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{"created":"2022-01-31T14:04:54.554131+00:00","id":"lit4180","links":{},"metadata":{"alternative":"Philosophische Studien","contributors":[{"name":"Scripture, Eduard W.","role":"author"}],"detailsRefDisplay":"Philosophische Studien 7: 213-221","fulltext":[{"file":"p0213.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Definition einer Vorstellung.\nVon\nE. W. Scripture.\nZweck des vorliegenden Aufsatzes ist die Feststellung einer genauen und brauchbaren psychologischen Definition einer Vorstellung. Von vornherein ausgeschlossen sind daher alle Definitionen, welche irgend eine metaphysische, erkenntnisstheoretische oder auch psychologische Theorie explicite oder implicite bereits in sich aufgenommen haben. Metaphysische Erkl\u00e4rungen, nach welchen eine Vorstellung eine Bewegung oder Selbstentwicklung entweder der Seele oder materieller Atome ist, sind alle von hypothetischer Natur. Diejenigen Definitionen, welche eine Vorstellung als ein Abbild eines Au\u00dfendinges oder als einen einfachen Zustand der Seele bestimmen, in welchem diese ihren Gegensatz zu realen Substanzen au\u00dfer ihr zum Ausdruck bringe u. s. w., schlie\u00dfen au\u00dferdem eine Theorie des Erkenntnisswerthes der Vorstellung in sich und sind daher vom psychologischen Standpunkte aus ganz und gar unbrauchbar.\nDer Umfang des psychologischen Begriffs der Vorstellung ist oft ein sehr schwankender. Das eine Mal hei\u00dft jede psychische Thatsache eine Vorstellung, das andere Mal wird sie blo\u00df f\u00fcr diejenigen Zust\u00e4nde gebraucht, welche nicht Gem\u00fcthsbewegungen oder Willensimpulse sind; in noch andern F\u00e4llen wird die Bezeichnung von den Einen auf Erinnerungs- und Phantasiebilder im Unterschied von den Wahrnehmungen eingeschr\u00e4nkt, wogegen Andere sie auf aUe intellectuellen Thatsachen anwenden. Einige Psychologen","page":213},{"file":"p0214.txt","language":"de","ocr_de":"214\nE. VV. Scripture.\nbezeichnen selbst die Empfindungen als Vorstellungen, w\u00e4hrend nach anderen eine Vorstellung immer ein Complex von Empfindungen ist. Statt solcher Widerspr\u00fcche w\u00e4re es gewiss w\u00fcnschenswerth, eine genau ausgedr\u00fcckte Definition zu besitzen. Selbst wenn eine solche nicht allgemeine Anerkennung findet, wird es sicherlich von Nutzen sein, genau zu wissen, wie die eine Bedeutung von den anderen ab weicht.\nF\u00fcr uns sind alle Thatsachen entweder Erfahrungsthatsachen oder zwingende Schl\u00fcsse aus Erfahrungsthatsachen. Von den uns mittelbar bekannten physischen Thatsachen k\u00f6nnen wir nur vom Standpunkt unserer unmittelbaren Erfahrung sprechen; wir m\u00fcssen daher vorl\u00e4ufig eine Vorstellung gem\u00e4\u00df unserer unmittelbaren Erkenn tniss definiren.