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{"created":"2022-01-31T12:45:24.679842+00:00","id":"lit4175","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Brix, Walter","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 5: 632-677","fulltext":[{"file":"p0632.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\nEine logische Untersuchung.\nVon\nWalter Brix.\nEinleitung.\nEs ist ein eigenth\u00fcmlicher Charakterzug der Mathematik, dass diese exacteste aller Wissenschaften es liebt, umfangreiche Theorien und Entwicklungen auf Begriffe zu gr\u00fcnden, deren logische Natur kaum er\u00f6rtert zu werden pflegt, weitgehende Schl\u00fcsse aus Pr\u00e4missen zu ziehen, deren erkenntnisstheoretische Bedeutung nicht untersucht wird, und ein hohes, in sich selbst wohl gefestigtes Lehrgeb\u00e4ude zu errichten auf Fundamenten, von deren Sicherheit man sich in den seltensten F\u00e4llen \u00fcberzeugt hat. Denn ungleich anderen Wissenschaften hat sie schon seit den fr\u00fchesten Zeiten nicht in der Erkenntniss und Klarlegung der Untersuchungsobjecte ihre Hauptaufgabe gesucht, sondern in der exacten Herausbildung und wissenschaftlichen Verfeinerung ihrer Methodik, unbek\u00fcmmert darum, mit welchem Hecht die allgemeinen Methoden im einzelnen gegebenen Fall anzuwenden sind. Daher bietet sie uns das seltene Schauspiel dar, dass alle ihre Grundbegriffe erst, nachdem man sich ihrer schon Jahrhunderte lang als selbstverst\u00e4ndlicher Convenienzen bedient hatte, einer kritischen Behandlung unterworfen wurden. Wo aber immer ein Mathematiker sich entschloss, an diese wichtige Aufgabe heranzutreten, da hat er sie in den meisten F\u00e4llen sehr bald wieder fallen lassen. Denn solche Untersuchungen haben h\u00e4ufig genug keinen andern Erfolg gehabt, als den Forscher, der ihrer Schwierig-","page":632},{"file":"p0633.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t633\nkeiten nicht Herr wurde, unsicher und misstrauisch zu stimmen gerade gegen die Begriffe, die zu kl\u00e4ren er anf\u00e4nglich bestrebt war. Kein Wunder daher, wenn die Mathematik, welcher derartige Betrachtungen nicht allein ungewohnt und unbequem, sondern auch in der freien Forschung hinderlich waren, sich schlie\u00dflich f\u00fcr den inneren Werth und die logische Berechtigung ihrer Resultate allein auf die Exactheit der Methoden berief und alles weitere der Philosophie \u00fcberlie\u00df, nicht immer zum Vortheil der Sache.\nDenn nur selten fanden sich philosophische K\u00f6pfe, welche zugleich mathematisch genug geschult waren, um beiden Seiten der Frage gerecht zu werden, und eine gl\u00fcckliche Doppelbegabung, wie sie etwa De sc art es und Leibniz besa\u00dfen, ist so vereinzelt gewesen, dass man sich kaum \u00fcber die vielen einseitigen Ansichten wundern darf, welche im Laufe der Zeit \u00fcber die mathematischen Grundbegriffe ge\u00e4u\u00dfert sind. Daher ist es erst allm\u00e4hlich dem ein-m\u00fcthigen Zusammenarbeiten der beiden Wissenschaften gelungen, auch in dieses, immer noch wenig ber\u00fchrte Forschungsgebiet einzudringen und das Dunkel einigerma\u00dfen zu zerstreuen, welches die Bequemlichkeit der z\u00fcnftigen Mathematiker und die zu geringe formale Schulung einseitiger Philosophen dar\u00fcber gedeckt hatten.\nIn der That ist es ein Grundzug der Mathematik unseres Jahrhunderts, und wahrlich nicht der minderwerthigste, dass sie bem\u00fcht ist nachzuholen, was fr\u00fchere Zeiten in dieser Beziehung vers\u00e4umt oder ges\u00fcndigt hatten, und als erstes Erforderniss einer mathematischen Theorie die logische Richtigstellung ihrer Grundbegriffe verlangt, ja sogar bereit ist, ganze ausgedehnte Entwicklungen preiszugehen, oder dieselben doch zum secund\u00e4ren Range einer Fl\u00fclfs-methodik herabzudr\u00fccken, wenn sie nicht der Grundforderung klarer Begriffe Gen\u00fcge leisten. So fiel z. B. die Raumlehre Euklid\u2019s vor den weiteren modernen Anschauungen, und seine Verh\u00e4ltnisslehre wurde von der projectiven Geometrie verdr\u00e4ngt; so musste die mangelhafte Begr\u00fcndung der Cauchy\u2019sehen Functionentheorie dem systematischen Aufbau derselben durch Weierstra\u00df, die Analysis der Leibniz-Euler\u2019schen Schule der schneidenden Kritik eines Lagrange weichen.\nAber wohl kein Grundbegriff der Mathematik hat so viel Schwierigkeiten verursacht, so viel kritische Bedenken hervorgerufen","page":633},{"file":"p0634.txt","language":"de","ocr_de":"634\nWalter Brix.\nund zu so divergirenden Meinungs\u00e4u\u00dferungen Anlass gegeben, wie der Zahlbegriff. Denn ungleich anderen Begriffen wuchs er, weit entfernt, durch methodische Behandlung dem Verst\u00e4ndniss zug\u00e4nglicher zu werden, immer weiter \u00fcber seine fr\u00fcheren Grenzen hinaus ; und kaum war es dem mathematischen Gewissen gelungen, sich dem jeweilig herrschenden Zahlbegriff durch eine, meist nur eingebildete, Ueberzeugung seiner Rechtm\u00e4\u00dfigkeit oder allein durch Gew\u00f6hnung anzupassen, so tauchte auch gleich wieder ein neuer auf mit noch r\u00e4thselhafteren Eigenschaften und noch eigenartigeren Bestimmungen. Und es ist bisweilen recht interessant zu verfolgen , wie erm\u00fcdet von der scheinbaren Sisyphusarbeit ein Mathematiker nach dem andern die logische Untersuchung der neuen Zahlbegriffe aufgibt, sich \u00fcber den Widerspruch zwischen der Thatsache ihrer Existenz und der anscheinenden Unzul\u00e4ssigkeit ihrer Bestimmungen mit dem Bewusstsein ihrer Nothwendigkeit tr\u00f6stet und schlie\u00dflich dahin gelangt, dass er ruhig mit ihnen, wie mit andern Zahlen operirt, ohne doch eigentlich von der Berechtigung seiner Handlungsweise \u00fcberzeugt zu sein. Erst den unausgesetzten Angriffen der Kritik, erst den tiefgehenden systematischen Arbeiten von M\u00e4nnern wie Hamilton, Grassmann, Hankel, Weierstra\u00df, Cantor ist es zu verdanken, dass wenigstens die grundlegenden Principien der Begriffsbildung aufgedeckt sind in einem Gebiete, \u00fcber das selbst ein Gau\u00df sich noch mit unzul\u00e4nglichen Anschauungen trug.\nWurde aber auf diese Weise auch die Schw\u00e4che der fr\u00fcheren Behandlungen gr\u00fcndlich klar gelegt, so f\u00fchrte doch andererseits die positive Tendenz jener Untersuchungen entweder durch Specialinteressen wieder aus dem allgemeinen Gebiete heraus oder gab, wo das nicht der Fall war, den divergirendsten Ansichten Raum. Denn w\u00e4hrend ein so allgemeines Princip, wie das der Permanenz formaler Gesetze durch Festhalten bald dieser, bald jener Formaleigenschaft zu derartig verschiedenen Fictionen des Denkens f\u00fchren kann, dass sie, alle als Zahlen betrachtet, \u00fcberhaupt nicht mehr zu \u00fcbersehen w\u00e4ren, wuchs im Laufe der Zeit eine andere, diametral entgegengesetzte Richtung heran, welche durchaus negirend die ganze Arithmetik auf die Zahlentheorie, den Zahlbegriff auf die ganze positive Zahl beschr\u00e4nken zu wollen scheint. Wird es aber der ersten Ansicht schlie\u00dflich unm\u00f6glich, \u00fcberhaupt noch irgend ein","page":634},{"file":"p0635.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t635\nexactes allgemeing\u00fcltiges Merkmal des Zahlbegriffs festzuhalten. so gibt die zweite in ihrer selbstgew\u00e4hlten Beschr\u00e4nkung einen gro\u00dfen Theil jenes Untersuchungsgebietes preis, das fr\u00fcher unter der Herrschaft des Zahlbegriffs stand und das wiederzugewinnen selbst einer Autorit\u00e4t wie Kronecker, dem F\u00fchrer dieser Richtung, nicht ohne weiteres gelingen d\u00fcrfte. Zwischen diesen beiden extremen Anschauungen bewegt sich ferner eine solche F\u00fclle mannigfach variirter Ansichten, welche, theils noch ungekl\u00e4rt, die exacte Forschung st\u00f6ren, theils auf Grund verschiedener, aber untereinander ziemlich gleichwerthiger Begr\u00fcndungen auch Anspruch auf gleiche Ber\u00fccksichtigung machen, dass es dem unparteiischen Beobachter kaum m\u00f6glich ist, sich in diesem Wirrwarr zurechtzufinden, welcher durch die scheinbare \u00e4u\u00dfere Aehnlichkeit aller diesbez\u00fcglicher Betrachtungsweisen nur noch undurchdringlicher gemacht wird. Dazu kommt, dass seihst heutzutage noch Debatten \u00fcber Begriffe Vorkommen, die man f\u00fcr l\u00e4ngst gekl\u00e4rt, f\u00fcr allgemein recipirt halten durfte. In der That schien es kaum m\u00f6glich, dass noch eine Discussion entstehen konnte wie z. B. die \u00fcber das Negative im vierzehnten und f\u00fcnfzehnten Band der Hoffmann\u2019schen Zeitschrift f\u00fcr mathematischen und naturwissenschaftlichen Unterricht*), oder dass die so sicher scheinende Begr\u00fcndung der Theorie des Irrationalen wieder in Frage gestellt w\u00fcrde. Denn w\u00e4hrend noch Hankel 1867 die Worte schrieb: \u00bbWenn es wahr ist, dass, wie Whewell meint, das Wesen der Triumphe der Wissenschaft und ihres Fortschritts darin besteht, dass wir veranlasst werden, Ansichten, welche unsere Vorfahren f\u00fcr unbegreiflich hielten und unf\u00e4hig waren zu begreifen, f\u00fcr evident und nothwendig zu halten, so war die Erweiterung des Zahlbegriffs auf das Irrationale, und wollen wir sogleich hinzuf\u00fcgen das Imagin\u00e4re der gr\u00f6\u00dfte Fortschritt, den die reine Mathematik jemals gemacht hat\u00ab1 2), ist heutzutage dieser Begriff wieder Gegenstand derartig heftiger Angriffe geworden, dass ein Aufsatz von Christoffel mit den Worten beginnen kann: \u00bbDa die Irrationalzahlen demn\u00e4chst wieder abgeschafft werden sollen\u00ab u. s. w.3)\n1)\tN\u00e4heres weiter unten Kapitel III, 2.\n2)\tHankel: Theorie der complexen Zahlsysteme. Leipzig 1867, p. 60.\n3)\tChristof fei: Lehrs\u00e4tze \u00fcber arithmetische Eigenschaften der Irrationalzahlen. Annali di Matematiea, Serie IIa, Tomo XVO. Milano 1888, p. 253.","page":635},{"file":"p0636.txt","language":"de","ocr_de":"636\nWalter Brix.\nBei diesem Stand der Frage scheint es nun allerdings noch nicht gerade an der Zeit, eine zusammenfassende logische Untersuchung \u00fcber den Zahlhegriff anzugreifen. Denn wenn auch der Philosophie als der Wissenschaftslehre die Aufgabe zuf\u00e4llt, die Grundbegriffe der Einzelwissenschaften einer berichtigenden Kritik zu unterziehen, so kann eine solche doch immer erst da ansetzen, wo entweder durch den Charakter der Untersuchung oder durch allgemeine stillschweigende Uebereinkunft ein bestimmtes Ma\u00df fester Elemente und Merkmale gegeben ist, welche den betreffenden Begriff constituiren. Solche bestimmte, durchg\u00e4ngig vorhandene Merkmale vermisst nun aber in unserem Fall der kritische Beobachter eigentlich \u00fcberall. Will er also nicht ganz auf die L\u00f6sung der Aufgabe verzichten, so ist er gezwungen, mehrere getrennte Zahlbegriffe zu unterscheiden, welche einander \u00e4u\u00dferlich alle \u00e4hnlich, in Wahrheit aber doch durch tiefgreifende Gegens\u00e4tze geschieden sind. Denn weder ist er in der angenehmen Lage des Mathematikers, welcher h\u00e4ufig nach dem Charakter der jeweiligen Untersuchung mehrere Zahlbegriffe als gleich ansehen kann, so lange nur ihre logischen Verschiedenheiten in der Rechnung nicht zum Ausdruck kommen, noch darf er, will er sich anders den unparteiischen Blick nicht tr\u00fcben lassen, durch einseitiges Betonen eines bestimmten Merkmals ganze Klassen von Zahlen, deren Brauchbarkeit wenigstens au\u00dfer Frage steht, von vorn herein verwerfen. Inmitten eines neuen, gewaltigen Aufschwungs der Principienforschung, umdr\u00e4ngt von den verschiedenartigsten und mannigfaltigsten Anschauungen und Anspr\u00fcchen, bald auf dieses, bald auf jenes Merkmal einseitig aufmerksam gemacht, von anderen, ebenso wichtigen fortw\u00e4hrend abgelenkt, hat er die Aufgabe, aus der F\u00fclle des Dargebotenen, aus der zahlreichen Menge der mathematisch meist werthvollen Begriffe das herauszusuchen, was einer wissenschaftlichen Kritik standh\u00e4lt.\nDer Verfasser verhehlt sich die Schwierigkeit dieser Aufgabe auch um so weniger, als sie noch durch die M\u00e4ngel vergr\u00f6\u00dfert wird, welche einer jeden Einzeluntersuchung nothwendig anhaften m\u00fcssen ; ja er h\u00e4lt eine vollst\u00e4ndige L\u00f6sung derselben im gegenw\u00e4rtigen Augenblick \u00fcberhaupt noch nicht f\u00fcr m\u00f6glich, weil in den ma\u00dfgebenden Ansichten doch noch so starke Differenzen, so diametral entgegengesetzte Anschauungen sich auspr\u00e4gen, dass eine Aus-","page":636},{"file":"p0637.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t637\ngleichung derselben fur\u2019s erste kaum zu st\u00e4nde kommen d\u00fcrfte. Deshalb glaubt er sich im vorliegenden Fall mit einem provisorischen Abschluss begn\u00fcgen zu m\u00fcssen, mag dieser auch kein einheitlicher sein. Denn nach reiflicher Erw\u00e4gung hat er als die einzige M\u00f6glichkeit unparteiischer Entscheidung den Ausweg gew\u00e4hlt, alle jene einzelnen Zahlbegriffe, soweit es anging, in ihrer Selbst\u00e4ndigkeit zu erhalten, ihre Wurzeln und ihre logische Existenzberechtigung zu untersuchen, zugleich aber auch, sie gegeneinander in ihrem Wirkungsbereich abzugrenzen und unberechtigte lieb ergriffe zur\u00fcckzuweisen. Auf diese Weise ist er schlie\u00dflich zu der Aufstellung einer ganzen Reihe von Typen gelangt. Nicht als ob er die Nothwendigkeit ihrer selbst\u00e4ndigen Existenz bef\u00fcrworten wollte oder alle Stadien ihrer genetischen Entwicklung stets so genau abgegrenzt sehen m\u00f6chte, wie er dies durchzuf\u00fchren sich bem\u00fcht hat. Dagegen hielt er es f\u00fcr eine wichtigere Aufgabe, die M\u00f6glichkeit der verschiedenen Zahlbegriffe au\u00dfer Zweifel zu stellen und die Auswahl derselben der Kritik und halb und halb den praktischen Gesichtspunkten einer weiter sich entwickelnden Wissenschaft anheimzugeben, statt von irgend einem vorgefassten logischen Standpunkt aus, mochte er an sich noch so einleuchtend sein, feste Begriffselemente von vorn herein aufzustellen und dann auf Grund derselben diese oder jene Zahlform ohne weiteres zu eliminiren. Denn eine Kritik, die sich nicht aus der Untersuchung selbst heraus entwickelt, verdient ihren Namen nicht und wird stets von logischen Vorurtheilen ung\u00fcnstig beeinflusst sein.\nEs scheint deshalb unter allen Umst\u00e4nden nothwendig, zuerst eine Uebersicht \u00fcber die historische Entwicklung des Zahlbegriffs zu geben, um die verschiedenen Formen desselben, wie sie im Laufe der Zeit sich herausgebildet haben, zu registriren und einen Ueber-blick \u00fcber das zu gewinnen, was auf unserm Gebiete bisher geleistet ist. Diese summarische Darstellung *) ist also gewisserma\u00dfen bestimmt, das Material zu liefern f\u00fcr die genetische Entwicklung des zweiten Theils1 2), welcher nun haupts\u00e4chlich die logische Seite der Frage betonen wird, wie der erste die mathematische. Das\n1)\tDieselbe wird im ersten Kapitel enthalten sein.