibt sich:\nI. E. = 5,25 m.\n1. Ng. = 20\tcm.\t2. Ng. =\t50 cm.\t3. Ng. =\t100 cm.\nM. M.\tG. M.\tM. M.\tG. M.\tM. M.\tG. M.\nAufst. 21,25\t21,75\t57,25\t58,5\t106\tj\t110\nAbst. 22,10\t22,10\t58,0\t59,5\t107,25\t110\n\tII. E. = 2,50\t\tm.\t\t\nAufst. 20,37\t21\t53,5\t56,25\t106 [\t107,5\nAbst. 20,87\t22,25\t54,25\t56,62\t109,5\t1\t110,75\nUnd als Endresultat bei der Berechnung der Mittelwerthe der aufsteigenden und absteigenden Reihe :\n\tI. E. = 5,25\t\tm.\tII. E\t= 2,50\tm.\nNg.\t20\t50\t100\t20\t50\t100\nM. M.\t21,67\t57,62\t106,62\t20,62\t53,87\t107,75\nG. M.\t21,92\t59\t110\t21,62\t56,62\t109,25\nBei Betrachtung der Zahlen tritt Folgendes heraus:\n1.\tDie absteigende Reihe weist durchweg gr\u00f6\u00dfere Zahlen auf, als die aufsteigende, und zwar bei beiden Beobachtern.\n2.\tF\u00fcr den zweiten Beobachter (G. M.) haben sich \u00fcberall gr\u00f6\u00dfere Zahlenwerthe ergeben, als f\u00fcr den ersten. Es bestehen also auch hier individuelle Verschiedenheiten. Dieselben werden weniger auf Verschiedenheiten der Empfindungsweisen, als auf Verschiedenheiten in der Vergleichung zu setzen sein.\n3.\tDie Zahlen f\u00fcr E. = 2,50 sind \u00fcberall kleiner, als die f\u00fcr E. = 5,25.\n4.\tDer gefundene objective Unterschied zwischen der Ng. und der Vergleichsgr\u00f6\u00dfe ist bei den verschiedenen Normalgr\u00f6\u00dfen, absolut betrachtet, verschieden. Er betr\u00e4gt in cm:\n\\\n\tI. E\t= 5,25\tm.\tII. E\t= 2,50\tm.\nNg.\t20\t50\t100\t20\t50\t100\nM. M.\t1,67\t7,62\t6,62\t0,62\t3,87\t7,75\nG. M.\t1,92\t9\t10\t1,62\t6,62\t9,25","page":608},{"file":"p0609.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n609\nEs ist zu vermuthen, dass der relative Gr\u00f6\u00dfenunterscliied f\u00fcr die verschiedenen Normalgr\u00f6\u00dfen in derselben Entfernung gleich ist, w\u00e4hrend f\u00fcr jede Entfernung dieser Werth wieder verschieden aus-fallen muss. Die vorliegenden Zahlen reichen nicht aus, diese Vermuthung zu best\u00e4tigen. Es m\u00fcsste eine bedeutend gr\u00f6\u00dfere Anzahl von Normalgr\u00f6\u00dfen in Rechnung gezogen werden. Die Zahlen in der unter Ng. = 100 bezeichneten Rubrik scheinen sogar direct zu widersprechen. Allein diese Zahlen sind \u00fcberhaupt mit Vorsicht zu benutzen. Die angewandte Normalgr\u00f6\u00dfe von 1 m ist so gro\u00df, dass es bei der Augenentfernung von 50 cm nicht m\u00f6glich ist, dieselbe mit einem Blicke zu \u00fcbersehen. Es mussten hier also Augenbewegungen nach oben und unten in ausgiebiger Weise gemacht werden, um einen deutlichen Eindruck des ganzen Stabes zu erhalten. Dass dieser Umstand das Resultat beeinflussen muss, liegt auf der Hand. Die Unsicherheit der Sch\u00e4tzung war denn auch hier bei weitem gr\u00f6\u00dfer, und die erhaltenen Zahlen zeigen die Eigen-th\u00fcmlichkeiten der anderen Rubriken nicht ann\u00e4hernd gleich deutlich. Um so bemerkenswerther ist es, dass eine Vergleichung trotzdem m\u00f6glich war. Das unmittelbare Ergebniss, wie es in den Zahlen liegt, l\u00e4sst sich folgenderma\u00dfen aussprechen:\nDie Vergleichsgr\u00f6\u00dfe, welche einer gegebenen Gr\u00f6\u00dfe bei verschiedenen Entfernungen gleich erscheint, w\u00e4chst mit der Entfernung stetig, aber sehr langsam. Und: Mit der Gr\u00f6\u00dfe der Normalgr\u00f6\u00dfe w\u00e4chst der absolute Unterschied der ihr bei einer gegebenen Entfernung gleich erscheinenden Vergleichsgr\u00f6\u00dfe. Es ist zu vermuthen, dass der relative Unterschied bei derselben Entfernung ann\u00e4hernd constant bleibt.