\nUnsere Gesammterfahrung besteht aus einzelnen Ereignissen; die weitere Zergliederung derselben ergibt deren Einheiten. F\u00fcr die Erfahrungseinheiten haben wir eigentlich keinen anderen Namen als den der \u00bbErfahrungsthatsache\u00ab. Descartes und Locke wandten das Wort \u00bbidea\u00ab zur Bezeichnung der einfachsten psychischen Gr\u00f6\u00dfe an. Diese Bedeutung ist aber nicht beibehalten worden, und \u00bbIdee\u00ab hat jetzt im Deutschen wie im allgemeinen im Englischen einen anderen Sinn angenommen. Die Bezeichnung \u00bbErfahrungsthatsache\u00ab ist jedoch vollkommen gen\u00fcgend; und zugleich erscheint es angemessen, f\u00fcr diese Erfahrungseinheiten noch nicht den Namen Vorstellung zu gebrauchen. Die erste Bestimmung der Bezeichnung \u00bbVorstellung\u00ab ist dann die, dass sie nicht mit \u00bbErfahrungsthatsache\u00ab identisch ist.\nIn den Erfahrungsthatsachen unterscheiden wir aber zwei Componenten, welche wir mit den Bezeichnungen \u00bbsubjectiv\u00ab und \u00bbobjectiv\u00ab belegen. Was \u00bbsubjectiv\u00ab und \u00bbobjectiv\u00ab bedeuten, ist hier nicht die Frage; sie definiren kann man nicht, man muss sie selbst erfahren, und ihre Entwickelung aus den elementarsten Thatsachen liegt au\u00dferhalb unserer Aufgabe. Alles was das Merkmal besitzt \u00bbObject zu sein\u00ab, soll der objectiven Seite der Erfahrung angeh\u00f6ren. Hiermit werden die Gem\u00fcthsbewegungen, namentlich die Gef\u00fchle und Willensimpulse, welche das Merkmal \u00bbSubject zu sein\u00ab tragen, von der Vorstellung ausgeschlossen. Es bleiben z'\u00abso f\u00fcr diese nur solche Thatsachen der Erfahrung \u00fcbrig, welche das Merkmal \u00bbObject","page":214},{"file":"p0215.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Definition einer Vorstellung.\t215\nzu sein\u00ab besitzen. Dieses Merkmal wollen wir in unsere Definition der Vorstellung aufnehmen.\nNun sind f\u00fcr die mit dem angegebenen Merkmal versehenen Thatsachen der Erfahrung zwei Bezeichnungen gebr\u00e4uchlich, n\u00e4mlich Empfindung und Vorstellung. In Bezug auf die erste herrscht im allgemeinen Uebereinstimmung: eine Empfindung ist ein nicht weiter zerlegbares Element. Hier haben wir eine Bezeichnung, welche, analog der in der Chemie gebrauchten \u00bbAtome\u00ab, die letzten Bestandtheile der Erfahrungsthatsachen bedeutet. Dabei macht sich aber die Nothwendigkeit von Bezeichnungen bemerkbar f\u00fcr die nicht elementaren Theile der Erfahrungsthatsachen, d. h. f\u00fcr die Zusammensetzungen der Empfindungen. F\u00fcr diesen Zweck wird nun die Bezeichnung \u00bbVorstellung\u00ab im allgemeinen gebraucht *). Eine Vorstellung ist also eine Combination von Empfindungen. In diesem Sinne entspricht \u00bbVorstellung\u00ab der Bezeichnung \u00bbMolek\u00fcle\u00ab, welche eine Combination von Atomen bezeichnet.\nNicht alle Combinationen aber kommen in der Wirklichkeit vor. Sauerstoff und Stickstoff sind in der Luft gemischt, aber sie bilden nicht Molek\u00fcle mit einander, sondern jeder dieser Stoffe bildet Molek\u00fcle f\u00fcr sich; unter geeigneten Umst\u00e4nden jedoch k\u00f6nnen sie zu Einheiten in Verbindung treten. Ebenso sind die Elemente unserer Erfahrung weder alle isolirt noch alle zu einer einzigen Vorstellung verbunden, sondern in gewisse Combinationen gruppirt. Z. B., es seien die Empfindungen a, b, c, d etc. als Erfahrungselemente vorhanden. Sie k\u00f6nnten vielleicht alle eine einzige Vorstellung gebildet haben; aber das thaten sie nicht, sondern sie waren in zwei, drei oder mehr Zusammensetzungen gruppirt. Was ist nun das Merkmal, wodurch wir entscheiden, dass aus einer Anzahl Elemente gewisse eher als andere eine Zusammensetzung, eine Vorstellung bilden?