\n2)\tDie genetische Entwicklung umfasst die Kapitel II\u2014IV.","page":637},{"file":"p0638.txt","language":"de","ocr_de":"638\nWalter Brix.\nResultat der Untersuchung wird dann die Aufstellung der verschiedenen Typen des Zahlbegriffs sein, soweit diese eben logisch zul\u00e4ssig sind.\nHiermit wird die Aufgabe, wenigstens in dem Umfange, wie sie dem Verfasser jetzt l\u00f6sbar erscheint, im wesentlichen erledigt sein. Wie indessen die logische Existenzberechtigung eines Begriffes, au\u00dfer auf seiner eigenen inneren Widerspruchsfreiheit, namentlich auf der Frage beruht, ob es m\u00f6glich ist, ihm gegen die \u00fcbrigen Begriffe des Denkens eine bestimmte, wohldefinirte Stellung zu geben, welche mit jenen im Einklang steht, so wird es erforderlich sein, gewisserma\u00dfen als einen Pr\u00fcfstein f\u00fcr die M\u00f6glichkeit der einzelnen Zahlformen, als ein Kriterium f\u00fcr die Richtigkeit der Betrachtungen diese Einstellung in die Reihe der logischen Begriffe wirklich vorzunehmen, d. h. ihre Classification durchzuf\u00fchren. Hiermit ist aber implicite zugleich die Forderung verbunden, dass alle jene einzelnen Zahlbegriffe aus ihrem obersten Gattungsbegriff, dem der Mannigfaltigkeit, durch successive Determination abzuleiten sind. An die historische und genetische muss sich also, wieder r\u00fcckw\u00e4rts schreitend, die logische Entwicklung anschlie\u00dfen *), deren Aufgabe die wissenschaftliche Systematisirung des Ganzen bildet. Die letztere kann nun allerdings bei dem gegenw\u00e4rtigen Stand der Frage noch keinerlei Anspruch auf Vollst\u00e4ndigkeit machen. Erst einer v\u00f6llig abgeschlossenen Untersuchung, wie sie aber au\u00dfer auf Grund allgemeiner Convention, d. h. schlie\u00dflich bestimmt durch praktische Erw\u00e4gungen in Bezug auf die festzuhaltenden Merkmale, wohl nie zu st\u00e4nde kommen wird, erst einer solchen vollendeten Entwicklung w\u00e4re es m\u00f6glich, die logische Determination consequent durchzuf\u00fchren. Was der Verfasser in dieser Beziehung geben konnte, darf im g\u00fcnstigsten Falle als ein erster Versuch, als ein Beweis f\u00fcr die wissenschaftliche Zul\u00e4ssigkeit der von ihm aufgestellten Zahltypen gelten.\n1) Wir werden dieselbe im f\u00fcnften Kapitel geben.","page":638},{"file":"p0639.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n639\nErstes Kapitel.\nDie historische Entwicklung des Zahlbegriffs.\n1. Die Zahl wesentlich concreten Charakters.\nIn einer Uebersicht \u00fcber die historische Entwicklung des Zahlbegriffs, wie sie im vorliegenden Kapitel weniger um ihrer selbst willen, denn als Grundlage f\u00fcr die folgende logische Untersuchung gegeben werden soll, wird von vorn herein von einer eingehenden wissenschaftlichen Darstellung Abstand genommen werden m\u00fcssen, ein Verzicht, der um so unbedenklicher auszusprechen ist, als \u00fcber diesen Gegenstand, wenigstens f\u00fcr die fr\u00fcheren Perioden, umfangreiche Arbeiten bereits existiren !), andererseits aber auch die in Frage kommenden Begriffe zu den gel\u00e4ufigsten der Mathematik geh\u00f6ren. Wichtiger f\u00fcr den Zweck der logischen Untersuchung ist die Fixirung der allgemeinen Gesichtspunkte, welche bei der Bildung der verschiedenen Zahlbegriffe leitend gewesen sind, m\u00f6gen sie nun dabei zum Bewusstsein gekommen sein oder nicht. Wir werden daher auf diese im Folgenden haupts\u00e4chlich unsere Aufmerksamkeit richten* 2).\nUeberblickt man aber die ganze, reiche Entwicklung des Zahlbegriffs, so machen sich schon bei oberfl\u00e4chlicher Betrachtung drei Perioden bemerklich, welche sich, wie dies ja ein Kennzeichen der Gesammtentwicklung des menschlichen Denkens ist, durch die verschiedenen Grade der Abstraction unterscheiden. In der ersten dieser Perioden bewahrt die Zahl noch ihren urspr\u00fcnglichen concreten Charakter. Ihr Anfang ist nat\u00fcrlich ebensowenig zu fixiren, wie der Anfang des Denkens \u00fcberhaupt, und auch ein Versuch der Bestimmung ihres Endes kann wegen des fortw\u00e4hrenden Flusses\n1} H. Hankel, Zur Geschichte der Mathemathik im Alterthum und Mittel-alter. Leipzig 1874, und M. Cantor, Vorlesungen \u00fcber Geschichte der Mathematik, Leipzig 1880. Wir werden diese Werke k\u00fcnftig citiren als Hankel resp. Cantor, Geschichte der Mathematik.\n2) Zur Vermeidung von Wiederholungen werden wir in diesem Kapitel unter Beiseitelassung aller erkenntnisstheoretischen oder logischen Er\u00f6rterungen lediglich den historischen Thatbestand betrachten. Betreffs des begrifflichen Inhalts der ganzen Entwicklung m\u00fcssen wir auf die sp\u00e4tere ausf\u00fchrlichere Darstellung des dritten Kapitels verweisen.","page":639},{"file":"p0640.txt","language":"de","ocr_de":"640\nWalter Brix.\nder Begriffe keine Aussicht auf Erfolg haben. In der Culturwelt muss man ihre Herrschaft im allgemeinen auf das Alterthum und einen gro\u00dfen Theil des christlichen Mittelalters beschr\u00e4nken, w\u00e4hrend die niederen V\u00f6lker ihr jetzt noch nicht entwachsen sind. Als \u00e4u\u00dferes Merkmal dient dieser Periode der Umstand, dass alles Rechnen, soweit von einem solchen \u00fcberhaupt die Rede sein kann, an concreten Einheiten ausgef\u00fchrt, d. h. mit der Anschauung begleitet wird, wie ja auch das Kind seine ersten Rechenversuche an Aepfeln, N\u00fcssen und \u00e4hnlichen Gr\u00f6\u00dfen machen lernt.\nEine solche Mathematik konnte nat\u00fcrlich \u00fcber den Begriff der ganzen positiven Zahl und h\u00f6chstens ihrer Bruchverh\u00e4ltnisse nicht hinauskommen; sie stand den Irrationalzahlen, welche ja allerdings auch heute noch den schwierigsten Theil der Untersuchung bilden, rathlos gegen\u00fcber. Die Einf\u00fchrung dieser Zahlarten konnte erst einer zweiten Periode gelingen, welche, von den vorgestellten concreten Einheiten ahstrahirend, die Zahl mehr und mehr als symbolisches Zeichen aufzufassen begann, das lediglich bestimmt war, als Grundlage f\u00fcr die Rechnungsoperationen zu dienen, wenn die erhaltenen Resultate auch meistens concrete Deutungen zulie\u00dfen. Aeu\u00dferlich charakterisirt sich diese Periode, deren Anfang etwa in die indische Mathematik des f\u00fcnften und sechsten Jahrhunderts zu legen ist, zun\u00e4chst durch die Einf\u00fchrung des Negativen und Irrationalen, ein Fortschritt, der freilich dort mehr ein mathematischer als ein logischer genannt werden muss. Der Beginn der Neuzeit brachte dann das erste Auftauchen der imagin\u00e4ren und complexen Zahlen, deren Existenzberechtigung ein dreihundertj\u00e4hriger Kampf sicher stellte. Und dieser Kampf wurde erst entschieden, als bereits diejenigen Bestrebungen sich geltend machten, welche allgemeine, complexe Zahlen h\u00f6herer Ordnung discutirten und den auf solche Weise erhaltenen Zahlhegriffen eine unbegrenzte Ausdehnung sichern wollten.\nZugleich begann aber, namentlich in England, eine strenge wissenschaftliche Untersuchung der formalen Rechengesetze, die den scheinbar beliebig zu erweiternden Zahlbegriffen gewisse noth-wendige Beschr\u00e4nkungen auferlegen lehrte und so das Gleichgewicht in der stetigen Entwicklung wieder herstellte. In diesen rein formalen Speculationen schien nun der h\u00f6chste Grad der Abstraction","page":640},{"file":"p0641.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t641\nerreicht, wenn es nicht gelang, den so gewonnenen Zahlbegriffen einen allgemeinen, noch umfassenderen Gattungsbegriff \u00fcberzuordnen. Die Ausf\u00fchrung dieser Subsumtion, die wir als das charakteristische Merkmal der dritten Entwicklungsperiode aufzufassen gen\u00f6thigt sind, ist noch verh\u00e4ltnism\u00e4\u00dfig neu. Die fr\u00fchesten \\ersuche in dieser Beziehung fallen in die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, und erst in den letzten Jahrzehnten ist es wesentlich den Arbeiten G. Cantor\u2019s gelungen, eine Theorie zu begr\u00fcnden, welche wirklich alle Zweige der Mathematik umfasst und zugleich einen so hohen Grad von Abstraction erreicht hat, dass ein Dar\u00fcberhinausgehen unm\u00f6glich scheint. Wenn aber auch beide, Mannigfaltigkeits- und allgemeine Formenlehre, als die j\u00fcngsten Zweige der Mathematik, welche schon bedeutend auf das Grenzgebiet zwischen ihr und der Logik \u00fcbergreifen, noch keineswegs so ausgebildet sind, dass man von einem befriedigenden Abschluss reden k\u00f6nnte, so scheinen sie doch andererseits gen\u00fcgend fest fun-dirt, um als letzte Grundlage der Mathematik dienen zu k\u00f6nnen. Ihre Ausbildung kann und wird daher eine wesentliche Aufgabe der eben begonnenen dritten Periode sein.\nKehren wir nun nach diesem Ueberblick zu den Anf\u00e4ngen der arithmetischen Kegriffsbildung zur\u00fcck, so versteht es sich von selbst, dass der erste Zahlbegriff, welcher \u00fcberhaupt gefasst werden konnte, der der positiven ganzen Zahl war. Er entstand jedenfalls auf die psychologische oder logische Seite der Frage ist hier nicht n\u00e4her einzugehen \u2014 indem man in der Wahrnehmung getrennt gegebene Erscheinungen, welche alle das gleiche charakteristische Merkmal darboten, in eine Vielheit zusammenfasste. Zahlenbegriffe in diesem Sinne d\u00fcrften wohl alle bekannten V\u00f6lker besitzen. Denn wenn auch manche Reisende aus der Armuth gewisser \\ \u00f6lker an Ziffern und Zahlworten haben schlie\u00dfen wollen, dass dieselben nicht bis zwanzig, oder auch nur bis f\u00fcnf zu z\u00e4hlen im Stande Av\u00e4ren1), so steht doch diese Ansicht auf gleicher H\u00f6he mit dem bekannten Schluss, dass die Griechen die blaue Farbe nicht wahr-\n1) A. v. Humboldt, Ueber die bei verschiedenen V\u00f6lkern \u00fcblichen Zahlzeichen und \u00fcber den Ursprung des Stellenwertes in den indischen Zahlen. Crelle\u2019s Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik. Berlin 1829. IV, p. 205. Die betreffende Angabe steht p. 209.","page":641},{"file":"p0642.txt","language":"de","ocr_de":"642\nWalter Brix.\ngenommen h\u00e4tten, weil sie keine ausreichende Bezeichnung f\u00fcr dieselbe besitzen. Allgemeine Untersuchungen \u00fcber diese, vom psychologischen wie anthropologischen Standpunkt aus gleich interessante Frage fehlen leider heutzutage noch, man darf indessen wohl die F\u00e4higkeit, beliebig hohe Zahlen zu bilden, bei allen Menschen voraussetzen. Wo freilich, wie bei niederen V\u00f6lkern, der Antrieb fehlt, gr\u00f6\u00dfere Mengen abzuz\u00e4hlen, da werden wir selbstverst\u00e4ndlich auch keinen entsprechenden Zahlw\u00f6rtern begegnen.\nDa jedoch das Abz\u00e4hlen eine der primitivsten Formen der menschlichen Erkenntniss darstellt, so finden wir ausgebildete Zahlsysteme schon bei den \u00e4ltesten bekannten V\u00f6lkern. Anf\u00e4nglich mag man die Zahl wohl immer nur auf die jeweilig in\u2019s Auge gefassten Gegenst\u00e4nde bezogen haben, d. h. man z\u00e4hlte nicht 4, 5, 6, sondern vier B\u00e4ume, f\u00fcnf Menschen, sechs Steine u. s. w. Dann aber machte man die Wahrnehmung, dass die Zahl von der Beschaffenheit des Gez\u00e4hlten selbst unabh\u00e4ngig sei, und benutzte diese Entdeckung , um den Z\u00e4hlprocess an den hierzu wie geschaffenen Fingern, eventuell mit Zuh\u00fclfenahme der Zehen, auszuf\u00fchren und diesen erst im Resultat die urspr\u00fcnglich betrachteten Objecte zu substituiren. So entstanden bekanntlich auf den Grundeinheiten von f\u00fcnf, zehn, zwanzig s\u00e4mmtliche Zahlsysteme.\nIn diesem Stadium war nun die Zahl nichts anderes, als ein primitives H\u00fclfsmittel praktischer Erkenntniss, sie wurde lediglich zum Abz\u00e4hlen verwandt. Da indessen die Umst\u00e4ndlichkeit der Ausz\u00e4hlung gr\u00f6\u00dferer Mengen schon sehr fr\u00fche die Zusammenfassung gewisser Anzahlen in h\u00f6here Einheiten erforderlich machte, so dr\u00e4ngte sich die Nothwendigkeit auf, die Zahlen nicht wegen ihrer Beziehung zum realen Apperceptionsprocess, sondern um ihrer selbst willen zu untersuchen, und es begann die Arithmetik. Es wurden die Verh\u00e4ltnisse verschiedener Zahlen zu einander n\u00e4her in\u2019s Auge gefasst, ihre Verkn\u00fcpfung eingehender betrachtet, kurz die Zahl wurde Gegenstand der Rechnung. So entstanden, allerdings unter dem Einfluss der Anschauung, die Regeln der Addition, Subtraction , Multiplication und Division, und den Grundlagen der Operationen folgte bald bei Chald\u00e4ern, Aegyptern, Griechen und Indern die wissenschaftliche Behandlung des Gegenstandes. Die beste systematische Darstellung erfuhr diese Arithmetik","page":642},{"file":"p0643.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t643\nwie die ganze antike Mathematik in dem gro\u00dfen Elementarwerk des Euklid.\nHier erscheint die Zahl allein als positive ganze Zahl, bestimmt die Ma\u00dfverh\u00e4ltnisse zweier Gr\u00f6\u00dfen zu formuliren. Waren die letzten so beschaffen, dass die gr\u00f6\u00dfere durch die kleinere sich vollst\u00e4ndig ausmessen lie\u00df, so wurde dies Verh\u00e4ltniss ausgedr\u00fcckt durch die ganze Zahl; war aber die Vergleichung nur durch ein kleineres gemeinsames Ma\u00df m\u00f6glich, so kam man auf ein Bruchverh\u00e4ltniss. Solche Verh\u00e4ltnisse erschienen aber noch keineswegs als Br\u00fcche im heutigen Sinne. Denn der Grieche kannte \u00fcberhaupt nur Stammbr\u00fcche, deren Z\u00e4hler ja bekanntlich nur die 1 bildet, und auch diese gelten nicht einmal als Zahlen, sondern als Gr\u00f6\u00dfen\nniederer Ordnungl). So bedeutet bei Euklid y den siebenten\nTheil der als L\u00e4nge veranschaulichten Einheit, y, gesprochen als\n2\nzwei Siebentel, das Aggregat von zwei solchen kleineren L\u00e4ngen, y\nhingegen, gesprochen als zwei durch sieben, das Verh\u00e4ltniss zweier Strecken von den L\u00e4ngen 2 und 7, niemals aber den siebenten\nTheil der L\u00e4nge 2. Der erste Ausdruck 2 \u2022 y ist also eine Gr\u00f6\u00dfe,\nder zweite ~ ein Verh\u00e4ltniss, und keiner wird daher zu den Zahlen\nt\ngerechnet2).\nDas Verh\u00e4ltniss, rein formal gefasst, h\u00e4tte am ehesten noch auf die gebrochenen Zahlen f\u00fchren k\u00f6nnen. Da aber den Griechen die Zahl nur als Ma\u00dfbezeichnung f\u00fcr die Gr\u00f6\u00dfen erschien, so konnten sie ganz wohl mit den ganzen Zahlen auskommen, sobald sie nur nicht das Verlangen stellten, es m\u00fcsse jede Zahl durch jede gleichartige auszumessen sein, sondern ein kleineres gemein-\nsames Ma\u00df zulie\u00dfen. Die Br\u00fcche von der Gestalt y hatten also\n1)\tElemente Y a (ich citire die Teubner\u2019sche Ausgabe von Heiberg, Leipzig 1883) Miqo\u00e7 terri fj.\u00e9ys-9-os tov /nsy\u00e9&ovs to \u2019iXaaaov tov [x\u00fc\u00c7ovo\u00e7, brav /rerqjj to usl^ov.\n2)\tElemente V y . . Aoyo\u00e7 toTi tj'vo /jt;yc!Hxtv bfxoyEvmv r\\ xutu nrjXix\u00d6Tr/Tu nota oytcns, oder, wenn man diese vielbestrittene Definition (vgl. Hankel, Geschichte der Mathematik p. 393) nicht gelten lassen will : <TAbyov tytiv noos aXXriXa fieye&r] Xtytreu, \u00ab \u00e2vvuTcu noXXe'.nXetoiaZbfXEvet uXXr]X(ov vntQtytiv.