\nEs liegt hierin zugleich ein anderes Ergebniss. Die Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde war allgemein eine directe Function der Netzhautbildgr\u00f6\u00dfen. Es liegt aber auf der Hand, dass die Abnahme der scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe eines Gegenstandes bei wachsender Entfernung nicht ebenfalls eine Function der entsprechenden Abnahme der Netzhautbildgr\u00f6\u00dfen sein kann. Denn die erstere erfolgt bedeutend langsamer als die letztere. W\u00e4hrend diese proportional der Entfernung sich vermindert, also z. B. bei doppelter Entfernung um die H\u00e4lfte, vermindert sich die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe eines Stabes in einem obigen","page":609},{"file":"p0610.txt","language":"de","ocr_de":"610\nDr. G\u00f6tz Martius.\nBeispiele bei f\u00fcnffacher Entfernung um Die Laternen in einer\nStra\u00dfe nehmen in ihrer scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe nur allm\u00e4hlich ah, die Gesichtswinkel dagegen nehmen sehr schnell ab, wie die perspec-tivische Vergleichung an einem Ma\u00dfstabe Jedermann leicht deutlich macht. Die Abnahme der Gr\u00f6\u00dfe sich entfernender Gegenst\u00e4nde hat also mit der Abnahme des Gesichtswinkels nichts zu thun.\nII.\nDas wichtigste Resultat der jnitgetheilten Versuche sehe ich in der Best\u00e4tigung der Annahme, dass wir bestimmte und vergleichbare Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen auch von Gegenst\u00e4nden in verschiedenen Entfernungen besitzen. Unser Urtheil \u00fcber die Gleichheit und Ungleichheit der verglichenen Gr\u00f6\u00dfen hat genau die Sicherheit und subjective Bestimmtheit, wie die \u00e4hnlichen Urtheile \u00fcber Intensit\u00e4tsverh\u00e4ltnisse der Empfindungen. Diese Behauptung ist nat\u00fcrlich nur bei Wiederholung der Versuche selbst anfechtbar. Es widerspricht ihr auch nicht die zuzugebende Thatsache, dass bei Anwendung bekannter Gegenst\u00e4nde ein auff\u00e4lliges Schwanken des Urtheils eintritt. Es ist mir nur schwer m\u00f6glich anzugeben, welcher nahen Gr\u00f6\u00dfe ich einen ca. 1000 m von mir entfernten hohen Fabrikschornstein gleich sch\u00e4tzen soll. Die Vorstellung der wirklichen Gr\u00f6\u00dfe oder der aus der N\u00e4he betrachteten Gr\u00f6\u00dfe mischt sich mit solcher Energie ein, dass eine f\u00f6rmliche Uebung n\u00f6thig ist, von ihr zu abstrahiren. Wir \u00fcbersetzen fortw\u00e4hrend die Ferne in die N\u00e4he und benutzen dabei die uns gel\u00e4ufigen Vorstellungen als Ma\u00dfstab. Wo die wirklichen Dimensionen dem nicht entsprechen, t\u00e4uschen wir uns \u00fcber die Entfernung (wie im Hochgebirge, wo uns alles n\u00e4her erscheint, als es ist), oder sind \u00fcberrascht, wenn wir aus der N\u00e4he die wahren Dimensionen kennen lernen. Auch derartige T\u00e4uschungen w\u00e4ren nicht m\u00f6glich, wenn wir nicht bestimmte und vergleichbare Eindr\u00fccke von den Gr\u00f6\u00dfen der Gegenst\u00e4nde erhielten.\nBekanntlich stimmen die nativistische und empiristische Kaumtheorie gerade in dem Punkte \u00fcberein, dass die Gr\u00fc\u00dfenvorstellungen bei verschieden entfernten Gegenst\u00e4nden auf Erfahrung beruhen. \u00abDie Vorstellung der Gr\u00f6\u00dfe setzt die Vorstellung der Entfernung voraus\u00bb (Wundt, Ph. Psych. II, S. 92). Dieser Satz ist unter allen","page":610},{"file":"p0611.