\n1) Ueber die Beziehung zwischen Vorstellung und Empfindung vgl. Wundt Bhys. Psych. I1 * 3, 289 : \u00bbAls Empfindungen sollen in der folgenden Darstellung diejenigen Zust\u00e4nde unseres Bewusstseins bezeichnet werden, welche sich nicht in\neinfachere Bestandtheile zerlegen lassen. Die mehr oder weniger zusammenge-\nsetzten Gebilde dagegen, zu denen sich stets die Empfindungen in unserm Bewusstsein verbinden, belegen wir mit dem Namen der Vorstellungen. \u00ab Gegen die Beschr\u00e4nkung von Empfindung auf die Ergebnisse unmittelbarer \u00e4u\u00dferer Sinnesreize siehe ebenda I, 292 und II, 2 Anmerk. 2.","page":215},{"file":"p0216.txt","language":"de","ocr_de":"216\nE. W. Scripture.\nAlle intellectuellen Vorg\u00e4nge bestehen aus einer gro\u00dfen Menge von Elementen, welche zu gewissen Verbindungen gruppirt worden sind. Beim Eintritt in ein Zimmer rufen die Gegenst\u00e4nde zahllose Empfindungen hervor. Welche Verbindungen soll man als Vorstellungen ansehen? Kann das Zimmer als Ganzes eine Vorstellung genannt werden? Soll man eine darin befindliche Person oder ihr Gesicht oder ihren Mund auch als Vorstellungen betrachten? Welches ist das Merkmal, wodurch man eine Vorstellung von einem Theil einer Vorstellung unterscheiden kann? Wie ist der Gesammt-inhalt des Bewusstseins in Bezug auf die Vorstellungen einzu-theilen?\nWenn es geschehen w\u00e4re, dass nach dem ersten Blick in das Zimmer alles weitere Hineinsehen irgendwie verhindert worden w\u00e4re, wie w\u00fcrde der Beobachter auf die Frage antworten, was er gesehen hatte? Sicherlich w\u00fcrde er \u00bbein Zimmer\u00ab sagen; nachher w\u00fcrde er vielleicht besondere Theile oder Eigenschaften speciell nennen, aber jedenfalls war das Zimmer die Vorstellung, und alle darin gesehenen Gegenst\u00e4nde haben als Theile die gesammte Vorstellung hervorgebracht. Die Gegenst\u00e4nde des Zimmers, welche so viele Empfindungen hervorriefen, wurden nicht als Gegenst\u00e4nde wahrgenommen ; sondern die Aufmerksamkeit war auf den Complex der Empfindungen als Ganzes gerichtet, d. h. auf das Zimmer als ein Zimmer sammt Zubeh\u00f6r.\nIn diesem Fall war der gesammte Eindruck die Vorstellung, aber wenn man eine l\u00e4ngere Zeit in das Zimmer hineinsieht, so \u00e4ndert sich dies. Im n\u00e4chsten Augenblick z. B. wird die Aufmerksamkeit auf eine im Zimmer befindliche Person gelenkt. Hierauf w\u00fcrde man seine Erfahrung als \u00bbein Zimmer und eiiy: Person\u00ab oder als \u00bb ein Zimmer mit einer Person darin\u00ab oder als \u00bbeine Person in einem Zimmer\u00ab bezeichnen. Wir haben es hier sicherlich mit zwei Vorstellungen zu thun, obwohl die zweite Vorstellung einer der Bestandtheile der ersten war.\nVielleicht unmittelbar nachher bemerkt man ein Bild im Zimmer, welches freilich gewisserma\u00dfen schon beim ersten Einblick gesehen wurde, aber ganz unbeachtet blieb. Dies ist auch eine Vorstellung, welche, nachdem sie als Theil zur Bildung der ersten Vorstellung functionirte, Selbst\u00e4ndigkeit bekommen hat.","page":216},{"file":"p0217.