\nWundt, Philos. Studien. V.\t43","page":643},{"file":"p0644.txt","language":"de","ocr_de":"644\nWalter Brix.\n(wenn man unter e irgend eine Gr\u00f6\u00dfe versteht) eine der beiden Bedeutungen: 2~-, d. h. die Summe zweier Gr\u00f6\u00dfentheile, welche siebenmal kleiner sind als die urspr\u00fcngliche Einheit, oder: yjj, d. h. das Verh\u00e4ltnis der doppelten Einheit zur siebenfachen. Was unter y, d. h. dem siebenten Theil der Gr\u00f6\u00dfensumme le, oder unter 2.2\ny e, worin der Bruch \u2014 schon ganz formal erscheint, zu verstehen\nsei, das finden wir bei Euklid mit keinem Worte ber\u00fchrt.\nDen letzten Ausdruck, dessen Besprechung in den zweiten Abschnitt dieses Kapitels zu verweisen ist, fanden erst die Inder, der andere scheint dagegen bereits Vorwurf der \u00e4gyptischen Rechenkunst gewesen zu sein, welche also in dieser Beziehung \u00fcber die griechische Arithmetik hinausging. Indessen schon eine oberfl\u00e4chliche Betrachtung der Rechnungsvorschriften, wie sie in dem bekannten, vielcitirten Papyrus Rhind >) auseinandergesetzt sind, gen\u00fcgt, um den Eindruck zu erwecken, dass hier von einer wissenschaftlichen Methodik noch keine Rede sein kann. Die ersten Bl\u00e4tter jenes Papyrus besch\u00e4ftigen sich n\u00e4mlich mit Br\u00fcchen, deren Nenner die ungeraden Zahlen von drei bis neunundneunzig, deren Z\u00e4hler gleich zwei sind, und geben eine Tafel zur Zerlegung solcher Br\u00fcche in Stammbr\u00fcche. Aus dem Streben nach dieser Zerlegung ergibt sich nun unmittelbar, dass es sich hier wiederum nur um ein Rechnen mit Gr\u00f6\u00dfen, mit benannten Zahlen handelt, dennoch\naber muss die Tendenz, Ausdr\u00fccke wie y in die Rechnung einzuf\u00fchren, entschieden als ein Fortschritt bezeichnet werden, da sie implicite den Begriff des formalen Bruches y bereits enthalten. Ja ein wirklich formaler Bruch findet sich in der That schon in jenen Rechentafeln, n\u00e4mlich y. Denn man begegnet dort vielfach\n2\to p\neiner Bezeichnung von der Form -e, deren Identit\u00e4t mit - oder\no\to\n1) Ein mathematisches Handbuch der alten Aegypter (Papyrus Rhind des British Museum), \u00fcbersetzt und erl\u00e4utert von August Eisenlohr, Leipzig 1877. Eine eingehende Besprechung dieses werthvollen Documentes findet sich in der Geschichte der Mathematik von M. Cantor p. 18 ff.","page":644},{"file":"p0645.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformeu.\n645\n2 y zwar nirgends direct ausgesprochen, aber doch stillschweigend vorausgesetzt wird.\nUeberhaupt d\u00fcrfen die Tafeln wohl auf etwas mehr Bedeutung Anspruch machen, als Cantor zugeben will, der in ihnen lediglich additive Zerlegungen von Br\u00fcchen der betrachteten Art in Stammbr\u00fcche sieht, welche man habe vornehmen m\u00fcssen, um dieselben den f\u00fcr Stammbr\u00fcche aufgestellten Regeln unterwerfen zu k\u00f6nnen. Denn eine solche Zerf\u00e4llung w\u00e4re doch am einfachsten geleistet\ndurch die Formel:\t= \u2014-1\u2014 + \u2014i\u2014 (=2- ---) ; und\nwenn man auch nicht annehmen will, dass den Aegyptern das allgemeine Princip von der Vertauschbarkeit der Reihenfolge von Division und Multiplication bekannt gewesen sei \u2014 dies w\u00fcrde schon eine Bekanntschaft mit den formalen Gesetzen verrathen, wie wir sie jenem Volke noch durchaus absprechen m\u00fcssen \u2014 so darf man doch entschieden voraussetzen, dass z. B. eine Zerlegung 2.11.\nvon in ^ und ^ leichter zu finden war, als die im Text ange-111\ngebene \u2014 -f- yyj -f- -\u00df\u00df-. Man muss daher in jener Tabelle wohl\nmehr eine Zusammenstellung allm\u00e4hlich bekannt gewordener anderweitiger Bruchzerf\u00e4llungen erblicken, nicht hervorgegangen aus der Nothwendigkeit, die betrachteten Br\u00fcche \u00fcberhaupt in Stammbr\u00fcche zu zerlegen, sondern im Interesse der Vollst\u00e4ndigkeit gesammelt und lediglich dazu bestimmt, was dieser oder jener im Laufe der Zeit zuf\u00e4llig gefunden, f\u00fcr die Nachwelt zu retten. Hierf\u00fcr spricht unter anderm auch der Umstand, dass alle jene Zerlegungen einen durchaus empirischen Charakter tragen, so dass ihre schriftliche Fixirung im Interesse sp\u00e4terer Ersparung langen Probirens sehr w\u00fcnschenswerth erscheinen konnte. Und, wenn gleich dieser rein empirische Charakter der Resultate andererseits beweist, dass auch den Aegyptern die Trennung der Zahl von der Gr\u00f6\u00dfe noch nicht gelungen ist, so muss man es doch immer als einen bedeutenden Schritt auf dem Wege zum formalen Zahlbegriff ansehen, dass hier zum ersten Mal der Versuch gemacht wird, die Principien der Rech-nungsoperationen f\u00fcr ganze Zahlen und Stammbr\u00fcche auch \u2014 wie es in den sp\u00e4teren Bl\u00e4ttern des Papyrus in der That geschieht \u2014\n43*","page":645},{"file":"p0646.txt","language":"de","ocr_de":"646\nWalter Brix.\nauf gebrochene Zahlen zu erweitern. So wurde hier der Grund zu einer Bruchrechnung gelegt, welche zwar noch nicht von dem Begriff der Gr\u00f6\u00dfe zu abstrahiren verstand, es aber doch schon zu einer ziemlichen Entwicklung brachte. Ihre successive Ausbildung hier weiter zu verfolgen, ist allerdings \u00fcberfl\u00fcssig; es gen\u00fcgt zu bemerken, dass sie stets ihren unselbst\u00e4ndigen Charakter behielt, indem sie immer nur mit messbaren Zahlgr\u00f6\u00dfen operirte und h\u00e4ufig \u00a3ogar ganz concrete Einheiten, wie z. B. bei den R\u00f6mern die M\u00fcnzsorten, zu Grunde legte.\nWenn aber eine solche Behandlungsweise der Gr\u00f6\u00dfenverh\u00e4ltnisse schon daran hinderte, die Br\u00fcche unter die Zahlen aufzunehmen , so war dies selbstverst\u00e4ndlich ganz unm\u00f6glich bei den Irrationalit\u00e4ten, die der griechischen Mathematik deshalb auch die meisten Schwierigkeiten gemacht haben. Ihre trotz vielfacher Analogien den rationalen Gr\u00f6\u00dfen durchaus heterogene Natur forderte gebieterisch die v\u00f6llige Trennung von den letzteren ; und so sehen wir denn auch bei Euklid die Scheidung in commensurable und incommensurable Gr\u00f6\u00dfen \u00fcberall streng durchgef\u00fchrt '). Jene verhalten sich wie Zahlen, diese nicht, jene k\u00f6nnen auch arithmetisch behandelt werden, diese nur geometrisch u. s. w.\nDie Vereinigung beider Begriffe auf Grund des Gr\u00f6\u00dfenbegriffes konnte erst einer Analysis des Unendlichen \u2014 und hieran war damals selbstverst\u00e4ndlich noch nicht zu denken \u2014 oder aber einer Theorie gelingen, welche die Zahlen nicht blos als concrete Gr\u00f6\u00dfenma\u00dfe oder Ma\u00dfgr\u00f6\u00dfen, sondern vielmehr als durch formale Eigenschaften defmirt ansah. Diesen Fortschritt finden wir jedoch erst bei den Indern verwirklicht.\n2. Die Zahl wesentlich abstracten Charakters.\nWeit \u00fcber die bisherige concrete Auffassung des Gegenstandes erhebt sich nun aber bereits ein Grieche, der so weit au\u00dferhalb der ganzen hellenischen Wissenschaft steht, dass er zu dieser eigentlich gar nicht gerechnet werden kann, um so mehr, als er weder\n1) Elemente X, a. Dann Satz V : r\u00ab ovji/ae r qit uf/tOr nqb\u00e7 ua 'Koyoy \u00eeysi, Sy (tqi&pbs 7TQO\u00c7 UQi&fiov, und VII I\u00df aav/ufierga lAsyt\u00fc-r] nqos aKXriXa lo-yov ovx iyei, Sy \u00e0qi\u00ff-^ibs nqbg \u00e0qidfioy.","page":646},{"file":"p0647.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformeu.\n647\nVorg\u00e4nger noch Nachfolger besitzt, Diophantus. In dem euklidischen System war die Arithmetik im wesentlichen nichts anderes gewesen, als eine singul\u00e4re Behandlungsweise eines ganz speciellen Gebietes der Gr\u00f6\u00dfenlehre, n\u00e4mlich der commensurablen Gr\u00f6\u00dfen. Diophant erhob sie zur selbst\u00e4ndigen Wissenschaft. Denn er ersetzte die Gr\u00f6\u00dfen durch reine Zahlen und die bisher \u00fcblichen geometrischen Constructionen arithmetischer Aufgaben durch die formalen Operationen der Addition, Subtraction, Multiplication, Division, Potenzirung und Radicirung, deren Regeln, wie etwa das distributive Gesetz, er in so staunenerregender Weise handhabte, dass er beispielsweise das positive Vorzeichen eines Productes von zwei negativen Zahlen abzuleiten wusste1). Hieraus ist nun allerdings noch in keiner Weise zu entnehmen, dass er die negativen Zahlen gekannt oder gar eingef\u00fchrt habe. Denn jene Entdeckung dient ihm lediglich dazu, das distributive Gesetz in seiner allgemeinen Form: (\u00ab \u00b1 i) (c ifc d) = ac \u00b1 bc \u00b1 ad + bd zu verifi-ciren. Die eventuellen Differenzen a \u2014 b und c \u2014 d m\u00fcssen dabei immer noch positive ganze Zahlen sein. Negative Zahlen, wo sie auch immer Vorkommen m\u00f6gen, verwirft er ebenso wie irrationale. Die Erkenntniss dieser Zahlformen konnte erst der weit h\u00f6heren Abstraction der indischen Mathematik gelingen.\nDie M\u00f6glichkeit einer weiteren Ausbildung der Zahlen beruhte nun in erster Linie auf einer geschmeidigen Bezeichnungsweise derselben, da die schwerf\u00e4lligen Ziffersysteme der Culturv\u00f6lker des Mittelmeeres ein Rechnen mit einigerma\u00dfen gro\u00dfen Zahlen kaum gestatteten. Diese Forderung wurde aber erst erf\u00fcllt durch das indische Positionssystem. Denn das ausgesprochene Princip des Stellenwerthes erlaubte es einerseits mit dem geringsten Raum f\u00fcr die Schrift, andererseits mit m\u00f6glichst wenig Zahlzeichen auszukommen, ein Vortheil, der durch die, freilich in Anlehnung an die alte Fingerrechnung gew\u00e4hlte, zuf\u00e4lligerweise aber \u00e4u\u00dferst zweckm\u00e4\u00dfige Grundeinheit der zehn noch vergr\u00f6\u00dfert wurde. Die Darstellung einer jeden Zahl in der Form . . . . a3 103 + a2 102 + \u00abi 10\ta0,\nworin a0 ax a3 . . . die Zahlen unter zehn, also die Ziffern darstellen, wurde aber erst erm\u00f6glicht durch das Zeichen f\u00fcr das\n1) Hankel, Geschichte der Mathematik S. 158.","page":647},{"file":"p0648.txt","language":"de","ocr_de":"648\nWalter Brix.\nFehlen einer bestimmten Potenz von zehn, durch die Null. Dieses Zeichen, dessen Erfindung einen so bedeutenden Fortschritt in der Systematik involvirt, dass Hankel sie zu \u00bbjenen epochemachenden Ideen\u00ab rechnet, \u00bbwelche wie eine Offenbarung von oben nur den gr\u00f6\u00dften Geistern zuweilen eingegeben werden\u00ab'), erscheint hier im Positionssystem vorl\u00e4ufig noch ohne jede reale Gr\u00f6\u00dfenbedeutung lediglich als der Ausdruck daf\u00fcr, dass die betreffende Einheit, deren Stelle sie vertritt, in der betrachteten Zahl nicht vorkommt. Die Null ist hier ebenso ein Symbol, wie etwa das Minus- oder Wurzelzeichen bei Diophant.\nDiese Bedeutung sollte nun freilich nicht ihre einzige bleiben, denn sie fand sehr bald eine andere durch die Ausbildung der formalen Rechenoperationen. Letztere n\u00e4mlich, bei Diophant schon genauer erforscht, empfingen unabh\u00e4ngig von ihm in der indischen Arithmetik eine Vollendung wie nie vorher. Es wurden schon sehr bald die vier Species sowie die Potenzirung und Radicirung mit ganzen Zahlen wie mit Br\u00fcchen in der umfassendsten Weise gelehrt und gehandhabt; und die formalen Gesetze dieser Operationen erhielten einen Grad der Vollkommenheit, der einmal den urspr\u00fcnglichen concreten Charakter des Zahlbegriffs zu Gunsten des formalen Rechnungselementes ganz vergessen lie\u00df, dann aber auch \u00fcber die so gewonnenen absoluten Zahlen hinausf\u00fchrte. So leitete auch in der That bereits ziemlich fr\u00fch die Division auf die Br\u00fcche, die nun nicht mehr auf die Theile concreter Gr\u00f6\u00dfen bezogen wurden, sondern als Erzeugnisse einer rein formal aufgefassten Division in die Rechnung eingingen. So entstand durch Subtraction einer dem Minuenden gleichen Zahl wieder die Null, nun auch nicht mehr der symbolische Ausdruck f\u00fcr den Mangel einer Einheit, sondern das Resultat einer in absoluten Zahlen ausf\u00fchrbaren Subtraction, wobei sie freilich, da sie durch Abziehen jeder beliebigen Zahl von sich selbst erhalten werden konnte, als Divisor nicht verwendet werden durfte. So verdankten einer weiteren Ausdehnung der Subtraction f\u00fcr den Fall, dass der Minuendus kleiner war als der Subtrahendus, die negativen Zahlen ihren Ursprung; und sie durften auf solche Weise definirt werden, da sie sich, wie\n1) Hankel, Geschichte der Mathematik S. 45.","page":648},{"file":"p0649.txt","language":"de","ocr_de":"649\nDer mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\ndie Inder das ausdr\u00fccklich bewiesen, den formalen Operationsgesetzen vollkommen f\u00fcgten. So erschien endlich zum ersten Male das Irrationale als Zahl, bestimmt durch eine in absoluten Zahlen nicht ausf\u00fchrbare, trotzdem aber den gew\u00f6hnlichen Zahlgesetzen gehorchende Kadicirung.\nMit einer derartig ausgehildeten Algebra war es nun nicht schwer, selbst schwierigere geometrische Probleme, deren L\u00f6sung den Griechen nur durch m\u00fchevolle Synthese gelungen war, rechnend mit verh\u00e4ltnissm\u00e4\u00dfiger Leichtigkeit zu bew\u00e4ltigen und so diejenige Disciplin der Mathematik vorzubereiten, welche sich dann zur Analysis entwickelte. W\u00e4hrend diese aber sp\u00e4ter auf Betrachtung des unendlich Kleinen den gr\u00f6\u00dften Werth legte, tritt sie uns hier noch in v\u00f6llig finiter Form entgegen. Zwar kannten die Inder N\u00e4herungsmethoden f\u00fcr die Auswerthung des Irrationalen, d. h. seine Messung durch rationale Zahlen, zwar lehrten sie schon in derselben Weise, wie es noch heute geschieht, das Ausziehen von Quadrat-und Cuhikwurzeln, zwar hatten sie f\u00fcr die Zahl n bereits die erstaunliche Genauigkeit von 3,1416 erreicht1), aber niemals haben sie in solchen, nothwendigerweise unendlichen Processen etwas r\u00e4thselhaftes oder widerspruchsvolles gefunden. Man beschr\u00e4nkte sich eben im Besitze einer vollendeten finiten Methodik auf die rein algebraische Behandlung aller mathematischen Aufgaben, ohne \u00fcber den Umkreis derselben herauszugehen.\nDieser Charakterzug ist \u00fcbrigens nicht allein den Indern, sondern auch der ganzen, von ihnen abh\u00e4ngigen arabischen und christlich-mittelalterlichen Mathematik eigen. In der formalen Algebra wurden sp\u00e4ter infolgedessen auch neue Fortschritte gemacht. So wurden z. B. auf Grund einer weiteren Verallgemeinerung der formalen Gesetze vom Bischof von Lisieux Nicole Oresme im vierzehnten Jahrhundert die gebrochenen Potenzen eingef\u00fchrt2) und ihre notliwendige Gleichheit mit den Wurzeln betont. Indessen bedeutet diese Leistung, wie so viele andere Weiterentwicklungen, doch nur einen Ausbau der bereits bekannten formalen Algebra;\nt) Hankel, Geschichte der Mathematik S. 216.