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n611\nUmst\u00e4nden richtig von der Vorstellung der wirklichen Gr\u00f6\u00dfe eines Gegenstandes, soll aber auch gelten von den verschiedenen scheinbaren Gr\u00f6\u00dfen der Gegenst\u00e4nde in wechselnden Entfernungen. Ebenso sagt Hering: \u00bbDas Gr\u00f6\u00dfersehen des im Grunde gleich gro\u00df Empfundenen ist also im Vergleich zum ganz primitiven Kaumsehen ein secund\u00e4rer Process.\u00ab Erst durch das Beziehen der scheinbaren Lage der Anschauungsbilder auf das bekannte r\u00e4umliche Ich werden nach diesem Autor die Sehrichtungen als divergent in den Raum ausstrahlend angenommen. \u00bbDer Ma\u00dfstab, mit dem das Gesehene gleichsam abgesch\u00e4tzt wird\u00ab, ist dann je nach der Entfernung ein anderer. Wunderbar ist es nur, dass wir dann die Gegenst\u00e4nde nicht in ihrer nat\u00fcrlichen Gr\u00f6\u00dfe bei jeder Entfernung sehen, noch verwunderlicher, dass die scheinbaren Gr\u00f6\u00dfen der Gegenst\u00e4nde bei wechselnder Entfernung eine solche Bestimmtheit besitzen, wie sie nur urspr\u00fcnglichen Empfindungen eigen ist. Die empiristische Theorie ist hier entschieden \u00fcberlegen, sie widerspricht sich selbst nicht.\nEs ist das Gr\u00f6\u00dfersehen entfernterer Gegenst\u00e4nde bei gleichbleibendem Gesichtswinkel, welches die Annahme eines derartigen Erfahrungseinflusses n\u00f6thig machte. Eine Linde vor mir in einiger Entfernung sehe ich ganz bedeutend gr\u00f6\u00dfer als einen Bleistift nahe vor meinem Auge, und doch ist der Gesichtswinkel der gleiche. Es gibt jedoch eine Reihe von Thatsachen, welche die Annahme, dass es auch hier sich um Empfindungsvorg\u00e4nge, nicht um secun-d\u00e4re Processe handelt, nicht nur nahe legen, sondern direct zu fordern scheinen. Dieselbe ist im Grunde schon eine nothwendige Folge unserer Versuche und der Erfahrungen, die sich bei ihnen machen lie\u00dfen, nur dass wir bisher die Schwierigkeit der Netzhautbildverkleinerung bei zunehmender Entfernung au\u00dfer Acht gelassen haben und uns nur um die Feststellung einer Thatsache des Bewusstseins, die Vergleichbarkeit von Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen verschieden entfernter Objecte k\u00fcmmerten.\nEin in der N\u00e4he entwickeltes und'auf einer entfernteren Wand gesehenes Nachbild erscheint dort in einer der Entfernung entsprechenden Vergr\u00f6\u00dferung und umgekehrt. Man kann auch die allm\u00e4hliche Vergr\u00f6\u00dferung des Nachbildes deutlich beobachten, wenn man einen Bogen Papier, der als Projectionsebene dient, hei unver-\nWundt, Philos. Studien. V.\t41","page":611},{"file":"p0612.txt","language":"de","ocr_de":"612\nG\u00f6tz Martius.\n\u00e4ndertem Fixationspunkt langsam vor sich fortbewegt. Auch wenn man nach Entwicklung des Nachbildes in das Freie sieht, bemerkt man, ohne dass eine Projectionsfl\u00e4che vorhanden ist, die stetige Zunahme des Nachbildes, je weiter man den Blick hinaussendet. Man sorge nur f\u00fcr ruhige Fixirung je eines Punktes in der Luft. Man kann auf diese Weise leicht drei bis vier sehr verschiedene Gr\u00f6\u00dfen des Nachbildes wahrnehmen. Bei der Schwierigkeit der ruhigen Blickrichtung ohne objectiven Fixationspunkt ist es mir noch nicht gegl\u00fcckt, die ruhige Zunahme der Nachbildgr\u00f6\u00dfe, wie im obigen Falle, zu beobachten. Bringt man zwei in geeigneter Weise vor die Augen gehaltene Stricknadeln in freier Stereoskopie zur Deckung und vergr\u00f6\u00dfert allm\u00e4hlich die absolute Entfernung der Nadeln unter gleichzeitiger und \u00fcbereinstimmender Verminderung der Convergenz der Blicklinien, so w\u00e4chst das gemeinsame Bild der Nadeln, indem es zugleich in die jeweilige Ferne des Blickpunktes r\u00fcckt, stetig an, bis es schlie\u00dflich wie ein starker Mastbaum in den Himmel zu ragen scheint. (Vergl. hier\u00fcber und \u00fcber das folgende Hering b. Hermann, Handb. d. Ph. III, 10. 