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Definition einer Vorstellung.\n217\nWenn man aber die Person l\u00e4nger betrachtet, so besteht die Vorstellung der Person nur einen Augenblick; man bemerkt z. B. sogleich ihr Gesicht, dann ihren Mund, schlie\u00dflich insbesondere die eigenth\u00fcmliche Form der Lippen. Dies alles hatte im ersten Augenblick Empfindungen erweckt, aber in jenem Zeitpunkt waren sie nur unbedeutende Theile des \u201cganzen Bildes. Sie waren gegenw\u00e4rtig, aber unbemerkt. Die ganze Person als Vorstellung hatte Gesicht, Mund und Lippen, aber diese besa\u00dfen den Charakter von nur Theilen des Ganzen. Sp\u00e4ter ward das Gesicht, dann der Mund, und endlich die Lippen eine einzelne Vorstellung, und doch war jede in der vorhergehenden Vorstellung als Theil enthalten.\nWie w\u00fcrde man diese Erfahrung ausdr\u00fccken? Wahrscheinlich so: \u00bbein Zimmer, in welchem sich eine Person und ein Bild befanden ; ich bemerkte insbesondere das Gesicht, den Mund und die eigenth\u00fcmliche Form ihrer Lippen\u00ab. Hier haben wir sechs Vorstellungen ; was ist nun das Merkmal, welches jede als Vorstellung besitzt, aber welches ihr fehlt so lange sie nur als Theil einer Vorstellung functionirte ?\nDas besondere Merkmal, welches dem einen Complex von Bewusstseinselementen eher als einem anderen den Charakter einer Vorstellung gibt, ist die Einheitlichkeit. Die im Bewusstsein vorhandenen Elemente werden in verschiedene Einheiten gruppirt. Beim Eintritt eines neuen Bewusstseinszustandes werden zuerst alle percipirten intellectuellen Elemente zusammen als Einheit betrachtet ; dann lenken wir unsere Aufmerksamkeit bald auf irgend einen Theil dieser Gruppe und betrachten ihn seinerseits als eine Einheit, als eine Vorstellung. In dem als Beispiel benutzten Fall waren im ersten Augenblick s\u00e4mmtliche Eindr\u00fccke als eine Einheit betrachtet worden. Wenn wir die verschiedenen Empfindungen mit a, h, c, d, u. s. w. bezeichnen und durch eine Linie die zu einer Vorstellung zusammengefassten Bestandtheile umschlie\u00dfen, so war die Vorstellung \u00bbZimmer\u00ab folgenderma\u00dfen anzudeuten:\na\te\ti\nb\tf\tj\nc\t9\tk\nd\th\ti\nWundt, Philos. Studien. VII.\n15","page":217},{"file":"p0218.txt","language":"de","ocr_de":"218\nE. W. Scripture.\nDie gleich darauf entstehende Einheit hat sich aus den Em-findungen a bis h gebildet; die Vorstellung im zweiten Moment war also\nJ\nk\nl\nAehnlicherweise bestand die Vorstellung des Bildes z. B. aus i und j.\nIn diesem Moment waren die zwei Vorstellungen\na\te\nb\tf\nc\tg\nd\th\nvorhanden.\nDie Vorstellung der Person hat sich nicht erhalten, sondern einige Elemente treten in verschiedene Einheiten zusammen. Von dem Schicksal der fr\u00fcheren Vorstellungen ist hier nicht die Rede, aber um anzudeuten, dass sie nicht die volle Aufmerksamkeit besa\u00dfen, event, in die niedereren Grade des Bewusstseins gesunken waren, sind ihre Elemente in dem folgenden Schema mit punktirten Linien umschlossen, w\u00e4hrend die in dem betreffenden Zeitmoment besonders betrachtete Vorstellung durch eine volle Linie angegeben st. Die drei letzten Vorstellungen unseres Beispiels waren also:\na\t\u00ea\n\tf\nc\t- y\n\u00e4\t7i\nd\te\nb\t/\nc\t3\nd\tTi","page":218},{"file":"p0219.