\n2) Nicole Oresme: Algorismus proportionum, herausgegeben von M. Curtze, Berlin 1868, vgl. Schl\u00f6milch: Zeitschrift f\u00fcr Mathematik und Physik XIII. Suppl. S. 68 ff.","page":649},{"file":"p0650.txt","language":"de","ocr_de":"650\nWalter Brix.\neinen wesentlichen Fortschritt bildet erst die Entdeckung der imagin\u00e4ren und complexen Gr\u00f6\u00dfen und der hieraus resultirenden Zahlformen.\nTrotz dieser hohen formalen Ausbildung der Algebra finden wir indessen in dem ganzen bisher besprochenen Zeitabschnitt gegen die negativen Zahlen ein im Grunde unberechtigtes Misstrauen, das aus den immer noch nicht v\u00f6llig aufgegebenen \u00e4lteren concreten Anschauungen entsprang. Es bedurfte deshalb geraumer Zeit, bis dieselben sich als selbst\u00e4ndige Begriffe in der Algebra eingeb\u00fcrgert hatten. Aufgenommen sind sie jedoch bereits vor Harriot, der f\u00fcr gew\u00f6hnlich als der erste systematische Bearbeiter der negativen Zahlen gilt, bei Fibonacci1), welcher sie zul\u00e4sst, sobald sie als debitum interpretirt werden k\u00f6nnen, und bei dem Augustinerm\u00f6nch Michael Stifel2), welcher schon von numeris absurdis oder fictis infra nihil spricht. Aber es war kaum gelungen, ihnen eine allenfalls gen\u00fcgende arithmetische Grundlage zu gehen, als auch schon ein neuer, viel r\u00e4thselhafterer Begriff auftauchte, das Imagin\u00e4re.\nComplexe Zahlen kommen zuerst vor hei Cardan, der sie in seinen beiden Compendien der Algebra3), sowie in dem allerdings sehr verworrenen Werk : De r\u00e9gula Aliza4) mehrfach erw\u00e4hnt. Da Cardan demnach in der That der erste ist, welcher bewusst mit dem Imagin\u00e4ren operirt, so wird es zweckm\u00e4\u00dfig sein, auf seine diesbez\u00fcglichen Anschauungen etwas n\u00e4her einzugehen, umsomehr, als die einzige hier\u00fcber bestehende Darstellung, die von Hankel5), der \u00fcbrigens wahrscheinlich die Ars magna nicht gekannt hat. zu den am wenigsten vollst\u00e4ndigen Theilen seines bekanntlich unvollendeten Geschichtswerkes geh\u00f6rt.\n1)\tFibonacci (= filius Bonacci) 'oder Leonardo Pisano. Liber Abaci 1202 und 1220.\n2)\tMichael Stifel, Arithmetica integra. Norimbergae 1544.\n3)\tArtis magnae sive de regulis algebraicis liber unus. Mediolani et Norimbergae 1545 und Ars magna Arithmeticae seu liber quadraginta capitulorum et quadraginta quaestionum. Basileae 1570. Wir werden beide Werke citiren als: Artis magnae liber und Ars magna.\n4)\tBasileae 1570. Alle drei Schriften sind abgedruckt im vierten Band der Gesammtausgabe: Hieronymi Cardani opera omnia. Lugduni 1663.\n5)\tHankel, Geschichte der Mathematik S. 371, 372.","page":650},{"file":"p0651.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff uud seine Entwicklungsformen.\n651\nCardan unterscheidet in der Algebra zweierlei Werthe; die einen sind ihm real, und hierzu geh\u00f6ren die absoluten, gebrochenen und irrationalen Zahlen, die andern gelten ihm im allgemeinen als Fictionen, und hierzu geh\u00f6ren die negativen Zahlen, Quadratwurzeln aus solchen und endlich \u2014 dies ist f\u00fcr seinen Standpunkt sehr charakteristisch \u2014 negativ genommene Quadratwurzeln aus negativen Zahlen. Er nennt die ersten veros, die andern falsos oder fictos num\u00e9ros, wobei er freilich die zweite Bezeichnung urspr\u00fcnglich nur auf die negativen Zahlen bezieht1). So lange es sich allein um concrete Verh\u00e4ltnisse, d. h. um die Anwendung der Algebra auf wirkliche Gr\u00f6\u00dfen handelt, verwirft er alles fictive und stellt sich soweit auf einen rein realistischen Standpunkt. Dieser Gesichtspunkt leitet ihn z. B. bei der Aufstellung der verschiedenen Gleichungstypen, deren er, da er hierbei nirgends negative Zahlen zulassen will2), eine ganze Reihe f\u00fcr jeden Grad n\u00f6thig hat3). Dieselbe Erw\u00e4gung l\u00e4sst ihn auch bei der Anwendung auf die Wirklichkeit negative L\u00f6sungen f\u00fcr ungiltig erkl\u00e4ren. So muss er z. B. bei der Behandlung quadratischer Gleichungen von dem\nTypus x1 + b \u2014 ax verlangen, dass > b sei, weil sonst die Aufgabe unm\u00f6glich w\u00e4re, wie \u00fcberhaupt jedesmal das Auftreten einer unm\u00f6glichen L\u00f6sung auf eine falsche Fragestellung hinweise4). L\u00e4sst aber in Bezug auf die Gr\u00f6\u00dfenlehre seine realistische Anschauung eine Duldung der fictiven Zahlen nicht zu, so kann er\n1)\t.... aestimatione . . . ficta, sic enim vocamus earn, quae debiti est seu minoris. Artis magnae liber I, 3.\n2)\tsemper autem numerus, cui comparantur denominationes (sc. die Formen der Function, in welchen die Unbekannte erscheint) in hoc capitulo (sc. Gleichung) verus, non fietus supponitur. Quid enim tarn stultum, quam fundamentum ipsum (sc. die Beziehung auf die realen Gr\u00f6\u00dfen) infirmare; wozu er allerdings vorsichtig noch die Bemerkung f\u00fcgt : quamquam ratio opposita in oppositis esset observanda. Artis magnae liber I, 4.\n3)\tF\u00fcr den zweiten Grad z. B. drei, n\u00e4mlich x2 -j- ax = b; x2 \u2014 ax q- b, x2 + 5 = ax, f\u00fcr den dritten schon achtzehn, f\u00fcr den vierten noch viel mehr. Vgl. Artis magnae liber II und Ars magna XX.\n4)\tArtis magnae liber, Caput V, r\u00e9gula III, notandum: Quodsi detractio ipsa numeri, a quadrato dimidii numeri rerum fieri nequit, quaestio ipsa est falsa, nec esse potest, quod proponitur, semper autem pro r\u00e9gula generali in hoc traetatu toto est observandum, quod cum ea quae praecipiuntur fieri non possunt, nec illud quod proponebatur fuit nec esse potuit.","page":651},{"file":"p0652.txt","language":"de","ocr_de":"652\nWalter Brix.\nsich ihrer in der formalen Algebra doch nicht erwehren. So muss er sie z. B. f\u00fcr die quadratischen Gleichungen schon unter allen Umst\u00e4nden formal beibehalten, da er seihst an die Spitze des liber artis magnae das Theorem stellt, eine quadratische Gleichung m\u00fcsse immer zwei Wurzeln haben, ein Satz, der ja nur giltig ist, so lange man das ganze complexe Zahlgebiet in Betracht zieht. In der ars magna, dem sp\u00e4teren Werke, hat er sogar schon erkannt, dass auch eine cubische Gleichung in allen den F\u00e4llen, wo sie bis dahin f\u00fcr unl\u00f6sbar oder vielmehr f\u00fcr falsch galt, au\u00dfer einer reellen in gew\u00f6hnlichen Zahlen stets noch zwei complexe L\u00f6sungen besitze, ein f\u00fcr jene Zeit ganz au\u00dferordentliches Resultat1).\nF\u00fcr die Auffindung solcher unechter Wurzeln gibt er nun in dem liber artis magnae besondere Regeln, welche noch jedesmal durch Beispiele erl\u00e4utert werden2). Die erste Regel handelt von dem Aufsuchen negativer Wurzeln, mit denen man es zuerst pro-biren soll, wenn man keine wahren absoluten finden kann. Bemerkenswerth ist dabei, dass die drei hinzugef\u00fcgten Aufgaben eingekleidet sind, und zwar in Fragen nach dem Verm\u00f6gen eines gewissen Franciscus, (der als Beispiel hei Cardan eine \u00e4hnliche Rolle spielt, wie Caius im r\u00f6mischen Recht), so dass das herauskommende negative Resultat doch wieder concret durch Schulden interpretirt werden kann, also eigentlich gar nicht als aestimatio falsa erscheint. In der zweiten Regel wird dann die Auffindung von L\u00f6sungen der Form a + V \u2014 b und a \u2014 V \u2014 b gelehrt f\u00fcr den Fall, dass a und b positive Zahlen sind, und die dritte besch\u00e4ftigt sich endlich unter derselben Voraussetzung mit Wurzeln, wie \u2014 a \u2014 V \u2014 b, denen Cardan jede reale Existenz aberkennt, und die er als omnino falsa bezeichnet, weil sie weder negativ noch von der Form a dz V \u2014 b sind3).\n1)\tEx hoc patet complementum capitulorum (sc. Gleichungen) omnium cuhi aequalis rebus et num\u00e9ro (sc. x3 = ax-\\-b) et cubi et censuum aequalium num\u00e9ro (sc. x3 -f- ax1 = b) et cubi et numeri aequalium rebus (sc. x3 a = hx) et cubi et numeri aequalium rebus et censibus (sc. x3 + a = hx + cx2) etc. Ars magna. Quaestio 38, in der citirten Gesammtausgabe IV, p. 373.\n2)\tArtis magnae liber XXXVII. De r\u00e9gula falsum ponendi (p. 286).\n3)\tHaec r\u00e9gula (sc. falsum ponendi) triplex est, aut enim ponit rh (sc. eine negative Zahl) aut quaerit rh (sc. eine Zahl wie V \u2014 h) aut quaerit quod non est (sc. \u2014 a \u2014 V \u2014 b), r\u00e9gula I. und sp\u00e4ter: possumus vero venari genus m aliud, quod neque est purum m nec m. sed res omnino falsa.","page":652},{"file":"p0653.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahtbegriff und seine Entwicklungsformen.\t653\nWenn diese Ansichten nun auch noch ziemlich unklar genannt werden m\u00fcssen, so bedingen sie doch jedenfalls algebraisch schon einen bedeutenden Fortschritt, da hier in der That zum ersten Mal mit complexen Zahlen gerechnet wird, und zwar nach den gew\u00f6hnlichen Operationsregeln, allerdings ohne dass die Frage nach der Berechtigung dieser Handlungsweise irgendwie sich geltend macht. So verificirt Cardan z. B. in der Aufgabe zur Regel II, dass 5 + V -\u2014 15 und 5 \u2014 V \u2014 15 wirklich als L\u00f6sungen der Gleichungen x y = 10, x \u2022 y \u2014 40 anzusehen sind. Andererseits ist allerdings das Beispiel f\u00fcr die dritte Regel vollst\u00e4ndig verrechnet,\nda er z. B. den Ausdruck \u2122 \u25a0 j\u2014\t----* j = ~j/^ = -i- setzt und\nauf diese Weise nat\u00fcrlich ein vollkommen falsches und unsinniges Resultat erh\u00e4lt.\nWenn somit zu der begrifflichen Unsicherheit der neuen Zahlen noch die mathematische hinzukam, kann es nicht Wunder nehmen, dass sie aus der sp\u00e4teren Literatur wieder verschwinden. Nur ein einziger von Cardan\u2019s Nachfolgern, Bombelli, benutzte sie einmal, aber auch nur, um sie auf reale zu reduciren, indem er n\u00e4mlich durch directe Wurzelausziehung nach wies, dass in dem sogenannten casus irreductibilis der cubischen Gleichungen das Imagin\u00e4re h\u00e4ufig nur scheinbar auftrete und in Wirklichkeit gar nicht vorhanden sei *).\nSpielen hier aber die imagin\u00e4ren Zahlen als solche schon eine sehr nebens\u00e4chliche Rolle, so werden sie in den sp\u00e4teren Arbeiten ganz vernachl\u00e4ssigt. Der gro\u00dfe Systematiker Yi\u00e8te duldete sogar nicht einmal mehr negative Zahlen, sondern verwarf alle derartigen L\u00f6sungen1 2). Und da er f\u00fcr viele Nachfolger bestimmend war, so konnten erst nach und nach beide Begriffe, das Negative und Imagin\u00e4re, das B\u00fcrgerrecht wieder erwerben. Geduldet, weil man sie doch nicht ganz vermeiden konnte, von den absoluten, gebrochenen\n1)\tRafaello Bombelli, L\u2019Algebra parte maggiore dell\u2019Aritmetica, divisa in tre libri, nuovamente posta in luce. Bologna 1572. Es schlie\u00dft sich an das wenig verstandene Werk Cardan\u2019s de r\u00e9gula Aliza \u00fcber denselben Gegenstand an. Ygl. hierzu Hankel, Geschichte der ^Mathematik S. 372.\n2)\tVieta: I)e numerosa potestatum purarum adque adfectarum ad exegesin resolutione tractatus. Paris 1C00, auch abgedruckt in seinen Opera omnia, herausgegeben von F. van Schooten. Lugduni Batavorum 1646.","page":653},{"file":"p0654.txt","language":"de","ocr_de":"654\nWalter Brix.\nund irrationalen Zahlen durch eine weite Kluft geschieden, wurden sie ihrem Wesen nach um so weniger verstanden, als man der Erforschung ihrer Beziehungen zu andern Zahlen sorgf\u00e4ltig aus dem Wege ging. Wo sie auch immer auftauchten, \u00fcherall erscheinen sie bei den sp\u00e4teren Algebristen als unbequeme Formen, deren man sich nicht erwehren kann. Infolgedessen kehren sie auch nur vereinzelt in diesem oder jenem Lehrbuch wieder. So f\u00fchrte Harriot die negativen1), der holl\u00e4ndische Mathematiker Girard2) die imagin\u00e4ren L\u00f6sungen wieder ein, beide von formalen Betrachtungen ausgehend. Denselben Standpunkt vertritt auch die 1637 erschienene Geometrie Descartes\u2019, welche zum ersten Mal durchg\u00e4ngig das Wort \u00bbimaginaire\u00ab anwendet; und sie ist es, welche definitiv den Ansto\u00df gab zu einer stetigen rationellen Weiterbildung der bisher nur ungern geduldeten Begriffe. Denn gerade die Carte-sische Mathematik in ihrer v\u00f6lligen Verbindung von Arithmetik und Geometrie durch eine allgemeine Gr\u00f6\u00dfenanalysis, gerade sie musste bei ihrer schnellen und gro\u00dfartigen Entwicklung auch zu einer n\u00e4heren Besch\u00e4ftigung mit den urspr\u00fcnglich unanschaulichen Zahlen dr\u00e4ngen.\nUnd in der That; wie man sich durch die geometrische Bich-tungsanschauung immer mehr daran gew\u00f6hnte, im Negativen keinen Widerspruch mehr zu finden, so wurden auch die imagin\u00e4ren Zahlen allm\u00e4hlich als etwas unvermeidliches, selbstverst\u00e4ndliches behandelt, das man hinnahm, ohne sich mit seiner Untersuchung l\u00e4nger als n\u00f6thig aufzuhalten. Hatte schon Descartes die negativen L\u00f6sungen einer Gleichung finden gelehrt, so gab nun Newton eine Anweisung zur Aufsuchung der complexen3). Mit demselben\n1)\tThomas Harriot, Artis analyticae praxis ad aequationes algebraicas resolvendas. Londini 1631 (posthum).\n2)\tAlbert Girard, Invention nouvelle en l\u2019Alg\u00e8bre, tant pour la solution des \u00e9quations, que pour recognoistre le nombre des solutions qu\u2019elles re\u00e7oivent, avec plusieures choses, qui sont n\u00e9cessaires \u00e0 la perfection de ceste divine science. Amsterdam 1629.\n3)\tIn dem Werk: Arithmetica universalis, sive de compositione et resolution aTithmetica liber, das bekanntlich gegen Newton\u2019s eigenen Willen zuerst von Whiston herausgegeben wurde. Cambridge 1707. Weitere Auflagen von Ralphson, Cann, Wilder, Castillon u. s. w. London 1722, 1728, 1769 u. s. w.","page":654},{"file":"p0655.txt","language":"de","ocr_de":"655\nDer mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\nProblem besch\u00e4ftigten sich dann Maclaurin1), de Gua de Halves2) und viele andre, so dass die imagin\u00e4ren Zahlen als L\u00f6sungen von Gleichungen am Anfang des achtzehnten Jahrhunderts endlich allgemein anerkannt waren.\nNoch aber waren sie auch nichts weiter, als fingirte L\u00f6sungen, die man surrogatweise verwandte, wenn es keine besseren gab, Concessionen an die formale Algebra, um die Allgemeing\u00fcltigkeit solcher gern geglaubter S\u00e4tze \u2014 denn beweisen konnte man dies nat\u00fcrlich nicht \u2014 wie der, dass die Anzahl der Wurzeln einer algebraischen Gleichung ebenso gro\u00df sei wie ihr Grad, nicht in Frage zu stellen. Man glaubte schon viel erreicht zu haben, wenn man im Stande war, eine complexe L\u00f6sung thats\u00e4chlich aufzufinden. Das war aber auch alles; denn an eine Arithmetik des Imagin\u00e4ren dachte noch niemand.