431, Panum, Die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Objecte, Archiv f\u00fcr Ophth. Bd. V, u. Stumpf, Ueber d. ps. Ursprung d. E. S. 202 lf.) Hering sagt: \u00bbBringt man dagegen beiderseits einen Zeigefinger auf je eine der parallel liegenden Gesichtslinien, so erscheint das aus der Verschmelzung der beiden inneren Trugbilder entstandene Bild des Fingers ungef\u00e4hr in der Entfernung der beiden wirklichen Finger.\u00ab Das ist richtig; wenn man aber, von einer st\u00e4rkem symmetrischen Convergenz der Blicklinien ausgehend, diese wie bei den Stricknadeln allm\u00e4hlich vermindert, so bemerkt man auch in diesem Falle deutlich die Vergr\u00f6\u00dferung des gemeinsamen Fingertrugbildes und sieht es an dem Orte des Fixationspunktes. Im Anf\u00e4nge scheint der Finger in unf\u00f6rmlicher Weise zu wachsen; bald sieht man jedoch an Stelle des Fingerbildes eine gleichf\u00f6rmige stangenartige Masse. Die Accommodation auf die Ferne l\u00e4sst ein deutliches Wahmehmen der Fingerumrisse nicht mehr zu. Hering sagt ferner: \u00bbLegt man auf den Tisch zwei gleiche M\u00fcnzen oder Briefmarken mit einem gegenseitigen queren Abstande, der dem der Augen gleich, und richtet jede Gesichtslinie auf die M\u00fcnze ihrer Seite, so sieht man drei M\u00fcnzen auf dem Tisch, deren mittlere aus","page":612},{"file":"p0613.txt","language":"de","ocr_de":"lieber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n613\nder Verschmelzung der beiden Trugbilder entstanden ist. Aber diese M\u00fcnze erscheint ebensowenig als der Tisch in jener gro\u00dfen Entfernung, in welcher der Blickpunkt liegt.\u00ab Auch hier gelingt es mir, das mittlere verschmolzene Trugbild bedeutend gr\u00f6\u00dfer zu sehen, etwa wie ein Gypsrelief, wie man sie an die W\u00e4nde zu h\u00e4ngen pflegt. Man muss nur von einer geringeren Entfernung ausgehen und die Thalerst\u00fccke nicht auf den Tisch, sondern auf eine Glasplatte nebeneinanderlegen, die man dann hochhalten kann, oder auch direct am Fenster in geeigneter Weise befestigen. Offenbar hat die Tischplatte auf die Accommodation und damit auf den ganzen Vorgang einen bestimmenden Einfluss. Schreibt man auf eine Glasplatte zwei leicht verschmelzende Buchstaben, z. B. zwei kleine o, so kann man deren Vergr\u00f6\u00dferung an dem Orte eines entfernten Fixationspunktes ebenfalls leicht beobachten; dasselbe geht bei zwei auf die Glasplatte geklebten Papierst\u00fcckchen von \u00fcbereinstimmender Form. (Vergl. dagegen Hering, Beitr. z. Physiol. S. 339.) Nur h\u00f6rt in diesen F\u00e4llen die M\u00f6glichkeit der Vergr\u00f6\u00dferung sehr bald auf, in Folge der eintretenden Verschwommenheit der Bilder. In allen diesen F\u00e4llen muss man das gemeinsame Trugbild scharf in\u2019s Auge fassen. Es hat dies auch sehr bald nicht die geringste Schwierigkeit mehr. Denn die Illusion, als ob ein wirkliches Object an der Stelle w\u00e4re, auf die wir den Blick lenken, ist so stark, dass man mit Leichtigkeit den Blick an dem Trugbild, wie an einem wirklichen Gegenst\u00e4nde, auf und ab gehen lassen kann. Auch die Seitenwendungen des