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Definition einer Vorstellung.\n219\n%\nl\nNat\u00fcrlich ist diese Darstellung als eine ganz schematische an-.Zusehen; zahllose Empfindungen kommen und gehen fortw\u00e4hrend, und die Gruppirung in Einheiten wird selten regelm\u00e4\u00dfig vom Ganzen zum Theil fortschreiten; es werden immer neue Elemente hinzu-gebracht.\nEine Vorstellung ist also die Summe derjenigen Empfindungen, welche zu einer Einheit zusammengefasst sind. Das unterscheidende Merkmal aber zwischen Vorstellungen und anderen Mischungen von Empfindungen ist die Einheitlichkeit.\nNehmen wir noch ein weiteres Beispiel. Wir sehen die Buchstaben NACHEINANDERGEHEN. Wir k\u00f6nnen sie zu verschiedenen Vorstellungen vereinigen. Wir k\u00f6nnen sie z. B. als eine Anzahl Buchstaben, oder als viele Buchstaben, oder wir k\u00f6nnen irgend welche Gruppe zu einem Wort vereinigen, z. B. NACH und die \u00fcbrigen als blo\u00df eine Anzahl Buchstaben betrachten; oder wir k\u00f6nnen zwei W\u00f6rter NACHEINANDER GEHEN oder ein Wort NACHEINANDERGEHEN daraus machen; oder wir k\u00f6nnen vielleicht andere Bestandtheile aus dem Ged\u00e4chtniss hinzubringen, indem wir die Buchstaben als auf einer Tafel, einem Blatt u. s. w. gezeichnet, oder die W\u00f6rter auf irgend welche Gegenst\u00e4nde oder Person bezogen denken. Wir k\u00f6nnen auch Theile vernachl\u00e4ssigen und andere hinzubringen, wie z. B. aus der bedeutungslosen Combination LEFO verschiedene Personen ganz verschiedene Vorstellungen sich gemacht haben, Lefoucher (ein Gewehr), life (engl, f\u00fcr Leben), Lefe (s\u00e4chs. Dialekt f\u00fcr L\u00f6we), leaf (engl, f\u00fcr Blatt),\n15*","page":219},{"file":"p0220.txt","language":"de","ocr_de":"220\nE. VV. Scripture.\nleper (der Auss\u00e4tzige)1). Auf ganz \u00e4hnliche Weise gruppiren wir gesehene, geh\u00f6rte, gedachte u. s. w. Objecte; aus den zahllosen Objecten, welche wir zu irgend einer Zeit sehen, h\u00f6ren und denken, machen wir uns verschiedene Vorstellungen, und es h\u00e4ngt ganz von uns ah, oh irgend ein Complex von Empfindungen dieser oder jener Vorstellung angeh\u00f6ren soll, ob z. B. ein Fenster als Fenster betrachtet wird, oder nur als unbemerkter Theil eines Hauses oder als Theil einer langen Reihe von Fenstern.\nIn allen F\u00e4llen finden wir die Thatsache, dass die Empfin-dungscomplexe von uns zu verschiedenen Einheiten gruppirt worden sind.\nDie Bezeichnungen \u00bbGesammtvorstellung\u00ab, \u00bbEinzelvorstellung\u00ab k\u00f6nnen demnach nur eine relative Bedeutung haben. Einzelvorstellungen sind diejenigen Vorstellungen, welche nicht in Theile zerlegt sind; eine Gesammtvorstellung ist diejenige Vorstellung, welche in einzelne Vorstellungen zerlegt wird oder welche aus einzelnen Vorstellungen zusammengesetzt worden ist. Die Einzelvorstellungen aber gehen fortw\u00e4hrend in Gesammtvorstellungen \u00fcber und umgekehrt; eine Vorstellung hei\u00dft die eine oder die andere, je nachdem sie von dem einen oder dem anderen Standpunkt aus betrachtet wird. Die als Beispiel gebrauchte Vorstellung vom Zimmer war im ersten Momente eine Einzelvorstellung ; aber im n\u00e4chsten war sie als zusammengesetzt betrachtet, sie war eine Gesammtvorstellung, von welcher die Einzelvorstellungen der Person und des Bildes Theile bildeten. Die Person wurde wiederum zu einer Gesammtvorstellung, welche die Einzelvorstellung des Gesichts enthielt, u. s. w.