\nErst ganz allm\u00e4hlich begann man sich von jenem Standpunkt, auf dem die imagin\u00e4ren Zahlen lediglich als werthlose L\u00f6sungen von Gleichungen erschienen, zu emancipiren, sie als selbst\u00e4ndige Begriffe zu behandeln, d. h. mit ihnen zu rechnen und die Entdeckung zu machen, dass ein solches Operiren nicht allein m\u00f6glich sei, sondern auch zu vielen neuen und sch\u00f6nen [Resultaten f\u00fchren k\u00f6nne. In Euler\u2019s H\u00e4nden wurde das Imagin\u00e4re dann sogar ein m\u00e4chtiges H\u00fclfsmittel der Analysis, nachdem dieser erst aus der Moivre-Cotes\u2019schenFormel: (cos\u00ab + V \u2014 1 sina) (cosh-\\-V\u20141 sinb) \u2014 cos (a _j_ J) _|_ \u0178 \u2014 1 sin (a + i) die au\u00dferordentlich fruchtbare Gleichung: cos\u00ab + V\u20141 sin\u00ab =\t13 gezogen hatte. Er\nwar es auch, der den zweiten wichtigen Fortschritt machte, indem er Y \u2014 1 als eine neue selbst\u00e4ndige dem 1 coordinirte Zahleneinheit auffasste, eine complexe Zahl a + b V \u2014 1 infolgedessen als eine solche aus zwei Einheiten betrachtete und sie zugleich in der Form\ndarstellte : Va2 + b2 1\t8 \u201c \u2022\n1)\tLetter concerning equations with impossible roots. Philosophical Transactions 1726 und 1729.\n2)\tJean Paul de Gua de Malves: Recherches du nombre des racines r\u00e9elles ou imaginaires . . ., qui peuvent se trouver dans les \u00e9quations de tous les degr\u00e9s, publicirt 1741. M\u00e9m. Par.","page":655},{"file":"p0656.txt","language":"de","ocr_de":"656\nWalter Brix.\nAber auch Euler, wiewohl er die imagin\u00e4ren Zahlen zu benutzen verstand wie keiner vor ihm, und wiewohl er die sch\u00f6nsten und folgenreichsten Entdeckungen aus ihnen zog, auch er vermeidet sorgf\u00e4ltig jede Untersuchung \u00fcber die Berechtigung seiner Operationen und die wahre Natur derselben1). Und denselben Standpunkt nahm die ganze folgende gro\u00dfe Entwicklung der Analysis ein. Man rechnete mit complexen Zahlen wie mit reellen, und konnte dies auch durchf\u00fchren, da sie sich in der That den gew\u00f6hnlichen Rechnungsvorschriften f\u00fcgten, man benutzte sie als ein sehr brauchbares H\u00fclfsmittel bei Operationen aller Art; aber niemals hat man sich \u00fcber die Zul\u00e4ssigkeit dieser Handlungsweise eine andere Rechenschaft abzulegen versucht als die, dass die erhaltenen Resultate richtig waren. Allm\u00e4hlich wie die negativen wurden thats\u00e4chlich auch die imagin\u00e4ren Zahlen recipirt, und man gew\u00f6hnte sich durch den vielfachen Gebrauch so an sie, dass man schlie\u00dflich ihre begrifflichen Schwierigkeiten ganz verga\u00df und sie ungeachtet ihrer formalen Entstehungsweise als gleichwerthig mit den realen Gr\u00f6\u00dfen betrachtete. Eine Untersuchung aber \u00fcber ihren wahren Charakter vermied man \u00e4ngstlich oder suchte, wo diese dennoch n\u00f6thig war, mit einigen allgemeinen Bemerkungen sich und andere schnell \u00fcber die Widerspr\u00fcche hinwegzut\u00e4uschen2).\nDa indessen die Schwierigkeiten, welche im Imagin\u00e4ren lagen, doch zu bedeutende waren, als dass sie sich auf die Dauer mit Worten h\u00e4tten beseitigen lassen, so musste man mindestens bestrebt sein, sie auf eine Weise zu heben, die an der Berechtigung dieses Begriffes, wenigstens in der Mathematik, keinen Zweifel mehr auf-kommen lie\u00df, wenn sie auch den Logiker nicht zufriedenstellen mochte. Alle Unklarheiten dieser Frage waren lediglich hervorgerufen durch die Unm\u00f6glichkeit, den complexen Zahlen diejenige Gleichstellung mit den \u00fcbrigen Zahlformen mathematisch zuzuerkennen, die man ihnen praktisch schon l\u00e4ngst stillschweigend einger\u00e4umt hatte, d. h. sie auch in wirklichen Gr\u00f6\u00dfenbeziehungen\n1)\tDie allgemeinen Bemerkungen in der \u00bbVollst\u00e4ndigen Anleitung zur Algebra\u00ab \u00a7 151, wo er Gelegenheit h\u00e4tte, sich hier\u00fcber n\u00e4her auszusprechen, beziehen sich auf etwas anderes.\n2)\tVgl. z. B. die unten Kapitel III, 2) mitgetheilten \u00bbconsid\u00e9rations g\u00e9n\u00e9rales\u00ab Cauchy\u2019s.","page":656},{"file":"p0657.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t657\nnachzuweisen. Wenn es daher gelang, eine solche anschauliche Bedeutung dennoch f\u00fcr sie aufzufinden, so mussten die bisherigen Bedenken als beseitigt gelten. Nun war ja aber schon das Negative, urspr\u00fcnglich ebenso widerspruchsvoll, von Descartes durch die Interpretation als Richtung einer Geraden in die Anschauung eingef\u00fchrt worden und hatte seitdem alles Wunderbare verloren. Der Versuch, das Complexe ebenfalls geometrisch zu deuten, brauchte daher von vorn herein nicht aussichtslos zu erscheinen.\nIn diesem Sinne hatte auch bereits Cardan die imagin\u00e4ren Zahlen als Seiten eines Quadrates dargestellt, das durch Subtraction eines gr\u00f6\u00dferen von einem kleineren entstanden w\u00e4re1), sich hierunter aber wahrscheinlich ebensowenig denken k\u00f6nnen wie seine Sch\u00fcler. Die Berufung auf eine negative Fl\u00e4che wurde daher auch sehr bald wieder fallen gelassen; und sie kann auch in der That nur zu einer ganz oberfl\u00e4chlichen Begr\u00fcndung des Imagin\u00e4ren f\u00fchren, wie sie sp\u00e4ter z. B. noch einmal Heinrich K\u00fchn versucht hat2). Ihre Unhaltbarkeit wurde daher auch bald erkannt, z. B. von Foncenex3), der statt dessen eine zweite, schon tiefere und bessere Veranschaulichung bef\u00fcrwortete. Eine solche hatte man n\u00e4mlich in der Ueberlegung gefunden, dass V\u2014 1 als geometrische Proportionale zwischen den Strecken + 1 und \u2014 1 aufgefasst werden k\u00f6nne und demgem\u00e4\u00df als eine Strecke von derselben L\u00e4nge, wie diese im Nullpunkt senkrecht zur reellen Zahlenachse aufgetragen werden m\u00fcsse, w\u00e4hrend dem \u2014 V\u2014 1 die entgegengesetzte Richtung zuzuweisen sei. Diese Idee ist sogar verh\u00e4ltniss-m\u00e4\u00dfig alt; denn schon Wallis hat sie vor 1693 ausgesprochen4). Dann haben ihr au\u00dfer Foncenex, Bu\u00e9e5 6) und schon fr\u00fcher, n\u00e4mlich seit 1786 nach dem Zeugniss Cauchy\u2019s5), Henri\n1)\tArtis magnae liber XXXVII demonstratio (p. 287).\n2)\tHeinrich K\u00fchn: Meditationes de quantitatibus imaginariis, construen-dis et radicibus imaginariis exhibendis. Novi Commentarii Academiae Petropoli-tanae III. 1753 p. 170.\n3)\tFoncenex: R\u00e9flexions sur les quantit\u00e9s imaginaires. Miscellana Taurinensia I. 1759 p. 122.\n4)\tWallis: Algebra, Capitel 66\u201469, der opera omnia von 1693 Band II.\n5)\tBu\u00e9e: M\u00e9moire sur les quantit\u00e9s imaginaires. Philosophical Transactions for 1806 p. 23\u201488.\n6)\tNouveaux exercices d\u2019analyse et de physique math\u00e9matique IV, p. 157.","page":657},{"file":"p0658.txt","language":"de","ocr_de":"658\nWalter Brix.\nDominique Truel ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Aber sie sind alle \u00fcber die ersten Anf\u00e4nge der Theorie nicht hinausgekommen.\nDerjenige, dem das Verdienst geb\u00fchrt, die Veranschaulichung des Imagin\u00e4ren zum ersten Mal im vollsten Umfange durchgef\u00fchrt zu haben, ist Arg and. Von derselben Auffassung der mittleren Proportionalit\u00e4t wie die bisher erw\u00e4hnten Forscher ausgehend, gab er zuerst 1806 die bekannte Darstellung des complexen Zahlengebietes in der Ebene und entwickelte hieraus die Gesetze der vier Species1). Der Inhalt seiner Arbeit blieb aber vorl\u00e4ufig unbekannt und erreichte erst einige Verbreitung infolge eines Priorit\u00e4tsstreites, welcher durch die Aufstellung derselben Theorie durch Fran\u00e7ais hervorgerufen war, und an welchem au\u00dfer den genannten noch Lacroix, Servois und Gergonne theilnahmen. Da dieser Streit f\u00fcr uns nur von untergeordnetem Interesse ist, kann er hier \u00fcbergangen werden2). Es gen\u00fcge deshalb die Bemerkung, dass in den citirten Arbeiten, namentlich in denen Argand\u2019s, bereits die ganze Darstellung des Complexen in der Ebene enthalten ist, so dass Hankel ihn mit Hecht den wahren Begr\u00fcnder derselben nennen kann3).\nAber auch dieser Streit wurde vergessen und die ganze Frage ruhte eine Zeit lang, bis sie durch die Arbeiten von Monrey4)\n1)\tArgand, Essai sur une mani\u00e8re de repr\u00e9senter les quantit\u00e9s imaginaires dans les constructions g\u00e9om\u00e9triques. Paris 1806.\n2)\tEine kurzgefasste Uebersicht \u00fcber denselben gibt Drobisch in seiner Abhandlung: Ueber die geometrische Construction der imagin\u00e4ren Gr\u00f6\u00dfen. Berichte \u00fcber die Verhandlungen der k\u00f6niglich s\u00e4chsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig aus dem Jahre 1848, II, p. 171. Leipzig 1849. Eine eingehendere Darstellung ist enthalten in der neuen Ausgabe: R. Argand, Essai sur une mani\u00e8re de repr\u00e9senter les quantit\u00e9s imaginaires dans les constructions g\u00e9om\u00e9triques. 2me \u00e9dition pr\u00e9c\u00e9d\u00e9e d\u2019une pr\u00e9face par M. J. Ho\u00fcel et suivie d\u2019un appendice contenant des Extraits des Annales de Gergonne, r\u00e9latifs \u00e0 la question des imaginaires. Paris 1874. \u2014 Die historische Vorrede von Ho\u00fcel ist auch abgedruckt im Bulletin des sciences math\u00e9matiques VII, p. 145\u2014151, Paris 1674. \u2014 Die Originalartikel finden sich in Gergonne\u2019s Annales de Math\u00e9matiques pures et appliqu\u00e9es und zwar: Argand, Band IV, p. 133\u2014147, V, 197 \u2014209. Fran\u00e7ais: IV, 61\u201471, 222\u2014227, 364\u2014366; Lacroix: IV, 367, Servois: IV, 228\u2014235; Gergonne in vielen Anmerkungen, z. B. IV, 71\u201473, 228-229, 231\u2014232, 367 etc.\n3)\tHankel: Complexe Zahlen p. 82. Vgl. auch hier weitere Literaturangaben.\n4)\tC. V. Monrey: La vraie th\u00e9orie des quantit\u00e9s n\u00e9gatives et des quantit\u00e9s pr\u00e9tendues imaginaires. Paris 1828.","page":658},{"file":"p0659.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entvvicklungsformen.\n659\nund Warren1) wieder in Fluss kam. Sie gehen beide ebenfalls noch von der Ansicht aus, dass V\u2014 1 als mittlere Proportionale zwischen + 1 und \u2014 1 zu betrachten sei. Eine derartige Auffassung tr\u00e4gt aber immer nothgedrungen den Begriff der Richtung in Verh\u00e4ltnisse hinein, in die er gar nicht passt, n\u00e4mlich in Proportionen2), und dieser Mangel kann selbst nicht durch die Vollkommenheit und innere Abgeschlossenheit der aus ihr gezogenen Resultate ersetzt werden. Deshalb musste sie auch bald der tieferen, noch heute in den Schulen gelehrten Begr\u00fcndung weichen, welche im wesentlichen schon ausgeht von der unmittelbaren Auffassung des complexen Zahlgebietes als einer zweifachen Mannigfaltigkeit. Die erste Ableitung dieser Art gab bekanntlich Gau\u00df3), indem er die complexe Zahlenebene durch Parallelverschiebung der reellen Zahlenachse zu sich selbst erzeugte. Es ist jedoch au\u00dferdem noch eine andere einfache Bildungsweise m\u00f6glich, n\u00e4mlich durch Drehung der reellen Achse um den Nullpunkt, und dies ist die letzte der hier zu erw\u00e4hnenden geometrischen Darstellungen. Sie wurde systematisch von B alla uff4), Scheffler5) und Drobisch6) entwickelt. \u2014\nHiermit ist das, was \u00fcber die Entwicklung der Lehre von den\n1)\tJohn Warren, Treatise on the Geometrical Representation of the Square\nRoots of Negative Quantities. Cambridge 1828. Considerations of the objections raised against the geometrical representation of the square roots of negative quantities, Philosophical Transactions for 1829, p. 241 and: On the geometrical representations of the powers of quantities, whose indices involve the square roots of negative quantities, ebenda p. 339.\ti\n2)\tDurch Hereinziehung negativer Zahlen in Proportionen hat schon D\u2019Alembert (im ersten Band der Opuscules math\u00e9matiques) ganz widersinnige Resultate erhalten.\n3)\tIn der bekannten Selbstanzeige der Theoria residuorum biquadratieorum, commentatio secunda, G\u00f6ttingische gelehrte Anzeigen 1831, abgedruckt in den gesammelten Werken Band II, p. 169\u2014178, Zweiter Abdruck, G\u00f6ttingen 1876.\n4)\tL. Ballauff, Beitr\u00e4ge zur systematischen Darstellung der allgemeinen Arithmetik, Grunert\u2019s Archiv f\u00fcr Mathematik und Physik V, 1844, p. 259\u2014 286, und Ueber die Potenzen mit imagin\u00e4ren Exponenten, ebenda VI, 1845, p. 409\u2014414.\n5)\tScheffler, Ueber das Verh\u00e4ltniss der Arithmetik zur Geometrie, insbesondere \u00fcber die geometrische Bedeutung der imagin\u00e4ren Zahlen. Braunschweig 1846.\n6)\tIn der auf p. 658 Anmerkung 2) citirten Abhandlung aus den Berichten der k\u00f6niglich s\u00e4chsischen Gesellschaft der Wissenschaften von 1848.\nWundt, Philos. Studien. Y.\t44","page":659},{"file":"p0660.txt","language":"de","ocr_de":"660\nWalter Brix.\ncomplexen Zahlen vom historischen Standpunkt aus gesagt werden kann, im wesentlichen ersch\u00f6pft. Denn der Nachweis, dass alle diese Veranschaulichungen, welche den gro\u00dfen praktischen Nutzen hatten, die Aufnahme des Imagin\u00e4ren in das Gebiet der Gr\u00f6\u00dfenlehre vollst\u00e4ndig durchzusetzen, auf einer gro\u00dfen logischen T\u00e4uschung beruhen, geh\u00f6rt nicht in diesen, sondern in den genetischen Theil. Wir verlassen deshalb hier die Betrachtung des Imagin\u00e4ren und wenden uns zu der letzten Erweiterung, die der Zahlbegriff erfuhr, zu den allgemeinen complexen Zahlen.\nBestrebungen einer neuen Ausdehnung des Zahlbegriffes machten sich nach Ueberwindung der Hauptschwierigkeiten in der Theorie des Imagin\u00e4ren naturgem\u00e4\u00df sehr bald geltend. Aber auch sie gingen anf\u00e4nglich von der Anschauung aus, da es sich zun\u00e4chst nur darum handelte, ein Zahlsystem f\u00fcr den Baum zu finden, wie das Complexe eines f\u00fcr die Ebene gewesen war. So glaubte schon\nArgand die dritte Einheit in V\u2014 1 gefunden zu haben1), was Servois2 3) freilich mit dem Nachweis widerlegte, dass diese\n71\nGr\u00f6\u00dfe, wie schon Euler gefunden, reell sei und gleich e~T gesetzt werden m\u00fcsse. Dagegen kam in England Hamilton nach langwierigen Untersuchungen2), die er im Verein mit den Br\u00fcdern John und Charles Graves unternahm, schlie\u00dflich zu der Aufstellung eines solchen Systems in den Quaternionen, welche allerdings eigentlich, da sie nur auf der Kugelfl\u00e4che operiren, ein System f\u00fcr den sph\u00e4rischen nichteuklidischen Baum bilden.\nIndessen stand die geometrische Darstellung der Quaternionen ihrem Werthe nach doch weit h\u00f6her, als die der gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen in der Ebene. Denn diese war lediglich eine Veranschaulichung der Zahl gewesen, jene muss aber umgekehrt als eine Unterwerfung der Anschauung unter den Zahlbegriff betrachtet werden. Hier war die Ebene dasjenige Element der gegenseitigen Beziehung, dessen vollkommen bekannte Eigenschaften dazu\n1)\tGergonne\u2019s Annalen IV, p. 146.\n2)\tEbenda p. 235.\n3)\tVgl. die Preface zu den Lectures on Quaternions, Dublin 1853. Die Theorie der Quaternionen ist au\u00dferdem niedergelegt in den posthumen, von W. E. Hamilton herausgegebenen Elements of Quaternions. London 1866.","page":660},{"file":"p0661.