Blickes in der imagin\u00e4ren Blickebene sind gestattet, ohne dass das Trugbild zerf\u00e4llt. Die Eindr\u00fccke sind genau dieselben, als wenn ein wirkliches Object an jener Stelle sich;bef\u00e4nde. Am leichtesten l\u00e4sst sich dies Alles beobachten, wenn man auf einer Glasplatte zwei verticale Striche zieht und dieselben zur Vereinigung bringt. Es existirt f\u00fcr diese Striche und die gleiche Haltung der Glasplatte nat\u00fcrlich immer nur eine entsprechende Blickebene und eine damit \u00fcbereinstimmende Vergr\u00f6\u00dferung.\nBei einer solchen Anordnung gelingt es auch, die beiden Trugbilder in der Ebene des verschmolzenen zu sehen. In allen \u00fcbrigen F\u00e4llen verharren die seitlichen Bilder in ihrer wirklichen Entfernung und Gr\u00f6\u00dfe, wie es auch die uns umgebenden Gegenst\u00e4nde thun,\n41*","page":613},{"file":"p0614.txt","language":"de","ocr_de":"614\nG\u00f6tz Martius.\nwenn unser Blick von ihnen zu entfernteren weiterschweift. Will es zuweilen scheinen, als oh ein solches seitliches Bild oder auch ein gew\u00f6hnliches Doppelbild in der ferner gelegenen Projections-fl\u00e4che mit entsprechender Vergr\u00f6\u00dferung zu sehen sei, so pflegt im Wettstreit sogleich die Projectionsfl\u00e4che selbst hervorzutreten und das einseitige Bild entf\u00e4llt der Apperception.\nBringt man zwei Zeichnungen eines abgestumpften Kegels, wie sie bei Wundt, Ph. Psych. II, S. 156, Fig. B abgebildet sind, zur Deckung, so gelingt es leicht, den Kegel durch willk\u00fcrliches Hinaussehen in die Ferne gr\u00f6\u00dfer zu sehen. Man kann sogar zwei Zeichnungen benutzen, denen wie in Fig. A a. a. O. die Contour-linien fehlen, nur dass hier das Urtheil in Betreff der Entfernung des kleineren und gr\u00f6\u00dferen Quadrates ein schwankenderes ist.\nAuch beim ein\u00e4ugigen Sehen vergr\u00f6\u00dfert sich in analoger Weise die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe des Gegenstandes trotz gleichen Sehwinkels, sobald der Blickpunkt in die Ferne r\u00fcckt. Es gelingt hier, wo die Concurrenz der Wahrnehmungen des zweiten Auges fortf\u00e4llt, bedeutend leichter, einen n\u00e4heren Gegenstand in einer entfernteren Fixationsebene vergr\u00f6\u00dfert zu sehen. Auf dem Schreibtische vor mir befindet sich ein Leuchter. Fixire ich anhaltend die gegen\u00fcberliegende Wand so, dass der Leuchter nicht viel seitw\u00e4rts von der Blicklinie sich befindet, so sehe ich denselben indirect sehr leicht wie einen gro\u00dfen Altarleuchter. Umgekehrt kann man einen vor dem Fenster befindlichen Baum, wenn man das Fensterkreuz fixirt, sehr wohl in der perspectivischen Verk\u00fcrzung wahrnehmen. Das letztere gelingt auch im zwei\u00e4ugigen Sehen, wenn auch nicht so sicher. Bei dem von mir oben geschilderten Versuchs verfahren hat man hinreichend Gelegenheit, die gleiche Beobachtung in voller Deutlichkeit zu machen. Sind die beiden in Vergleich zu bringenden St\u00e4be beide nahezu in der Medianebene aufgeh\u00e4ngt, so dass beiFixirung des n\u00e4heren Stabes der entfernte nothwendig mitgesehen wird, so erscheint dieser zun\u00e4chst regelm\u00e4\u00dfig in der perspectivischen Verk\u00fcrzung, also bedeutend kleiner als er nachtr\u00e4glich gesch\u00e4tzt wird. Es ist dies so eindringlich und l\u00e4stig, dass mau gezwungen ist, die beiden St\u00e4be ein gut Theil nach beiden Seiten auseinanderzur\u00fccken, um die Eindr\u00fccke derselben unabh\u00e4ngig von einander zu machen. Bei jedem Visiren an einem verticalen Stabe nach einem ferneren","page":614},{"file":"p0615.