\nEs wird Jeder schon bemerkt haben, dass dieser Definition gem\u00e4\u00df die Bezeichnung \u00bbVorstellung\u00ab sowohl auf ein Erinnerungsbild wie auf eine Wahrnehmung anzuwenden ist. Es geschieht immer noch, dass \u00bbWahrnehmung\u00ab und \u00bbVorstellung\u00ab als zwei verschiedene Dinge betrachtet, und dass unter' letzterer blo\u00df Erinnerungen, Phantasiehilder, Hallucinationen u. s. w. verstanden werden. Dringend nothwendig ist aber eine Bezeichnung f\u00fcr die ganze Klasse von Thatsachen, auf welche wir \u00bbVorstellung\u00ab ange-\n1) Phil. Stud, VII, S. 72.","page":220},{"file":"p0221.txt","language":"de","ocr_de":"Zur Definition einer Vorstellung.\n221\nwandt haben und von welcher Wahrnehmungen, Erinnerungsbilder u. g. w. nur Arten sind. F\u00fcr diese Arten gibt es schon Namen; \u00bbVorstellung\u00ab w\u00e4re hier ganz \u00fcberfl\u00fcssig. F\u00fcr die ganze Klasse ist diese Bezeichnung schon vielfach gebraucht worden, und eine bessere oder \u00fcberhaupt eine andere w\u00e4re schwerlich zu finden. Die Nothwendigkeit einer allgemeinen Bezeichnung zeigt sich weiter in der Thatsache, dass Wahrnehmungen, Erinnerungsbilder, Hallu-cinationen u. s. w. durch keine scharfen Grenzen getrennt, sondern nur durch willk\u00fcrliche Merkmale zu unterscheiden sind. Die gew\u00f6hnliche Unterscheidung zwischen Wahrnehmung und Erinnerung ist von der losesten und wissenschaftlich unhaltbarsten Art. Es sind bis jetzt keine Definitionen aufgestellt, welche die eine von der anderen trennen lassen; ja die Psychologie ist heutzutage nicht im Stande, die Uebergangsarten zu unterscheiden; nur \u00fcber die extremsten Formen kann sie sicheren Aufschluss geben. Jedesmal zu entscheiden, oh ein gewisser Empfindungscomplex eine Wahrnehmung oder eine Erinnerung u. s. w. sei, w\u00e4re ganz unm\u00f6glich; ein allgemeiner Name ist daher nicht zu entbehren.\nDie deutsche Sprache sollte sich freuen, einen solchen Terminus zu haben; im Englischen gibt es kein passendes Wort daf\u00fcr. Wahrnehmungen und Erinnerungsbilder sind durch percept (oder perception) und image, oder presentation und representation vertreten, aber als Bezeichnung f\u00fcr das Genus kann man nur vielleicht idea an wenden, welches aber im allgemeinen eine andere Bedeutung hat und noch dazu als psychologischer Terminus nur in der Phrase \u00bbassociation of ideas\u00ab eine d\u00fcrftige Existenz f\u00fchrt. Percept und presentation lassen sich vielleicht erweitern; sie haben aber heutzutage missliche Nebenbedeutungen.","page":221}],"identifier":"lit4180","issued":"1892","language":"de","pages":"213-221","startpages":"213","title":"Zur Definition einer Vorstellung","type":"Journal Article","volume":"7"},"revision":0,"updated":"2022-01-31T14:04:54.554137+00:00"}