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische ZahlbegrifT und seine Entwicklungsformen.\t661\ndienen sollten, den schwankenden Begriff des Imagin\u00e4ren zu festigen; doit aber waren alle Ligentli\u00fcmlichkeiten der Quaternionen in sich schon genau untersucht, und die geometrische Bedeutung schien nur ein logisch nebens\u00e4chliches H\u00fclfsmittel der Methodik. Der gro\u00dfe Fortschritt, den dieses so wie alle neueren allgemeinen Zahlsysteme gegen\u00fcber den fr\u00fcheren aufweisen, besteht eben darin, dass man zum ersten Mal versucht ihre Berechtigung allein aus ihrer widerspruchsfreien Definition nachzuw'eisen, nicht aber aus der M\u00f6glichkeit, sie zur Anschauung zu bringen. Deshalb beschr\u00e4nken sich diese generellen Speculationen auch bald nicht mehr auf den Raum, sondern gehen weit dar\u00fcber hinaus und betrachten Zahlsysteme von beliebig vielen Einheiten.\nDie n\u00e4here Ausf\u00fchrung dieser sehr mannigfaltigen und verschiedenartigen Bestrebungen geh\u00f6rt nat\u00fcrlich nicht in den Rahmen der vorliegenden Arbeit ') ; f\u00fcr unsern Zweck gen\u00fcgt es, als allgemeinen Charakter dieser Periode die v\u00f6llige L\u00f6sung der Zahl von der Anschauung festgehalten zu haben, welche infolgedessen auch eine unanschauliche Methode der Bearbeitung erforderte. Eine solche abstracte Behandlung des Gegenstandes, welche sich eigentlich nur auf die jeweilige Definition des betreffenden Zahlsystems st\u00fctzen durfte und dessen Eigenschaften hieraus zwar nicht analytisch zu entwickeln, aber doch in ihrer Zul\u00e4ssigkeit zu bestimmen gezwungen war, verlangte nun aber vor allen Dingen eine ausgebildete Theorie der algebraischen Grund Verkn\u00fcpfungen. Denn da die Zahlen schlie\u00dflich doch nur als die Objecte der mit ihnen vorzunehmenden Rechenoperationen angesehen werden konnten, war eine Untersuchung der letzteren unumg\u00e4nglich nothwendig.\nIn der That ist die allm\u00e4hliche Bew\u00e4ltigung dieser scheinbar so einfachen Aufgabe in formaler LIinsicht eine der bedeutendsten Leistungen der neueren Mathematik. Freilich nehmen auch die diesbez\u00fcglichen Untersuchungen einen ziemlich langen Zeitraum ein. Ausgehend von Frankreich, wo sich Servois zuerst mit den Eigenschaften der Addition und Multiplication besch\u00e4ftigte1 2), verpflanzten\n1)\tWerthvolle Angaben dar\u00fcber, wenigstens bis 1867, gibt Hankel in den historischen Theilen seiner Theorie der complexen Zahlen.\n2)\tVon ihm r\u00fchren z. B. die Bezeichnungen distributiv und commutativ f\u00fcr die entsprechenden Eigenschaften der Addition und Multiplication her. Vgl. Gergonne\u2019s Annalen V, 1814\u201415, S. 93.\n44*","page":661},{"file":"p0662.txt","language":"de","ocr_de":"662\nWalter Brix.\nsich diese formalen Studien nach England. Hier wurde mehr oder weniger von allen Arithmetikem, insbesondere von Hamilton und George Peacock nebst dessen \u00bbCambridger Schule\u00ab die \u00bbsymbolische Algebra\u00ab bearbeitet und zu ziemlicher Vollendung gebracht. In Deutschland ruhte dagegen die Besch\u00e4ftigung mit den formalen Eigenschaften lange. Man hielt sich hier lieber an die geometrische Interpretation und ging auch \u00fcber die gew\u00f6hnlichen complexen Zahlen ungern hinaus, weil man sofort Gefahr gelaufen w\u00e4re, die Anschauung zu verlieren. Au\u00dfer der bekannten weitschweifigen Darstellung Ohm\u2019s\u2019) finden sich daher nur in wenigen Lehrb\u00fcchern, und auch hier nur vereinzelt Bestrebungen in dieser Richtung. Vor allen Dingen aber fehlt es \u00fcberall an einem einheitlichen System, einem durchgreifenden Princip der Behandlung. Denn die ber\u00fchrten Darstellungen werden, ausgehend von der anschaulichen Bedeutung der actuellen Addition und Multiplication, in ihrer formalen Verallgemeinerung derselben schlie\u00dflich immer von N\u00fctzlichkeitsgr\u00fcnden bestimmt. Eine ein wurfsfreie, vollkommen systematische Behandlung des Stoffes gab erst Hankel in der schon mehrfach citirten Theorie der complexen Zahlsysteme1 2), und ihm geb\u00fchrt auch das Verdienst, jenes gro\u00dfe durchgreifende Princip der Verallgemeinerung, welches unbewusst eigentlich auch schon allen fr\u00fcheren Arbeiten zu Grunde gelegen hatte, in dem \u00bbPrincip der Permanenz formaler Gesetze\u00ab3) gefunden zu haben, eine Form, in der es sich jetzt \u00fcberall eingeb\u00fcrgert hat.\nDiese \u00e4u\u00dferst allgemeine und einzig systematische Auffassung wurde nun aber erst m\u00f6glich gemacht durch abstracte Betrachtungen noch allgemeinerer Art, deren Besprechung uns bereits zum n\u00e4chsten Abschnitt \u00fcberleitet.\n1)\tOhm: Versuch eines vollkommen consequenten Systems der Mathematik. Berlin 1822, 2. Auflage 1829.\n2)\tDer vollst\u00e4ndige Titel dieses angezeichneten Werkes, das wir \u00fcberall kurz als: Hankel, Complexe Zahlen citiren, lautet: Vorlesungen \u00fcber die complexen Zahlen und ihre Functionen, I. Theil: Theorie der complexen Zahlsysteme, insbesondere der gemeinen imagin\u00e4ren Zahlen und der Hamilton\u2019schen Qua-ternionen nebst ihrer geometrischen Darstellung von Dr. Hermann Hankel. Leipzig 1867.\n3)\ta. a. O. p. 10.","page":662},{"file":"p0663.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformell.\n663\n3. Die Subsumtion des Begriffs der Zahl unter den der Mannigfaltigkeit.\nBei der Untersuchung der formalen arithmetischen Gesetze war man schon aufmerksam geworden auf gewisse Eigenschaften derselben. welche sich in der entsprechenden Form immer wiederholten. So stellten sich Addition und Multiplication sowohl als associativ wie als commutativ heraus; und diese Eigenschaften hatten sich zwar urspr\u00fcnglich unmittelbar aus der Anschauung ergeben, nahmen aber sp\u00e4ter bei den nicht mehr anschaulichen Zahlformen mehr und mehr den Charakter von Postulaten an und gewannen ein abstractes Aussehen, welches eine Ableitung derselben aus dem Wesen der Operationen heraus, wie sie bisher gefasst waren, unm\u00f6glich machen musste. Solche Beziehungen wiesen denn darauf hin, dass es \u00fcber diesen Operationen noch eine allgemeine Formenlehre, eine Discussion beliebiger formaler Verkn\u00fcpfungen geben k\u00f6nne, deren eventuelle Eigenschaften, so weit sie einer Bestimmung zug\u00e4ngig waren, auf die vier Species ein \u00e4hnliches Licht werfen w\u00fcrden, wie die moderne Raumtheorie auf die euklidische Geometrie.\nDer Gedanke einer solchen allgemeinen Formenlehre ist aber begreiflicherweise noch ziemlich neu. Wenn man die Idee dazu nicht schon in Leibnizens universeller Charakteristik sehen will1), so muss man gleich in die Mitte des letzten Jahrhunderts gehen, um ihre Anf\u00e4nge zu verfolgen. Dieselben sind, wie alle mathematischen Speculationen formaler Natur, in Englandzu suchen, wo sie einerseits zu der ziemlich abgeschlossenen mathematischen Logik f\u00fchrten, andererseits aber eine ganz abstracte, lediglich mit dem Begriff des Verkn\u00fcpfungselementes operirende Formenlehre in\u2019s Leben riefen2). Allein, so gro\u00dfe Verdienste um die Ausbildung der letztem die Engl\u00e4nder, namentlich Peacock und seine Schule, sich erworben haben, zu einem befriedigenden Abschluss haben sie nicht gelangen k\u00f6nnen. Denn selbst bei Hamilton, der die Algebra betrachtet: \u00bbas being no mere Art or Language, nor primarly\n1)\tVgl. Trendelenburg, Leibnizen\u2019s Entwicklung einer allgemeinen Charakteristik, Denkschriften der k\u00f6niglichen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Philosophische Abhandlung p. 53. Berlin 1856. Die Arbeit ist auch abgedruckt in Trendelenburg\u2019s historischen Beitr\u00e4gen III, p. 1 ff.\n2)\tSehr werthvolle Angaben \u00fcber diese Arbeiten gibt die Preface zu den Lectures on Quaternions von Hamilton, Dublin 1853.","page":663},{"file":"p0664.txt","language":"de","ocr_de":"664\nWalter Brix.\na Science of Quantity, but rather as the Science of Order in Progression\u00bb, d. h. als \u00bbScience of Pure Time\u00ab, kann von einem solchen noch nicht die Rede sein1).\nEinigerma\u00dfen vollst\u00e4ndig und umfassend wurde diese wichtige Theorie erst in Deutschland behandelt, wo zun\u00e4chst Grassmann eine allerdings g\u00e4nzlich unbeachtete Uebersicht \u00fcber dieselbe gab2). Gest\u00fctzt auf ihn f\u00fcgte aber dann Hankel seiner Theorie der complexen Zahlen eine ersch\u00f6pfende Darstellung des Gegenstandes hinzu3), und in dieser Bearbeitung ist die ganze, nat\u00fcrlich sehr inhaltsarme Theorie, so weit sie sich bisher als nothwendig erwies, so vollst\u00e4ndig enthalten, dass sp\u00e4tere Bearbeitungen ihr wenig oder gar nichts haben hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnen. Sie ist deshalb auch im wesentlichen unver\u00e4ndert in die Lehrb\u00fccher \u00fcbergegangen4). Die allgemeine Formenlehre, wenn auch naturgem\u00e4\u00df niemals vollst\u00e4ndig ersch\u00f6pft, darf daher f\u00fcr die Bed\u00fcrfnisse der Gegenwart als abgeschlossen gelten.\nIm Gegensatz dazu ist die zweite gro\u00dfe Oberdisciplin der Mathematik, die Mannigfaltigkeitslehre, noch im Werden. Der Gedanke, den Zahlbegriff in dieser Hinsicht unter einem allgemeineren Gesichtspunkt zu betrachten, findet sich \u00fcberhaupt zum ersten Mal\n1)\tDie citirte Stelle steht in dem Preliminary and Elementary Essay on Algebra as the Science of Pure Time, welcher vorausgeschickt ist der Theory of Gonjugate Functions, or Algebraic Couples \u2014 Transactions of the Royal Irish Academy, XVII, Part II (Dublin 1835), p.293\u2014422. Dieselbe Betrachtung wird in der Preface zu den Lectures on Quaternions fortgesetzt.\n2)\tIn seinem Werk: Die Ausdehnungslehre von 1844 oder die lineale Ausdehnungslehre. (Zweite, unver\u00e4nderte Auflage. Leipzig 1878, p. 1\u20149.) Wir werden dies Werk, wo es Vorkommen sollte, zur Unterscheidung von der Ausdehnungslehre von 1862, kurz citiren als: Ausdehnungslehre von 1844.\n3)\tComplexe Zahlen S. 18-\u201429.\n4)\tDie Anzahl derselben ist allerdings nicht gro\u00df. Zu denen, welche dem Verfasser bekannt geworden sind, geh\u00f6ren z. B. Schr\u00f6der, Lehrbuch der Arithmetik und Algebra. Leipzig 1873. Otto Stolz, Vorlesungen \u00fcber allgemeine Arithmetik. I. Theil. Leipzig 1885, p. 25\u201442 und Giuseppe Peano: Calcolo geometrico secondo 1\u2019Ausdehnungslehre di H. Grassmann. Torino 1888. Hier ist der Darstellung des eigentlichen Gegenstandes ein allerdings mehr logisch gehaltener Abschnitt vorausgeschickt \u00fcber die Operazioni della logica deduttiva, p. 1\u201420. Von demselben Autor ist j\u00fcngst erschienen : Arithmetices principia nova methodo exposita a Joseph Peano Augustae Taurinorum 1889. Diese Schrift ist gleichfalls auf die allgemeine Formenlehre begr\u00fcndet.","page":664},{"file":"p0665.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entvvicklungsformen.\t665\nbei Gau\u00df'). Dann kommen vielfach vereinzelte Bemerkungen desselben Charakters sowohl bei ihm wie bei mehreren zeitgen\u00f6ssischen Schriftstellern vor; indessen ist eine wirklich wissenschaftliche Bearbeitung des Gegenstandes erst Riemann zuzusprechen, welcher in seiner Habilitationsschrift1 2) denselben allerdings mehr mit R\u00fccksicht auf seine Bedeutung f\u00fcr die Geometrie untersuchte. Vorzugsweise das geometrische Interesse bestimmte dann auch die vielen, von Riemann angeregten Einzeluntersuchungen, wie sie z. B. bei Helmholtz sich finden3), sowie die ganz selbst\u00e4ndigen und unabh\u00e4ngigen Forschungen Grassmann\u2019s4); und am ausgedehntesten ist gegenw\u00e4rtig die geometrische Seite der Frage behandelt von Killing5).\nSo lange aber diese Theorie nur in Hinsicht auf ihre geometrische Anwendung studirt wurde, konnte ihre Bedeutung naturgem\u00e4\u00df auch nur eine partielle bleiben. Da sie indessen gleich von Anfang an mit dem Anspruch auftrat, nicht allein der Geometrie, sondern der gesammten Gr\u00f6\u00dfenlehre \u00fcbergeordnet zu sein, so musste sie nothwendig von jener losgel\u00f6st und um ihrer selbst willen der Behandlung unterworfen werden. Nun wird es allerdings auch unserer modernen Abstraction, ob sie gleich vor den weitgehendsten Speculation en nicht mehr zur\u00fcckschreckt, auf die Dauer doch allzuschwer, lediglich mit Begriffen und Verh\u00e4ltnissen ohne jeden realen Inhalt oder mit leeren schematischen Beziehungen zu operiren, ohne diesen irgend ein Substrat unterzulegen; und deshalb ist die Weiterentwicklung der Mannigfaltigkeitslehre auch stets an Gr\u00f6\u00dfenoder Zahlverh\u00e4ltnisse angelehnt geblieben. Aber diese Anpassung blieb immer nur eine rein \u00e4u\u00dferliche Beziehung, eine Concession, die man der Bequemlichkeit des Denkens machte, ohne doch die\n1)\tIn der schon citirten Anzeige, Werke II, p. 176.\n2)\tUeber die Hypothesen, welche der Geometrie zu Grunde liegen. G\u00f6ttingen 1854, abgedruckt in den Gesammelten Werken Riemann\u2019s, Leipzig 1870, p. 254.\n3)\t\u00bbUeber die thats\u00e4chlichen Grundlagen der Geometrie\u00bb. Helmholtz, Wissenschaftliche Abhandlungen II, Leipzig 1883, p. 609, und \u00bbUeber die That-saehen, die der Geometrie zu Grunde liegen\u00ab, ebenda p. 618.\n4)\tIn den beiden Ausdehnungslehren von 1844 und 1862.\n5)\tW. Killing: Die nicht-euklidischen-Raumformen in analytischer Behandlung. Leipzig 1885.","page":665},{"file":"p0666.txt","language":"de","ocr_de":"666\nWalter Brix.\nAllgemeinheit der Betrachtung dabei aufzugeben. Denn es ist in jedem Augenblick gestattet, von den greifbaren geometrischen oder arithmetischen Verh\u00e4ltnissen ohne Schwierigkeit wieder zu den universelleren Mannigfaltigkeitsbegriffen \u00fcberzugehen. Die Unselbst\u00e4ndigkeit der sp\u00e4teren Theorie ist also nur eine scheinbare, und wir k\u00f6nnen in ihr thats\u00e4chlich die wahre, vom Entwicklungsgang der Mathematik geforderte allgemeine Mannigfaltigkeitslehre sehen.\nDie Ausbildung dieser Disciplin ist fast ausschlie\u00dflich das Verdienst eines einzigen Mannes. Denn wenn man auch schon bei Grassmann bedeutende Fortschritte in der Allgemeinheit erblicken kann, so ist eine wirklich eingehende und erfolgreiche Bearbeitung der Theorie doch erst G. Cantor gelungen; und alles, was von andern in dieser Richtung geleistet ist, bezieht sich ausschlie\u00dflich auf seine DarlegungenJ). Auf die positiven Resultate seiner Untersuchungen einzugehen, ist hier nicht der Ort, wir m\u00fcssen in dieser Beziehung auf die Originalarbeiten verweisen1 2). Denn f\u00fcr unsern Zweck kommt es weniger auf den Grad der Ausbildung an, welche diese Theorie bereits erlangt hat, als vielmehr auf den allgemeinen\n1)\tHierhin sind z. B. zu rechnen die Aufs\u00e4tze von Bendixson, Acta mathematical!, p. 415\u2014429, Mittag-Leffler, ebenda, IV, p. 1\u201479; Phrag-m\u00e9n, ebenda, V, p. 47\u201448 und VII, 43\u201448; Scheeffer, ebenda, V, p. 183 bis 194 und 279\u2014296. Von Cantor beeinflusst sind auch die functionentheoretischen Untersuchungen von P. Du Bo is-Reymond in Kronecker-Weierstass\u2019 Journal f\u00fcr die reine und angewandte Mathematik: Band 79, S. 21\u201437, 38\u201466, 259\u2014262 und Band 100, S. 331\u2014358, sowie sein Werk: Die allgemeine Func-tionentheorie, erster Theil, T\u00fcbingen 1882.