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n615\nGegenst\u00e4nde l\u00e4sst sich dieselbe Sache beobachten. Es ist dies dieselbe Erscheinung wie die, welche Panum a. a. O. S. 15 im Auge hat. Und auch die von Hering (Beitr. z. Ph. S. 16 ff.) erw\u00e4hnten Versuche lassen sich hierauf zur\u00fcckfuhren. Man unterscheidet dabei die perspectivische Gr\u00f6\u00dfe des weiteren Gegenstandes sehr wohl von seiner nat\u00fcrlichen Gr\u00f6\u00dfe, wie sie uns erscheint, wenn wir auf ihn accommodiren. Wir sehen also thats\u00e4chlich dasselbe Ding in zwei sehr verschiedenen Gr\u00f6\u00dfen, die beide von der sogenannten wirklichen Gr\u00f6\u00dfe abweichen. Wem es zweifelhaft bleiben sollte, ob beide Gr\u00f6\u00dfen wirklich empfunden sind, der wird jedenfalls zugeben, dass das unmittelbare Bewusstsein daf\u00fcr spricht, den jedesmal fixirten Gegenstand in seiner scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe als wirklich empfunden anzusehen. Die Consequenz ist dann dieselbe, dass derselben Netzhautbildgr\u00f6\u00dfe in unmittelbarer Empfindung verschiedene und mit der Entfernung wachsende Raumbildgr\u00f6\u00dfen entsprechen.\nFassen wir rein beschreibend alle genannten Beobachtungen zusammen, so l\u00e4sst sich der folgende Satz aufstellen, der als noth-wendige Erg\u00e4nzung des im Anfang genannten ersten Hauptsatzes \u00fcber die Gr\u00f6\u00dfe der wahrgenommenen Gegenst\u00e4nde gelten kann:\nDasselbe Netzhautbild, in verse hie denen Entfe Innungen gesehen (in verschiedene Entfernungen proji-cirt), entspricht Raumbildern von verschiedener Gr\u00f6\u00dfe, und zwar findet das Wachsen ann\u00e4hernd proportional der Entfernung statt.\nZu diesem Satze l\u00e4sst sich, wie eine einfache Betrachtung der geometrischen Verh\u00e4ltnisse zeigt, der Zusatz machen, dass die verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfige Vergr\u00f6\u00dferung des zu einem Netzhautbilde geh\u00f6rigen Raumbildes beim Verlegen in eine um gleiche Strecken entfernte Projectionsebene mit Zunahme der Entfernung abnimmt.\nEntfernt sich ein Gegenstand von uns, so nimmt seine Netzhautbildgr\u00f6\u00dfe ab, die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe, welche den abnehmenden Bildern entspricht, nimmt nach dem zweiten Hauptsatze zu. In diesem Falle wirken die beiden Functionen einander entgegen ; der Gegenstand erscheint in seiner nat\u00fcrlichen Gr\u00f6\u00dfe. Es ist dies bekanntlich ann\u00e4hernd der Fall. Der sich von uns entfernende Mensch wird nur sehr langsam etwas kleiner. Dass die Menschen, aus","page":615},{"file":"p0616.txt","language":"de","ocr_de":"616\nG\u00f6tz Martius.\ngro\u00dfer H\u00f6he betrachtet, so klein erscheinen, hat seinen Grund einfach in der starken Verk\u00fcrzung, also in der betr\u00e4chtlichen Verkleinerung des Gesichtswinkels. Es ist auff\u00e4llig, dass dieser Umstand so oft verkannt ist und dass man psychische Ursachen, als Folge der ver\u00e4nderten Umst\u00e4nde, in Betracht ziehen zu m\u00fcssen geglaubt hat. Um sofort von der \"Richtigkeit dieser Behauptung \u00fcberzeugt zu sein, stelle man einen zur Erzeugung eines Nachbildes geeigneten Streifen wei\u00dfen Papiers auf schwarzem Grunde auf die Erde, entwickle ein Nachbild und vergleiche die Gr\u00f6\u00dfe desselben mit einem in der gew\u00f6hnlichen Lage entwickelten Nachbilde. Das ungewohnte Aussehen der Menschen von einem mehr oder weniger hohen Thurme aus hat also in rein physikalischen Verh\u00e4ltnissen seinen Grund.