\n2)\tDiese sind allerdings sehr zerstreut. Die haupts\u00e4chlichsten derselben, soweit sie dem Verfasser bekannt geworden sind, finden sich an folgenden Stellen: Borchardt\u2019s Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik. Band 72, S. 130\u2014138 und 139\u2014142, Band 73, S. 294\u2014296, Band 77, S. 258\u2014262, Band 84, S. 242\u2014258, ferner: Mathematische Annalen IV, S. 139\u2014143, V, S. 123\u2014132, 133\u2014134, XV, 1\u20147, XVI, 113-114, 267\u2014269, XVII, 355\u2014358, XIX, 58S\u2014594, XX, 113 \u2014 121, XXI, 51\u201458, 545\u2014591 (die letztere ist die wichtigste und alles zusammenfassende Arbeit der ganzen Reihe), endlich XXIII, S. 453\u2014488. Die bisher citirten Arbeiten sind auch \u00fcbersichtlich zusammengestellt und in\u2019s Franz\u00f6sische \u00fcbertragen: Acta mathematica II, p. 305\u2014408. Dieselbe Zeitschrift enth\u00e4lt ferner noch die neuen Aufs\u00e4tze: II, S. 409\u2014414, IV, 381\u2014392, VII, 105\u2014124. Andre Arbeiten stehen in der Zeitschrift f\u00fcr Philosophie und philosophische Kritik, Band 91, S. 81 und 252. Eine klare summarische Darstellung der Cantor\u2019schen Theorie hat Kerry gegeben: Vierteljahrschrift f\u00fcr wissenschaftliche Philosophie IX, S. 191.","page":666},{"file":"p0667.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\t667\nGedanken, welcher ihr zu Grunde liegt, d. h. auf ihren Anspruch, die oberste Disciplin der gesammten Mathematik zu sein, ein Anspruch, der in der That berechtigt ist. Da n\u00e4mlich eine jede mathematische Untersuchung sich mit der Verkn\u00fcpfung irgend welcher Elemente besch\u00e4ftigt, so muss selbstverst\u00e4ndlich sowohl eine allgemeine Theorie der m\u00f6glichen Verkn\u00fcpfungen wie eine solche der Elemente, als der Beziehungssubstrate f\u00fcr die Operationen, an ihre Spitze gestellt werden. Jene liefert aber die Formen-, diese die Mannigfaltigkeitslehre; und beide sind offenbar von vornherein so bestimmt, dass sie alle specielleren Begriffe der Mathematik umfassen. Dann muss es aber jedenfalls auch m\u00f6glich sein, diese specielleren Begriffe lediglich durch Determination aus den allgemeinen wieder abzuleiten. Es wird demnach noch eine zweite, und zwar die wissenschaftliche Erzeugungsweise der Zahlen geben, welche sie allein durch eine derartige successive Determination aus dem obersten Gattungsbegriff, dem der Mannigfaltigkeit gewinnen lehrt. W\u00e4hrend der bisherige historische Entwicklungsgang mit H\u00fclfe von Abstractionen, Inductionen, Analogieschl\u00fcssen u. s. w. vom Concreten zum Abstracten, vom Besondern zum Allgemeinen vorschritt, wird diese systematische Darstellung, auf die allgemeinen logischen Principien der Classificirung sich st\u00fctzend, ungef\u00e4hr denselben Weg, nur umgekehrt zur\u00fccklegen und so der historischen die logische Entwicklung gegen\u00fcberstellen.\nDa die letztere nat\u00fcrlich in wissenschaftlicher Beziehung viel h\u00f6her steht, als die erstere, darf sie in unsrer Untersuchung nicht \" fehlen. Andererseits aber k\u00f6nnte man die Frage aufwerfen, ob die historisch gegebene Ausbildung des Zahlbegriffes denn weit genug gediehen sei, um einen Begriff liefern zu k\u00f6nnen, welcher wirklich alle bisher bekannten Zahlformen umfasse. Diese Frage muss man jedoch bei dem heutigen Stande der Wissenschaft wohl bejahen. Denn einerseits ist in der v\u00f6llig voraussetzungslosen Mannigfaltigkeit ein Begriff gewonnen, der einem andern mathematischen kaum noch wird subsumirt werden k\u00f6nnen, andererseits aber lassen sich auch alle Zahlenverkn\u00fcpfungen als Specialisirungen der allgemeinen Formenlehre betrachten. Wenn es daher gleich an streng durchgreifenden Determinationsprincipien und Eintheilungsgr\u00fcnden im einzelnen noch fehlen mag, in gro\u00dfen Umrissen ist eine logische","page":667},{"file":"p0668.txt","language":"de","ocr_de":"668\nWalter Brix.\nEntwicklung des ZahlbegrifFs heutzutage schon ausf\u00fchrbar. Die Darstellung derselben muss aber erst dem dritten Theil dieser Arbeit Vorbehalten bleiben, da es vorher unbedingt nothwendig ist, sich \u00fcber die erkenntnisstheoretisch-logische Natur der hierher geh\u00f6rigen Begriffe und Operationen klar zu werden, wenn man nicht den logischen Zusammenhang mit der Gesammtentwicklung der Wissenschaft verlieren will. Wir wenden uns deshalb jetzt zu unsrer eigentlichen Aufgabe, zu der genetischen Entwicklung des Zahlbegriffs1), um auf diese dann in gro\u00dfen Umrissen die logische folgen zu lassen.\nZweites Kapitel.\nDie psychologischen Formen des Zahlbegriffs.\n1. lieber die Nothwendigkeit einer psychologischen Grundlage f\u00fcr die genetische\nUntersuchung.\nWir hatten uns im vorhergehenden Theile bem\u00fcht, in gro\u00dfen Z\u00fcgen ein Bild der historischen Entwicklung des Zahlbegriffs zu entwerfen, indem wir allein den Fortschritten der mathematischen Bearbeitung folgten. Logische Fragen waren dabei immer nur insoweit ber\u00fccksichtigt, als sie f\u00fcr die F\u00f6rderung der Arithmetik wirklich von Bedeutung waren. Diese Bedeutung ist in den meisten F\u00e4llen mehr eine negative gewesen, insofern die begrifflichen Untersuchungen die eigentlich arithmetischen Entwicklungen h\u00f6chstens hemmen konnten, wie sie ja z. B. gegen die formal so brauchbaren negativen und imagin\u00e4ren Zahlen immer neue Bedenken auffinden lie\u00dfen. Allerdings ist der Fortschritt in der formalen Behandlung hierdurch auf die Dauer doch niemals aufgehalten oder r\u00fcckg\u00e4ngig gemacht worden; und die Beseitigung der begrifflichen Schwierigkeiten ist ja im Grunde genommen f\u00fcr die Mathematik auch entbehrlich. Denn diese Wissenschaft operirt stets mit Begriffen, welche sie auf irgend eine Weise gewinnt und als fertig annimmt, ohne im weiteren Verlauf der Bearbeitung auf ihren Ursprung R\u00fccksicht zu nehmen. Alle sch\u00e4dlichen Gegens\u00e4tze m\u00fcssen sich dann fr\u00fcher oder sp\u00e4ter durch Widerspr\u00fcche in den Resultaten\n1) Derselben werden die drei folgenden Kapitel gewidmet sein.","page":668},{"file":"p0669.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwieklungsformen.\t669\nauffinden und entfernen lassen. Die Mathematik kl\u00e4rt ihre Begriffe haupts\u00e4chlich durch einen solchen Eliminationsprocess ; und die Deduction beh\u00e4lt immer dieselbe Strenge, wie erkenntnisstheoretisch werthlos bisweilen auch die Resultate sein m\u00f6gen.\nDer Grund f\u00fcr diesen Vorzug vor den \u00fcbrigen Wissenschaften ist in dem Umstand zu suchen, dass die mathematische Betrachtungsweise \u00fcberall nur die formalen Bestimmungen der Begriffe in\u2019s Auge fasst. Diese sind aber in der Regel v\u00f6llig eindeutig und widerspruchsfrei definirt, w\u00e4hrend allein der reale Inhalt unsicher und problematisch erscheinen kann.\nDagegen sind die Grundlagen und Voraussetzungen der Mathematik seit jeher Gegenstand des heftigsten Streites gewesen und bis auf den heutigen Tag geblieben. Von Anfang an stehen sich hier zwei diametral entgegengesetzte Grundanschauungen schroff gegen\u00fcber. Die eine sieht in den mathematischen Begriffen einen urspr\u00fcnglichen Besitzstand des menschlichen Geistes, der durch die ihm eigene logische Evidenz seine selbst\u00e4ndige Realit\u00e4t beweise, die andre hingegen leugnet jene Realit\u00e4t und fasst alles, was an der Mathematik exact ist, als erfunden auf, da es in Wirklichkeit \u00fcberhaupt nichts exactes gebe. Die Constanz aller formalen Beziehungen gilt der ersten Ansicht infolgedessen als ein urspr\u00fcngliches, untrennbar mit ihnen verbundenes Attribut, der zweiten als eine logisch nicht nothwendige, der Bequemlichkeit wegen hinzugef\u00fcgte Bestimmung der subjectiven Willk\u00fcr. Die erste Ansicht ist wesentlich apriorischer Natur, die zweite st\u00fctzt sich in der Regel auf empirische Voraussetzungen. Die erste endlich h\u00e4lt die Mathematik f\u00fcr ein von allen andern Wissenschaften unabh\u00e4ngiges Forschungsgebiet, w\u00e4hrend die zweite sie im Grunde genommen nur zu einem H\u00fclfsmittel der \u00e4u\u00dferen Erfahrung machen m\u00f6chte.\nBeide Grundrichtungen, f\u00fcr welche wir die von Wundt zuerst eingef\u00fchrte Bezeichnung des mathematischen Realismus und Nominalismus beibehalten*), haben sich des Zahlbegriffs als eines sehr\n1) Philosophische Studien I, S. 105 und Wundt, Logik II. (Stuttgart 1883) S. 85. In der That sind diese Bezeichnungen wohl passender als die von Du Bois-Reymond in seiner Allgemeinen Functionentheorie (T\u00fcbingen 1882) zu demselben Zweck eingef\u00fchrten W\u00f6rter: Idealismus und Empirismus, welche wir deshalb auch da vermeiden, wo wir auf das citirte Werk zur\u00fcckkommen","page":669},{"file":"p0670.txt","language":"de","ocr_de":"670\nWalter Brix.\ndankbaren Objectes der Speculation schon sehr fr\u00fch bem\u00e4chtigt, ihn nach den verschiedensten Seiten bearbeitet und zu den mannigfachsten Theorien benutzt, ohne es doch zur v\u00f6lligen Klarheit zu bringen. Der Grund daf\u00fcr ist ein doppelter. Einmal n\u00e4mlich treten sie eigentlich niemals ganz rein auf, sondern sind \u00fcberall mehr oder weniger mit einander vermischt, und zweitens hat es keine von ihnen vermocht, die Frage vollst\u00e4ndig vorurtheilsfrei zu behandeln. Denn fast alle diesbez\u00fcglichen, systematisch ausgebildeten Bearbeitungen \u2014 und solche k\u00f6nnen wir hier nat\u00fcrlich nur in\u2019s Auge fassen \u2014 sind basirt auf die alten dogmatischen Grundannahmen der vorkritischen Philosophie; alle f\u00fchren sie daher fr\u00fcher oder sp\u00e4ter einmal auf logische Widerspr\u00fcche. Der Nachweis, dass diese Behandlungsart unzul\u00e4ssig sei, ist ja das gro\u00dfe Verdienst Kant\u2019s. Aber die neue Grundlage, auf welche er dann sein System aufbaute, die Transcendentalphilosophie, leistet ebenfalls nicht, was sie versprach. Denn auch sie leitet die transcendentalen Grundformen nicht eigentlich aus bekannten Bewusstseinserscheinungen ab, sondern stellt sie sogleich als fertig gegeben hin und construirt so schlie\u00dflich in leeren Schemen, die dem wirklichen Zahlbegriff keineswegs mehr ad\u00e4quat sind. Dieser Misserfolg lehrt daher, dass es durchaus unerl\u00e4sslich ist, wenn man nicht unwahre Formen den gesunden Realbegriffen substituiren will, auf den wirklichen Ursprung der Begriffe zur\u00fcckzugehen und sie bis in ihre ersten Wurzeln zu verfolgen. Diese Aufgabe vermag aber allein die psychologische Behandlung zu l\u00f6sen.\nWenn daher in der Philosophie sich heutzutage mehr und mehr das Bestreben geltend macht, die transcendentalen Grundlagen der Erkenntnisstheorie durch psychologische zu ersetzen, so ist in unserm Fall ein Zur\u00fcckgehen auf die letzten psychologischen Momente des Zahlhegriffs doppelt nothwendig. Denn erstens k\u00f6nnte man ohne das nie auf einen wirklich vorurtheilsfreien Standpunkt gelangen,\nsollten. \u2014\u25a0 Das Wort Realismus ist hier nat\u00fcrlich auch in einem ganz andern Sinne gebraucht als bei Cantor (in den Mathematischen Annalen XXI, S. 561 und 588), der es nur als eine Bezeichnung f\u00fcr die gew\u00f6hnlich als Positivismus benannte Richtung angewendet hat. (Letztere hat sogar rein nominalistische Anschauungen herausgebildet.) Dagegen hat Cantor mit seiner Unterscheidung von intrasubjectiver oder immanenter und transsubj ectiver oder transienter Realit\u00e4t (an derselben Stelle) offenbar etwas \u00e4hnliches im Sinne.","page":670},{"file":"p0671.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n671\nund zweitens vermag man im Besitz solcher fester Grundlagen leicht zu erkennen, wie in der That weitaus die meisten Fehler in den fr\u00fcheren Auffassungen zur\u00fcckzuf\u00fchren sind auf eine Vernachl\u00e4ssigung oder Verkennung eben dieser psychologischen Elemente der BegrifFsbildung. Andererseits aber wird die Bef\u00fcrchtung, dass man durch Fixirung eines von vorn herein fest bestimmten Standpunktes, von dem aus alle einschl\u00e4gigen Ansichten beurtheilt werden sollen, wieder in die Einseitigkeit der alten dogmatischen Auffassung zur\u00fcckverfallen k\u00f6nne, in unserm Fall gegenstandslos. Denn jene alte Behandlungsweise geht ja allerdings auch aus von Evidenzen, und zwar solchen logischer Natur, und ihr Fehler besteht im Avesentlichen darin, dass sie diese durch eine mehr oder weniger versteckte ontologische Speculation in objective Realit\u00e4ten umsetzt; die psychologische Betrachtung hingegen appellirt nur an solche Beziehungen, welche zugleich evident und unmittelbar real sind, n\u00e4mlich an die Thatsachen des Bewusstseins.\nWir werden daher das vorliegende Kapitel der psychologischen Behandlung der Frage widmen, uin im dritten die erkenntniss-theoretische Untersuchung folgen zu lassen, welche dann die positiven Restbestandtheile f\u00fcr die im vierten zu behandelnden Zahlformen liefern wird.\n2. Die Zahl der Raumanschauung.\nWie weit auch die Anschauungen \u00fcber das Wesen der Zahl auseinander gegangen sein m\u00f6gen, es d\u00fcrfte heutzutage Avohl Avenig Mathematiker oder Philosophen geben, welche sie nicht aus der Wahrnehmung gleichartiger, r\u00e4umlich getrennter Gegenst\u00e4nde hervorgehen lie\u00dfen. Freilich Avird diese erste, primitive Form vielfach \u00fcbersehen und direct mit der, Aveiter unten zu besprechenden Zahl der Zeitanschauung zusammengeworfen; dennoch stellt sie aber ein durchaus heterogenes und selbst\u00e4ndiges Stadium in der genetischen EntAvicklung dar. Allerdings ist die Zahl auf dieser Stufe noch kein Begriff. Dazu fehlt ihr vor allen Dingen die erforderliche Constanz der Bestimmungen. Sie ist vielmehr nichts weiter als ein gewisses Schema der Wahrnehmung, eine Art Anschauungsform im kantischen Sinne. Denn sie haftet noch v\u00f6llig an den Gegenst\u00e4n-","page":671},{"file":"p0672.txt","language":"de","ocr_de":"672\nWalter Brix.\nden der Wahrnehmung, d. h. man z\u00e4hlt auf dieser Stufe der Ausbildung nicht drei, vier oder f\u00fcnf, sondern etwa drei H\u00e4user, vier Pferde u. s. w. Deshalb erfordert sie auch noch keinerlei Abstraction, sondern besteht lediglich, wie Du Bois-Reymond es ausdr\u00fcckt: in der \u00bbVorstellung von dem Getrenntsein der Wahrnehmungsgegenst\u00e4nde\u00ab1). Sie deckt sich also nahezu mit der Raumanschauung, da der Raum gerade durch die einzelnen Gegenst\u00e4nde bestimmt erscheint, die in der Zahlvorstellung zusammengefasst werden.