\nW\u00fcrden die beiden Functionen, von denen die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde erfahrungsgem\u00e4\u00df abh\u00e4ngt, genau proportional der Entfernung wirksam sein, so w\u00fcrden uns die Gegenst\u00e4nde offenbar in jeder Entfernung gleich gro\u00df erscheinen. Es ist dies aber nicht der Fall ; unsere Versuche haben die langsame Abnahme der scheinbaren Gr\u00f6\u00dfe eines Gegenstandes bei wachsender Entfernung best\u00e4tigt und zu zeigen gesucht, dass dies so ist nicht blos in der Sch\u00e4tzung, sondern auch in der Empfindung. Es ist infolge dessen anzunehmen, dass der zweite Hauptsatz nicht genau, sondern nur ann\u00e4hernd giltig ist. Der Wahrnehmungsraum ist nicht gleichartig dem geometrischen Baum unseres Denkens und nicht gleichartig dem diesem entsprechenden wirklichen Raume. Wir sehen im Grunde kein Ding in seiner wirklichen Gr\u00f6\u00dfe oder an seinem wirklichen Orte. Man kann sagen, dass der Wahrnehmungsraum, verglichen mit dem wirklichen Raume, ein in sich zusammengezogener ist ; der Grad der Zusammenziehung w\u00e4chst mit der Entfernung, aber nicht proportional derselben.\nNoch wenige Bemerkungen zum Schluss. Wir haben uns absichtlich jeder theoretischen Er\u00f6rterung enthalten, nur um Beschreibung von Bewusstseinsthatsachen war es zu thun. Dieselbe wich in manchen Punkten von herk\u00f6mmlichen Anschauungen ab. Der auf genetischem Standpunkte stehende Psychologe wird mit ihnen leicht fertig werden. Das, was wir unmittelbare Gr\u00f6\u00dfenempfindungen nennen, ist ihm etwas Gewordenes. Nur dies eine muss er zugestehen , dass dies Gewordene die unver\u00e4nderliche und sichere Be-","page":616},{"file":"p0617.txt","language":"de","ocr_de":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6\u00dfe der Gegenst\u00e4nde etc.\n617\nstimmtheit der Empfindungen besitzt. Es folgt dies aus den ge-sammten von uns er\u00f6rterten Erscheinungen. An und f\u00fcr sich liegt aber in dieser ihrer Natur kein Grund, sie nicht aus elementareren Vorg\u00e4ngen entstanden zu denken. Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen k\u00f6nnen aus raumlosen Lichteindr\u00fccken durch psychische Processe hervorgehen. Die Entscheidung liegt in r\u00fcckliegenden principiellen Grundfragen.\nEs m\u00f6ge daher hier nur auf die M\u00f6glichkeit aufmerksam gemacht werden, dass die nat\u00fcrlichen Gr\u00f6\u00dfenver\u00e4nderungen der Raumbilder die lange gesuchten Localzeichen selbst seien; es sind dies wenigstens Ver\u00e4nderungen, die wirklich im Bewusstsein aufweisbar sind. Freilich scheint damit zun\u00e4chst die Sache auf den Kopf gestellt, das zu Erkl\u00e4rende zum Mittel der Erkl\u00e4rung gemacht zu sein. Allein schon Lotze, der Erfinder der Localzeichen, gab zu, dass die eigentliche Natur der Raum- und Gr\u00f6\u00dfenvorstellungen unerkl\u00e4rbar sei. Soweit ist auch jede genetische Theorie nativistisch. Die Vortheile aber der von uns angedeuteten Anschauung f\u00fcr die Frage der dritten Dimension und die nach der Orientirung im Raume liegen auf der Hand.","page":617}],"identifier":"lit4172","issued":"1889","language":"de","pages":"601-617","startpages":"601","title":"Ueber die scheinbare Gr\u00f6sse der Gegenst\u00e4nde und ihre Beziehung zur Gr\u00f6sse der Netzhautbilder","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:20:30.499545+00:00"}