\nDie F\u00e4higkeit, solche Vorstellungen zu vollziehen, muss man daher wohl den meisten h\u00f6heren Organismen zugestehen \u2014 vielleicht w\u00e4re die Vermuthung nicht ganz grundlos, dass sie an das Sehverm\u00f6gen gebunden ist \u2014 denn auch Thiere setzen sich, wie Du Bois-Reymond hervorhebt2 3), gegen mehrere Feinde anders zur Wehr als gegen einen Hund, \u00bbauch die Ente z\u00e4hlt\u00ab2), wie Hankel betont, \u00bbihre Jungen\u00ab4).\nDer Umfang der so gewonnenen Zahlen kann allerdings nur ein sehr geringer sein. Denn da die Zahl hier nur als Bestimmung gilt f\u00fcr den Raum der jeweiligen Wahrnehmung, der Mensch aber im allgemeinen nur eine relativ geringe Anzahl in der Vorstellung festhalten kann5), so k\u00f6nnen als ungleich auch nur die Zahlen bis etwa zur sechs zum Bewusstsein kommen, ein Umfang, der f\u00fcr die praktischen Bed\u00fcrfnisse nat\u00fcrlich nicht lange ausreichte. Eine Erweiterung des Zahlgebietes auf dem Wege der bisherigen Entstehungsart ist aber durch die Beschr\u00e4nkung des VorstellungsVerm\u00f6gens ganz unm\u00f6glich gemacht. Will man also dennoch zur Bildung neuer Zahlen fortschreiten, so muss man nothwendig auf eine unmittelbare Vorstellbarkeit derselben verzichten.\n1)\tAllgemeine Functionentheorie S. 16.\n2)\tEbenda S. 19.\n3)\tAn ein eigentliches bewusstes Z\u00e4hlen ist dabei nat\u00fcrlich nicht zu denken.\n4)\tHankel: Geschichte der Mathematik S. 7.\n5)\tDu Bois-Reymond (Allgemeine Functionentheorie S. 18) sch\u00e4tzt sie auf f\u00fcnf bis sieben. In der That d\u00fcrfte es auch schon ziemlich schwierig sein, auf einen Blick, d. h. ohne wirkliches Z\u00e4hlen, sechs B\u00e4ume von sieben zu unterscheiden oder etwa ein Siebeneck in der Vorstellung festzuhalten, obschon man es wohl durch Uebung viel weiter bringen kann. Man denke etwa an die sogenannten Blindlingspartien der bedeutenderen Schachmeister.","page":672},{"file":"p0673.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen.\n673\n3. Die Zahl der Zeitanschauung oder Anzahl.\nMit diesem Schritte beginnt aber bereits die Abstraction und damit die Bildung des eigentlichen Zahlbegriffs. Will man gr\u00f6\u00dfere Mengen abz\u00e4hlen, als man mit einem Blick \u00fcberschlagen kann, so ist dies nur m\u00f6glich durch eine successive Zusammenf\u00fcgung von Einheiten. Hier kommt also als neues Moment die Zeit hinzu, weil die Einheit offenbar die genetische Grundlage f\u00fcr diesen Zahlbegriff abgeben muss. Was ist nun aber die Einheit?\nDie Antworten auf diese Frage sind sehr verschieden ausgefallen. Euklid definirt z. B. : ftov\u00e4g toxi, \u25a0/.ad\u2019 rjv sy.uaxov r\u00fcv ovxtav sv X\u00e9yexai1), Locke fasst sie als die allgemeinste Idee, Hume als einen physikalischen Punkt, Berkeley leugnet ihre Existenz \u00fcberhaupt u. s. w.\nThatsache ist jedenfalls, dass wir im Stande sind, alles \u00fcberhaupt Denkbare auch als Einheit zu denken; das liegt ja bereits, wie man immer das xata interpretiren m\u00f6ge, in der euklidischen Definition. Schon dieser Umstand weist darauf hin, dass die Einheit und Zahl keine objective Eigenschaft der Dinge sein kann, wie das noch vielfach heutzutage, namentlich vom Positivismus und verwandten Richtungen, gelehrt wird. Der Begriff der Einheit muss deshalb nothwendig in unserm Bewusstsein seine Wurzel haben. Denn wenn wir nicht unserm Denken die F\u00e4higkeit zuschreiben, irgend etwas als Einheit aufzufassen, bleibt schlechthin unerkl\u00e4rlich, wie wir \u00fcberhaupt diesen Begriff bilden konnten. Demnach ist die Einheit also jedenfalls eine Form der Apperception, ja, wie wir sogleich hinzuf\u00fcgen k\u00f6nnen, auch nichts weiter als das ; wir m\u00fcssen ihr \u00fcberhaupt jedes objective Merkmal absprechen. Denn wenn wir irgend einen Gegenstand als Einheit auffassen, kommt es uns auf diesen Gegenstand selbst ganz und gar nicht an, sondern einzig und allein auf den Willensact, verm\u00f6ge dessen wir ihn im Bewusstsein festhalten. Es liegen im empirisch gegebenen Ding wohl Momente, die uns \u00f6fter veranlassen, es als einheitlich zu betrachten, diese sind aber durchaus nicht zwingend. Man kann z. B. einen\n1) Elemente VII, 1-","page":673},{"file":"p0674.txt","language":"de","ocr_de":"674\nWalter Brix.\nMenschen ebensowohl als Glied der Gesellschaft, wie als selbst\u00e4ndiges Wesen, als Inbegriff seiner Gliedma\u00dfen, wie als Zellenstaat, d. h. als Bruchtheil, Einheit, endliche oder empirisch-unendliche Summe auffassen, und nichts zwingt uns, eine von diesen Betrachtungsweisen im allgemeinen vor den andern zu bevorzugen.\nDer Begriff der Einheit ist also jedenfalls v\u00f6llig subjectiv und entsteht offenbar, indem man hei irgend einem Apperceptionsacte von dem Inhalt des Appercipirten ganz abstrahirt. Denn w\u00fcrden die ohjectiven Merkmale nicht vollst\u00e4ndig eliminirt, so m\u00fcsste es ja, da man diesen Begriff doch aus jedem beliebigen Denkinhalt ab-strahiren kann, unendlich viel verschiedene Formen der Einheit gehen, w\u00e4hrend diese doch unleugbar ein absolut bestimmter, mathematisch-constanter Begriff ist.\nDie obige Definition der Einheit als des vom Inhalt des Appercipirten vollst\u00e4ndig abstrahirenden Apperceptionsactes involvirt nun bereits eine psychologische Unm\u00f6glichkeit und ist v\u00f6llig logischen Charakters. Denn die hierbei in Anwendung kommende Abstraction ist schon eine solche, welche Wundt als mathematische bezeichnet hat '). Indem man n\u00e4mlich \u00bbvon allen denjenigen Elementen der Vorstellung\u00ab abstrahirt, \u00bbwelche im Object ihre Quelle haben\u00ab, bleibt als einziger Best die subjective Denkth\u00e4tigkeit, in unserm Fall also der Apperceptionsact seihst zur\u00fcck. Ein Ding wird daher, wie man es auch auszudr\u00fccken pflegt, als Einheit betrachtet, indem man es setzt. Denn in dem Begriff des Setzens liegt eben, dass man dabei nur den einzelnen subjectiven Denkact, d. h. nur diejenige Th\u00e4tigkeit in\u2019s Auge fasst, verm\u00f6ge deren man das Gesetzte ins Bewusstsein ruft, ohne doch auf dessen reale Natur irgendwie Werth zu legen.\nNun aber der einzelne Denkact als solcher Tr\u00e4ger der Einheit geworden ist, kann es keine Schwierigkeiten mehr machen, durch Zusammenfassung beliebig vieler Einheiten auch zu beliebig hohen Zahlen fortzuschreiten. Und da bei diesem Process ein Ding ein-, zwei-, dreimal u. s. w. gesetzt wird, so ist die Bezeichnung solcher Zahlen als positiver unmittelbar gegeben. Ihre Beihe ist nat\u00fcrlich unbegrenzt, da man durch wiederholte Hinzuf\u00fcgung neuer Denkacte immer h\u00f6here Zahlen bilden kann.\nl tr- \u25a0\n1) Wundt, Logik II, S. 108.","page":674},{"file":"p0675.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformell.\n675\nWenn nun aber auch dieser Process in Wahrheit nur in sehr geringem Ma\u00dfe zur Erzeugung der Zahlreihe benutzt wird, so liegt doch auf der Hand, dass die h\u00f6heren Zahlen nur deswegen geduldet sind, weil sie auf demselben Wege gebildet werden k\u00f6nnten. Das muss aber immer als ausf\u00fchrbar vorausgesetzt werden ; denn die Schranke, welche die Unm\u00f6glichkeit der Vorstellung der Weiterbildung jener oben betrachteten primitiven Zahlen entgegenstellte, ist nun gefallen, da der beliebigen Wiederholung des einzelnen Denkactes eine obere Grenze nicht gesteckt erscheint. Hierdurch hat aber nat\u00fcrlich der neue Zahlbegriff ein von der fr\u00fcheren Zahlvorstellung wesentlich verschiedenes Aussehen erhalten. Dort erschien die Zahl lediglich als die Vorstellung einer Modification der Au\u00dfenwelt, hier als der Ausdruck einer subjectiven Gedankenth\u00e4tig-keit; dort ist sie das Erzeugniss eines mehr analytischen, hier das Resultat eines rein synthetischen Denkprocesses ; dort konnten nur mehrere, als verschieden aufgefasste Gegenst\u00e4nde gez\u00e4hlt werden, hier stellt sich die Z\u00e4hlung als mehrmalige Setzung eines und desselben Objectes dar \u2014 Object derselben aber kann werden, was immer in einheitlicher Apperception zu umspannen ist \u2014; dort verdankte sie ihre Entstehung der gleichzeitigen Wahrnehmung r\u00e4umlich getrennter Gegenst\u00e4nde, hier beruht sie, ohne \u00fcberhaupt eine r\u00e4umliche Anordnung in Betracht zu ziehen, in der zeitlichen Wiederholung desselben Denkactes. Mit andern Worten, die Zahl ist aus dem Gebiet der Wahrnehmung oder Vorstellung in das des Denkens, aus der \u00e4u\u00dferen in die innere Anschauung, aus dem Raum in die Zeit verpflanzt worden; sie st\u00fctzt sich, als der \u00bbab-stracte Ausdruck der discursiven Gesetzm\u00e4\u00dfigkeit des Denkens\u00ab '), ganz auf die Zeit.\nDiese Grundlage ist aber nur eine psychologische, nicht, wie viele gemeint haben, eine logische1 2). Denn weder ist die zeitliche Folge der Denkacte f\u00fcr ihre wissenschaftliche Bedeutung ma\u00dfgebend, noch ist die Zahl in diesem Stadium \u00fcberhaupt Gegenstand der logischen Untersuchung. Sie geh\u00f6rt eben nicht dem Inhalt, sondern\n1)\tWundt, Logik I, S. 469.\n2)\tWir anticipiren hier Bemerkungen, welche eigentlich erst in das n\u00e4chste Kapitel geh\u00f6ren, wohl ohne hei der Gel\u00e4ufigkeit der hier betrachteten Begriffe eine Verwirrung der Entwicklung bef\u00fcrchten zu m\u00fcssen.\nWundt, Philos; Studien. Y.\t4\u00f9","page":675},{"file":"p0676.txt","language":"de","ocr_de":"676\nWalter Brix.\ndem Mechanismus des Denkens, nicht der Logik, sondern der Psychologie an. Denn da sie allein zur praktischen Z\u00e4hlung der Objecte dient, ist sie auch nur gewisserma\u00dfen eine Form, ein H\u00fclfsmittel der Apperception. Die Sprache trennt daher auch diesen Zahlbegriff von allen h\u00f6heren und bezeichnet ihn als Anzahl.\nDie Anzahl, welcher demnach eine hervorragende logische Bedeutung durchaus abgesprochen werden muss, hat eben darum auch keine weiteren Wandlungen erfahren. Die einzige Ausbildung, xvelche ihr zu Theil wurde, betrifft ihren sinnlichen Ausdruck in Sprache und Schrift. Urspr\u00fcnglich wurde jede Anzahl durch die entsprechende Menge von Fingern versinnlicht. Da aber diese, selbst wenn man noch die Zehen zu H\u00fclfe nahm, bald nicht mehr ausreichten, wurde es nothwendig, allm\u00e4hlich nach andern Veranschaulichungen zu suchen, und so entstanden die Zahlw\u00f6rter und Ziffern, von denen die letzteren wohl urspr\u00fcnglich nur in der Anh\u00e4ufung von Strichen bestanden haben.\nDer Flauptschritt nun, der in der Vervollkommnung des Zahlsystems zu thun war, beruhte auf der Einf\u00fchrung neuer gr\u00f6\u00dferer Einheiten, welche, wie bekannt, \u00fcberall \u2014 und das verr\u00e4th ihren anschaulichen Ursprung \u2014 nach dem decimalen System geordnet wurden1). Dieses, bei der Abz\u00e4hlung gr\u00f6\u00dferer Mengen unentbehrliche H\u00fclfsmittel, die Zusammenfassung erheblicher Anzahlen in h\u00f6here Einheiten, hat seine Wurzel in der psychologischen M\u00f6glichkeit, eine Reihe von Positionen wieder als eine einzige zu betrachten. So schuf man ohne Schwierigkeiten eine ganze Reihe verschiedener Einheiten, derart, dass man mit ihnen jede vorkommende Anzahl bequem auszudr\u00fccken vermochte.\nLag nun eine gegebene Menge vor, deren Anzahl durch Z\u00e4hlung zu bestimmen war, so brauchte man in Wort oder Schrift nur anzugeben, wie oft eine jede der vorhandenen Einheiten in derselben enthalten war. Dies konnte systematisch nat\u00fcrlich nur so\n1) D. h. auf Grundlage der f\u00fcnf, zehn oder zwanzig. Vgl. hierzu z. B. A. v. Humboldt, Ueber die hei den verschiedenen V\u00f6lkern \u00fcblichen Zahlzeichen und \u00fcber den Ursprung des Stellenwerthes in den indischen Zahlen. Crelle\u2019s Journal f\u00fcr reine und angewandte Mathematik IV, S. 205. Pott, Die quin\u00e4re und vigesimale Z\u00e4hlmethode bei V\u00f6lkern aller Welttheile. Halle 1847. Conestabile, Alcune osservazioni sopra il sistema di numerazione presso i Berberi e gli Azt\u00e9chi e sopra i loro idiomi. Perugia 1866.","page":676},{"file":"p0677.txt","language":"de","ocr_de":"Der mathematische ZahlbcgrifF und seine Entwicklmigsformen.\t677\ngeschehen, dass man die Angabe zun\u00e4chst f\u00fcr die gr\u00f6\u00dfte in der Menge \u00fcberhaupt vorkommende Einheit machte, dann mit der n\u00e4chst kleinern in Bezug auf den Rest ebenso verfuhr u. s. w. ') W\u00e4hrend nun aber die Bezeichnungen f\u00fcr die Zahlw\u00f6rter mit wenigen Ausnahmen streng decimal sind, lie\u00dfen die Zahlzeichen in dieser Beziehung sehr viel zu w\u00fcnschen \u00fcbrig1 2). Einzig als brauchbar hat sich, wie schon oben erw\u00e4hnt, hier das indische Positionssystem mit dem ausgesprochenen Princip des Stellenwerthes erwiesen. In welcher Weise dies System durch die Einf\u00fchrung der Null m\u00f6glich gemacht wurde, ist bereits an andrer Stelle besprochen worden3). Es kann hier h\u00f6chstens von Interesse sein, noch einmal zu bemerken, dass der erste dort erw\u00e4hnte Nullhegritf nur anzeigt, dass die betreffende Einheit an der bezeichneten Stelle nicht zu setzen sei, also die Unterlassung eines Denkactes fordert und somit eine rein psychologische Bedeutung gewinnt.\nDa wir uns indessen hier schon mehr und mehr von dem Boden der eigentlichen Psychologie entfernt haben, andererseits aber eine so hohe Entwicklung der Zahlensymbole bereits eine bedeutende erkenntnisstheoretische Th\u00e4tigkeit und eine logische Betrachtung des Gegenstandes voraussetzt, so erscheint es nunmehr an der Zeit, den Begriff der Anzahl, welchen wir mit vollem Recht den psychologischen Zahlbegriff nennen k\u00f6nnen, zu verlassen und alles weitere der erkenntnisstheoretischen Besprechung des n\u00e4chsten Kapitels anheimzus teilen.\n1)\tNur die R\u00f6mer bestimmten bisweilen Anzahlen auch dadurch, dass sie die gegebene Menge nicht in den zur Verf\u00fcgung stehenden Einheiten aussch\u00f6pften, sondern angaben, wie viel man noch hinzuf\u00fcgen m\u00fcsse, um eine gr\u00f6\u00dfere Einheit zu erhalten. Sie n\u00e4herten sich also dem wirklichen Werth der zu z\u00e4hlenden Menge nicht allein von unten, sondern auch von oben und bildeten Zahlzeichen wie IV, IX, XL, Zahlw\u00f6rter wie Duodeviginti u. s. w. Zahlw\u00f6rter bilden bekanntlich auch die Griechen vereinzelt in \u00e4hnlicher Weise.\n2)\tVgl. au\u00dfer den auf der vorigen Seite citirten Schriften Hankel\u2019s und Cantor's Geschichten der Mathematik.\n3)\tKapitel I, 2.\n(Fortsetzung folgt im n\u00e4chsten Heft.)","page":677}],"identifier":"lit4175","issued":"1889","language":"de","pages":"632-677","startpages":"632","title":"Der mathematische Zahlbegriff und seine Entwicklungsformen, I","type":"Journal Article","volume":"5"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T12:45:24.679848+00:00"}